RÜCKKEHR ZU DEN POLITISCH VERLASSENEN - Gespräche in rechtspopulistischen Hochburgen in Deutschland und Frankreich - Das Progressive Zentrum
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RÜCKKEHR ZU DEN POLITISCH VERLASSENEN Gespräche in rechtspopulistischen Hochburgen in Deutschland und Frankreich Johannes Hillje gefördert durch in Zusammenarbeit mit
STUDIE Inhalt 1. EINLEITUNG 3 2. STAND DER DEBATTE 4 3. BEITRAG ZUR DEBATTE: MENSCHEN IN AFD- UND FN-HOCHBURGEN ZUHÖREN 6 4. ERGEBNISSE 8 5. ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE 19 6. HANDLUNGSFELDER DER POLITK 20 6.1 Innere Solidarität als Voraussetzung für äußere Solidarität 20 6.2 Infrastruktur zur Förderung der Chancengleichheit 21 6.3 Strukturstärkung durch lokale Parteipräsenz 22 6.4 Strukturwandel gesellschaftsverträglich gestalten 22 6.5 Selbstbewusstsein gegenüber rechtspopulistischen Narrativen 23 7. FAZIT 24 www.progressives-zentrum.org 1
STUDIE EXECUTIVE SUMMARY Viele Menschen in strukturschwachen Regionen mit hohem Anteil rechtspopulistischer Wähler* fühlen sich von der Politik ver- lassen. Das befindet die erste Studie ihrer Art zu den letzten Wahlen in Deutschland und Frankreich: 500 Haustürgespräche zei- gen auf, welche Herausforderungen die Befragten in ihrem Alltag haben und warum oftmals die sozialpolitischen Bedingungen – und nicht etwa Fremdenfeindlichkeit – Grund ihres Unmuts und ihrer Zukunftsängste sind. Basierend auf den authentischen Schilderungen der Menschen entschlüsselt die Studie deren Deutungsmuster und macht sie zugänglich für Handlungsemp- fehlungen, die darauf abzielen, das Vertrauen dieser Bevölkerungsgruppen zurückzugewinnen. DIE WICHTIGSTEN ERGEBNISSE FÜR DEUTSCHLAND Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen als „größtes Problem“ des Landes (Migration) und des eigenen Alltags (unsichere Arbeitsbedingungen, Wegfall von sozialer Infrastruktur) identifizieren. Die Medien und die Bundespolitik greifen diese „Agenda der Bürger“ nur unzureichend auf, was ein Gefühl der Benachteiligung erzeugt. Die Abwertung Anderer, insbesondere von Migranten, ist daher eine Folge einer eigenen Abwertungserfahrung („Vergleichende Abwertungslogik“). Eine intrinsische Fremdenfeindlichkeit zeigte sich in den Gesprächen hingegen nicht als Muster. Zentrale Narrative der Populisten verfangen in ihren Hochburgen weitaus weniger stark als meist angenommen. Wenn die Menschen politische Zusammenhänge mit ihren eigenen Worten schildern, spielen Islamisierung, Europaskepsis, pauschale Medienkritik oder die Betonung der nationalen Identität kaum eine Rolle. Im Gegenteil: Zum Beispiel wird Europa mehr als Teil der Lösung denn als Problem gesehen. Forderungen nach einem nationalistisch orientierten Kurs („Deutschland zuerst!“) beruhen im Wesentlichen auf dem Gefühl, dass die Politik die falschen Prioritäten setzt entgegen der Lebensrealität der Menschen. So besteht oft die Wahrnehmung, dass z.B. Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise oder außenpolitisches Engagement nicht grundsätzlich falsch sind, dafür aber Anstrengungen und Investitionen vor Ort ausbleiben, um handfesten Herausforderungen im Alltag, wie dem steigenden ökonomischen Druck auf Geringverdiener oder Lücken in der Daseinsvorsorge, zu begegnen. Viele Befragte glau- ben, dass sozial und geographisch Gesellschaftsräume entstanden sind, aus denen sich die Politik zurückgezogen hat. Es herrscht ein Gefühl des Verlassenseins. SCHLUSSFOLGERUNGEN Es gibt Räume der „politischen Verlassenheit“, in denen das Vertrauen der Menschen neu zu verdienen ist – mit lokaler Prä- senz sowie Anerkennung und Lösung der vorliegenden Probleme. Dazu werden in der Studie fünf Handlungsfelder skizziert: Solidarität nach innen als Voraussetzung für Solidarität nach außen, Stärkung von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur zur För- derung von Chancengerechtigkeit, gesellschaftsverträgliche Gestaltung des Strukturwandels, zivilgesellschaftliches „nützlich machen“ von Parteien auf lokaler Ebene sowie mehr Selbstbewusstsein gegenüber rechtspopulistischen Narrativen. ÜBER DIE STUDIE Das Progressive Zentrum hat mit dem französischen Partner „Liegey Muller Pons“ 500 Haustürgespräche in strukturschwä- cheren Regionen mit hohem Anteil rechtspopulistischer Wähler in Deutschland und Frankreich durchgeführt. Ziel der Studie ist es, unter dem Stichwort der kulturellen Intelligenz das gegenseitige Verständnis von Deutschland und Frankreich über gesellschaftliche Narrative in einem Pilotprojekt zu stärken. Hierzu wurden systematisch jene Menschen befragt, über die in der öffentlichen Debatte viel gesprochen wird, die aber selbst nur selten zu Wort kommen. Die Gespräche fanden in jeweils drei Regionen in Ost- und Westdeutschland sowie Nord- und Südfrankreich statt. Dabei beantworteten die Menschen allgemeine Fragen zu ihrer individuellen Lage sowie zur Sicht auf ihr Lebensumfeld und das Land (z.B. „Was läuft gut/schlecht in Ihrem Wohnort?“; Was würden Sie ändern, wenn Sie selbst in die Politik gehen würden?“). Dank dieser offenen Herangehensweise konnten aus den Gesprächsinhalten die authentischen Deutungsmuster der Menschen über ihr Leben und ihr Land mittels einer Diskursanalyse ermittelt werden. Die Ergebnisse sind für die Debatte über die „Antwort“ auf den Rechtsruck sehr auf- schlussreich und liefern eine qualitative Ergänzung zu repräsentativen Studien auf diesem Gebiet. * Die weibliche Form ist der männlichen Form in dieser Studie gleichgestellt, lediglich aus Gründen der Vereinfachung wird im Folgenden die männliche Form gewählt. www.progressives-zentrum.org 2
STUDIE 2017 als neue „Mauern“, die „zwischen Stadt und Land“ 1. Einleitung verliefen und „Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut“ bilden. Vielen deutschen Lesern scheint auch der französische Philosoph Didier Eribon, der vom Die Präsidentschaftswahlen in Frankreich und die Arbeiterkind zum Professor aufstieg, mit seiner auto- Bundestagswahlen in Deutschland gelten als his- biographischen Sozialanalyse „Rückkehr nach Reims“ torische Zäsur für die jeweilige Parteienlandschaft. einen Erklärungsansatz für den Aufstieg des Rechtspo- Emmanuel Macron düpierte mit seiner neuen Bewe- pulismus zu liefern. Die Niedergangserzählung, in der gung „En Marche“ die etablierten Parteien, die bis dato staatliche Sozialleistungen immer schlanker werden regierenden Sozialisten stürzten gar in die elektorale und das französische Arbeitermilieu immer rechter Unbedeutsamkeit ab. Einen politischen Gipfelstürmer wählt, erschien in Frankreich bereits 2009, wurde aber wie Macron gab es im Nachbarland nicht, aber der Ein- in Deutschland erst 2016 zum Kassenschlager - dem schnitt in das politische System Deuschlands durch Jahr, in dem die AfD erstmals deutlich zweistellige das Wahlergebniss am 24. September 2017 weist Paral- Wahlergebnisse erzielte. Eribon verweist auf die Ent- lelen zu der Entwicklung, die in Frankreich schon seit fernung und Entfremdung ganzer Gesellschaftsteile den 1980er Jahren in Gange ist, auf: Die Etablierung von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verän- einer rechtspopulistischen Kraft im Parteiensystem. derungsprozessen. Die zentrale Leistung Eribons ist Die Alternative für Deutschland (AfD) zog mit 12,6% als dabei, dass er die gesellschaftliche Spaltung anhand drittstärkste Kraft in den Bundestag ein. In Frankreich von Dialogen zwischen ihm und seiner ehemals links, erzielte Marine Le Pen in der ersten Runde der Präsi- heute rechtspopulistisch wählenden Mutter nachvoll- dentschaftswahlen am 23. April 2017 mit 21% sogar das ziehbar macht. Denn es ist eine weitere Dimension beste Ergebnis in der Geschichte des Front Nationals der Spaltung, dass sie sich auch in der Debatte über (FN). ebendiese fortsetzt: Auf der einen Seite sind diejeni- gen, die reden und auf der anderen Seite diejenigen, Die Zugewinne der rechtspopulistischen Parteien über die geredet wird. Mit der Redehoheit geht auch kamen unter höchst unterschiedlichen nationa- die Deutungshoheit über die andere Seite einher. Dabei len Bedingungen zustande. Um nur zwei davon zu werden schnell pauschale Labels wie „die Abhängten“, nennen: Zum Zeitpunkt der Wahlen lag die Arbeitslo- „die Wutwähler“, „die Enttäuschten“ oder „les oubliés“ senquote in Frankreich mit 10,3% mehr als doppelt so vergeben. Unterschiedliche Vorstellungen über kon- hoch wie auf der anderen Seite des Rheins. Deutsch- krete Sachfragen, etwa in der Migrations-, Europa-, land gewährte 2016 mehr als zehnmal so vielen Men- oder Sozialpolitik, werden somit in Schubladen diffuser schen Asyl wie Frankreich.1 Dennoch verweisen die Unzufriedenheit gesteckt. Nicht wenige Schlagzeilen Wahlergebnisse auf eine unrühmliche Gemeinsamkeit deuteten den Wahlerfolg der AfD („Die späte Rache der der beiden Partnerländer: Eine Spaltung der Gesell- Ossis“ oder „Wahlsieger Wut“3) genau nach dieser psy- schaften. So spricht der ehemalige Élysée-Mitarbeiter chologisierenden Methode. Christophe Pierrel, der nach den Präsidentschafts- wahlen auf „Tour de France“ ging und diese in einem Wenn die gespaltete Gesellschaft wieder zusammen Buch verarbeitete, von zwei französischen Nationen: finden sollen, kann dies nur durch Dialog passieren. Das Frankreich der „Globalisierungsgewinner“ und Dieses Projekt möchte einen ersten Schritt unterneh- jenes der „Globalisierungsverlierer“.2 Bundespräsident men und hat sich zur Aufgabe gemacht denjenigen Frank-Walter Steinmeier beschrieb die Spaltung der zuzuhören, über die sonst geredet wird. Zu diesem deutschen Gesellschaft am Tag der Deutschen Einheit Zweck wurden 500 Gespräche in Frankreich und Deutschland geführt, in sozioökonomisch schlechter 1 Eurostat (2017): Pressemitteilung vom 26.4.2017: gestellten Regionen mit hohem Anteil rechtspopulis- Asylentscheidungen in der EU. http://ec.europa.eu/eurostat/ tischer Wähler, also Hochburgen des Front Nationals documents/2995521/8001720/3-26042017-AP-DE.pdf und der AfD. In diesen Gesprächen wurden bewusst 2 Das Buch von Pierrel ist am 8.11.2017 unter dem Titel „Ils votent Marine et ils vous emmerdent!“ im Verlag La Tengo 3 Die erste Schlagzeile stammt aus der taz, die zweite aus erschienen. dem Berliner Kurier jeweils vom 25.9.2017, dem Tag nach der Bundestagswahl 2017. www.progressives-zentrum.org 3
STUDIE allgemein und offen formulierte Fragen gestellt (z.B. Bremerhaven, Frankfurt/Oder, Gelsenkirchen, Herne „Was macht Ihnen Hoffnung für die Zukunft?“), um und Oberhausen. Ebenso leben in Frankreich die zuvor die Menschen zum Erzählen zu animieren, ohne sie angesprochenen „Globalisierungsverlierer“ nicht dabei in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es ging allein auf dem Lande. Zwar ist die sozioökonomische darum, die authentischen Denk- und Deutungsmus- Benachteiligung besonders hoch im ländlich gepräg- ter und die konkreten Erwartungen der Menschen an ten Norden und „Rostgürtel“ im Osten, aber auch am die Zukunft zu verstehen. In diesem Papier liegt der Rande der Ballungszentren wie Paris oder Marseille, Fokus etwas stärker auf den Ergebnissen der in Ost- den unrühmlich berühmten Banlieues, fallen die ein- und Westdeutschland geführten Gesprächen, wobei schlägigen sozialstatistischen Kennwerte nicht besser Frankreich immer als Vergleichsfolie herangezogen aus. Strukturschwäche gibt es somit in städtischen wie wird, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwi- auch in ländlichen Räumen. schen den beiden Ländern herauszustellen. Im folgen- den Abschnitt wird zunächst der Stand der Debatte In der bereits zitierten „Kleinen Anfrage“ der Grünen zum Verhältnis von strukturschwachen Regionen und wurde einleitend darauf hingewiesen, dass „ein rechtspopulistischen Wahlergebnissen zusammen- Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Struk- gefasst. Im dritten Teil wird erläutert wo und wie die turschwäche, starken Abwanderung oder hohen Gespräche für dieses Projekt geführt wurden, bevor im Arbeitslosigkeitsquote dieser Regionen und dem popu- vierten Abschnitt die Ergebnisse beschrieben werden. listischen Wahlverhalten gesehen“ werde. Inwiefern Dieses Papier schließt mit der Identifizierung von dieser Zusammenhang tatsächlich besteht, lässt sich fünf Handlungsfeldern, bei denen die Politik ansetzen nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich und der müsste, um den Problemen und Zukunftssorgen der Bundestagswahl in Deutschland besser beurteilen. Legt befragten Menschen entgegenzuwirken. man etwa die Deutschlandkarte der Arbeitslosenstatis- tik auf die Karte des AfD-Wahlergebnisses, so scheint es auf den ersten Blick eine hohe Deckungsgleichheit zu geben. Auf den zweiten Blick erschließt sich aber, 2. Stand der Debatte dass das Zusammentreffen dieser beiden Faktoren zwar eine Häufigkeit, aber keine Korrelation darstellt: So liegt etwa die Arbeitslosigkeit im Wahlkreis 26 in Nach den „Populistensiegen“ beim Brexit-Referendum und um Wilhelmshaven mit 8,2%, deutlich über dem und den US-Präsidentschaftswahlen 2016 machte Bundesdurchschnitt, das AfD-Ergebnis aber bei unter- sich unter deutschen und französischen Politikern die durchschnittlichen 9,1%. Andersherum hat Heilbronn Erkenntnis breit, dass Wahlen neuerdings in struk- eine leicht unterdurchschnittliche Arbeitslosenquote turschwachen Regionen von bereits abgeschriebenen von 5,3%, mit 41.000 Euro sogar das höchste Pro-Kopf- Wählern entschieden werden. Oftmals wird in dieser Einkommen Deutschlands, aber ein AfD-Stimmenanteil Debatte „strukturschwach“ mit „ländlich“ gleich- von 16,4%. Gerade in strukturstarken Regionen Baden- gesetzt. Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Würrtembergs und Bayerns sind die hohen AfD-Ergeb- „Kleine Anfrage“ der Grünen Bundestagsfraktion zu nisse nicht mit regionaler Wirtschaftsschwäche oder eben diesem Thema von Februar 2017 zeigt, dass dies Arbeitslosenqouten zu erklären. Hier lautet eine popu- eine unzulässige Verkürzung ist. In der Antwort wurden läre These, dass vor allem „kulturelle“ Gründe, etwa die die Lebensverhältnisse in 28 Regionen (von insgesamt Angst vor Überfremdung durch Migration, aber auch 361 Kreisregionen) als sehr stark oder stark unterdurch- endogene gesellschaftliche Veränderungen wie die schnittlich klassifiziert.4 Neben zahlreichen ländlichen Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Wahl- Gebieten in den neuen Bundesländern wie die branden- entscheidung zugunsten der AfD beeinflusst hat. Ein burgische Prignitz oder dem Burgenlandkreis in Sach- Ansatz, der die Gesellschaft neben sozioökonomischen sen-Anhalt, gehören dazu auch die fünf Großstädte Kriterien auch nach soziokulturellen Merkmalen aus- differenziert, also Werte, Lebensstile und Einstellun- 4 Die Antwort der Bundesregierung auf die „Kleine Anfrage“ gen von Menschen einbezieht (z.B. Zukunftsängste), der Grünen kann hier abgerufen werden: dip21.bundestag. de/dip21/btd/18/112/1811263.pdf. www.progressives-zentrum.org 4
STUDIE ist jener der Sinus-Milieus. Für diese Typologisierung hat, aber „eine substanzielle Minderheit steht gut da“.8 der Gesellschaft fällt der Zusammenhang laut Bertels- mann-Stiftung eindeutiger aus: „Je sozial prekärer ein In der Forschung wird das rechtspopulistische Wählerk- Stimmbezirk, desto besser schneidet die AfD dort ab lientel der „Modernisierungsverlierer“ durch die „kul- und desto höher fallen ihre Zuwächse aus“ bilanzierte turell Abgehängten“, die ein kosmopolitisches Gesell- die Bertelsmann-Stiftung kurz nach der Bundestags- schaftsideal ablehenen, erweitert. wahl.5 Und weil die AfD gerade in den sozial prekären Stimmbezirken erfolgreich mobilisiert hat, verringerte Ganz in der Tradition ihrer Partei, erzielte Marine Le sich 2017 zum ersten Mal nach 1998 die soziale Spal- Pen die besten Ergebnisse in der Berufsgruppen der tung der Wahlbeteiligung wieder. Arbeiter sowie den niedrigsten Einkommensklassen und Bildungsniveaus des französischen Elektorats.9 Auch in Frankreich liegt mehr eine Häufigkeit als eine 2017 bestätigte sich, dass der FN mittlerweile auch für Kausalität zwischen Strukturschwäche und Wahlerfolg Frauen und jüngere Franzosen wählbarer geworden ist. des FN vor. Im ländlichen Norden, entlang des „Rost- Diese Wählerklientel konnte Marine Le Pens Vater und gürtels“ im Osten sowie im Südosten am Mittelmeer Vorgänger als Parteivorsitzender, Jean-Marie Le Pen, verteidigte Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswah- kaum erreichen. len 2017 die Dominanz ihrer Partei. Überdurchschnitt- lich hohe Stimmanteile erreichte Le Pen zwar auch in Es sind aber nicht nur objektiv messbare sozioökono- urbanen Wahlbezirken von Marseille oder Calais, aber mische Merkmale, auf die es bei der Vermessung der ihre absoluten Spitzenwerte liegen außerhalb der AfD- und FN-Wählerschaft ankommt. Auch die subjek- Großstädte, etwa im äußerst nördlichen Tournehem- tive Einschätzung der eigenen Lage spielt eine wichtige sur-la-Hem (41,2%) oder in der südöstlichen Kleinstadt Rolle. So stellte Anfang 2017 die Böckler-Stiftung heraus: Marignane (42%).6 AfD-Anhänger sähen stärker als die Wähler anderer Parteien ihre soziale Lage bedroht und hätten mit Angesichts der Tendenz, dass strukturschwache Regi- Abstiegserfahrungen und Zukunftsängsten zu kämp- onen in Frankreich und Deutschland häufig eher fen.10 Das heißt: Sie geben an, dass es ihnen schlech- (rechts-)populistisch wählen, ist es kaum verwunder- ter als ihrer Elterngeneration gehe und sie sich um die lich, dass die Parteien einen beträchtlichen Teil ihrer Zukunft ihrer Kinder sorgten. Auch die Wähler des FN Wähler aus ökonomisch schwächer gestellten Gesell- lassen sich durch eine negative subjektive Beurteilung schaftsgruppen mobilisieren. Die AfD wurde bei der ihrer sozialen Mobilität, also ihrer Aufstiegschancen, Bundestagswahl überdurchschnittlich stark von Arbei- erkennen.11 2017 war Le Pen mit 25% Stimmenanteil die tern und Arbeitslosen, Menschen mit mittlerer Reife, 35 erste Wahl für jene Menschen, die für die kommende bis 44-Jährigen sowie von der männlichen Wahlbevöl- Generation von einer schlechteren Zukunft ausgehen kerung gewählt.7 Der „typische AfD-Wähler“ ist jedoch und mit großem Abstand (30%) für solche, die meinen, nicht so ohne Weiteres auszumachen, auch unter ihre Berufsgruppe sei auf dem absteigenden Ast. Eine Angestellten und Selbstständigen erzielte die Partei ein Ergebnis von 12%, das sich mit ihrem Gesamtergebnis 8 Der Artikel „Wählerschaft der Parteien“ ist im DIW Wo- deckt. Schon vor der Wahl zeigte das Deutsche Institut chenbericht 29/2017 erschienen für Wirtschaftsforschung (DIW), dass die Mehrheit der 9 Diese Zahlen stammen von IPSOS und können hier eing- AfD-Anhänger ein unterdurchschnittliches Einkommen esehen werden: https://www.ipsos.com/fr-fr/1er-tour-presi- dentielle-2017-sociologie-de-lelectorat 5 Bertelsmann-Stiftung (2017): Populäre Wahlen. Mobilis- 10 Hans Böckler Stiftung (2017): Einstellung und soziale Leb- ierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der enslage. Eine Spurensuche nach Gründen für rechtspopulis- Bundestagswahl 2017 tische Orientierung, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern. 6 Die Zahlen beziehen sich auf die erste Runde der Präsi- In: WORKING PAPER FORSCHUNGSFÖRDERUNG, Nummer dentschaftswahlen am 23. April 2017: https://www.interieur. 044, August 2017. gouv.fr/Elections/Les-resultats/Presidentielles/elecresult__ 11 Luc Rouban (2016): L’effet électoral du déclassement so- presidentielle-2017/(path)/presidentielle-2017/index.html cial. https://www.enef.fr/app/download/14088176725/LA_ 7 Diese Zahlen hat Infratest Dimap für die ARD erhoben NOTE%2324_vague5.pdf?t=1468919916 www.progressives-zentrum.org 5
STUDIE weitere Parallele zwischen AfD- und FN-Wählerschaft der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben“.13 ist die Einstellung zur Demokratie in ihrem Land. Nur Zwar können sie keine verallgemeinerbaren Aussagen eine Minderheit von 40% der AfD-Unterstützer findet, über Bevölkerungsgruppen treffen, aber dafür die Ein- dass Deutschland wirklich demokratisch sei. Für Frank- stellungen von Repräsentanten einer solchen Gruppe reich gilt laut dem Politologen Daniel Stockemer sogar, fundierter und authentischer zu Tage bringen. Offene dass die individuelle Einschätzung des Zustands der Fragestellungen ermöglichen es, Deutungsmuster von Demokratie am besten vorhersagen kann, ob eine Menschen anhand ihrer eigenen statt vorformulierter Person rechtspopulistisch wählt oder nicht.12 Aussagen zu ergründen. Genau hier setzt die vorlie- gende Studie an. Das Anliegen ist es, die Meinungen, Unterm Strich lässt sich sagen: Zwar gibt es keinen Einstellungen, Sorgen und Hoffnungen von Menschen, einwandfreien Zusammenhang zwischen Struktur- die in sozial und ökonomisch schwächer gestellten schwäche einer Region und rechtspopulistischem Regionen von Frankreich und Deutschland mit einem Wahlergebnis, aber sowohl der FN als auch die AfD überdurchschnittlich hohem Stimmenanteil rechtspo- mobilisiert einen erheblichen Teil seiner Wähler in pulistischer Parteien leben, anhand ihrer eigenen Schil- sozioökonomisch schlechter gestellten Gegenden. Um derungen besser zu verstehen. Das Auswahlkriterium die nicht zuletzt in den Wahlergebnissen in Frankreich für die Befragten war jedoch nicht, dass sie selbst und Deutschland zutage getretene Spaltung der Gesell- AfD- bzw. FN-Wähler sind, sondern dass sie in einer schaft besser zu verstehen, muss man deshalb die Ein- Hochburg dieser Parteien leben.14 Dazu wurden zwei stellungen und Deutungsmuster der Menschen aus Regionen in Frankreich, Nord-Pas-de-Calais im Norden diesen Regionen untersuchen. und Provence-Alpes-Côte d’Azur im Süden, sowie zwei Regionen in Deutschland, der Raum Duisburg/Gel- senkirchen im Westen und Berlin/Brandenburg im Osten, ausgewählt. Die Wahl fiel auf diese Gegenden, 3. Beitrag zur Debatte: weil sie auf Basis eines mehrdimensionalen Index ein hohes Maß an sozialer und wirtschaftlicher Benachtei- Menschen in AfD- und FN- ligung aufweisen.15 Zweites Kriterium für die Auswahl Hochburgen zuhören war ein hoher Stimmanteil der AfD bzw. des FN bei den letzten Landtags- bzw. Präsidentschaftswahlen. Viele der zuvor zitierten Studien zu den Einstellungen Trotz dieser Gemeinsamkeiten ging es auch darum, rechtspopulistischer Wähler zeichnen sich durch hohe eine Varianz von Regionen abzubilden. So weisen die Fallzahlen aus, so dass sie zum Erhebungszeitpunkt ausgewählten Gebiete wichtige soziale und ökonomi- repräsentative Aussagen über das Wählerklientel dieser sche Unterschiede auf - etwa in der Entwicklung ihrer Parteien machen konnten. Ein Nachteil solch breit angelegter Untersuchungen können die standardisier- 13 Flick, Uwe/ Kardoff, Ernst von/ Steinke, Ines (2010): Quali- ten Forschungsdesigns sein. Den Befragten werden tative Forschung. Ein Handbuch, S.14 Themen und Antwortmöglichkeiten vorgegeben und 14 Unter „Hochburg“ werden in diesem Papier Wahl- bzw. mit ihnen nicht selten auch bestimmte Deutungsmus- Stimmbezirke verstanden, in denen die rechtspopulistischen ter, etwa wenn nach der Zustimmung zu der Aussage Parteien einen Stimmenanteil erzielt haben, der über ihrem „Bei uns werden Ausländer bevorzugt und Deutsche landesweiten Stimmenanteil liegt. benachteiligt“ gefragt wird. Eine sinnvolle Ergänzung 15 Der für dieses Projekt gebildete Index der sozialen und zu diesen quantitativ angelegten Studien sind daher ökonomischen Benachteiligung basiert auf dem Modell qualitative Ansätze. Das Ziel einer qualitativer Vorge- des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (siehe: hensweise ist es, „Lebenswelten ‚von innen heraus‘ aus http://doku.iab.de/kurzber/2013/kb2213.pdf) und der Arbeit von Pampalon/Raymond (in Santé, société et solidarité, 2(1), S 191-208). Der Index erfasst vier Dimensionen: Familien- struktur, Bildung, Arbeitslosigkeit und Einkommen. Die un- 12 Daniel Stockemer (2017). The Front National in France. terschiedlichen Dimensionen der Benachteiligung wurden Continuity and Change Under Jean-Marie Le Pen and Marine mittels einer Hauptkomponentenanalyse in den Index integ- Le Pen. riert. www.progressives-zentrum.org 6
STUDIE DIE WICHTIGSTEN FAKTEN ZU DEN 500 GESPRÄCHEN Orte der Befragung in Klammern das AfD- bzw. FN-Ergebnis der besuchten Stimmbezirken bei der letzten Wahla: Deutschland Frankreich Ost : b Nord: Berlin Marzahn-Hellersdorf (28,3%; 27,7%) Calais-Matisse-Toulouse-Lautrec (37,0%) Eisenhüttenstadt (25,1%; 24,1%) Loon-Plage-Les Kempes (42,5%) Fürstenwalde-Molkenberg (23,0%) Tournehem-sur-la-Hem (41,2%) West: Süd: Duisburg-Neumühl (30,4%; 29,7%; 27,2%) Marseille 14-Centre Urbain (27,0%) Gelsenkirchen-Ost (28,8%; 26,2%; 25,6%) Marignane-La Calagovière-Parc Camoin (42,0%) Datteln-Meckinghoven (17,0%; 15,8%) Arles-Mas-Thibert (29,0%) Durchschnittliche Dauer der Gespräche: 25,6 Minuten Durchschnittsalter der Befragten: 48,8 Jahre Geschlechterverteilung: 52% Männer, 48% Frauen Befragungszeitraum: 05. - 14. September 2017 (Deutschland) 25. - 29. September 2017 (Frankreich) a Die Wahlergebnisse beziehen sich in Deutschland auf die Zweitstimme der Bundestagswahl 2017, in Frankreich auf die Präsidentschaftswahlen 2017. Da die Befragung jedoch vor der Bundestagswahl durchgeführt wurde, wurde die Auswahl der Orte auf Basis der Ergebnisse der letzten Land- tagswahl getroffen. b Reihenfolge der Orte nach großstädtischen, vor- bzw. kleinstädtischen und ländlichen Gebieten Bevölkerungsstruktur oder ihrem wirtschaftlichen Die Befragungen wurden in Deutschland in den Strukturwandel, was am Vergleich des Ruhrgebiets Wochen vor der Bundestagswahl 2017 und in Frankreich mit den ehemals der DDR zugehörigen Regionen am kurz danach durchgeführt. Das Besondere an der Befra- deutlichsten erkennbar ist. Um eine weitere Ebene gungstechnik ist, dass die Projektmitarbeiter in den der Vielfalt sozialer Realitäten einzubeziehen, wurden ausgewählten Gegenden bei den Menschen an der Tür die Befragungen in den vier ausgewählten Regionen klingelten, um die Gespräche persönlich durchzufüh- jeweils in großstädtischen, vor- und kleinstädtischen ren. Das hat den Vorteil, dass für andere Befragungs- (sogenannten „Mittelzentren“) und ländlichen Gegen- techniken (z.B. Online-Panels) schwieriger zugängliche den durchgeführt. In jeder der vier Regionen wurden 125 Menschen erreicht - die Bereitschaft vorausgesetzt - Interviews geführt, sodass insgesamt 500 Gespräche und befragt werden konnten. Die Befragungen wurden als Datengrundlage entstanden sind. Da die Teilnehmer an mehreren Wochentagen zwischen 16 und 20 Uhr nicht nach ihrer Parteipräferenz gefragt wurden, und durchgeführt, um möglichst keine Bevölkerungsgruppe neben Geschlecht und Alter überhaupt keine personen- (z.B. tagsüber arbeitende Menschen) auszuschließen. bezogenen Daten erhoben wurden, ist dieses Projekt Im „Face-to-Face“-Modus wurden den Menschen ins- nicht als Wählerstudie, sondern vielmehr als Wählermi- gesamt elf offene Fragen gestellt und die Antworten lieustudie zu verstehen. Ziel ist es, die Deutungsmus- von den Interviewern mittels einer Smartphone-App ter von Menschen aus Gegenden mit Deprivationskon- protokolliert. Die Gespräche dauerten im Durchschnitt text und hohem Stimmenanteil rechtspopulistischer rund 25 Minuten. Somit entstand eine Textmenge von Parteien zu ergründen. über 55.000 Wörtern - das entspricht etwa einem Buch von 200 Seiten -, in der das frei Gesagte der Befragten festgehalten ist. www.progressives-zentrum.org 7
STUDIE Die Analyse der Gesprächsinhalte wurde in zwei Schrit- ten vorgenommen: Zunächst wurden alle Antworten nach Themen und Aspekten codiert, um einen Überblick 4. Ergebnisse darüber zu bekommen, welche thematischen Schwer- punkte in den Antworten auf die einzelnen Fragen vor- Die Ergebnisse der Gespräche werden in den folgen- herrschen. Ergebnis des ersten Analyseschritts ist eine den Abschnitten entlang von vier Themenbereichen Rangfolge von Themen (und deren Unteraspekte), die dargestellt: Die Meinungen und Einstellungen der von den Befragten angesprochen wurden. Im zweiten Menschen zu 1) ihrem Land; 2) ihrem Wohnort (Stadt Schritt wurden die Antworten zu den prominentesten oder Stadtteil); 3) ihrem Alltag und 4) ihrer Zukunft. Themen diskursanalytisch ausgewertet. Ziel war es Innerhalb jedes Themenbereichs werden als erstens hierbei, Deutungsmuster der Menschen herauszuarbei- die prominentesten Antwortmuster aus Frankreich und ten, zu ergründen, wie die Befragten einzelne Themen Deutschland dargestellt und miteinander verglichen. für sich strukturieren und plausibel machen (z.B. die Zur Illustrierung prominenter Antwortmuster werden Ursache und Wirkung einzelner Probleme) und wie einzelne Zitate aus den Gesprächen herangezogen. Wie einzelne Themenfelder miteinander verschränkt und bereits erwähnt lenkt dieses Papier den Fokus stärker verknüpft werden. Diese Werkzeuge aus der Diskurs- auf den deutschen Datensatz dieses Projekts. Daher analyse helfen zu verstehen, wie Menschen ihre eigene werden im zweiten Schritt innerhalb jedes Themen- Lage sowie die Verhältnisse in der unmittelbaren, aber bereichs die deutschen Antworten genauer analysiert auch weiteren Umgebung wahrnehmen und sich auf und z.B. Vergleiche zwischen Ost- und Westdeutsch- Basis dieser Wahrnehmung eine politische Sinnstif- land, den drei räumlichen Kategorien (Großstadt, Mit- tung ergibt. telzentren, Land) und unterschiedlichen Altersgruppen angestellt. Falls sich auf diesen tieferen Analyseebene interessante Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zum französischen Datensatz ergeben haben, werden diese ebenfalls herausgestellt. Drittens wird für jeden Themenbereich das zentrale Deutungsmuster der Gesprächspartner interpretativ mit den Werkzeugen der Diskursanalyse zusammengefasst. Der Blick auf das eigene Land Sowohl in den Hochburgen der AfD als auch des FN, haben die befragten Menschen eine negative Haltung gegenüber den derzeitigen Zuständen in ihrem Land. Danach gefragt, was im eigenen Land gut läuft, kommen in beiden Ländern die meisten Befragten zu dem Schluss, dass nichts oder wenig gut laufe. In Frankreich ist das sogar dies überaus dominierende Denkmuster, während in Deutschland die soziale Sicherheit durch das Sozialsystem, die positive Lage am Arbeitsmarkt und das Funktionieren des Rechtsstaats von großen Teilen als positiv empfunden werden. Dennoch ist unterm Strich der Redebedarf über negative Zustände im Land in beiden Ländern fast doppelt so hoch ist wie über die positiven Seiten. www.progressives-zentrum.org 8
STUDIE Deutschland Frankreich Migration Wirtschaft Abbildung 1: Die fünf Themenbereiche, die Politische Migration Praxis am häufigsten bei der Frage “Was ist das Wirtschaft Politische größte Problem, das Praxis Deutschland/Frankreich Außenpolitik Sicherheit hat” genannt wurden (absolute Häufigkeiten) Zusammenhalt Sozialsystem der Gesellschaft 20 40 60 80 100 20 40 60 80 100 Anzahl der Nennungen Anzahl der Nennungen Als das größte Problem Deutschlands wird in den Der zweitprominenteste Diskursstrang für das „Mig- AfD-Hochburgen der Themenkomplex Migration aus- rationsproblem“ ist in den AfD-Hochburgen, dass mit gemacht. In Frankreich rangiert das Thema auf dem dem Zuzug von Migranten die Kriminalität im Land zweiten Platz hinter der wirtschaftlichen Lage und ansteige. Manche Befragte nennen den „IS-Terroris- Arbeitslosigkeit im Land (Abbildung 1). Beim Migrati- mus“, „Einbrüche“ oder „sexueller Missbrauch“ als onsdiskurs lohnt es sich genauer hinzuschauen: Für Formen der Kriminalität, die durch die Neuankömm- die deutschen Befragten ist zunächst die hohe Anzahl linge zunehme. In solchen Aussagen steckt nicht selten von Migranten das zentrale Problem. Hierbei ist inte- eine in der Realität nicht haltbare Pauschalität, die alle ressant, wie das Ausmaß der Migration argumentativ Migranten zu Terroristen oder Kriminellen macht. Oft problematisiert wird (und wie eben auch nicht): Der beziehen sich die Befragten auf „Berichte in den Nach- Kostenfaktor der Migration und eine damit verbundene richten“, die sie dazu gesehen oder gehört hätten. Dazu finanzpolitische Benachteiligung deutscher Staatsbür- passt auch, dass eher von Ängsten vor als von persön- ger ist das dominierende Erklärungsmuster dafür, dass lichen Erfahrungen mit Ausländerkriminalität gespro- die Migrationspolitik Deutschlands größtes Problem chen wird. Ein Mehrheit differenziert bei diesem Thema sei. Folgendes Zitat illustriert dieses Erklärungsmuster aber sehr wohl und wirft nicht alle Migranten in einen in sehr pointierter Form: Topf, kritisiert aber, wie mit migrantischen Straftätern umgegangen wird: „Mich stört, dass die dann nicht abgeschoben werden“ sagt ein 41-Jähriger Mann aus Berlin Marzahn-Hellersdorf und spricht damit stellver- tretend für weitere Befragte. In den wenigsten Fällen - das gilt gleichermaßen für Ost- und Westdeutschland - wird die Migrationsthematik über einen kulturellen Angang und eine mögliche Überfremdung problema- tisiert. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Mehrheit der Gesprächspartner keine intrinsisch rassistische Strukturierung der Migrationsthematik vornimmt, also Migranten allein deswegen problematisch findet, weil sie aus einem fremden Land und einer fremden Kultur stammen. Vielmehr sind es Ressentiments, die zwar wie bei der Pauschalisierung im Kriminalitätsdiskurs rassistische Züge tragen können, aber vorrangig einer vergleichenden Abwertungslogik folgen: Weil sich www.progressives-zentrum.org 9
STUDIE gefühlt um die Fremden mehr gekümmert wird, fühlt man sich selbst abgewertet und wertet in der Folge die Fremden ab. In den Gesprächen aus Frankreich zeigt sich neben der Kritik am Krisenmanagement der Regierung, vor allem im Raum Calais, eine Parallele zu der Problembeschrei- bung der deutschen Befragten: Auch Franzosen ver- gleichen die neuen Migranten mit der eingesessenen Bevölkerung. Dabei wird einerseits eine Themenver- schränkung zwischen Arbeitslosigkeit und Migration vorgenommen, etwa, dass mit dem Zuzug von Men- schen die Konkurrenz um Arbeitsplätze steige. Ande- rerseits wird eine Bevorzugung der Migranten beklagt, die folgendes Zitat stellvertretend verdeutlicht: Ein relevanter Teil der befragten Deutschen identifiziert die Schere zwischen arm und reich, die auch den gesell- schaftlichen Zusammenhang gefährdet, und sieht die Außenpolitik als Problembereiche. Zwar werden zu Letzterem auch konkrete außenpolitische Konflikte wie jener mit der Türkei genannt, besonders oft äußern die Befragten allerdings die Kritik, dass sich die Regie- rung zu viel um außenpolitische und somit zu wenig um innenpolitische Belange kümmere. Nimmt man die verschiedenen wiederkehrenden Beschreibungen der Menschen aus Deutschland zusammen, lässt sich ein übergeordnetes Deutungsmuster erkennen, das Als größtes Problem des Landes, wurde in Deutsch- sich zugespitzt so zusammenfassen lässt: Wenn die land am zweit- und in Frankreich am dritthäufigsten Politik Probleme angeht, dann sind es nicht meine und genannt, was sich unter „politische Praxis“ zusam- sie tut es nicht in meinem Interesse. Während sich die menfassen lässt. Darunter fällt einerseits eine Kritik Politik um die Probleme von Migranten und anderen an der Art und Weise, wie Politik heutzutage gemacht Ländern kümmert, so der Eindruck, kommen die wird und andererseits am Verhalten von Politikern. So eigenen Probleme auf der Agenda der Politik zu kurz. werden Politiker oft als unehrlich und egoistisch cha- Und wenn sie vorkommen, scheint die Problemlösung rakterisiert, sie seien „zu weit weg von uns Menschen“. von wirtschaftlichen Interessen und nicht vom Ziel, die Viele Befragte beklagen einen zu großen Einfluss von Gesellschaft zusammenzuhalten, getrieben zu sein. Wirtschaft und Lobbyisten, „die Wirtschaft entscheidet Zusammengefasst ist das ein Gefühl der politischen und nicht die Politiker“ ist ein häufiges Denkmuster in Benachteiligung. Dieses Gefühl, das auf einer mangeln- beiden Ländern. Unbehagen bereitet auch, was als eine den Anerkennung und falschen Bearbeitung der Pro- gewisse Blockade und Lösungsinkompetenz der Politik bleme aus der eigenen Lebensrealität beruht, scheint wahrgenommen wird und die folgende Aussage exem- unterschwellig zu brodeln und dann anlassbezogen z.B. plarisch verdeutlicht: in der Ablehnung der Aufnahme einer Vielzahl von Mig- ranten die Oberfläche zu durchstoßen. Dieses Benach- teiligungsgefühl findet sich nicht nur in den deutschen, sondern auch in den französischen Antworten. Jedoch beklagen die Franzosen keine Bevorzugung außenpo- litischer Themen, was mit einem selbstbewussterem www.progressives-zentrum.org 10
STUDIE Verständnis der Rolle Frankreichs in der Welt zu tun Auch dort werden hauptsächlich die aktuellen Man- haben könnte oder der geringeren Zahl an Migranten, datsträger genannt. Der AfD und dem FN werden die das Land in den letzten Jahren aufgenommen hat. offenbar keine Lösungskompetenzen zugetraut, jeden- falls werden sie nur sehr vereinzelt als Problemlöser In diesem Zusammenhang ist auch interessant, wer genannt. Das bestätigt die typische Einstellung von nach Meinung der Befragten die Probleme im Land Protestwählern, die einer Partei nicht aus Überzeugung, am ehesten lösen könnte: Die gute Nachricht für die sondern aus Ablehnung anderer Parteien, ihre Stimme Demokratie ist, dass sowohl in Frankreich als auch in geben. Schließlich scheint auch kein übermäßig großer Deutschland, die staatlichen Institutionen und poli- Enthusiasmus bezüglich mehr direkte Demokratie, wie tischen Akteure mit Abstand am häufigsten genannt sie von AfD und FN gefordert wird, zu herrschen. „Das werden. In Frankreich stehen Staat und Verwaltung Volk“ wird selten als Problemlösungsinstanz beschrie- (z.B. die Kommunen) als Problemlöser ganz oben, ben, wobei in Frankreich das Wort „Revolution“ im gefolgt von der Politik, womit in dieser Typologisierung Gegensatz zu Deutschland des öfteren fällt, was sich vornehmlich Parteien und einzelne Politiker gemeint historisch unschwer erklären lässt. sind.16 In Deutschland ist die Reihenfolge umgekehrt, hier stehen (partei-)politische Akteure als Problemlö- Der Blick auf die eigene Umgebung ser über Staat und Verwaltung. Entscheidend ist nun aber die Beschreibung der Akteure, die zur Lösung der Ähnlich wie bei den Ausführungen bezüglich der Situ- Probleme herangezogen werden können. Ein domi- ation im Land, sprechen die Befragten in Deutschland nantes Denkmuster ist hierbei, dass „andere Politiker“ und Frankreich mehr negative als positive Aspekte der oder „andere Parteien“ als die etablierten die Probleme Situation in ihrem Wohnort (Stadt oder Stadtteil) an. lösen könnten. Für eine 52-Jährige aus Tournehem-sur- Unter den französischen Gesprächspartnern ist auch la-Hem könnte „jemand, der so lebt wie wir leben, also in diesem Fall die Stimmung noch einmal deutlicher der sich in unsere Lage versetzen kann“ die Probleme negativer als in Deutschland (Abbildung 2). Nahezu lösen und für einen 80-Jährigen aus Eisenhüttenstadt die Hälfte der befragten Franzosen geben zu Protokoll, „vielleicht eine sozialdemokratische Partei, die zu ihren dass in ihrem Wohnort nichts oder nur wenig gut laufe. Wurzeln zurückkehrt“. Zu diesen Antworten passt In Deutschland werden Aspekte der Verkehrs- und auch, dass eine relevante Anzahl von Befragten die Sozialinfrastruktur (z.B. Einkaufsmöglichkeiten), die Frage nach dem Problemlöser damit beantwortet, wer Umweltbedingungen am Wohnort (z.B. Ruhe, Grün- es ihrer Meinung nach nicht kann. flächen) und die Gemeinschaft (etwa innerhalb der Deutschland Frankreich Sozial- & Verkehrs Nichts/wenig infrastruktur Abbildung 2: Umwelt- Sozial- und Verkehrs- Die fünf Themenbereiche, bedingungen infrastruktur die am häufigsten bei der Politische Gemeinschaft Frage “Was läuft gut in Ihrer Praxis Stadt/Ihrem Stadtteil?” Allgemeine Sicherheit genannt wurden Situation Freizeitangebot Sozialsystem 20 40 60 80 100 20 40 60 80 100 Anzahl der Nennungen Anzahl der Nennungen 16 Die nicht ganz trennscharfe Unterscheidung zwischen Staat und Politik, wurde hier nach formalen Institutionen des Staates sowie der Verwaltung und parteipolitischen Ak- teuren vorgenommen. www.progressives-zentrum.org 11
STUDIE Nachbarschaft) am häufigsten als positive Aspekte Das Thema Migration, das wie oben beschrieben als identifiziert. größtes Problem Deutschlands ausgemacht wird, soll erneut genauer unter die Lupe genommen werden: In Deutschland gibt es jedoch große Unterschiede zwi- Ausländerkriminalität ist hierbei wieder ein zentraler schen den verschiedenen Lebensräumen. Auf dem Land Aspekt in der Problembeschreibung. Zum Teil werden scheinen vor allem die Ruhe und die Natur zur Lebens- konkrete Fälle krimineller Taten von Migranten geschil- qualität beizutragen, während die Städter deutlich dert, zum Teil sind es aber erneut Ängste, die vom häufiger die soziale Infrastruktur in Form von Schulen, „Hörensagen“ kommen. Allerdings sprechen die Men- Kindergärten oder Einkaufsmöglichkeiten loben. So ist schen noch öfter über Kriminalität in ihrer Umgebung es auch in Frankreich, wie die folgende Aussage illust- ohne sich dabei auf Migranten zu beziehen, weshalb riert: nicht von einer undifferenzierten Verschränkung zwi- schen Migrations- und Kriminalitätsdiskurs gespro- chen werden kann. Prominent in den Problemdiagno- sen zum Migrationsthema auf lokaler Ebene ist auch der Punkt der Integration - ein Aspekt der in der Prob- lembeschreibung für die Bundesebene kaum vorkam. So werden Sprachbarrieren beklagt oder dass allgemein zu wenig für die Integration getan wird. Wie sich das auf das Leben in einem Stadtteil auswirkten kann, illus- triert folgendes Zitat: Danach gefragt, was am eigenen Wohnort schlecht läuft, führen sowohl die französischen als auch die deutschen Befragten am häufigsten Aspekte der Ver- kehrs- und Sozialinfrastruktur an. Bei den Themen, die an zweiter und dritter Stelle kommen, treten zwischen den beiden Ländern wieder klare Unterschiede zutage: In Frankreich wird die lokale Arbeitslosigkeit am zweit- häufigsten und die Lokalpolitik am dritthäufigsten als negative Aspekte genannt. Der eigene Themenbe- reich Migration kommt an zweiter Stelle gefolgt von schlechten Umweltbedingungen (z.B. Müll, Luftver- schmutzung). Migration Soziale Infrastruktur Verkehrsinfrastruktur Umweltbedingungen Freizeitangebot Abbildung 3: 20 Häufigkeiten verschiedener Themenbereiche in 15 den Antworten auf die Frage “Was läuft in Ihrer Stadt/Stadtteil 10 schlecht?” (nach räumlichen Kategorien in Deutschland) 5 Anzahl der Nennungen 0 Stadt Vor- und Kleinstadt Land www.progressives-zentrum.org 12
STUDIE Obwohl unter allen deutschen Befragten, egal ob sie lässt sich außerhalb der Großstädte in Deutschland in der Stadt oder auf dem Land wohnen, Migration das folgendes Muster erkennen: Gerade wenn Menschen häufigst genannte Problem Deutschlands ist, gilt das miterleben müssen wie lokale Angebote, etwa der alt- für die eigene Umgebung nur für die urbanen Befragten eingesessene Metzger oder sogar der Briefkasten aus (Abbildung 3). Auf die Frage, was am eigenen Wohnort ihrem Lebensumfeld verschwinden, scheint ein Gefühl schlecht läuft, nennen die Menschen aus ländlichen des „Verlassenwerdens“ zu entstehen. In der politi- sowie klein- und vorstädtischen Räumen am häufigs- schen Debatte werden solchen Regionen als „struktur- ten die Anbindung des öffentlichen Personennahver- schwach“ bezeichnet. Angesichts der Schilderungen kehrs (ÖPNV) und den Mangel an Einrichtungen der in den Gesprächen muss man eher von „strukturge- sozialen Infrastruktur, z.B. Einkaufsmöglichkeiten, schwächten“ Regionen sprechen. Ihre heutige, prekäre ärztliche Versorgung, Schulen und Kindergärten. Fol- Situation ist kein Naturzustand, sie wurden von wirt- gende Aussage fasst mehrere Aspekte zusammen, die schaftlicher, sozialer und öffentlicher Infrastruktur ver- wiederholt angesprochen werden: lassen. Auch in den Gesprächen in Frankreich kommt dieses Gefühl des Verlassenseins zum Vorschein, wobei hier einmal mehr die Symptome der Wirtschaftskrise durchschlagen: Am meisten beklagen die Menschen das Schließen kleiner Läden in ihrer Umgebung. Der Blick auf den eigenen Alltag Es mag im Lichte der bisherigen Ergebnisse zunächst widersprüchlich erscheinen, dass (mit knappem Vor- sprung) die meisten befragten Franzosen und Deut- schen die Frage nach dem größtem Alltagsproblem damit beantworten, keine Probleme zu haben. Für manche Befragte könnte zutreffen, dass sie Hemmun- gen hatten gegenüber einer fremden Interviewerper- son über Alltagsprobleme zu sprechen. Andererseits haben viele Menschen von sehr persönlichen Schwie- rigkeiten wie ihren Geldnöten oder Überforderung und Konkurrenzdruck am Arbeitsplatz berichtet. Eine andere mögliche Erklärung ist, dass für einige Befragte die Probleme, die sie für das gesamte Land identifiziert haben (etwa Migration und die politische Praxis), ihren persönlichen Alltag nur wenig tangieren. Blicken wir nun aber auf die Alltagsprobleme, die die Gesprächspartner tatsächlich zum Ausdruck bringen: In Frankreich sind finanzielle Schwierigkeiten (Miete, Rente, Steuern) das oberste Problem, gefolgt vom The- menkomplex Arbeit, worunter in erster Linie Arbeits- losigkeit zu verstehen ist. Bei den Deutschen rangiert das Thema Arbeit als größter Problembereich vor Aspekten der lokalen Verkehrs- und Sozialinfrastruk- In den ländlichen Gebieten wird zudem sehr häufig das tur. Im Vergleich der deutschen und französischen mangelnde Freizeitangebot, meist in Form von Kultur- Antworten wird einmal mehr die schlechtere Lage des oder Jugendangeboten, beschrieben. Zusammengefasst französischen Arbeitsmarktes deutlich: Während die www.progressives-zentrum.org 13
STUDIE französischen Befragten in erster Linie die Arbeitslo- größten Problemfelder erneut deckungsgleich. Feine sigkeit als ihr größtes Problem beschreiben, sind es Unterschiede gibt es jedoch: Während in den west- für die Deutschen vornehmlich die Bedingungen an deutschen Regionen deutlich öfter die Arbeitsbedin- ihrem Arbeitsplatz. Dazu gehören ein hoher Stressfak- gungen beklagt werden (auch hier vor allem der nied- tor, Unsicherheit durch Leiharbeit, die schlechte Verein- rige Lohn), haben die ostdeutschen Befragten häufiger barkeit von Familie und Beruf und als meist genannter von einer schlechten ärztlichen Versorgung berichtet. Aspekt, dass der Lohn nicht die eigenen Kosten deckt, Etwas größere Unterschiede als zwischen Ost und wie folgende Aussage illustriert: West, gibt es innerhalb dieser Regionen im Stadt-Land- Vergleich (Abbildung 4): Für die Stadtbevölkerung sind die Arbeitsbedingungen (Lohn, Stressbelastung) das oberste Alltagsproblem. Auf dem Land bereitet den Menschen die Verkehrsinfrastruktur, das heißt die ÖPNV-Anbindung und marode Straßen, am meisten Probleme. In den vor- und kleinstädtischen Räumen macht den Menschen, stärker als in den anderen Gegenden, die Abwanderung sozialer Infrastruktur zu schaffen. Die Gespräche zeigen, dass das Aussterben lokaler Geschäfte nicht allein ein ländliches Phänomen ist, sondern sehr wohl auch in einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern auftritt, wie dieses Zitat deutlich macht: Hinsichtlich der Verkehr - und Sozialinfrastruktur sind es erneut Themen wie die ÖPNV-Anbindung und die Ticketpreise sowie die mangelnde Kinderbetreuung und gesundheitliche Versorgung, die den Alltag der deutschen Befragten erschweren. Im Vergleich von Ost- und Westdeutschland ist die Rangliste der fünf Arbeitsplatz/Arbeitsbedingungen Soziale Infrastruktur Verkehrsinfrastruktur Finanzielle Situation Kein Problem Abbildung 4: Häufigkeiten 25 verschiedener Themenbereiche in 20 den Antworten auf die Frage “Was ist das größte Problem, 15 das sie in ihrem Alltag haben?” (nach 10 räumlichen Kategorien in Deutschland) 5 Anzahl der 0 Nennungen Stadt Vor- und Kleinstadt Land www.progressives-zentrum.org 14
STUDIE Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die größten Befragte die Politik oder den Staat in der Lage, die All- Alltagsprobleme der befragten Menschen in den Hoch- tagsprobleme zu lösen, eher als dass man selbst oder burgen des FN und der AfD wirtschaftlicher Natur sind das soziale Umfeld dies tun könnte. Zwischen Ost- und oder sich auf Lücken der Daseinsvorsorge beziehen. Die Westdeutschland gibt es in dieser Haltung auch keine deutschen Befragten beklagen unzureichende und teils Unterschiede. Aussagen wie „Politiker müssen eben langfristig stagnierende Löhne, die zu Erwerbsarmut solche Politik machen, dass dem kleinen Mann mehr führen können, sowie den Zustand der Verkehrsinfra- in der Tasche bleibt am Ende des Monats“ von einer struktur und die lokalen Möglichkeiten zur Versorgung, 55-Jährigen Frau aus Datteln stehen stellvertretend sei es mit Lebensmitteln oder ärztlichen Leistungen. für zahlreiche Antworten. Auch die Lokalpolitik wird Die beiden letzten Themen wurden, wie oben beschrie- vermehrt als Problemlöser genannt, die AfD hingegen ben, auch als Probleme des eigenen Wohnorts ange- kaum. Der Front National in Frankreich ebenso wenig. führt. Interessant ist jedoch folgender Unterschied in den deutschen Problembeschreibungen zwischen Der Blick in die Zukunft gesellschaftlicher (Land, Wohnort) und persönlicher Ebene (Alltag): Während das Thema Migration als Um mit den Menschen über die Zukunft zu sprechen, größtes Problem für das Land und auch als eine zent- wurden sie zunächst auf ein kleines Gedankenexperi- rale Belastung für den eigenen Wohnort herausgestellt ment eingeladen. Im ersten Schritt sollten sie anneh- wird, existiert es in der Wahrnehmung der Menschen men, dass sie selbst in die Politik gehen wollten, um nicht als Problem für ihren Alltag. Hier scheint sich dann im zweiten Schritt zu beschreiben, was ihr wich- ein Deutungsmuster zu verfestigen, das zuvor schon tiges Versprechen an die Wähler wäre, das sie auch tat- angedeutet wurde: Es sind ökonomische, soziale und sächlich einhalten könnten. Im deutsch-französischen infrastrukturelle Mangelerscheinungen, die den Alltag Vergleich bestätigt sich zunächst ein nunmehr bekann- erschweren - wie der Lohn, der seit Jahren stagniert und tes Muster: Bei den Franzosen würde die Wirtschafts- die Lebenskosten nicht deckt, oder der Bus, der nur spo- politik und hierbei die Schaffung von Arbeitsplät- radisch kommt. Dinge, denen der Staat zumindestens zen ganz oben in der eigenen Programmatik stehen. teilweise mit Investitionen oder gesetzlichen Maß- Die Verbesserung der sozialen Infrastruktur und der nahmen entgegenwirken könnte. Doch weil der eigene inneren Sicherheit kommen danach. Die Deutschen Alltag schwierig bleibt, aber in der Wahrnehmung vieler würden zuvörderst sozialpolitische Maßnahmen ver- Menschen gleichzeitig das Leben der Migranten „ein- sprechen, um Gerechtigkeitslücken in der Gesellschaft facher“ gemacht wird, entsteht hier eine Verschiebung zu schließen. Manche Befragte schlagen dafür klassi- in der Verantwortungszuschreibung: Statt die meist sche Umverteilungsmaßnahmen vor, vielen geht es sozialpolitischen Ursachen für die Alltagsprobleme zu aber auch um eine starke Grundsicherung: benennen, werde jene gesellschaftlichen Gruppen zum Problem erklärt, deren Probleme vermeintlich bevor- zugt gelöst werden. Die Gesprächspartner wurden auch gefragt, wer ihrer Meinung nach ihre Alltagsprobleme am ehesten lösen könnte. Obwohl Franzosen und Deutsche gleicherma- ßen eher gesellschaftspolitische als private Probleme angesprochen haben, unterscheiden sich die Antwor- ten nach dem möglichen Problemlöser: Die Franzosen sehen am meisten sich selbst oder ihr soziales Umfeld als diejenigen an, welche die Alltagsprobleme lösen könnten. Das Vertrauen in die Politik oder den Staat scheint hierbei - im Gegensatz zur Lösung der Prob- leme des Landes - weniger stark ausgeprägt zu sein. Anders bei den Deutschen: Dort sehen deutlich mehr www.progressives-zentrum.org 15
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