Wochenbericht Methan - das unterschätzte Klimagas - DIW Berlin
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Deutsches Institut Nr. 39/2009 für Wirtschaftsforschung 76. Jahrgang 23. September 2009 Wirtschaft Politik Wissenschaft www.diw.de Wochenbericht Methan – das unterschätzte Klimagas Seite 656 Das Treibhausgas Methan spielt in der öffentlichen Debatte eine geringe Rolle. Nur als Wiederkäuer-Gas macht es gelegentlich Schlagzeilen – dabei ist es mehr als das. Die ökonomische Analyse zeigt: Die Klimapolitik sollte auch auf Methanvermeidung setzen, denn schon zu geringen Kosten lässt sich in verschiedenen Sektoren ein großer Klimaeffekt erzielen. Von Claudia Kemfert und Wolf-Peter Schill „Durch geringere Methanemissionen können Klimaziele Seite 657 kostengünstiger erreicht werden“ Neun Fragen an Wolf-Peter Schill Deutschland ein Auswanderungsland? Seite 663 Glaubt man populären Fernsehsendungen, so nimmt die Zahl der Auswanderer in den letzten Jahren rapide zu. Eine neue Studie des SOEP zeigt aber, dass es keinen langfristigen Trend zu mehr Auswanderung von Deutschen gibt – unter Migranten nimmt die Auswanderung dagegen zu. Und die Studie zeigt auch: Deutsche Auswanderer sind vor allem junge, ungebundene Akademiker, von denen viele wahrscheinlich wieder nach Deutschland zurückkehren. Von Marcel Erlinghagen, Tim Stegmann und Gert G. Wagner Gesundheitsreformen: Mehr Mut zu Wettbewerb Seite 674 Kommentar von Christian Wey
Methan – das unterschätzte Klimagas Claudia Kemfert In der öffentlichen Wahrnehmung steht Methan Die Europäische Union, die G8-Staaten und zu- ckemfert@diw.de als Treibhausgas im Schatten von Kohlendioxid. letzt auch das Major Economies Forum on Energy Wolf-Peter Schill wschill@diw.de Völlig zu Unrecht, denn mit einem Treibhaus- and Climate haben sich darauf geeinigt,1 dass potential, das etwa 25 mal größer als das von Koh- die weltweiten Durchschnittstemperaturen um lendioxid ist, macht es ein Sechstel der anthropo- nicht mehr als zwei Grad Celsius gegenüber genen Treibhausgasemissionen aus. Unterschätzt dem vorindustriellen Niveau steigen sollen2. Bei wird Methan jedoch vor allem mit Blick auf kon- Fortführung gegenwärtiger Emissionstrends ist kreten Klimaschutz. Bereits zu geringen Kosten dieses Ziel jedoch nur schwer zu erreichen. Die gibt es erhebliche Potentiale, den Methanausstoß durchschnittliche globale Oberflächentemperatur zu verringern. Methan entsteht nicht nur in der ist seit vorindustrieller Zeit bereits um ungefähr Viehhaltung, sondern auch im Erdgasbereich, in 0,8 °C gestiegen, mit einer beschleunigten Erwär- der Abfallwirtschaft und im Kohlenbergbau. Hier mung in den letzen 50 Jahren. Um das „2-Grad- lassen sich in vielen Fällen zu vertretbaren Kosten Ziel“ zu erreichen, müsste der weltweite Ausstoß größere Mengen Methan vermeiden. Hinzu kommt, von Treibhausgasen je nach Szenario zwischen dass sich anfallendes Methan energetisch nutzen 2015 und 2020 sein Maximum erreichen und lässt. Mit anderen Worten: Verglichen mit einer danach zurückgehen.3 Bis zum Jahr 2050 ist eine Tonne Kohlendioxid lässt sich eine entsprechende Verminderung der globalen Treibhausgasemis- Menge Methan zuweilen deutlich kostengünstiger sionen um 50 bis 85 Prozent im Vergleich zum vermeiden. Die Herausforderung besteht darin, Jahr 2000 erforderlich. Bei der UN-Klimakonfe- die Vermeidung von Methanemissionen wirksam renz in Kopenhagen im Dezember 2009 muss in klimapolitische Strategien zu integrieren. daher ein verbindliches und ambitioniertes Fol- geabkommen für das 2012 auslaufende Kyoto- Protokoll beschlossen werden (Kasten). Methanemissionen stärker beachten Methan (CH4) ist ein wichtiges, aber oft zu we- nig beachtetes Treibhausgas. Es hat im Vergleich zu Kohlendioxid (CO2) eine relativ kurze durch- schnittliche atmosphärische Lebensdauer von 1 Declaration of the Leaders – the Major Economies Forum on Energy and Climate, L’Aquila, Italien, 9. Juli 2009. Dem Forum gehören neben den G8-Ländern auch Australien, Brasilien, China, die Europäische Union, Indien, Indonesien, Südkorea, Mexiko und Südafrika an. 2 Verschiedene Gutachten nennen ein 2-Grad-Ziel, beispielsweise der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltverän- derungen: Kassensturz für den Weltklimavertrag – Der Budgetansatz. Sondergutachten. Berlin, September 2009. 3 IPCC-Berechnungen zufolge müsste die atmosphärische Treibhaus- gaskonzentration bei ungefähr 445-490 ppm (parts per million, Teile pro Million) CO2-Äquivalenten stabilisiert werden. Dies beinhaltet CO2 und andere Treibhausgase, umgerechnet in CO2-Äquivalente. IPCC: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fourth Assessment Report. Genf, 2007. 656 Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Neun Fragen an Wolf-Peter Schill „Durch geringere Methanemissionen können Klimaziele kostengünstiger erreicht werden“ Herr Schill, Sie haben die Bedeutung von Me- reichen. Die beste Möglichkeit hier Methan thanemissionen in der Klimapolitik unter- einzusparen ist es, den Konsum von Fleisch- und sucht. Hat Methan als Klimagas die gleiche Milchprodukten einzuschränken. Dagegen gibt Bedeutung wie CO2? es im Erdgasbereich, in der Abfallwirtschaft Wolf-Peter Schill, Nein, Methan hat eine kleinere Bedeutung als und teilweise auch im Kohlebergbau relativ gro- Wissenschaftlicher CO2. Methan macht aber immerhin ein Sechstel ße Vermeidungspotentiale. Mitarbeiter, Abteilung der vom Menschen verursachten Treibhausgas- Energie, Verkehr, Umwelt emissionen aus. Es hat damit zwar nicht die Be- Was würden solche Maßnahmen bringen? am DIW Berlin deutung wie CO2, trägt aber durchaus erheblich Untersuchungen zeigen, dass man bis zum Jah- zum Klimawandel bei. re 2020 zu Grenzkosten, die im Bereich von rund 15 US-Dollar pro Tonne CO2 -Äquivalent liegen, Wie groß ist das Treibhauspotential von Me- ungefähr ein Viertel der weltweiten Methan- than? emissionen einsparen könnte. Das würde schon Über einen Zeitraum von 100 Jahren ist das so- vier Prozent der heutigen weltweiten Treib- genannte „global warming potential“ von Me- hausgasemissionen bedeuten. than jüngsten IPCC-Berechnungen zufolge 25 Mal so hoch wie das von CO2. Im Gegensatz zu CO2 ist Methan brennbar. Könnte man aus dem Ener- Wo wird Methan freigesetzt? Ein Viertel der welt- giepotential Nutzen ziehen? Methan entsteht dort, wo weiten Methan- Absolut! Methan, das wir vor organisches Material unter dem Entweichen in die Atmo- Luftabschluss abgebaut wird. » emissionen könnte « sphäre einfangen, können wir Das ist zum Beispiel auf Ab- kostengünstig ein- energetisch nutzen. Das wird falldeponien der Fall. Auch gespart werden. zum Beispiel bei Deponie- im Bereich des Erdgassektors oder Grubengas bereits ge- oder beim Kohlenbergbau wird Methan freige- macht. So kann man einerseits das hohe Treib- setzt. Die größte Methanquelle ist jedoch die hauspotential von Methan vermindern, indem Landwirtschaft. Dort entsteht Methan durch man es zu CO2 oxidiert, und andererseits fossile die Verdauung von Wiederkäuern. Zudem gibt Energieträger durch Methan ersetzen und somit es Methanemissionen durch die Verwendung einen doppelten Effekt auf das Weltklima erzie- von Wirtschaftsdüngern, zum Beispiel Gülle, len. Jauche oder Mist. Inwieweit könnte die Reduzierung von Me- Deutschland emittiert als Industrieland recht thanemissionen helfen, die klimapolitischen viel CO2. Wie sieht das beim Methan aus? Ziele von EU und G8-Staaten zu erreichen? Die Industrieländer haben ähnlich wie beim CO2 Mit Methan allein werden wir das Weltklima einen überproportional hohen Methanausstoß. nicht retten, aber die Vermeidung von Methan- In Deutschland sind wir allerdings schon relativ emissionen kann auf jeden Fall dazu beitragen, weit mit der Verminderung der Methanemissio- die Klimaziele kostengünstiger zu erreichen. nen, gerade bei Deponien wurde da schon viel gemacht. Wir haben seit 1990 die Methanemis- Welche klimapolitischen Maßnahmen sollten sionen ungefähr halbiert, was nicht heißt, dass im Hinblick auf Methan getroffen werden? damit das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Es ist wichtig, dass Methan bei der Klimakonfe- Das Gespräch führte renz in Kopenhagen nicht unter den Tisch fällt, Erich Wittenberg. Wo gibt es noch Einsparpotential? finanzielle Anreize gesetzt und die entsprechen- Das vollständige Inter- Die Methanemissionen sind in der Landwirt- den Maßnahmen dann auch umgesetzt werden. view zum Anhören schaft am höchsten, dort aber sind hohe Ein- Wer Methanemission vermeidet, muss davon ei- finden Sie auf sparungen nicht gerade kostengünstig zu er- nen ökonomischen Nutzen haben. www.diw.de Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009 657
Methan – das unterschätzte Klimagas Klimapolitik – Meilenstein Kopenhagen Die kommende UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Klimaschutz signalisiert. Die Entwicklungsländer for- Dezember 2009 ist richtungweisend für die künftige dern allerdings von den Industriestaaten, durch kräftige Klimapolitik. Die Einigung auf ein Folgeabkommen des Emissionssenkungen besondere Verantwortung zu über- Kyoto-Protokolls ist dringend geboten. Trotz einer weit- nehmen und finanzielle Unterstützung zur Anpassung an gehenden Anerkennung des 2-Grad-Ziels ist die Aus- den Klimawandel zu leisten. Völlig unsicher und unklar gangslage für die Verhandlungen unsicher. Die USA sind hingegen die Positionen von Australien, Kanada haben dem Kyoto-Protokoll nie zugestimmt und es ist und Russland. Die russische Regierung ist nach wie vor ungewiss, inwieweit sie sich dieses mal zu verbindlichen der Ansicht, dass der Klimawandel positive Folgewirkun- Minderungsverpflichtungen bereit erklären. Europa gen für Russland haben wird. Auch die OPEC-Staaten denkt in Punkto Klimaschutz anders als die USA und werden sich gegen ein Klimaschutzabkommen stellen, möchte am liebsten zumindest für die Industriestaaten da sie wirtschaftliche Verluste durch den verminderten konkrete Emissionsminderungsziele in Zeitschritten ver- Ölexport befürchten. Es bleibt somit abzuwarten, welche einbaren. Japan ist grundsätzlich für mehr Klimaschutz Ziele und Mechanismen in Kopenhagen festgelegt wer- und hat verbindliche Minderungsziele vorgeschlagen. den. Vermutlich werden weitere Länder das 2-Grad-Ziel China hat bereits die Bereitschaft signalisiert, Klima- grundsätzlich akzeptieren. Es besteht aber die Gefahr, schutzziele zu akzeptieren, auch wenn Chinas Emis- dass keine entsprechend ambitionierten Emissionsmin- sionen voraussichtlich bis 2030 noch wachsen werden. derungsziele und Umsetzungsmaßnahmen vereinbart Auch Indien hat die grundsätzliche Bereitschaft zu mehr werden. ungefähr zwölf Jahren. Sein Treibhauspotential schaftsdünger und Reisanbau, machen derzeit ist dem jüngsten IPCC Sachstandsbericht zu- knapp die Hälfte der Gesamtemissionen aus. folge ungefähr 25 Mal so groß wie das von CO2.4 Abbildung 1 zeigt die Anteile unterschiedlicher In einzelnen Ländern unterscheiden sich diese Treibhausgase an den globalen anthropogenen Anteile jedoch deutlich. Im Bereich Viehhaltung Emissionen im Jahr 2005. Methan hat mit unge- gehören China, Brasilien und Indien sowie einige fähr einem Sechstel den zweitgrößten Anteil.5 OECD-Länder zu den größten Emittenten. Im Erdgasbereich sind vor allem Russland und die Methan entsteht hauptsächlich beim Abbau von USA sowie Länder des Nahen Ostens und Latein- organischem Material unter anaeroben – also amerikas zu nennen. Die Emissionen aus dem sauerstoffarmen – Bedingungen6. Zu den natür- Deponiebereich stammen zu einem großen Teil lichen Quellen von Methanemissionen gehören aus den USA und anderen OECD-Ländern, aber vor allem Feuchtgebiete, aber auch Termiten, auch aus afrikanischen, asiatischen und latein- Ozeane und andere Quellen7. Zu den wichtigsten amerikanischen Ländern. Nassreisanbau wird vor anthropogenen Quellen zählen die Tierhaltung, allem in China und südostasiatischen Ländern insbesondere die Haltung von Rindern (Wieder- praktiziert. Abwasserbedingte Methanemissionen käuer), Förderung, Transport und Verteilung von stammen hauptsächlich aus Entwicklungslän- Erdgas, Abfalldeponien, Nassreisanbau, Abwässer dern ohne geordnete Abwassersysteme. Emis- und der Kohlenbergbau. Abbildung 2 zeigt die sionen aus dem Kohlenbergbau fallen vor allem Anteile unterschiedlicher Quellen am globalen in China an, gefolgt von den USA.8 Abbildung 3 anthropogenen Methanausstoß 2005. Land- zeigt die Entwicklung der Methanemissionen wirtschaftliche Quellen, also Wiederkäuer, Wirt- ausgewählter Länder und Regionen zwischen 1970 und 2005. 4 Der Wert bezieht sich auf einen Zeitraum von 100 Jahren und dient zur Umrechnung von Methanemissionen in CO2-Äquivalente. Im Fol- genden wird jedoch wie in der Literatur üblich ein älterer Wert von 21 Methanemissionen in allen Sektoren herangezogen, der dem zweiten IPCC-Sachstandsbericht entstammt und auch im Kyoto-Protokoll verwendet wurde. IPCC: The Physical Sci- vermeiden ence Basis. Contribution of Working Group I to the Fourth Assessment Report. Cambridge und New York, 2007. 5 Die atmosphärische Methankonzentration hat sich seit vorindus- Maßnahmen zur Vermeidung von Methanemis- trieller Zeit mehr als verdoppelt. sionen zielen entweder darauf ab, die Entstehung 6 Im Gegensatz dazu entsteht bei aeroben – also sauerstoffreichen – Bedingungen CO2. Methan kann zu CO2 oxidiert werden. 7 Bei der Verdauung von Holz stoßen Termiten erhebliche Mengen Methan aus. Bousquet et al.: Contribution of Anthropogenic and 8 United States Environmental Protection Agency 2006: Global Natural Sources to Atmospheric methane Variability. In: Nature 443, Anthropogenic Non-CO2 Greenhouse Gas Emissions: 1990–2020. 2006. Washington, Juni 2006 658 Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Methan – das unterschätzte Klimagas von Methan zu verhindern, oder entstehendes Abbildung 1 Methan einzufangen und zu oxidieren, zum Bei- Globale anthropogene Treibhausgasemissionen 2005 spiel durch Verbrennung, wodurch das Treib- Anteil in Prozent hauspotential 25-fach reduziert wird. Die dabei CO2 aus fossilen freiwerdende Energie ist grundsätzlich nutzbar Brennstoffen und sollte nach Möglichkeit zu einer Substituie- rung fossiler Energieträger führen, so dass das Klima weiter entlastet wird. Daher sollte entstan- denes Methan wo immer möglich aufgefangen und energetisch verwertet werden. Dies gilt ins- besondere auch für die dezentrale Nutzung mit 62 Kraft-Wärme-Kopplung.9 Viehhaltung 2 Sonstige Gase 9 Im Bereich der Viehhaltung entsteht Methan na- hezu unvermeidlich als Abfallprodukt des Stoff- Lachgas (N2O) wechsels von Wiederkäuern. Es gibt jedoch einige 11 16 Maßnahmen zur Verringerung der Methanentste- hung, beispielsweise bestimmte Fütterungs- und Haltungsmethoden, Nahrungszusätze zur Unter- CO2 aus Entwaldung, drückung der Methanbildung, veränderte Züch- Industrieprozessen, Methan (CH4) sonstigen Prozessen tungen, sowie erhöhte tierische Produktionsleis- tungen, so dass bei gleicher Methanproduktion Quelle: International Energy Agency 2008. DIW Berlin 2009 eine größere Menge Fleisch oder Milch erzeugt werden kann. Bei diesen Maßnahmen müssen allerdings die Anforderungen einer möglichst artgerechten Tierhaltung berücksichtigt werden. Abbildung 2 In der Viehhaltung entsteht Methan außerdem Globale anthropogene Methanemissionen 2005 beim Abbau tierischen Dungs unter sauerstoff- nach der Herkunft armen Bedingungen. Zur Verminderung dieser Anteil in Prozent Emissionen können eine verbesserte Lagerung Förderung, Transport und und Ausbringung des Wirtschaftsdüngers sowie Verteilung von Erdgas die Nutzung von Biogasanlagen beitragen, in denen tierische Abfallprodukte zu Biogas ver- goren und für die Erzeugung von Wärme oder Nassreisanbau Strom genutzt werden.10 Darüber hinaus besteht Deponien 18 eine sehr effektive, aber unpopuläre Maßnahme zur Vermeidung tierischer Methanemissionen 12 10 Wirtschafts- darin, den Konsum tierischer Produkte einzu- dünger schränken, insbesondere von Rindfleisch und 4 Milchprodukten. 9 Abwasser Erdgasbereich 6 30 Bei Förderung, Transport und Verteilung von Kohlenbergbau 11 Erdgas kann es an mehreren Stellen der Liefer- kette zum Austritt von Methan in die Atmosphäre Wiederkäuer kommen, insbesondere bei undichten Pipelines (Enterische Fermentation) oder Kompressoren sowie bei Wartungsarbeiten. Sonstige Wesentliche Vermeidungsstrategien bestehen in einer optimierten Anlagenwartung sowie dem Quelle: United States Environmental Protection Agency 2006. DIW Berlin 2009 Austausch undichter Komponenten, insbesonde- 9 Sofern nicht anders angegeben beziehen sich die folgenden Ab- schnitte auf: United States Environmental Protection Agency 2006: Global Mitigation of Non-CO2 Greenhouse Gases. Washington, Juni re veralteter Kompressoren. Die Erdgasindustrie 2006 10 Smith, P. et al.: Greenhouse Gas Mitigation in Agriculture. In: sollte ein wirtschaftliches Eigeninteresse an der Philosophical Transactions of the Royal Society B, 363,2008, 789-813. Vermeidung unnötiger Methanverluste haben. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009 659
Methan – das unterschätzte Klimagas Abbildung 3 Weltweit ist dies jedoch nicht der Fall: Insbeson- Methanemissionen in ausgewählten Ländern dere in vielen Entwicklungsländern werden orga- In Millionen Tonnen nische Abfälle oft unbehandelt in ungeordneten 65 Deponien abgelagert. 60 Nassreisanbau China 55 Beim Nassreisanbau wird Methan in gefluteten 50 Reisfeldern gebildet. Diese Emissionen können beispielsweise durch ein verbessertes Wasser- 45 management mit geringeren Stauhöhen oder zeitweiser Trockenlegung vermindert werden. 40 Teilweise ist auch der Umstieg auf Trockenreis- 35 anbau möglich. EU-27 USA 30 Abwasser 25 Russland Methanemissionen im Abwasserbereich ent- Indien 20 stammen vor allem anaeroben Fäulnisprozes- Brasilien sen bei der ungeordneten Abwasserentsorgung 15 in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern. 10 Sie können durch den Aufbau geeigneter Abwas- sersammelsysteme und entsprechender Abwas- 5 serbehandlungsanlagen gemindert werden. Der Deutschland Hauptgrund für solche kostenintensiven Infra- 0 strukturmaßnahmen besteht jedoch in gesund- 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 heitlichen und hygienischen Zielstellungen, nicht in der Vermeidung von Methanemissionen.12 Quelle: Emission Database for Global Atmospheric Research (EDGAR). DIW Berlin 2009 Kohlenbergbau Abfallwirtschaft Beim Kohlenbergbau wird Methan freigesetzt, Auf Abfalldeponien entsteht Deponiegas, das da Kohleflöze meist größere Mengen Grubengas größtenteils aus Methan besteht, beim anaeroben enthalten. Grubengas wird im Untertagebau aus Abbau organischer Abfälle. Zur Vermeidung die- Sicherheitsgründen abgesaugt. Es sollte nicht ein- ser Emissionen können einerseits abzulagernde fach in die Atmosphäre geblasen werden. Je nach organische Abfälle so weit vorbehandelt werden, Konzentration des Methans im Abluftstrom kann dass in der Deponie kaum noch Methan gebildet es direkt verbrannt oder katalytisch oxidiert und wird. Dies wird entweder durch mechanisch-bio- energetisch genutzt werden. Auch die Aufberei- logische oder thermische Behandlung erreicht. tung des Grubengases und seine Einspeisung in Andererseits kann in Deponien entstandenes Me- Erdgasnetze sind möglich. than durch eine Deponieabdichtung und die In- stallation eines Gassammelsystems aufgefangen und energetisch verwertet werden. Eine weitere Kostengünstige Vermeidungspotentiale Möglichkeit, die allerdings mit erhöhtem logis- erschließen tischen Aufwand verbunden ist, besteht in der se- paraten Erfassung organischer Abfälle und ihrer In den genannten Quellbereichen gibt es welt- direkten Zuführung zu Kompostierungsanlagen, weit große und teilweise sehr kostengünstig zu wo unter aeroben Bedingungen Kompost erzeugt erschließende Vermeidungspotentiale. Das DIW wird, ohne dass Methan entsteht. In Deutsch- Berlin hat im Rahmen einer umfassenderen Kli- land sind die beschriebenen Verfahren Stand der maschutzstudie kürzlich eine umfangreiche Lite- Technik und vom Gesetzgeber vorgeschrieben. raturrecherche zu Potentialen, Kosten und Nutzen Seit Juni 2005 dürfen nur noch weitgehend vor- unterschiedlicher Maßnahmen zur Vermeidung behandelte Siedlungsabfälle abgelagert werden.11 von Methanemissionen durchgeführt.13 11 Das Deponierecht in Deutschland wurde kürzlich mit einer 12 Lucas, P.L. et al.: Long-term Reduction Potential of Non-CO2 Artikelverordnung neu geregelt, die Anforderungen an die Abfall- Greenhouse Gases. Environmental Science & Policy 10, 2007, 85–103. vorbehandlung und die Gasfassung beinhaltet. Verordnung zur 13 Kemfert, C., Schill, W.-P.: Mitigation of Methane Emissions: A Ra- Vereinfachung des Deponierechts, Bundesgesetzblatt, Teil 1, Nr. 22, pid and Cost-effective Response to Climate Change. DIW Diskussions- ausgegeben zu Bonn am 29. April 2009, 900–950. papier Nr. 918, DIW Berlin 2009. 660 Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Methan – das unterschätzte Klimagas In den meisten Bereichen ist die Vermeidung Abbildung 4 einer kleinen Menge Methan recht kostengünstig Globale Methanemissionen und Vermeidungspotentiale zu bewerkstelligen, zum Beispiel durch Anwen- 2020 zu verschiedenen Grenzvermeidungskosten dung einfacher Maßnahmen oder durch klei- In Millionen Tonnen CO2-Äquivalent ne Verbesserungen in betrieblichen Abläufen. 3 000 Aufgrund steigender Grenzvermeidungskosten wird es jedoch umso teurer, je mehr Methan ver- 2 750 mieden werden soll. Abbildung 4 zeigt weltweite 2 500 ökonomische Vermeidungspotentiale bis zum 2 250 Jahr 2020 in den genannten Bereichen bei un- 2 000 terschiedlichen Grenzvermeidungskosten,14 aus- 1 750 gedrückt in US-Dollar des Jahres 2000 je Tonne CO2-Äquivalent. Die Referenzentwicklung für 1 500 das Jahr 2020 ist ebenfalls angegeben, also der 1 250 angenommene Methanausstoß in den einzelnen 1 000 Sektoren in dem Fall, dass keine weiteren Ver- 750 meidungsmaßnahmen getroffen werden. Bei 500 der Berechnung der Vermeidungskosten ist der 250 Marktwert des Energieträgers Methan bereits berücksichtigt. 0 Viehhaltung Erdgasbereich Nassreisanbau Abfallwirtschaft Kohlenbergbau In der Referenzentwicklung 2020 sind die Me- Bei Grenzvermeidungskosten in US-Dollar je Tonne CO2-Äquivalent thanemissionen in der Viehhaltung am höchsten, 0 bis 30 bis 60 gefolgt vom Erdgassektor und dem Nassreisan- bis 15 bis 45 Referenzentwicklung bau. Die größten wirtschaftlichen Vermeidungs- potentiale finden sich jedoch in den Bereichen Quellen: United States Environmental Protection Agency 2006; Berechnungen des DIW Berlin. DIW Berlin 2009 Erdgas, Abfallwirtschaft und Kohlenbergbau. Er- hebliche Vermeidungspotentiale können bereits zu niedrigen Grenzkosten von bis zu 15 US-Dollar je Tonne CO2-Äquivalent erschlossen werden, beispielsweise Informationsprobleme bei rele- insbesondere im Kohlenbergbau. Bei Grenzver- vanten Akteuren, institutionelle Barrieren und meidungskosten von 15 US-Dollar je Tonne CO2- unzureichende technische und finanzielle Mög- Äquivalent könnten in den genannten Bereichen lichkeiten. Zudem gibt es diverse sektorspezi- im Jahr 2020 weltweit ungefähr 1,5 Milliarden fische Barrieren. So sind beispielsweise in der Tonnen CO2-Äquivalent jährlich eingespart wer- Viehhaltung Optimierungen bei der Fütterung den. Dies entspricht knapp einem Viertel der oder dem Umgang mit Wirtschaftsdünger auf- gesamten Methanemissionen in den genannten grund der großräumigen Verteilung von Wei- Bereichen oder knapp vier Prozent der weltweiten detieren in vielen Weltregionen und aufgrund Treibhausgasemissionen des Jahres 2005. bestimmter lokaler Bräuche und Gegebenheiten oft schwierig umzusetzen. Es muss außerdem Anstrengungen zur Vermeidung von Methan- sichergestellt werden, dass Maßnahmen zur emissionen sollten über alle genannten Sekto- Methanvermeidung im landwirtschaftlichen Be- ren gestreut werden, um Umsetzungsrisiken zu reich nicht zu einem erhöhten Ausstoß anderer minimieren und einen größtmöglichen Effekt Treibhausgase wie beispielsweise Lachgas führen. für das Weltklima zu erzielen. Dabei gebietet die Bei der Vermeidung von Grubengasemissionen Forderung der ökonomischen Effizienz, dass in beziehungsweise ihrer energetischen Nutzung jedem Sektor so viel Methan vermieden wird, besteht ein großes Hemmnis in der unzureichen- dass die Grenzvermeidungskosten überall gleich den Verfügbarkeit entsprechender Technologien hoch sind. und des notwendigen Kapitals in China.15 Im Gegensatz zu CO2, dessen Emissionen oft Barrieren und Vorurteile abbauen von einzelnen großen industriellen oder energie- wirtschaftlichen Quellen stammen, sind anthro- Die Vermeidung von Methanemissionen kann pogene Methanquellen oft klein, geographisch auf unterschiedliche praktische Hürden stoßen, weit verteilt und nicht auf den Energiesektor be- schränkt. Bei kleinen und dezentralen Quellen 14 Der Bereich Abwasser wurde ausgelassen, da keine belastbaren Daten zu Vermeidungspotentialen und Kosten für das Jahr 2020 vor- 15 Yang, M.: Climate Change and Energy Policies, Coal and Coalmine liegen. Methane in China. Energy Policy 37, 2009, 2858–2869. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009 661
Methan – das unterschätzte Klimagas ist ein hoher administrativer und logistischer Erforschung des Risikos nötig. Ein unkontrollier- Aufwand für die Überwachung und Kontrolle tes Entweichen von Methan im Abbauprozess von Vermeidungsmaßnahmen zu erwarten, wenn muss unbedingt verhindert werden. die Durchführung entsprechender Maßnahmen nicht im wirtschaftlichen Eigeninteresse der je- weiligen Betreiber liegt. Daher sollte zunächst Fazit die Methanvermeidung bei größeren und gut zu überwachenden Quellen wie Deponien oder Methan hat einen Anteil von ungefähr einem Kohleminen im Vordergrund stehen. Sechstel an den globalen anthropogenen Treib- hausgasemissionen. Die Vermeidung von Me- thanemissionen alleine ist daher sicherlich keine Die Politik ist am Zug Lösung für das Klimaproblem. Sie ist aber ein wichtiger Bestandteil eines kosteneffizienten Aufgabe der Politik ist es jetzt, den Weg zur Klimaschutzes, da ein knappes Viertel der Me- Erschließung kostengünstiger Methanvermei- thanemissionen bis 2020 zu geringen Grenz- dungspotentiale frei zu machen. Dazu sind ins- vermeidungskosten von 15 US-Dollar je Tonne besondere die Aufklärung relevanter Akteure und CO2-Äquivalent eingespart werden kann. Im nicht die Bereitstellung von Informationen notwen- unwahrscheinlichen Fall, dass der weltweite Preis dig. Darüber hinaus müssen ordnungsrechtliche für Treibhausgasemissionen bis 2020 15 US-Dol- und finanzielle Anreize gegeben werden. So war lar je Tonne CO2-Äquivalent überschreitet, sind so- Deutschland beispielsweise im Deponiebereich gar noch größere Methanvermeidungspotentiale durch ordnungspolitische Vorgaben sowie finan- wirtschaftlich profitabel erschließbar. Um ambi- zielle Anreize zur energetischen Nutzung von tionierte Ziele wie das 2-Grad-Ziel zu erreichen, Deponiegas durch das Erneuerbare-Energien-Ge- sollte daher nicht nur auf die Vermeidung von setz schon sehr erfolgreich. Nun müssen inter- CO2 gesetzt werden, sondern auch Methan kon- nationale Anstrengungen in weiteren Sektoren sequent einbezogen werden, das von allen Nicht- folgen. Um finanzielle Anreize für die Methan- CO2-Treibhausgasen die größten und kostengüns- vermeidung zu erzeugen, sollte Methan in einen tigsten Vermeidungspotentiale bietet. Darüber internationalen Emissionshandel und andere fle- hinaus ist Methan aufgrund seiner im Vergleich xible Instrumente einbezogen werden. Bei der zu CO2 kurzen atmosphärischen Verweildauer UN-Klimakonferenz in Kopenhagen sollte die besonders geeignet, kurzfristig positive Effekte Vermeidung von Methanemissionen daher nicht für das Weltklima zu erzielen. Maßnahmen zur vernachlässigt werden. Entscheidend ist jedoch Methanvermeidung sollten kosteneffizient über vor allem die spätere Umsetzung entsprechender verschiedene Sektoren gestreut werden, wobei der Maßnahmen auf nationaler Ebene. Erdgassektor, die Abfallwirtschaft und der Kohlen- bergbau besonders vielversprechend sind. In Anbetracht der hohen Klimawirksamkeit von Methan sollten neue Emissionsquellen unbedingt Nicht zu vernachlässigen sind die positiven Neben- vermieden werden, zum Beispiel im Bereich des effekte, die viele der diskutierten Maßnahmen mit verflüssigten Erdgases (Liqufied Natural Gas, sich bringen. So verringert beispielsweise eine LNG). Sowohl der Prozess der Gasverflüssigung geordnete Abfallentsorgung nicht nur Methan- als auch der LNG-Transport sind anfällig für Me- emissionen, sondern kann sich auch positiv auf thanemissionen. Da die LNG-Kapazitäten welt- die Kontrolle von Schadstoffen, Recyclingquoten weit gerade stark ausgebaut werden, sollte von und die Lebensqualität der Bevölkerung auswir- Anfang an darauf geachtet werden, dass diese ken. Der teilweise Ersatz fossiler Energieträger JEL Classification: Emissionen durch entsprechende technische Vor- durch Methan kann die Versorgungssicherheit Q52, Q53, Q54 schriften und geeignete Verfahren weitgehend erhöhen. Nicht zuletzt können sich bei weltweiten eingedämmt werden. Eine weitere potentielle Anstrengungen zur Vermeidung von Methanemis- Keywords: Methanquelle könnte der künftige Abbau von sionen Exportchancen für moderne Technologien Methane, Mitigation, Methanhydraten am Meeresboden darstellen. In ergeben, zum Beispiel bei abfallwirtschaftlichen Climate policy diesem Bereich ist eine bessere wissenschaftliche Behandlungsanlagen oder im Deponiebau. 662 Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Deutschland ein Auswanderungsland? Marcel Erlinghagen Pro Jahr verlassen 0,8 Prozent der Bevölkerung Angesichts der nicht nur quantitativ, sondern marcel.erlinghagen@uni-due.de Deutschland, das sind etwa 650 000 Personen. auch gesellschaftlich und kulturell bedeutsamen Tim Stegmann Das Medienecho auf diese Auswanderung ist Zuwanderung nach Deutschland, war lange Zeit tim.stegmann@uni-due.de überzogen schrill, denn die meisten Auswanderer die Auswanderung aus Deutschland weder in der Gert G. Wagner haben bereits einen Migrationshintergrund und öffentlichen Debatte noch in der Migrationsfor- gwagner@diw.de setzen ihre Migration fort oder kehren in ihre Hei- schung ein Thema.1 Wenn überhaupt, so verband matländer zurück. Zudem zieht ein beachtlicher sich mit der Begriff des Auswanderers vor allem Teil der Auswanderer nach Österreich und in die das Klischee des Aussteigers, der – als exotischer Schweiz um, von wo aus eine Rückwanderung ver- Einzelfall – jenseits der Zwänge der modernen gleichsweise einfach möglich ist. Arbeitsgesellschaft nach neuen oder scheinbar alten Freiheiten bevorzugt in klimatisch ange- Eine explorative erste Erhebung bei ausgewan- nehmen Regionen der Erde suchte. Erst im An- derten Teilnehmern der Wiederholungsbefragung schluss an die jüngsten ökonomischen Krisen Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) zeigt zudem, und die steigende Zahl Arbeitsloser ist das Thema dass Auswanderung zwar wie erwartet für Viele Auswanderung aus Deutschland wieder verstärkt mit Verbesserungen der Lebensumstände einher- in das Blickfeld von Öffentlichkeit, Politik und geht. Allerdings geben etwa ein Sechstel der Wie- Wissenschaft geraten.2 Zusätzlich wird das In- derbefragten ernste Probleme und eine Rückwan- teresse an der Auswanderung aus Deutschland derungsabsicht an. Geht man davon aus, dass neuerdings durch das wachsende wissenschaft- nicht erfolgreiche Auswanderer bei der Panelbe- liche und politische Verständnis von Migration fragung nicht mehr mitmachen, ist dieser Anteil als einem im Prinzip immer unabgeschlossenen der Unzufriedenen und potentiellen Rückwande- Mobilitätsprozess gesteigert.3 rer umso höher zu bewerten. Die mit Auswande- rung verbundenen Hoffnungen und Träume gehen Anders als bei der Analyse von Zuwanderung auch heutzutage – wie seit Jahrhunderten – kei- existieren bislang jedoch kaum wissenschaftlich neswegs immer in Erfüllung. verwertbare Daten, mit denen man die indivi- duellen Lebensbedingungen oder Beweggrün- de von Auswanderern untersuchen kann. Zwar hat es schon in der Vergangenheit empirische 1 Ausführlichere Informationen zu Wandel und Hintergründen der Zuwanderung nach Deutschland finden sich zum Beispiel in Schulz, E., Hannemann, A.: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2050: Nur leichter Rückgang der Einwohnerzahl? Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 47/2007 und Schulz, E.: Alternde Gesellschaft: Zur Bedeu- tung von Zuwanderungen für die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 33/1995. 2 Vgl. zum Beispiel den Überblick von Sauer, L., Ette, A.: Auswande- rung aus Deutschland. Stand der Forschung und erste Ergebnisse zur internationalen Migration deutscher Staatsbürger. Materialien zur Bevölkerungswissenschaft Heft 123. Wiesbaden 2007. 3 Vgl. Pries, L.: Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozial- räume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt/Main 2007; Mau, S.: Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten. Frankfurt/Main 2007; Berger, P. A., Weiß, A. (Hrsg.): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden 2008. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009 663
Deutschland ein Auswanderungsland? Datenbasis SOEP Mit der seit 1984 vom DIW Berlin in Zusammenarbeit An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff mit Infratest Sozialforschung durchgeführten Längs- „Auswanderung“ oder „Auswanderer“ insbesondere des- schnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) exis- halb problematisch ist, weil es Abgrenzungsprobleme tiert eine Erhebung über das „Leben in Deutschland“, die zwischen temporären Auslandsaufenthalten wie langen eine Untersuchung von individuellen Auswanderungs- Urlaubsreisen oder Praktika und der dauerhaften Ver- prozessen ermöglicht.1 Erstens kann analysiert werden, lagerung des Lebensmittelpunktes in ein anderes Land wer Deutschland verlassen will und Deutschland tat- gibt. Insofern muss bei jeder Untersuchung definiert sächlich verlässt. Zweitens können – bislang allerdings werden, wann von „Auswanderern“ gesprochen wird. nur in einer experimentellen Pilotstudie – ins Ausland Hier gehen wir von einer Auswanderung dann aus, wenn verzogene SOEP-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer auch eine Person, die bislang in Deutschland gewohnt hat, ins dort befragt werden. Ausland verzogen ist und in Deutschland faktisch nicht mehr befragbar ist, unabhängig davon, wie lange dieser Im SOEP werden schon länger Informationen über die Aufenthalt andauert.4 Aus- beziehungsweise Rückwanderungsabsichten der Befragten erhoben, auf deren Basis mittlerweile eine Rei- Auch wenn die amtliche Erfassung von Auswanderen he von empirischen Untersuchungen zu diesem Thema durchaus problematisch ist5 und nicht unmittelbar als vorgenommen worden sind.2 Allerdings ist dabei zu be- „Benchmark“ für die Prüfung der Datenqualität eines rücksichtigen, dass sich aufgrund geäußerter Migrations- Surveys wie dem SOEP dienen kann, ist doch damit zu absichten aus einer Vielzahl von Gründen nur bedingt rechnen, dass innerhalb einer Bevölkerungsbefragung nachfolgende tatsächliche Wanderungsbewegungen wie dem SOEP selbst durch eine gewissenhafte Adress- vorhersagen lassen. recherche nicht alle faktischen Auswanderer auch als solche identifiziert werden können, sondern fälschlich Darüber hinaus bietet die Wiederholungsbefragung als „Panelausfälle mit unbekanntem Grund“ erfasst SOEP auch die Möglichkeit, tatsächlich stattfindende werden. Vergleicht man folglich die einerseits auf Basis Auswanderungen zu untersuchen. Da die Gründe für der SOEP-Informationen und andererseits aufgrund der „Panelausfälle“, also Befragte, die nicht mehr beim amtlichen Erfassung berechneten Auswanderungsraten SOEP mitmachen, recherchiert werden, können ausge- zeigt sich erwartungsgemäß, dass das SOEP das Aus- wanderte Befragungsteilnehmer identifiziert und die maß der Auswanderungen aus Deutschland quantitativ Lebenssituation, die sie in Deutschland hatten, kann unterschätzt. Im Zeitverlauf schwanken die Unterschie- analysiert werden.3 de zwischen amtlicher Erfassung und SOEP-Berechnung, jedoch gibt es hier keinen erkennbaren Trend einer syste- matischen Zu- oder Abnahme der methodisch bedingten Unterschiede. 1 Vgl. Wagner, G. G., Goebel, J., Krause, P., Pischner, R., Sieber, I.: Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP): Multidisziplinäres Haushaltspanel und Kohortenstudie für Deutschland. In: AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 2 (4), 2008, 301–328. 2 Vgl. exemplarisch Haug, S.: Bleiben oder Zurückkehren? Zur Messung, Erklärung und Prognose der Rückkehr von Immigranten in Deutschland. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 26 (2), 2001, 231–270; Niefert, M., Ott, N., Rust, K.: Willingness of Germans to Move Abroad. In: Friedmann, R. (Hrsg.): Econometric Studies. Münster 2001, 317–333; Stegmann, T.: Einflussfaktoren auf die 4 Ähnliche begriffliche Probleme ergeben sich im Übrigen auch Rückorientierung ehemaliger Gastarbeiter in Deutschland. Eine Un- beim Begriff der „Zuwanderung“, da auch hier keine eindeutige tersuchung mit dem sozioökonomischen Panel. Saarbrücken 2007; zeitliche Grenze des Aufenthalts in Deutschland vorgegeben Diehl, C., Mau, S., Schupp, J.: Auswanderung von Deutschen: kein werden kann, die Zuwanderer eindeutig definieren würde. Gleiches dauerhafter Verlust von Hochschulabsolventen. Wochenbericht des gilt auch für den Terminus „Rückwanderung“, da eindeutige DIW Berlin Nr. 5/2008. Definitionskriterien fehlen, nach welcher „Karenzzeit“ noch von 3 Vgl. dazu – und einer ersten Analyse auf Basis dieser Möglich- einer Rück- und ab wann schon wieder von einer Auswanderung zu keit – Schupp, J., Söhn, J., Schmiade, N.: Internationale Mobilität sprechen ist. von deutschen Staatsbürgern. Chance für Arbeitslose oder Abwan- 5 So gibt es erfahrungsgemäß faktische Auswanderer, die sich derung von Leistungsträgern? In: Zeitschrift für Bevölkerungswis- nicht abmelden, zum Beispiel um als Nicht-EU-Staatsbürger das senschaft 30 (2–3), 2005, 279–292. Aufenthaltsrecht nicht zu verlieren. 664 Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Deutschland ein Auswanderungsland? Untersuchungen der Auswanderung gegeben.4 einer nicht mehr möglichen Befragung „ins Aus- Diese Untersuchungen basieren aber vor allem land verzogen“ angegeben wird. auf aggregierten Daten, die insbesondere das Statistische Bundesamt in Form seiner Wande- Aus migrationstheoretischer Sicht wirkt eine gan- rungsstatistik bereitstellt. Ferner gibt es nahezu ze Reihe von Einflüssen unterschiedlicher ge- keine Informationen – sieht man von Fernseh- sellschaftlicher Ebenen auf die individuelle Aus- sendungen ab – über die Lebensbedingungen wanderungsentscheidung. Wesentliche Faktoren der Auswanderer aus Deutschland nach Ankunft dürften hierbei neben dem Alter, der Qualifika- in ihrer neuen Heimat. Insofern verwundert es tion und dem Geschlecht auch der Erwerbs- und kaum, dass sich die deutsche Auswanderungsfor- Haushaltsstatus, die Migrationsgeschichte und schung – abgesehen von anekdotischer Evidenz der ethnische Hintergrund sein. Gleichzeitig ist und medial aufbereiteten Einzelfällen – derzeit zu vermuten, dass auch die subjektive Bewertung hauptsächlich auf aggregierte Wanderungsdaten der eigenen Lebenssituation eine Rolle spielt, wes- der offiziellen Statistik sowie nicht repräsenta- halb wir in unseren Modellen auch die allgemeine tive quantitative und qualitative Untersuchungen Lebenszufriedenheit, die Zufriedenheit mit dem bestimmter Auswanderergruppen beschränken Haushaltseinkommen, das Ausmaß der Sorgen muss.5 um die konjunkturelle Lage sowie das Ausmaß der Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situa- Wie setzt sich die Gruppe der Auswanderer aus tion als Kontrollvariablen aufnehmen. Um mög- Deutschland zusammen? Dieser Frage geht der liche Periodeneffekte zu berücksichtigen, wird vorliegende Aufsatz mit Hilfe der vom DIW Berlin das Erhebungsjahr ebenfalls berücksichtigt. in Zusammenarbeit mit Infratest Sozialforschung erhobenen SOEP-Daten nach (Kasten). Darüber Um dem komplexen Prozess einer Auswande- hinaus werden erste und vorläufige Ergebnisse rungsentscheidung Rechnung zu tragen, wurden einer schriftlichen Befragung von Auswanderern multivariate Übergangsratenmodelle in Form im Ausland im Rahmen des SOEP vorgestellt, die sogenannter „Cox-Proportional-Hazardrate-Mo- Anhaltspunkte bezüglich der Auswanderungs- delle“ geschätzt. Dies ermöglicht Aussagen über gründe und Lebensbedingungen der Auswande- die Einflussfaktoren der individuellen Auswan- rer aus Deutschland liefern. derungswahrscheinlichkeit. Dabei werden die Informationen der SOEP-Wellen 1984 bis 2005 verwendet.6 Es werden drei getrennte Übergangs- Auswanderer haben viele Gründe ratenmodelle geschätzt. Neben einem Gesamtmo- dell mit allen Befragten wird einerseits ein Mo- Da das SOEP eine Wiederholungsbefragung ist, dell für „autochthone“ Deutsche (in Deutschland wird festgehalten, ob Befragungspersonen, die geboren und deutsche Staatsangehörigkeit) und nicht mehr angetroffen werden, ins Ausland andererseits ein Modell für „Migranten“ (nicht verzogen sind. Damit ist es möglich, die Frage in Deutschland geboren oder nicht im Besitz der zu beantworten, welche Gruppen auswandern. deutschen Staatsangehörigkeit) geschätzt. Restriktionen ergeben sich freilich durch gerin- ge Fallzahlen von Auswanderern in der SOEP- Stichprobe. Vor allem junge Deutsche und ältere Migranten wandern aus Bei der folgenden Auswertung der SOEP-Daten werden als Auswanderer alle Personen bezeich- Tabelle 1 dokumentiert die Hazard Ratios der drei net, die auf Grund eines identifizierten Fortzugs geschätzten Übergangsratenmodelle bezüglich ins Ausland aus der SOEP-Stichprobe ausgeschie- der Wahrscheinlichkeit, aus Deutschland auszu- den sind. Die Dauer des Fortzugs ins Ausland wandern.7 Deutsche Frauen zeigen im Vergleich spielt keine Rolle. Dabei wird von einer erfolgten zu Männern eine signifikant vergrößerte Aus- Auswanderung ausgegangen, wenn als Grund wanderungswahrscheinlichkeit; in der Gruppe 4 Informationen zur Entwicklung des Auswanderungsgeschehens seit 1950 sowie zu den derzeit beliebtesten Zielländern von Auswan- 6 Mittlerweile liegen zwar auch die Daten der Wellen bis 2007 vor, derern aus Deutschland auf Basis der amtlichen Statistik liefern zum jedoch wurde hier auf die Einbeziehung dieser Jahre verzichtet, weil Beispiel Erlinghagen, M., Stegmann, T.: Goodbye Germany – und dann? die Nachrecherche von Panelausfällen und damit die Identifikation Erste Ergebnisse einer Pilotstudie zur Befragung von Auswanderern möglicher Auswanderer mitunter längere Zeit in Anspruch nehmen aus Deutschland. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Re- kann und davon auszugehen ist, dass zumindest bis zum Jahr 2005 der search 193, DIW Berlin 2009. Verbleib nicht mehr auffindbarer SOEP-Teilnehmerinnen und Teilneh- 5 Vgl. zum Beispiel Enders, J., Bornmann, L.: Internationale Mobili- mer geklärt sein sollte. tät von bundesdeutschen Promovierten. In: Bellmann, L., Velling, J. 7 Hazard Ratios können theoretisch alle Werte zwischen 0 und un- (Hrsg.): Arbeitsmärkte für Hochqualifizierte. Nürnberg 2002, endlich annehmen, wobei Werte zwischen 0 und 1 auf ein geringeres 357–374; Mohr, H.: Räumliche Mobilität von Hochschulabsolventen. Übergangsrisiko im Vergleich zu der zuvor definierten Referenzgruppe In: Bellmann, L., Velling, J. (Hrsg.): Arbeitsmärkte für Hochqualifizierte. hindeuten, während Werte größer 1 auf ein höheres Übergangsrisiko Nürnberg 2002, 249–277. verweisen. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009 665
Deutschland ein Auswanderungsland? Tabelle 1 der Migranten ist hingegen der umgekehrte Ef- fekt zu erkennen. Hier wandern eher Männer Auswanderung aus Deutschland Hazard Ratios als Frauen aus. Insgesamt sind darüber hinaus klare Alterseffekte erkennbar. Während in der Insgesamt Deutsche Migranten1 deutschen Bevölkerung eher die jüngeren Perso- Geschlecht (Referenz: männlich) Weiblich 0,932 1,314** 0,840** nen (bis 35 Jahre) auswandern, ist Auswanderung Alter (Referenz: 36 bis 55 Jahre) bei den Migranten vor allem ein Phänomen der 17 bis 25 Jahre 2,203*** 6,209*** 1,207 Personen im Alter zwischen 56 und 70 Jahren. 26 bis 35 Jahre 1,596*** 3,231*** 1,023 Darüber hinaus wandern Ostdeutsche seltener 56 bis 70 Jahre 1,662*** 0,82 2,021*** aus als Westdeutsche. Über 70 Jahre 0,477*** 0,61 0,816 Region (Referenz: Westdeutschland) Ostdeutschland 0,492*** 0,519*** – Innerhalb der deutschen Population sind es vor Haushaltsstatus (Referenz: Paar ohne Kind) allem Alleinlebende und Akademiker, die häufi- Ein-Personen-Haushalt 1,199* 1,779*** 1,03 ger auswandern. Bei den Migranten gibt es hinge- Alleinerziehend 0,761* 0,575* 0,863 gen einen u-förmigen Zusammenhang zwischen Paar mit Kind 0,666*** 0,861 0,642*** Qualifikation und Auswanderung: Nicht nur Aka- Sonstige Haushalte 1,046 1,275 0,98 demiker, sondern auch Geringqualifizierte ohne Qualifikation (Referenz: mit Ausbildung) Ohne Ausbildung 1,445*** 1,229 1,318*** Berufsabschluss verlassen Deutschland häufiger Akademiker 2,000*** 1,791*** 2,096*** als die Vergleichsgruppe der Menschen mit dualer Erwerbsstatus (Referenz: Facharbeiter) Berufsausbildung und ähnlichen Qualifikatio- Nicht erwerbstätig 1,771*** 1,204 1,989*** nen. Rentner 1,458*** 0,578 2,025*** Arbeitslos 1,975*** 1,852** 2,135*** Unter den Migranten verlassen vor allem die Ausbildung 1,577*** 1,898*** 1,202 Selbständig 1,490** 2,552*** 1,259 Menschen Deutschland, die nicht (mehr) in den Einfache Tätigkeit 0,898 1,003 0,94 Arbeitsmarkt integriert sind. Bei der deutschen Leitende Tätigkeit 1,538** 2,043*** 1,027 Bevölkerung ergibt sich hingegen ein heterogenes Beamter 0,939 1,074 – Bild. Einerseits zeigen Arbeitslose und Menschen Migration (Referenz: in Deutschland geboren) in Ausbildung eine höhere Auswanderungswahr- Im Ausland geboren 2,353*** – – scheinlichkeit als die Vergleichsgruppe der Fach- Seit höchstens 9 Jahren in Deutschland – – 2,600*** Seit 10–19 Jahren in Deutschland – – 1,363** arbeiter und mittleren Angestellten. Andererseits Seit 20 und mehr Jahren in Deutschland – – 1,081 verlassen aber auch Selbständige und Beschäftig- Status unbekannt – – 1,593** te in leitenden Funktionen eher ihre Heimat. Unzufriedenheit mit … (Referenz: höhere Zufriedenheit2) dem Leben allgemein 1,04 0,76 1,062 dem Haushaltseinkommen 1,081 0,886 1,106 Kein Zusammenhang zwischen Große Sorgen um … (Referenz: kaum Sorgen3) Auswanderung und Lebenszufriedenheit Konjunktur 0,879* 0,997 0,881 eigene wirtschaftliche Lage 1,169** 1,181 1,153* Staatsangehörigkeit (Referenz: deutsch) Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass we- Türkei 3,310*** – 4,913*** der eine erhöhte allgemeine Lebensunzufrieden- (Ex-)Jugoslawien 5,995*** – 8,300*** heit noch eine erhöhte Unzufriedenheit mit dem Griechenland 12,896*** – 18,287*** Einkommen des eigenen Haushalts zu einer ver- Italien 9,118*** – 13,550*** stärkten Auswanderung führt. Der Umstand, dass Spanien, Portugal 18,409*** – 27,133*** Österreich, Schweiz, Liechtenstein 4,368*** – 6,446*** sich Menschen große Sorgen um die konjunktu- Frankreich, Benelux, Dänemark 7,807*** – 8,683*** relle Entwicklung im Allgemeinen und ihre eige- Großbritannien, Irland, Island, Norwegen, 4,184*** – 2,63 ne wirtschaftliche Lage im Besonderen machen, Schweden, Finnland hat – wenn überhaupt – nur einen schwachen Polen, Tschechische und Slowakische 2,973** – 4,177*** Republik Einfluss auf Auswanderungsentscheidungen. Sonstiger ehemaliger Ostblock 3,907*** – 3,474*** Außerdem zeigt sich in der deutschen Bevölke- Sonstige 6,890*** – 6,953*** rung kein genereller Zeittrend. Die Auswande- Zeiteffekt rung von autochthonen Deutschen veränderte Erhebungsjahr 1,130*** 1,155 1,092** sich im betrachteten Zeitraum nicht signifikant. N (Beobachtungen) 297 328 239 674 56 021 Demgegenüber nimmt die Auswanderung von N (Episoden) 37 892 30 898 6 765 Migranten im Zeitverlauf signifikant zu. N (Ereignisse) 1 242 277 937 Signifikanz: *** p < 0,01; ** p < 0,05; * p < 0,1. Für die Betrachtung der Migranten ist darüber 1 Schätzungen nur für Westdeutschland. 2 Allgemein höhere Lebenszufriedenheit und höhere Zufriedenheit mit dem Haushalts-Einkommen. hinaus von Interesse, inwiefern die eigene Mi- 3 Keine oder geringe Sorgen um Konjunktur und um die eigene wirtschaftliche Lage. grationsgeschichte und die Staatsangehörigkeit einen Einfluss auf die Auswanderungsentschei- Quellen: SOEP 1984-2005; Berechnungen des DIW Berlin. DIW Berlin 2009 dung haben könnte. Je länger die Einwanderung 666 Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Deutschland ein Auswanderungsland? nach Deutschland schon zurückliegt, umso nied- konnte erfolgreich die neue Auslandsadresse re- riger ist im hier geschätzten Modell auch die Aus- cherchiert und der Fragebogen des Pilotprojektes wanderungswahrscheinlichkeit im Vergleich zur „Leben außerhalb Deutschlands“ (LaD) versendet Referenzgruppe der in Deutschland geborenen werden. Dies war für insgesamt 67 der 288 Aus- Migranten. Wenn die Zuwanderung bereits mehr wanderer (fast 25 Prozent) möglich. Davon haben als 20 Jahre zurückliegt, lassen sich sogar keiner- 32 den ausgefüllten LaD-Fragebogen tatsächlich lei Unterschiede mehr zu den in Deutschland zurückgeschickt, was bei einer schriftlichen Be- Geborenen ausmachen. Darüber hinaus lässt fragung einer beachtlich hohen Rücklaufquote sich festhalten, dass Migranten ohne deutschen von nahezu 50 Prozent entspricht. Setzt man die Pass – mit Ausnahme der Migranten der hier 32 realisierten Interviews mit der Zahl der 288 zusammengefassten Nationalitäten Großbritan- SOEP-Auswanderen in Beziehung, so werden nien, Irland, Island, Norwegen, Schweden und durch den LaD-Fragebogen rund elf Prozent der Finnland – eine generell erhöhte Auswanderungs- ursprünglichen Auswanderer erfasst. wahrscheinlichkeit haben. Gleichzeitig gibt es außerdem erhebliche Schwankungen je nach Na- Die folgenden Ausführungen basieren auf den tionalität – vor allem Spanier, Portugiesen und Informationen aus den 32 im Ausland realisierten Griechen verlassen Deutschland. Im Vergleich Befragungen mit den ausgewanderten SOEP-Teil- der verschiedenen Nationalitäten haben Türken nehmerinnen und -Teilnehmern. Aufgrund der im hier geschätzten Modell die niedrigste Aus- geringen Fallzahl ist eine Auswertung der Daten wanderungswahrscheinlichkeit. und eine inhaltliche Interpretation der mit dem dafür entwickelten Fragebogen erhobenen Infor- mationen nur eingeschränkt möglich. Insofern Individuelle Gründe und Folgen der ist ein wesentliches Ziel dieses Berichts vor al- Auswanderung lem erste Schlaglichter auf das „Leben außerhalb Deutschlands“ zu werfen. Diese bis hier vorgestellten Analysen lassen aber keine Rückschlüsse zu, welche spezifischen Grün- de zum Verlassen Deutschlands geführt haben Auswanderung als Erfolgsgeschichte? und wie es den Auswanderern in ihrer neuen Heimat ergeht. Denn dieser Personenkreis wird Die Gründe für die Auswanderungsentscheidung – wie weltweit bei allen Haushalts-Panelstudien sind vielfältig. 16 Personen geben familiäre Grün- üblich – nicht mehr weiter befragt. Diesen blin- de als ausschlaggebend an, während ebenfalls den Fleck der Migrationsforschung hellt ein unter 16 Befragte von beruflichen Gründen berichten. dem Titel „Leben außerhalb Deutschlands“ im Sieben Personen wollten durch die Auswanderun- Jahr 2005 gestartetes Pilotprojekt im Rahmen der gen wieder zurück in ihr Heimatland. Für neun SOEP-Studie auf. In diesem Pilotprojekt werden Personen spielten andere Gründe (zum Beispiel die neuen Adressen der ins Ausland verzogenen begrenzte Aufenthaltsgenehmigung in Deutsch- SOEP-Teilnehmer recherchiert. Für die Befra- land oder der Wunsch danach, Erfahrungen im gung selbst wurde ein Kurz-Fragebogen entwi- Ausland sammeln zu können) eine Rolle (Abbil- ckelt, der dann im Jahr 2006 an die mit Adresse dung 1). Mehrfachantworten waren bei der Befra- im Ausland bekannten und seit 2002 verzogenen gung möglich, wobei 16 Personen einen Grund, Auswanderer verschickt wurde. Diese erste Be- 13 Personen zwei und zwei Personen sogar drei fragungsrunde wurde ergänzt durch eine zweite Gründe für die Auswanderung anführen. Dieses Runde im Jahr 2007, in der der Fragebogen an Ergebnis gibt einen ersten Hinweis auf die Mehr- die seit 2006 ausgewanderten SOEP-Teilnehmer dimensionalität von Auswanderungsentscheidun- verschickt wurde.8 gen, die sich offensichtlich in vielen Fällen nicht auf einen Auslöser allein reduzieren lassen. Für die hier analysierten Befragungswellen 2002 bis 2006 weisen die SOEP-Daten 288 Personen 18 Befragte geben an, nach ihrer Auswanderung aus, die an der Befragung teilgenommen hat- erwerbstätig zu sein, während die übrigen 14 ten, jedoch in diesem Zeitraum ausgewandert nicht erwerbstätig sind. Nur ganz wenige dieser sind. Im weiteren Verlauf wird diese Substich- Nichterwerbstätigen sind arbeitslos (aus Daten- probe auch als „SOEP-Auswanderer“ bezeichnet. schutzgründen wird die Zahl nicht explizit aus- Für eine Teilpopulation der SOEP-Auswanderer gewiesen), sechs sind Rentner und die übrigen gehören zu den sonstigen Nichterwerbstätigen wie zum Beispiel Hausfrauen (Abbildung 2). 8 Vgl. Schupp, J., Siegel, N. A., Erlinghagen, M., Stegmann, T., Wagner, G. G.: Leben außerhalb Deutschlands. Eine Machbarkeits- studie zur Realisierung von Auslandsbefragungen auf Basis des Sozio- Die Personen, mit denen ein Interview im Aus- oekonomischen Panels (SOEP). SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Reseach 120, DIW Berlin 2008. land realisiert werden konnte, sind zwischen Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009 667
Sie können auch lesen