Von der scheinbaren Trivialität psychologischen Wissens
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Von der scheinbaren Trivialität psychologischen Wissens Eszter Monigl* & Hartmut Neuf** * Johannes Gutenberg-Universiät Mainz, Psychologisches Institut ** Justus-Liebig-Universität Gießen, Kognitionsforschung Zusammenfassung Im Zusammenhang mit psychologischen Themen bemerken Laien oft, dass viele Erkenntnisse ihnen eigentlich trivi- al vorkommen. Die vorliegende experimentelle Untersuchung geht der Grundfrage systematisch nach, ob eine gewis- se „Trivialität psychologischen Wissens“ tatsächlich feststellbar ist und von welchen Faktoren es abhängt, wann der Psychologe gegenüber dem Laien einen deutlichen Wissensvorsprung hat. Mittels eines objektiven Leistungstests, der zentrale Experimente aus verschiedenen Bereichen der wissenschaftlichen Psychologie als Multiple-Choice-Aufgaben anbot, konnte unter der Teilnahme von 42 Laien und 35 Psychologen gezeigt werden, dass Laien zwar bemerkenswert viele Aufgaben richtig lösen, jedoch Psychologen generell bessere Leistungen erzielen. Psychologen sind Laien immer dann deutlich überlegen, wenn die psychologischen Erkenntnisse dem Alltagsempfinden widersprechen und wenn die Antwortalternativen mit scheinbar plausiblen Erklärungen versehen sind. Insgesamt sprechen diese Ergebnisse für die Leistungsüberlegenheit der Psychologen und gegen eine angebliche durchgehende Trivialität psychologischer Erkennt- nisse. Schlüsselwörter Trivialität – psychologische Erkenntnisse – Laien – Experten Abstract When it comes to issues in psychology, laypersons often consider scientific findings as obvious or rather trivial. This experimental study systematically investigates the basic question if a kind of „triviality of psychological knowledge“ is in- deed notable and what factors determine if a trained psychologist has a substantial or a small advantage in psychological knowledge over a layperson. In a sample of n = 42 laypersons and n = 35 trained psychologist, an objective knowledge test which contained multiple-choice-items on core experiments from different areas of psychology was administered; it could be shown that laypeople arrive at a remarkably high number of correct answers, but that, in general, trained psychologists outperformed them by a large margin. Trained psychologists have a clear advantage in particular in those cases when the scientific findings contradict everyday intuition and when multiple-choice options are presented together with plausible explanations. Overall, results indicate an advantage for trained psychologists and fail to support the presumption that psychological findings are supposedly mainly trivial. Keywords Triviality – psychological knowledge – laypersons – experts 2013 – innsbruck university press, Innsbruck Journal Psychologie des Alltagshandelns / Psychology of Everyday Activity, Vol. 6 / No. 2, ISSN 1998-9970
Trivialität psychologischen Wissens 5 1 Einleitung nach Holz-Ebeling, 1989b). Wenn Laien psychologi- sche Erkenntnisse als bereits bekannt wahrnehmen, Wenn psychologische Forschungsergebnisse berichtet liegt es nach Ansicht der Autorin auch daran, dass psy- werden, reagieren Nicht-Psychologen (im Folgenden chologische Fragestellungen ihren Ursprung häufiger „Laien“ genannt) oftmals mit der eher abschätzigen als bei vielen anderen Wissensgebieten im Alltagswis- Bemerkung, dass sie dies ohnehin schon vorher ge- sen haben (Holz-Ebeling, 1989a). wusst hätten. Beispielhaft ist dazu ein Leserkommen- tar mit dem Titel „Erhellend“ in einer Onlinezeitung in Alltagspsychologie Bezug auf einen psychologischen Artikel1 über die Re- aktion von Menschen auf Umfragezahlen: „Wow, was Psychologisches Alltagswissen wird meist in informel- für eine erhellende Erkenntnis! Dafür braucht man len, sozialen Prozessen erworben (z. B. in Erziehungs- (…) nur ein bisschen gesunden Menschenverstand“. situationen) und seine Qualität und Menge ist interin- Um unseren Alltag erfolgreich bewältigen zu dividuell sehr unterschiedlich verteilt. Unabdingbare können, sind wir darauf angewiesen, uns selbst zu Elemente alltagspsychologischer Interpretationen kennen und zugleich die Reaktionen anderer mög- sind die Theory of Mind und das Konzept der Überzeu- lichst genau wahrzunehmen, zu interpretieren und gung (Sodian, 1995). Die Theory of Mind bezeichnet vorherzusagen (Forgas, 1994). Dies hat zur Folge, dass die Fähigkeit, sich selbst und anderen Personen men- Laien hinsichtlich psychologischer Themen über ein tale Zustände zuzuschreiben und somit beispielsweise recht ausgeprägtes Vorwissen verfügen. Erreicht aber Absichten oder Gefühlen anderer zu vermuten. Da- dieses Wissen die Zuverlässigkeit und Vollständigkeit durch wird ein Mensch auch befähigt das Verhalten des psychologischen Wissens von Experten? Mit dieser anderer interpretieren bzw. vorhersagen zu können Frage beschäftigt sich die vorliegende experimentel- (Sodian, 1995). Das Konzept der Überzeugung bezieht le Studie, indem sie die Vorhersageleistung von Laien sich auf die Annahme, dass sich jemand in einem fal- und Psychologen systematisch an prototypischen psy- schen Glauben über einen Sachverhalt befinden kann chologischen Erkenntnissen verschiedenster Bereiche und ermöglicht, Handlungsvorhersagen abhängig von untersucht. der Überzeugung einer Person und nicht nur aufgrund der Umstände zu treffen. Die Einstellung der Laien gegenüber der Psychologie Wichtige Quellen alltagspsychologischen Wissens ist häufig zwiespältig. In bestimmten Bereichen, wie bilden die unmittelbar verfügbaren wie auch im Nach- beispielsweise der diagnostischen Urteilsbildung oder denken reflektierten Erfahrungen. Der Erwerb dieses Intelligenzmessung wird der Psychologie weitgehen- Wissens hat weniger mit Wissenslust als vielmehr mit de Autorität zugeschrieben, dagegen werden ihre For- lebenspraktischen Zwecken zu tun und sein Inhalt ist schungserkenntnisse oft als trivial bewertet. Häufig überwiegend mit Bedingungen assoziiert (Schneewind, wird der Psychologie auch vorgeworfen, dass sie tri- 1992). Dieses Bedingungswissen umfasst Annahmen viale Weisheiten nur kompliziert ausdrücke (Forgas, über Ursache-Wirkungs-Beziehungen und ist deshalb 1994; Holz-Ebeling, 1989a). Trivial bedeutet in Bezug eine essentielle Voraussetzung für Verhaltenserklä- auf psychologische Erkenntnisse so viel, dass diese rungen und -antizipationen, garantiert allerdings noch schon bekannte bzw. nicht außergewöhnliche Inhalte nicht deren Richtigkeit (vgl. Wenn-Dann-Relationen vermitteln. bei Knauff, 2006). Folglich ist eine alltagsperspektivi- Nach Bischof (2008) kann das Nicht-Erkennen sche Anschauung und Meinungsbildung zu zahlreichen des Neuigkeitswerts von psychologischen Erkennt- Themenbereichen (z. B. zu den Ursachen von Prü nissen teilweise darin begründet sein, dass diese für fungsangst) meistens entweder schon von vornherein den Alltagsmenschen häufig sehr spezifisch und des- gegeben oder wird erleichtert (Holz-Ebeling, 1989a). halb von geringer Relevanz sind. Als weitere Erklä- Dadurch ist zwar die Alltagspsychologie des Laien häu- rung kann auch die geringe Transparenz und unzu- fig sehr leistungsfähig, jedoch ist dieses Wissen unsys- reichende Kommunikation wissenschaftlicher Effi- tematisch und überwiegend implizit (Forgas, 1994). zienz in Betracht gezogen werden. Für Holz-Ebeling Die wissenschaftliche Psychologie unterscheidet (1989b) ist der Vorwurf der Trivialität aus der angeb- sich von der Alltagspsychologie in der Vorgehenswei- lichen oder tatsächlich guten Prognostizierbarkeit se, d. h. in der Art und Weise ihrer Beobachtungen, Be- von Forschungsergebnissen herzuleiten. In diesem schreibungen, Erklärungen und Vorhersagen (Perrig Zusammenhang verweist sie auf Tendenzen zur Über- & Groner, 1992). Über das Wissensverhältnis zwischen schätzung der eigenen prognostischen Fähigkeit wie Laien und Psychologen liegen bislang keine Erkennt- beispielsweise des hindsight bias (Fischhoff, 1975; zit. nisse vor. 1 Leserkommentar – Erhellend zum Artikel „Umfragen beeinflussen die Wähler“. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview- mit-hans-peter-erb-umfragen-beeinflussen-die-waehler.a2c41538-65f8-43d2-b5cf-82fd829e21d3.html?page=1 (26.3.11)
6 E. Monigl & H. Neuf Expertenwissen und Alltagswissen Studierenden durch. Zur Operationalisierung des Konstrukts Psychologisches Wissen wurden Aufgaben Die eigentliche Unterscheidung zwischen Exper- entwickelt, in der die Teilnehmer zu geschilderten ten und Laien ist immer gegenstandsbezogen, d.h. sozialpsychologischen Untersuchungssituationen ihre jeder Mensch kann auf wenigen Gebieten Experte Prognose abgeben und dazu jeweils ihre Überlegun- und gleichzeitig auf vielen Gebieten Laie sein (Flick, gen protokollieren mussten. Der Anteil richtiger Pro- 1995). In der Definition „Personen, die in einem ein- gnosen lag bei fast allen Situationen unter oder um zelnen Sachgebiet längerfristig mehr Aufgaben auf hö- 50 %. Insgesamt zeigen die Ergebnisse eine geringe herem Niveau mit geringerem Aufwand erledigen als Übereinstimmung zwischen den Prognosen und ver- der Durchschnitt, gelten üblicherweise als Experten“ deutlichen, dass die den Vorhersagen zugrundeliegen- (Krems, 1994, S. 9) werden zwei Bestimmungsgrößen den subjektiven Theorien sehr unterschiedlich sind. berücksichtigt: Überdurchschnittliche Aufgabenerle- Obgleich die Ergebnisse Holz-Ebelings Untersu- digung mit einem unterdurchschnittlichen Aufwand chung (1989b) für die Psychologie als „beruhigend“ (Zeit, Kosten, Fehlerquote). Experten gehen mit ih- erscheinen, bleibt es weiterhin unklar, ob Psycholo- ren Ressourcen ökonomischer um, so dass sie deshalb gen – als ausgewiesene Experten der Psychologie – tat- auch über mehr freie Kapazitäten verfügen (Büssing, sächlich deutlich mehr wissen als Laien. Aus diesem Herbig & Ewert, 2001). Sie sind fähig Regeln so zu be- Grund werden in der vorliegenden Untersuchung fol- herrschen, dass sie Situationen identifizieren können, gende Fragestellungen verfolgt: a) Ist psychologisches in denen ihre Anwendung nicht angemessen (Dreyfus Wissen tatsächlich trivial, d. h. können Laien psycho- & Dreyfus, 1986 zit. n. Büssing, Herbig & Ewert, 2001) logische Erkenntnisse ähnlich gut prognostizieren wie ist und die richtige Lösung – aus der Sicht der Laien – Psychologen? b) Von welchen Faktoren ist es abhän- eher kontraintuitiv erscheint. gig, wann der Psychologe gegenüber dem Laien einen Im Unterschied zum Alltagswissen der Laien bil- deutlichen oder einen nur geringen Wissensvorsprung det sich das Expertenwissen durch ein spezifisches, hat? informations- und feedbackreiches Zusammenspiel Unter Berücksichtigung, dass Alltagswissen mit von Praxis und Theorie (Deliberate Practice; Erics- Bedingungen assoziiert (Schneewind, 1992), weniger son, Krampe & Tesch-Römer, 1993) sowie durch eine explizit und meistens nur in der Anwendung erkenn- sich dann ergebende differenziertere Wissensstruktur bar ist (Holz-Ebeling, 1989a), wollen wir in unserem (Büssing, Herbig & Ewert, 2001). Experiment das implizite psychologische Wissen – Für die zutreffende Erklärung oder Vorhersage ohne Fachbegriffe – bei konkreten Verhaltensvorher- menschlichen Verhaltens sind korrekte Schlüsse aus sagen für bestimmte Situationen testen. der Relation zwischen Voraussetzung und Konsequenz wesentlich (vgl. konditionales Schließen; Knauff, 2006). Hypothesen Laien machen hier erheblich mehr Fehler als Exper- ten. Dies liegt vermutlich daran, dass eine „unerlaub- 1. Insgesamt erreichen Psychologen bessere Leistungen te“ Umkehrung der Relation eine erhebliche Verein- in der Vorhersage experimenteller Ergebnisse als Laien. fachung der Schlussfolgerung ermöglicht und in den Diese ihrerseits zunächst trivial anmutende Annahme, meisten Alltagssituationen nicht widerlegt wird. Die dass Psychologen die Resultate von Experimenten bes- Tendenz zur Verifikation und zur bikonditionalen In- ser prognostizieren können, ist vor dem Hintergrund terpretation konditionaler Aussagen nimmt allerdings des Psychologiestudiums wahrscheinlich, aber nicht ab, wenn diese nicht abstrakt, sondern inhaltlich kon- zwingend, zumal Laien genau dies ja häufig in Zweifel kret abgefasst sind (Hussy, 1986). ziehen. Eine weitere Form der Informationsverarbeitung, die psychologische Experten effizient nutzen können, Die zweite Forschungsfrage bezieht sich auf die Aufga- ist der Perspektivenwechsel, d. h. die Rekonstruktion benmerkmale, die eine leichte oder schwere Prognos- einer Situation oder eines Gefühlszustands anderer tizierbarkeit psychologischer Erkenntnisse bewirken Personen mit der eigenen Person als Protagonist, wie können. In Bezug auf die vorangegangen dargestellten sie insbesondere der klinische Psychologe trainieren Charakteristiken des Laien- und Expertenwissen wur- kann (Neuf, 1997). den drei mögliche Einflussfaktoren definiert und dazu folgende Annahmen formuliert. Wie ist die Trivialität psychologischen Wissens überprüf- bar? 2. Der Leistungsvorteil der Psychologen ist größer bei kontraintuitiven als bei intuitiven psychologischen Er- Eine besonders anschauliche Studie zu der tatsächli- kenntnissen. Da Alltagspsychologie weniger explizit chen Vorhersagbarkeit von Forschungsergebnissen und stärker an situative Bedingungen gekoppelt ist führte Holz-Ebeling (1989a, 1989b) mit Schülern und (Schneewind, 1992) als die wissenschaftliche Psycho-
Trivialität psychologischen Wissens 7 logie, werden Vorhersagen aus Mangel an Strategien den vorgegebenen Alternativen auswählen. Die Dis- und / oder Informationen häufig intuitiv getroffen. traktoren wurden anhand der Kombinationsmöglich- Intuitivität bezieht sich in dem vorliegenden Kontext keiten zwischen den in den Experimenten untersuch- darauf, ob eine korrekte Vorhersage, ohne spezifische ten Variablen entwickelt. Mit diesem Aufgabenformat Wissensvoraussetzungen, also durch Laien, meistens war es zudem möglich, die zu untersuchenden Ein- möglich ist oder nicht. flussbedingungen in einem bearbeitungs- und aus- wertungsökonomischen Modus zu operationalisieren. 3. Der Leistungsvorteil der Psychologen ist größer bei Für jeden Einflussfaktor wurden zwei Ausprägungs- psychologischen Erkenntnissen auf Basis komplexer stufen definiert: Situationen (d. h. das experimentelle Design umfasst mehr als eine unabhängige Variable). Hinsichtlich die- 1. Intuitivität der Prognosen: Der empirisch gesicherte ser Bedingung sind für die Vorhersageleistung neben Befund ist alltagspsychologisch nahe liegend (intuiti- Fachkenntnissen der flexible Einsatz von verschie- ves Item) oder nicht (kontraintuitives Item). Um bei denen Lösungsstrategien (Büssing, Herbig & Ewert, der Itemselektion auf eine ausreichende Besetzung 2001), schlussfolgerndes Denken (Knauff, 2006) und der Faktorstufe intuitiv achten zu können, wurde jedes Perspektivenwechsel-Fähigkeit (Neuf, 2007) von Be- Item von zwei unbeteiligten Experten auf einer zehn- deutung. stufigen Ratingskala hinsichtlich seiner Intuitivität be- wertet. Eine empirisch fundierte Einstufung der Items 4. Der Leistungsvorteil der Psychologen ist größer, wenn erfolgte später anhand der Itemschwierigkeit. die Ergebnisalternativen eines Experiments scheinbar plausibel erklärt werden und somit mehrere Stand- 2. Komplexität der Situationen: Dieser Faktor bezieht punkte gleichzeitig als möglich erscheinen. Überzeu- sich auf die Vielschichtigkeit der geschilderten Situ- gende Erklärungen zu einer Situation können die pro- ationen und wurde im PSIT durch die Beschreibung gnostischen Urteile in ihrer Tendenz verstärken, wenn von Experimenten mit einer unabhängigen Variablen das Wissen (explizit oder implizit) stabil ist, aber auch (einfaches Item) und mit zwei unabhängigen Variab- verunsichern, wenn die benötigten Kenntnisse fehlen len (komplexes Item) operationalisiert. Infolgedessen oder labil sind. Die Kompetenz, zu erkennen, ob eine wurden die einfachen Items mit drei und die komple- Erklärung Regeln beschreibt, die für die zu beurteilen- xen Items mit fünf Antwortalternativen dargeboten. de Situation gültig ist oder nicht (Dreyfus & Dreyfus, 1986 zit. n. Büssing, Herbig & Ewert, 2001), kann die 3. Erklärung: Die Antwortalternativen eines Items Prognose positiv oder negativ beeinflussen. wurden mit einem scheinbar plausiblen Satz begrün- det (mit Erklärung) oder nicht begründet (ohne Er- klärung) vorgelegt. Ein einfaches, intuitives Item mit 2 Methode Erklärung zeigt Abbildung 1. Entwicklung des Untersuchungsmaterials Patienten, denen eine Operation bevorsteht, werden be- fragt und beobachtet, mit wem sie den Abend vor dem Zur Operationalisierung des psychologischen Wissens Eingriff lieber verbringen würden bzw. tatsächlich ver- von Erwachsenen als abhängige Variable wurde der bringen. standardisierte Psychologische Situationstest (PSIT; Monigl, 2002) entwickelt. Um die Testfairness und Was werden die meisten Patienten antworten bzw. mit die Validität des Tests zu gewährleisten, wurde bei wem verbringen sie den Abend vor der Operation? der Konstruktion auf Fachtermini verzichtet. Als Test- grundlage wurden, in Anlehnung an Holz-Ebelings a) Mit einer Person, die die Operation noch vor sich Untersuchungsmethode (1989b), wissenschaftlich hat. anerkannte experimentelle Untersuchungen aus ver- Erklärung: Sie suchen Verständnis für ihre Ängste. schiedenen psychologischen Bereichen (z. B. Sozial- b) Mit einer Person, die die Operation bereits hinter psychologie-, Allgemeine Psychologie) berücksichtigt. sich hat. Dazu wurden zunächst 47 Experimente aus verschie- Erklärung: Sie suchen zuverlässige Informationen denen psychologischen Bereichen ausgewählt, die für über die „Bedrohung“. den Laien thematisch nachvollziehbar waren und kei- c) Überwiegend alleine. ne Erklärung, sondern einen Effektnachweis verlang- Erklärung: Sie wollen zusätzliche Ängste vermei- ten. Jedes Experiment wurde als alltagsnahe Situation den. beschrieben und in Form einer Multiple-Choice-Auf- gabe dargestellt. Die Teilnehmer sollten die richtige Abbildung 1: Einfaches intuitives Item mit Erklärung. Prognose – also das Ergebnis des Experiments – aus
8 E. Monigl & H. Neuf Die Einflussfaktoren Intuitivität und Komplexität wur- die Itemselektion waren der Inhalt des Experiments, den als Within-Faktor variiert. Alle Items sind jeweils die Komplexität und die Intuitivität der Items sowie einer Ausprägungsform der beiden Within-Faktoren ein Probetest mit je zwei, an der Untersuchung nicht und somit zwei Bedingungen zugeordnet. beteiligten Laien und Experten ausschlaggebend. Un- Angesichts der Anzahl der zu manipulierenden ter Berücksichtigung der erforderlichen Variabilität unabhängigen Variablen und der erhöhten Ratewahr- innerhalb der intraindividuellen Faktorstufen und der scheinlichkeit waren zur Überprüfung der Hypothesen Bearbeitungszeit wurden insgesamt 27 Aufgaben in etwa 30 Items erforderlich (Lienert & Raatz, 1998). Für die Endversion des PSIT übernommen. Tabelle 1: Überblick der für den PSIT ausgewählten experimentellen Untersuchungen. Themenbereich des Experiments Literatur intuitiv – einfach Soziale Vergleiche – Informationssuche Kulik & Mahler, 1989; Stroebe, Hewstone & Stephenson, 1996 Ankereffekte Kahneman & Tversky, 1974; Hussy, 1998 Erklärung der Mondtäuschung Rock & Kaufmann, 1962; Guski, 1996 Reaktionen von Hilfeempfängern Gergen, Ellsworth, Maslach, & Seipel, 1975; Herkner, 1991 Erwartungsbedingte Verzerrungen Rosenthal & Jacobson, 1968; Forgas, 1994 Erwartete Ereignisfolgen Owens, Bower & Black, 1970; Forgas, 1994 Interpretation erhöhter Aktivierung Dutton & Aron, 1974; Herkner, 1991 Objektive Selbstaufmerksamkeit Diener & Wallbom, 1976; Herkner, 1991 intuitiv – komplex Soziale Wahrnehmung und Stimmung Forgas, Bower & Krantz, 1984; Forgas, 1994 Einfluss des Kodierungskontextes Eich, Weingartner, Stillman & Gillin, 1975; Anderson, 1989 Kompetenz und Anziehung Aronson, Willermann & Floyd, 1966; Forgas, 1994 kontraintuitiv – einfach Reaktanz Brehm, 1966; Kroeber-Riel & Weinberg, 1996 Expertenwissen Charness, 1976; Anderson, 1989 Ereignishäufigkeit und Stimmung Stone, 1987; Schmidt-Atzert, 1996 Angstauslösende Mitteilungen Janis & Fesbach, 1954; Herkner, 1991 Emotionale Wirkung von Ereignissen Wortman & Silver, 1987; Schmidt-Atzert, 1996 Zwischenmenschliches Vertrauen Rotter, 1967; Schneewind, 1992 Kognitive Landkarte Kosslyn, Ball & Reiser, 1978; Anderson, 1989 Brainstorming Harkins & Jackson, 1985; Stroebe et al., 1996 Problemlösen und Emotion Schmitz, 1993; Schmidt-Atzert, 1996 Entscheidungstheorie Irwin, 1953; Heckhausen, 1989 Primacy-Effekt Jones et al., 1968; Forgas, 1994 Intergruppendifferenzierung Brown, R. J., 1978; Stroebe et al., 1996 Fremdbeurteilung der Mimik Wagner, MacDonald & Manstead, 1986; Schmidt-Atzert, 1996 kontraintuitiv – komplex Wirkung der Fähigkeit auf Rezeption und Eagly & Warren, 1976; Stroebe et al., 1996 Akzeptierung Spannungsmindernde Wirkung des Alkohols Steele & Josephs, 1988; Davison & Neale, 1998 Erschöpfende serielle Durchmusterung Sternberg, 1966; Baddeley, 1979 Anmerkung: Die jeweils ersten Angaben zur Literatur verweisen auf eine exemplarische Untersuchung, die zweiten Angaben jeweils auf die Literaturquelle.
Trivialität psychologischen Wissens 9 Abbildung 2: Das experimentelle Design mit zwei Between-Faktoren (Expertise und Erklärung) und zwei Within-Faktoren (Intuitivität und Komplexität). Für die genaue Einordnung der Items hinsicht- die Psychologen waren jedoch mit 85.7 % mehrheit- lich ihrer Intuitivität wurden die Leistungen der Laien lich weiblich. Insgesamt 61.9 % der Laien hatten einen in der Testversion ohne Erklärungen einbezogen. Weil Hochschulabschluss, 33.3 % mittlere Reife oder einen einfache und komplexe Items unterschiedlich viele Berufsabschluss und 4.8 % den Hauptschulabschluss. Distraktoren haben, wurde als Kriterium der Intuiti- Zur Bearbeitung des PSIT wurden aufgrund von Pro- vität derjenige korrigierte Schwierigkeitsindex fest- bedurchläufen sowie des Verhältnisses der Wörteran- gelegt, der bei einem einfachen Item (drei Antwort zahlen zwischen den beiden Testversionen (mit oder alternativen) einer 50 % Lösungswahrscheinlichkeit ohne Erklärung) je nach experimenteller Bedingung entspricht. Alle Items mit PZK ≥ .25 wurden als intuitiv exakt 60 bzw. 45 Minuten zur Verfügung gestellt. eingestuft. Folglich ist der Intuitivitätsfaktor durch 11 intuitive und 16 kontraintuitive Items, der Komplexi- tätsfaktor durch 21 einfache und 6 komplexe Items 3 Ergebnisse vertreten (vgl. Tabelle 1). Als abhängige Variable wurden die prognostischen Die beiden Between-Faktoren (Expertise und Erklä- Leistungen (aufgrund der richtigen Lösungen gemäß rung) wurden quasiexperimentell bzw. experimentell der psychologischen Forschung) der Teilnehmer er- realisiert. Die Teilnehmer waren entweder Laien oder hoben. Wegen der ungleichen Itemverteilung auf den Experten, und sie bekamen den PSIT entweder mit Within-Faktoren und für eine bessere Vergleichbar- oder ohne Erklärung der Antwortalternativen darge- keit wurden diese durch Mittelwerte abgebildet (Wer- boten (vgl. Abbildung 2). tebereich zwischen 0 und 1). In die Berechnung der Leistungswerte gingen unter den Between-Faktoren Stichprobe und Durchführung (Expertise und Erklärung) alle 27 Items ein. In Bezug auf die Within-Faktoren (Intuitivität und Komplexität) Als Außenkriterium für Expertise kann die Qualität wurden für die Prognoseleistungen Items der jeweili- und Intensität der Ausbildung, Berufserfahrung und gen Faktorstufen berücksichtigt (vgl. Tabelle 1). -erfolg eingesetzt werden (Krems, 1994). Ein Psycho- Zur Überprüfung der ersten Hypothese wurde loge in der vorliegenden Untersuchung ist mindestens die Gesamtleistung der Laien und der Psychologen schon in der Phase seiner Abschlussprüfungen oder miteinander verglichen. Erwartungskonform zeigt hat sie absolviert. Ein Laie ist ohne psychologische sich, dass Laien bei der Vorhersage von experimen- Bildung und auch beruflich nicht mit psychologischen tellen Ergebnissen anhand des PSIT insgesamt den Themen befasst. Darüber hinaus waren sehr gute Psychologen deutlich unterliegen (ML= .33; SD = .09 Deutschkenntnisse Teilnahmebedingung. Bei der Lai- und MP= .47; SD = .14; t(54.4) = -5.20; p < .001), die enstichprobe wurde zudem ein möglichst heterogener Zwischengruppen-Effektstärke (Hedges g) beträgt da- Bildungs- und Berufsstand angestrebt. Die Teilneh- bei g = 1.21. Die Ergebnisse in den einzelnen Faktor- merakquise erfolgte über private Bekannte der Auto- stufen sind aus Tabelle 2 zu entnehmen. ren, Zeitungsannoncen und telefonische Anfragen. An der Untersuchung nahmen insgesamt 35 Psy- Die Annahme, dass die Intuitivität der psychologi- chologen und 42 Laien im Alter von 18 bis 63 Jahren schen Erkenntnis die Vorhersageleistung beeinflusst (M = 35.52, SD = 10.53) teil. Die Geschlechtervertei- und sich folglich auf den Leistungsunterschied zwi- lung ist bei den Laien ausgeglichen (54.8 % weiblich), schen Laien und Psychologen auswirkt (Hypothese 2),
10 E. Monigl & H. Neuf Tabelle 2: Vergleich der Leistungsmittelwerte zwischen Laien und Psychologen in der jeweiligen Experimentalbedingung. Laie Psychologe t-Test N M (SD) N M (SD) t df Intuitivität (max. 1 Pkt.)a Intuitiv 42 .52 (.18) 35 .65 (.17) -3.06** 75.00 Kontraintuitiv 42 .20 (.08) 35 .35 (.15) -5.38** 50.99 Komplexitäta Einfach 42 .34 (.10) 35 .47 (.15) -4.22** 55.73 Komplex 42 .30 (.16) 35 .48 (.18) -4.76** 75.00 Erklärung ohne Erklärung 22 .35 (.10) 17 .42 (.12) -2.24* 37.00 mit Erklärung 20 .32 (.07) 18 .52 (.14) -5.39** 23.31 Anmerkungen: p (einseitig); *p < .05; **p < .01. a Die Leistungswerte sind im Punktebereich 0 bis 1 angeben. wurde unter Berücksichtigung der Leistungen aus der te Differenzen innerhalb der einzelnen Stichproben, d. Testversion ohne Erklärung getestet. h. bei den Laien (Mdiff = .03; SD = .18; t(21) = 0.70; p Bedingt durch die Vorgehensweise bei der Ein- = .25, einseitig) und bei den Psychologen (Mdiff = -.02; teilung der Items fielen die Leistungen der Laien in SD = .16; t(16) = -0.53; p = .30, einseitig) festgestellt der intuitiven Bedingung signifikant höher aus als in werden. Somit hatte die Komplexität der Items, also der kontraintuitiven Bedingung (Mdiff = .38; SD = .21; ob im ursprünglichen Experiment ein oder mehrere t(21) = 8.38; p < .01, einseitig). Große Unterschiede zei- Faktoren manipuliert wurden, keine Auswirkung auf gen sich jedoch auch bei den Psychologen (Mdiff = .18; die Richtigkeit der Prognosen (Haupteffekt Komplexi- SD = .17; t(16) = 6.78; p < .01, einseitig). Nachdem die tät: (F(1, 37) = 0.01; p = .92; η2 = .00). In diesem Zu- Prognosen bei den intuitiven Items insgesamt deutlich sammenhang wurden die Leistungsdifferenzen allein besser als bei den kontraintuitiven Items ausfielen durch die Expertise der Teilnehmer bedingt (Haupt (Mdiff = .34; SD = .20; t(38) = 10.60; p < .01, einseitig) effekt Expertise: F(1, 37) = 6.36; p < .05; η2 = .15; Inter- kann die Manipulation des Faktors Intuitivität als ge- aktion: F(1, 37) = 0.73; p = .40; η2 = .02). lungen bewertet werden (Haupteffekt Intuitivität: F(1, 37) = 109.83; p < .01; η2 = .75). Die Expertise der Teil- Aufschluss darüber, ob die zusätzlichen Erklärungen nehmer hatte dabei einen schwachen Einfluss auf die zu den Antwortalternativen den Leistungsvorteil der Prognoseleistung (Haupteffekt Expertise: F(1, 37) = Psychologen tatsächlich vergrößern (Hypothese 4), 3.58; p= .07; η2 = .09). Obwohl keine signifikante Inter- liefert der Vergleich der Prognoseleistungen zwischen aktion nachgewiesen werden konnte (F(1, 37) = 2.14; den Testversionen mit und ohne Erklärung. p = .15; η2 = .06), weist die der ordinalen Interaktion Nach den vorliegenden Ergebnissen bewirkten entsprechende Anordnung der Mittelwerte in Bezug die zusätzlichen Erklärungen bei den Laien tenden- auf die beiden Haupteffekte (Bühner & Ziegler, 2009), ziell schlechtere (Mohne = .35; SD = .10 und Mmit = .32; in die erwartete Richtung. SD = .07; t(36.83) = 1.09; p = .14, einseitig), dagegen bei den Psychologen signifikant bessere Prognoseleis- Auch die Überprüfung von Hypothese 3, die bei komple- tungen (Mohne = .42; SD = .12 und Mmit = .52; SD = .14; xen Situationen im Vergleich zu einfachen S ituationen t(33) = -2.10; p
Trivialität psychologischen Wissens 11 Leistungsveränderung ist eine signifikante Wechsel- prognostizierenden Erkenntnisse kontraintuitiv sind, wirkung zwischen den Faktoren Erklärung und Ex- können auch Laien aus den Erklärungsmöglichkeiten pertise (F(1, 73) = 5.97; p < .05; η2 = .08) verantwortlich. minimal profitieren, allerdings nützen Psychologen Die Rangreihen der Leistungsmittelwerte in den un- diese Informationsquelle in diesem Fall erfolgreicher. terschiedlichen Bedingungen lassen auf eine hybride Die Analyse mit dem Within-Faktor Komplexität er- Wechselwirkung schließen (Bühner & Ziegler, 2009), brachte keine neuen Erkenntnisse. die auf einen einseitigen, nur in der Prognoseleistung In Anbetracht der unterschiedlichen Geschlechter- der Psychologen zur Geltung kommenden Effekt des verteilung zwischen Laien und Psychologen sowie Faktors Erklärung hinweist (vgl. Abbildung 3). des signifikant höheren Durchschnittsalters der Laien (M = 39.83; SD = 11.93) gegenüber den Psychologen (M = 30.34; SD = 5.07; t(57.45) = 4.68; p < .01) wurde ergänzend die Auswirkung von Geschlecht und Alter überprüft. Betreffend des gesamten PSIT und der Ge- samtstichprobe zeigten sich keine Geschlechts- oder Alterseffekte. Weil Laien über verschiedene Bildungsgrade ver- fügen können, wurde in Verbindung mit den Ergeb- nissen zusätzlich überprüft, ob die Leistung der Lai- en möglicherweise durch ihre akademische Bildung beeinflusst wird. Zwischen nicht-Akademiker Laien (M = .29; SD = .09) und Akademiker Laien (M = .36; SD = .07) zeigte sich ein signifikanter Unterschied hin- Abbildung 3: Die Prognoseleistung der Laien und Psycho- sichtlich der gesamten PSIT-Ergebnis (t(40) = -2.66; logen in Abhängigkeit der Verfügbarkeit von Erklärungen. p < .05, zweiseitig) zugunsten der Akademiker. Die Varianzanalyse bestätigt einen signifikanten Ein- Wie aus den bisherigen Ergebnissen hervorgeht und fluss des Bildungsgrades (Haupteffekt: F(1, 38) = 7.33; durch die Varianzanalysen gestützt wird, vergrößert p = .01; η2 = .16) auf die Testleistungen, der unabhän- sich der Leistungsvorteil der Psychologen nicht in al- gig von den anderen Bedingungen wirkt. Bei dem len potentiell schwierigeren Bedingungen. Zur Über- Vergleich zwischen Akademiker-Laien und Psycho- prüfung, ob sich die Prognosebedingungen gegenseitig logen anhand ihrer Vorhersageleistungen insgesamt, beeinflussen, wurden 2x2x2-faktorielle Varianzanaly- zeigt sich allerdings weiterhin ein deutlicher Vor- sen jeweils unter Einbeziehung eines Within-Faktors teil der Psychologen (ML = .36; SD = .07 und MP = .47; durchgeführt. Die Berechnung mit dem Messwieder- SD = .14; t(53.7) = -4.16; p < .000, einseitig). Lediglich holungsfaktor Intuitivität zeigt neben den signifikan- in der Faktorstufe ohne Erklärung wird der Vorteil ten Haupteffekten Intuitivität und Expertise sowie der nicht mehr eindeutig (ML= .38; SD = .09 und MP = .42; Interaktion Expertise x Erklärung auch eine starke SD = .12; t(28) = -1.25; p = .11, einseitig). Tendenz einer Dreifachinteraktion zwischen den ein- bezogenen Variablen Intuitivität x Expertise x Erklä- rung: (F(1, 73) = 2.87; p = .09; η2 = .38).Wenn also die 4 Diskussion Inwieweit und unter welchen Bedingungen können Laien mit ihrer Alltagspsychologie mit den psycho- logischen Experten mithalten? Diese Frage verfolgte die vorliegende experimentelle Untersuchung indem sie einerseits das psychologische Wissen von Laien und Psychologen miteinander verglich, andererseits Bedingungen untersuchte, die die Größe der Leis- tungsunterschiede beeinflussten. Dazu wurde der standardisierte PSIT mit Multiple Choice Antwortfor- mat entwickelt, der die konkrete Vorhersageleistung vor dem Hintergrund prototypischer Experimente aus dem gesamten Spektrum der experimentellen Psy- chologie erfasste. In Anlehnung an Erkenntnisse zur Abbildung 4: Die Prognoseleistung der Laien und Psycho- Alltagspsychologie (Forgas, 1994; Holz-Ebeling, 1989a; logen in Abhängigkeit der Verfügbarkeit von Erklärungen Schneewind, 1992; Sodian, 1995) und der Expertisefor- und der Intuitivität der Prognose. schung (Büssing, Herbig & Ewert, 2001; Hussy, 1986;
12 E. Monigl & H. Neuf Flick, 1995; Knauff, 2006; Krems, 1994) wurden die In- In Bezug auf die dritte Hypothese konnten die tuitivität der zu prognostizierenden experimentellen Ergebnisse die erwartete Interaktion zwischen Ex- Ergebnisse, die Komplexität der zugrundeliegenden pertise und Komplexität der Aufgaben (bzw. der ur- Experimente sowie die Verfügbarkeit von das Ergeb- sprünglichen Experimente) nicht bestätigen. Folglich nis erklärenden Informationen als unabhängige Vari- scheint für eine Unterscheidung zwischen Laien- und ablen manipuliert. Psychologenwissen weniger relevant zu sein, als es Korrespondierend mit der ersten Hypothese vermutet wurde, ob der Ausgang einer einfachen oder zeichnete sich ein deutlicher Leistungsvorteil der durch mehrere Faktoren bedingten Situation vorher- Psychologen gegenüber den Laien in allen geprüften gesagt werden soll. Der massive Effekt der Expertise Einflussbedingungen ab. Welche Bedeutung psycho- belegt allerdings eindrucksvoll den Wissensvorsprung logische Expertise für die Treffsicherheit von Prog- der Psychologen gegenüber den Laien. Dieses Ergeb- nosen hat, bestätigt auch die große Effektstärke der nis ist möglicherweise in dem insgesamt schwierigen Leistungsdifferenz zwischen Laien und Psychologen. Gesamttest und der ungleichen Verteilung von einfa- Somit kann in Bezug auf die erste Forschungsfrage auf chen und komplexen Items begründet. Die geringe einen niedrigen Trivialitätsgrad für psychologische Anzahl der komplexen Aufgaben schränken also die- Erkenntnisse geschlussfolgert werden. Gleichzeitig ist se Schlussfolgerungen insofern ein, als der fehlende anzumerken, dass die Laien unter allen untersuchten Effekt der Komplexität nicht eindeutig interpretierbar Bedingungen in der Lage waren, mehr als 50 % der ist. Leistung der Psychologen zu erreichen (vgl. Tabelle 2). Mit einer signifikanten Interaktion zwischen Dieses Ergebnis kann einerseits als Nachweis für die den Faktoren Erklärung und Expertise unterstützen gelungene „Übersetzung“ der Experimente in Alltags- die Ergebnisse die vierte Hypothese. Wie erwartet situationen betrachtet werden. Andererseits bedeutet beeinflusst das gleichzeitige Zusammenwirken von dies auch, dass das alltagspsychologische Wissen der Expertise und Verfügbarkeit von Erklärungen zu den Menschen den Zusammenhang zwischen Bedingung möglichen Prognosen die Vorhersageleistung. Dabei und Verhalten ziemlich zuverlässig abbildet (Schnee- zeigt sich, dass Laien deutlich schlechter, Psycholo- wind, 1992) und dadurch der Ausgang einiger psycho- gen dagegen deutlich besser prognostizieren, wenn logischer Experimente auch ohne Psychologiestudium die vorgeschlagenen Antwortalternativen mit teilwei- relativ gut vorhergesagt werden kann. se pseudo-plausiblen Erklärungen begründet werden. Zur Beantwortung der Forschungsfrage hin- Dieser Befund erlaubt in Bezug auf die Expertisefor- sichtlich der die Prognoseleistung beeinflussenden schung zwei mögliche Interpretationen. Erstens kann Faktoren, wurden die Leistungswerte mittels Varianz vermutet werden, dass Psychologen während ihres analysen untersucht. Die Abhängigkeit der Vorher- Studiums die Fertigkeit erwerben, aus einer Vielzahl sageleistung von der Intuitivität des experimentellen von Informationen, wie bei einem Puzzle, die Zusam- Befunds offenbart sich in dem beobachteten signifi- mengehörigen zu erkennen. Ihr Wissen ist stabiler kanten Haupteffekt, der zugleich die Wirksamkeit der und differenzierter und sie sind auch über die Vor- experimentellen Manipulation des untersuchten Fak- aussetzungen von besonderen Verhaltensreaktionen tors bestätigt. Der starke Effekt der Intuitivität kann besser informiert als die Laien. Zwar ist dieses Wis- als möglicher Beleg für die Bedeutung von Alltagser- sen häufig nur implizit verfügbar (Büssing, Herbig & fahrungen auch für die wissenschaftliche Psycholo- Ewert, 2001), dennoch ermöglicht es den Psychologen, gie (Forgas, 1994; Holz-Ebeling, 1989a) interpretiert Hinweisinformationen für die Lösung in der Aufgabe, werden. Bestätigend dazu unterscheiden sich die den Antwortalternativen und den Erklärungen zu er- Leistungen der Laien und Psychologen in der intuiti- kennen. ven Bedingung kaum, in der kontraintuitiven Bedin- Zweitens ist gut möglich, dass der Vorteil der gung jedoch deutlich und zugunsten der Psychologen Psychologen auch mit ihrem expliziten Wissen be- voneinander. Diese Leistungsveränderungen weisen gründet ist. Während Laien wegen der Informations- auf einen tendenziellen Einfluss der Expertise hin. menge beim Umgang mit Konditionalaussagen eher Psychologen erwerben während ihres Studiums und verunsichert oder sogar überfordert werden, können durch berufliche Erfahrungen Kenntnisse um psychi- Psychologen aus der größeren Informationsmenge sche Vorgänge und daraus resultierende Verhaltens- vermutlich effektiver schlussfolgern (Knauff, 2006). reaktionen in verschiedenen Situationen erschließen Eine zusätzliche Berücksichtigung des Intuitivitätsfak- zu können, selbst wenn diese den Alltagsregeln wider- tors verstärkt diese Vermutung. Psychologen sind in sprechen (vgl. Dreyfus & Dreyfus, 1986, zit. n. Büssing, der Lage sowohl in der intuitiven als auch in der kon- Herbig & Ewert, 2001). Da die postulierte Interaktion traintuitiven Bedingung von den dargebotenen Erklä- lediglich tendenziell ausfiel, kann die zweite Hypothe- rungsalternativen zu profitieren. Offensichtlich bilden se nicht beibehalten werden. relationale Informationen ein wichtiges Fundament der psychologischen Expertise, korrespondierend mit
Trivialität psychologischen Wissens 13 dem alltagspsychologischen Wissen, das ebenfalls mit ßen von psychischen Prozessen und Handlungsfolgen Bedingungen assoziiert ist (Schneewind, 1992). wesentlich durch das Psychologiestudium beeinflusst Diese Erkenntnis scheint auch die zusätzliche wird, oder wählen vielleicht Menschen dieses Studi- Berücksichtigung des akademischen Bildungsgrades enfach, weil sie in diesem Bereich bereits über gute der Laien zu unterstreichen. Nach den vorliegenden Kompetenzen oder ein großzügig verteiltes alltags- Ergebnissen ist die akademische Bildung bedeutend psychologisches Wissen verfügen? Ebenso zu klären für die „Entschlüsselung“ von komplexen Situationen, wäre, wie sich die prognostische Leistung in verschie- reicht aber scheinbar nicht aus, um die zutreffenden denen Berufsfeldern (z. B. bei klinische Psychologen, Erklärungen für psychologische Phänomene zu er- bei Lehrkräften oder Polizeikräften) unterscheidet kennen. In diesem Zusammenhang wäre wichtig zu und in wie weit diese durch kognitive, emotionale und klären, ob tatsächlich die akademische Bildung oder soziale Fähigkeiten beeinflusst wird. andere Faktoren, wie beispielsweise kognitive Fähig- keiten oder allgemeine Kenntnisse, den gefundenen Effekt verursachen. Literatur Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass mit naiver Psychologie durchaus gute Vorhersagen er- Anderson, J. R. (1989). Kognitive Psychologie: Eine Ein- zielt werden können, allerdings ist ihre Effektivität im führung. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft. Vergleich zur wissenschaftlichen Psychologie relativ Baddeley, A. D. (1979). Die Psychologie des Gedächtnis- begrenzt. Die Leistungen zwischen Psychologen und ses. Stuttgart: Klett-Cotta. Laien nähern sich am meisten in Bezug auf Erkennt- Bischof, N. (2008). Psychologie – Ein Grundkurs für An- nisse, die intuitiv, also der Alltagserfahrung entspre- spruchsvolle. Stuttgart: Kohlhammer. chend sind. Sobald es jedoch um Erkenntnisse geht, Bühner, M. & Ziegler, M. (2009). Statistik für Psycholo- die zum Alltagswissen kontraintuitiv sind oder Ver- gen und Sozialwissenschaftler. München: Pearson. haltensvorhersagen anhand einer Vielzahl von plausi- Büssing, A, Herbig, B. & Ewert, T. (2001). Implizites blen und begründeten Alternativen getroffen werden und explizites Wissen – Einflüsse auf Handeln in sollen (und genau dies ist der Fall bei den Items mit kritischen Situationen. Zeitschrift für Psychologie, Erklärungen), sind die Psychologen den Laien deut- 209, 174-200. lich überlegen. Somit ist die Trivialität des psychologi- Davison, G. C. & Neale, J. M. (1998). Klinische Psycho- schen Wissens viel geringer und bedingungsabhängi- logie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. ger als von vielen Laien behauptet wird. Ericsson, K. A., Krampe, R. T. & Tesch-Römer, C. Aus methodischer Sich ist von Bedeutung, dass (1993). The Role of Deliberate Practice in the der PSIT weitgehend grundlegende psychologische Aquisition of Expert Performance. Psychological Themen aus den Bereichen der Sozialpsychologie Review, 100, 363-406. und Allgemeinen Psychologie umfasst, die für Laien Flick, U. (1995). Alltagswissen in der Sozialpsycholo- als relevant eingeschätzt wurden. Zudem sind die be- gie. In U. Flick (Hrsg.), Psychologie des Sozialen. rücksichtigten Experimente bzw. Erkenntnisse bereits Repräsentation in Wissen und Sprache (S. 54-77). seit mehreren Jahrzehnten bekannt und haben sich Hamburg: Rowohlt. möglicherweise auch schon ins Alltagswissen einge- Forgas, J. P. (1994). Soziale Interaktion und Kommuni- fügt. Deshalb ist es durchaus denkbar, dass die Un- kation. Eine Einführung in die Sozialpsychologie. terschiede zwischen Laien und Psychologen deutlich Weinheim: Beltz. größer ausfallen würden, wenn sich die Aufgaben auf Guski, R. (1996). Wahrnehmen – ein Lehrbuch. Stutt- aktuellere Erkenntnisse und auch auf Befunde aus an- gart: Kohlhammer. deren Bereichen der Psychologie (z. B. Klinische Psy- Heckhausen, H. (1989). Motivation und Handeln. Ber- chologie, Pädagogische Psychologie oder Arbeits- und lin: Springer. Wirtschaftspsychologie) beziehen würden. Herkner, W. (1991). Lehrbuch Sozialpsychologie. Bern: Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, mit Huber. einem erweiterten und optimierten Verfahren sowie Holz-Ebeling, F. (1989a). Alltagspsychologisches Den- mit größeren Stichproben die gefundenen Erkennt- ken. Psychologische Forschungsergebnisse im Ur- nisse abzusichern. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre teil von Laien. Heidelberg: Asanger. es zudem fruchtbar, durch weiterführende Untersu- Holz-Ebeling, F. (1989b). Zur Frage der Trivialität von chungen, weitere für die prognostische Leistung aus- Forschungsergebnissen. Zeitschrift für Sozialpsy- schlaggebende Faktoren zu identifizieren, um daraus chologie, 20, 141-156. resultierende Erkenntnisse für die Ausbildung (von Hussy, W. (1986). Denkpsychologie: Ein Lehrbuch. Psychologen, Lehrern oder Medizinern) als auch für Stuttgart: Kohlhammer. Forschungszwecke nutzen zu können. Denn offen ist Hussy, W. (1998). Denken und Problemlösen. Stuttgart: beispielsweise die Frage, ob ein effektiveres Erschlie- Kohlhammer.
14 E. Monigl & H. Neuf Knauff, M. (2006). Deduktion und logisches Denken. Schmidt-Atzert, L. (1996). Lehrbuch der Emotionspsy- In J. Funke (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie, chologie. Stuttgart: Kohlhammer. Themenbereich C, Band 8, Denken und Problemlö- Schneewind, K. A. (1992). Persönlichkeitstheorien. Or- sen (S. 167-264). Göttingen: Hogrefe. ganismische und dialektische Ansätze. Darmstadt: Krems, J. F. (1994). Wissensbasierte Urteilsbildung. Di- Wissenschaftliche Buchgesellschaft. agnostisches Problemlösen durch Experten und Sodian, B. (1995). Entwicklung bereichsspezifischen Expertensysteme. Bern: Huber. Wissens. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Ent- Kroeber-Riel, W. & Weinberg, P. (1996). Konsumenten- wicklungspsychologie (S. 622-653). Weinheim: verhalten. München: Vahlen. Psychologie Verlags Union. Lienert, G. A. & Raatz, U. (1998). Testaufbau und Test- Stroebe, W., Hewstone, M. & Stephenson, G. M. (1996). analyse. Weinheim: Beltz. Sozialpsychologie: Eine Einführung. Berlin: Monigl, E. (2002). Trivialität psychologischer Erkennt- Springer. nisse. Eine vergleichende Untersuchung der naiven Psychologie im Verhältnis zur wissenschaftlichen Psychologie. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Korrespondenz-Adresse: Neuf, H. (1997). Determinanten des Eindenkens in an- Dr. Eszter Monigl dere Personen. Der Perspektivenwechsel im Reakti- Johannes Gutenberg-Universität Mainz onszeitexperiment. Münster: Waxmann. Psychologisches Institut Perrig, W. & Groner, R. (1992). Psychologie als Wissen- Binger Straße 14-16 schaft. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie, D-55122 Mainz 51, 224-228. monigl@uni-mainz.de
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