Kiel 1969: Ein quellenkritischer Blick auf Tradierungsprozesse als "Arbeit am Mythos"

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Geogr. Helv., 76, 299–303, 2021
https://doi.org/10.5194/gh-76-299-2021
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                     Kiel 1969: Ein quellenkritischer Blick auf
                   Tradierungsprozesse als „Arbeit am Mythos“
                                                        Ute Wardenga
                                    Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, Deutschland
                               Correspondence: Ute Wardenga (u_wardenga@leibniz-ifl.de)

                            Received: 25 April 2021 – Accepted: 18 May 2021 – Published: 12 July 2021

       Kurzfassung. The contribution uses the example of the 1969 Congress of German Geographers in Kiel to
       illustrate how traditions are born and passed on in German-speaking geography. By means of hermeneutic source
       criticism, it investigates how the events of „Kiel 1969“ gave rise to a myth. It concludes that the congress’s
       participants experienced „Kiel 1969“ as the site of an enormously dense social interaction within their science.
       Most importantly, participants’ suggestive oral reports in the aftermath of the congress turned it into the „myth
       of Kiel“, which became an essential driving force of German-speaking geography’s modernization.

1   Einleitung                                                     Bedeutung der Oralität für Entstehung und Tradierung eines
                                                                   Mythos bis hin zu sozialen Differenzierungsprozessen in der
Als Benedikt Korf und ich unsere Kieler Fachsitzung or-            westdeutschen Geographie, die konstitutiv für die Herausbil-
ganisierten, hat er mich gefragt, ob ich als Geographiehis-        dung des „Mythos Kiel“ wurden, wie dieser wiederum jene
torikerin auf der Veranstaltung ein paar einleitende Worte         Energien freigesetzt hat, die es braucht, um differente Inter-
über das sprechen könnte, was in „Kiel“ aus meiner Sicht           essen und Geographiewahrnehmungen durch Institutionali-
„wirklich“ passiert sei. Das habe ich (ehrlich gesagt) zu-         sierung auf Dauer zu stellen.
nächst für eine zwar charmante, aber auch etwas eigenarti-
ge Idee gehalten, weil sie ja in der Konsequenz unterstellt,
dass Historiker*innen in der Lage sein könnten, an den Be-
sitz einer übergeordneten Wahrheit zu gelangen. Anderer-           2   Das Verschwinden von Quellen und die Folgen
seits ging es in unserer Podiumsdiskussion um den Erinne-
rungsort Kiel 1969 und damit um einen Megamythos der               Die einschlägigen Quellenrecherchen zum Geographentag
deutschsprachigen Geographie mit so suggestiver Evidenz,           Kiel sind nicht einfach, weil ein wichtiger Teil der Akten
dass eine Geschichte von Tradierungsprozessen dieses My-           des „Zentralverband der deutschen Geographen“ (im Un-
thos wahrscheinlich höchst aufschlussreiche Ergebnisse er-         terschied zu anderen Geographentagen vor und nach Kiel)
warten ließe.                                                      fehlen – und schon gefehlt haben, als der Bestand 1995 ins
   Der nun folgende Beitrag beschreibt in eher locker              „Archiv für Geographie“ am Leibniz-Institut für Länderkun-
essayistischer Form ein paar dieser Tradierungsprozesse.           de (IfL) gelangte. Möglicherweise sind die entsprechenden
Dabei wird nicht systematisch zwischen dem Tradierungs-            Aktenteile irgendwann im Nachgang des Kieler Geographen-
verhalten anderer Menschen und dem der Autorin als ei-             tages unbeabsichtigt verloren gegangen, weil mit der Spre-
ner an der Herstellung kohärenter Geschichten interessier-         cherfunktion des Zentralverbands zugleich der Ort der Ak-
ten Fachhistorikerin unterschieden. So geht es mit Blick auf       tenführung wechselte. Andererseits kann sich auch jemand
Kiel 1969 um mysteriös verschwundene Quellenbestände,              aus der westdeutschen Geographie, der Zugang zu den Ver-
Revolutionen mit Ansage, in die zwecks Wahrung des Frie-           bandsakten hatte, gezielt dafür entschieden haben, den Kieler
dens vorsichtshalber alle beteiligten Interessengruppen ein-       Aktenbestand nicht weiterzugeben. Die Gründe mögen viel-
bezogen werden. Erzählt wird auch von ex post überarbei-           fältig gewesen sein, waren aber in allen denkbaren Varianten
teten Schlüsseltexten ohne größeren Quellenwert, von der           mit ziemlicher Sicherheit von der Sorge getragen, die Mög-

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lichkeit eines tieferen Einblicks in die Geschäftsgänge un-      kein Novum; neu war allerdings, dass sich zwei Teilverbän-
mittelbar vor und nach „Kiel“ dauerhaft zu verwehren.            de zu deren Organisation zusammenschlossen und dabei –
   Bei mangelnder Quellenlage wird die Rekonstruktion des-       das war allerdings für die damaligen Verhältnisse unerhört!
sen, was wahrscheinlich „wirklich vor Ort“ passiert ist, ziem-   – relativ früh die bereits an ihrer „Bestandsaufnahme“ arbei-
lich aufwändig, denn man muss nach Parallelüberlieferungen       tenden studentischen Arbeitsgruppen mit ins Boot nahmen
und Gegenquellen suchen, sie (re-)kontextualisieren, mit und     (vgl. ausführlicher Wardenga, 2020). Mindestens ein persön-
gegen den Strich lesen, um ein wahrscheinlich zutreffendes       liches Treffen in Köln lässt sich im Vorfeld von „Kiel“ als
Bild dessen zu gewinnen, was, wie und warum geschehen            eine Art „Hauptprobe“ für die geplante Fachsitzung mit un-
ist. Auf diese Weise kann man trotz fehlender Quellen ei-        terschiedlichen Quellen belegen. Bereits auf dieser Zusam-
niges herausfinden. Dazu gehört z. B. der wenig bekannte         menkunft, zu der auch Peter Schöller als Vertreter des Hoch-
Umstand, dass Kiel als Ort der Austragung des Geographen-        schullehrerverbands eingeladen war, lagen alle, z. T. im Vor-
tags 1969 lange nicht feststand, weil auch Erlangen, Freiburg    feld schon einvernehmlich und wechselseitig abgestimmten
im Breisgau und Göttingen seit 1965 im Gespräch waren.           Manuskripte der später in Kiel gehaltenen Vorträge im Wort-
Erst als die anderen Kandidaten, teils wegen fehlenden Per-      laut vor – auch die von den Studierenden sehr sorgfältig
sonals (Freiburg), teils wegen fehlender Hotelkapazitäten vor    erarbeitete „Bestandsaufnahme zur Situation der deutschen
Ort (Göttingen), teils wegen mangelnder Hörsaalkapazitäten       Schul- und Hochschulgeographie“ (vgl. Bestandsaufnahme
(Erlangen) abgesagt hatten, wurde der Weg für Kiel ziemlich      zur Situation der deuschen Schul- und Hochschulgeographie,
kurzfristig frei (IfLA, 537/2/97-98; 537/2/100, 537/2/101,       1970). Kein Verband konnte also sagen, er sei ausgeschlos-
104). Für die Kieler bot die schon länger beabsichtigte Aus-     sen worden und/oder habe nichts gewusst. In dieser Perspek-
richtung eines Geographentages (IfLA, 537/2/98) freilich die     tive betrachtet war „Kiel“ also eine „Revolution mit Ansage“
Chance, die eigenen Schwerpunkte, nämlich Länderkunde            unter partizipatorischer Beteiligung aller für die Geographie
des europäischen Nordens und Hydrologie, auf die Agenda          wesentlichen Stakeholder.
zu setzen. Das damit am Spektrum des Hergebrachten ori-             Während die in die Breite gehende Kommunikation in der
entierte Tagungsthema signalisierte nach außen das unaufge-      Schul- und der angewandt arbeitenden Geographie sowie un-
regte business as usual eines ganz normalen Geographenta-        ter den Studierenden offensichtlich reibungslos funktionier-
ges.                                                             te, zeigte der Hochschullehrerverband (in dem ausschließ-
                                                                 lich die habilitierten Geographen organisiert waren) hinge-
                                                                 gen wenig Neigung, sich auf das Kommende vorzubereiten.
3   Verbandspolitiken als Revolution mit Ansage                  Zwar wurden auf der Mitgliederversammlung am 12. Okto-
                                                                 ber 1968 in Bad Hersfeld Freiwillige gesucht, die sich „für
Trotz aller im Vorfeld beobachtbaren Bemühungen um Nor-          eine eventuelle Diskussion von Grundsatzfragen der Geogra-
malität war der Kieler Kongress jener Geographentag, auf         phie während des Geographentages in Kiel“ zur Verfügung
dem die seit Jahren schwelende Krise des Fachs in geball-        stellten (IfLA, 537/3/115). Von den im Protokoll namentlich
ter Form spürbar wurde. Denn in der Geographie gärte es          genannten zehn „Herren“ waren in Kiel allerdings nachweis-
schon seit Jahren (zum folgenden vgl. ausführlich Wardenga,      lich nur vier anwesend – alle anderen hatten es vorgezogen,
2020). Bereits der Kölner Geographentag von 1961 mit sei-        diesen Geographentag lieber zu schwänzen.
nen Debatten u. a. um die Entwicklungsländerforschung, den          Möglicherweise hat es im unmittelbaren Vorfeld von
Einbau der Sozialgeographie, die Neuorientierung der Schul-      „Kiel“ auch unter der Professorenschaft ein vermehrtes Auf-
curricula und die (im Vergleich mit der DDR-Geographie)          kommen brieflicher und telefonischer Kontakte wegen der
längst überfällige Aufwertung der sich machtvoll entfalten-      Kieler Fachsitzung gegeben. Eine gemeinsam im Vorfeld je-
den Angewandten Geographie hatte ein ziemlich behäbig ge-        doch abgestimmte Handlungsstrategie bezüglich notwendig
wordenes Fach mit erheblichen Modernisierungserwartun-           kluger Antworten auf die seitens der Angewandten Geogra-
gen konfrontiert. Gleichwohl hielten die Hochschullehrer         phie, der Schulgeographie und vor allem von den Studie-
den Ball auch in den folgenden Jahren erst einmal flach          renden vorgelegten Thesen zur katastrophalen Situation des
– trotz wiederholter unüberhörbarer Warnungen z. B. von          Faches lässt sich im Licht der Gegenquellen nicht rekon-
Wolfgang Hartke, der mit seiner Münchener Arbeitsgruppe          struieren. Lediglich die Einladung zur Mitgliederversamm-
vehement für eine neue, mehr sozialwissenschaftlich und an-      lung des Hochschullehrerverbands vermerkt für den 20. Ju-
gewandt arbeitende Humangeographie eintrat.                      li 1969 (und damit den Tag vor Beginn der Veranstaltung)
   Während die Professorenschaft also eine Vogel-Strauss-        den TOP „Vorbereitung der Sitzung Der Geograph – Ausbil-
Politik betrieb, drangen der Schulgeographenverband und          dung und Beruf“ (IfLA, 537/3/110). Es blieb, wie es seit den
der „Verband deutscher Berufsgeographen“ darauf, in Kiel         1950er Jahren war: Die jüngeren Hochschullehrer schwie-
die immer drängender werdenden, aber stets vertagten Fra-        gen in – berechtigter – Sorge um ihre weitere Karriere oder
gen der Zukunftsfähigkeit des Faches in einer eigens anbe-       verzichteten ganz auf eine Teilnahme am Kongress. Stattdes-
raumten Fachsitzung „Der Geograph – Ausbildung und Be-           sen darf man wohl annehmen, dass auf der Mitgliederver-
ruf“ zu diskutieren. Eine derartige Spezial-Fachsitzung war      sammlung die Wogen hochgegangen sein mögen. Das hat

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wahrscheinlich nicht zuletzt dazu geführt, dass die Debat-      phentag nicht umstandslos vom später gedruckten auf das
ten auf der Kieler Fachsitzung von den bereits gut etablier-    in situ gesprochene Wort schließen kann. Mithin tut man al-
ten oder kurz vor der Emeritierung stehenden älteren Profes-    so gut daran, mindestens für den Fall dieser sehr speziel-
soren und damit den auch institutionell machtvollsten Ver-      len Fachsitzung den spontan überlieferten Eindrücken von
tretern des traditionellen länder- und landschaftskundlichen    Kongressbeobachter*innen mehr Glauben zu schenken als
Denkens dominiert wurden.                                       den für die Nachwelt tradierten verschriftlichten Versionen.
                                                                Man sollte die gedruckten Debattenbeiträge der Professoren
                                                                deshalb als das interpretieren, was sie höchstwahrscheinlich
4   Welchen Quellen kann man trauen?                            sind: Nämlich ex post inhaltlich ziemlich aufgehübschte und
                                                                wissenschaftssozial zugleich heruntergedimmte Varianten ei-
Wer was in den Kieler Diskussionen wann wie genau gesagt        ner vor Ort zu Gehör gebrachten anderen Sprache, die sich
hat, lässt sich rückblickend kaum noch erschließen. Während     für die Kieler Ohrenzeugen wahrscheinlich weniger wissen-
nämlich die Berichterstatter der „Geographischen Rund-          schaftsadäquat als vielmehr emotionsgesteuert anhörte.
schau“ unter dem unmittelbaren Eindruck der Geschehnisse
von ziemlich turbulenten, auch emotional aufwühlenden Sit-
zungen berichten (z. B. Knübel, 1969), kann man den Ein-        5   Kontexte, Oralität, Mythos
druck einer aufgeheizten Stimmung mit den im Kieler Kon-
gressband abgedruckten Diskussionsbeiträgen nur schwer          Die nun im Zwischenfazit zu ziehende Folgerung ist in Be-
nachvollziehen (Meckelein und Borcherdt, 1970:208–232).         zug auf den „Mythos Kiel“ keineswegs banal: Damit sich
Denn nach Ausweis der Diskussionsprotokolle blieben die         ein Geschehen zum Mythos entwickeln kann, braucht es
sich zu Wort meldenden Professoren in ihren z. T. lang-         weniger die Schriftlichkeit von lesbaren als vielmehr die
atmigen Ausführungen zwar im Kontext ihrer hergebrach-          Mündlichkeit von gesprochenen Worten. Mythen – so kann
ten Denkwelt, argumentierten jedoch weitgehend abgewo-          man auf den Spuren von Blumenberg (1979) und Mar-
gen, vergleichsweise konsistent und paradigmenkonform.          quard (1981) wandelnd vielleicht etwas überpointiert formu-
Sie dürften damit also bei der Hörerschaft in situ nicht je-    lieren – gedeihen am besten mit und durch Geschichten, die
nen kollektiv-emotionalen Schrecken einer klaffenden Lücke      man nur vom Hörensagen kennt. Begreiflicherweise kom-
zwischen professoralem Sein und diskursivem Schein ausge-       pliziert dies jedoch ein historiographisch sauberes Erfassen
löst haben, der bis heute einen wesentlichen Anker für die      dessen, was vor, während und nach „Kiel“ passiert ist, ganz
kollektive Erinnerung an „Kiel 1969“ bildet.                    enorm. Immerhin bleibt jedoch die Möglichkeit einer indi-
   Auf der Suche nach möglichen Erklärungen für diesen Wi-      rekten Beweisführung, die sich m. E. am besten mit einem
derspruch habe ich Prozesse der Drucklegung von Geogra-         Blick auf die sich stark verändernden wissenschaftssozialen
phentagsbänden mit Hilfe quellenkritischer Verfahren unter-     Verhältnisse der westdeutschen Geographie der 1960er und
sucht und dabei realisiert: der Quellenwert von gedruckten      1970er Jahre entwickeln lässt.
Diskussionsbeiträgen auf Geographentagen ist äußerst be-           Zum Zeitpunkt des Kieler Geographentages befand sich
schränkt. Tatsächlich kann man sich nicht wirklich darauf       das Fach aufgrund des umfangreichen Hochschulausbaus in
verlassen, dass das, was später in dickleibigen Kongressbän-    einem Prozess rasanter sozialer Ausdifferenzierung. Dabei
den zu lesen ist, vor Ort auch wirklich so gesagt wurde. Denn   war nicht nur die absolute Zahl der Institute und Professuren,
Rede- und Diskussionsbeiträge auf Geographentagen durch-        sondern mit ihnen auch die Zahl der Assistenzen, Oberassis-
liefen vor Drucklegung eine redaktionelle Bearbeitung. Das      tenzen, Diätendozenturen und Akademischen Räte mit dem
Ausmaß dieser Bearbeitung wird in erschreckender Form am        Ergebnis gewachsen, dass entgegen der ursprünglichen Wün-
Beispiel des 1963 in Heidelberg organisierten Geographen-       sche der Ordinarien (vgl. Wardenga, 2020, 11f.) der „Mittel-
tages deutlich, von dem das IfL einen Audiomitschnitt be-       bau“ an vielen Instituten die zahlenmäßig größte Gruppe bil-
sitzt (IfLA, Nachlass Emil Meynen, 811a–b). Vergleicht man      dete. Diese jüngeren (immer noch vorwiegend männlichen)
nämlich systematisch die Mitschnitte von Diskussionen auf       Geographen konnten bei zunehmenden Bemühungen um ei-
diesem Geographentag mit den später im Druck erschiene-         ne stärkere Demokratisierung der Universitätsverfassungen
nen Varianten derselben Beiträge, kann man erhebliche Ab-       die Lehrstuhlinhaber bei Beschlüssen durchaus majorisieren.
weichungen feststellen. Das gilt vor allem im Hinblick auf      Sie stellten daher eine latente Bedrohung für die bis dato un-
die Klarheit der Fragestellungen, die Stringenz der Argumen-    eingeschränkte Macht der Ordinarien dar.
tation und die Treffsicherheit der Wortwahl.                       Da der „Mittelbau“ vor allem am Aufbau der neuen (vor-
   Es ist deshalb mit guten Gründen anzunehmen, dass die        wiegend funktionalistisch ausgerichteten) Diplomstudien-
Redner*innen – gerade im Falle von „Kiel“ – im Zuge             gänge interessiert war, stand er der vom überwiegenden Teil
der Drucklegung Gelegenheit zur mehr oder weniger star-         der Professorenschaft nach wie vor stark historisch betriebe-
ken Umarbeitung ihrer Aussagen bekamen. Im konsequenten         nen Landschafts- und Länderkunde zunehmend skeptisch ge-
Umkehrschluss aus dem für Heidelberg belegbaren Material        genüber. Das zeigen nicht zuletzt auch die Beiträge von Pe-
heißt dies, dass man auch mit Blick auf den Kieler Geogra-      ter Weichhart und Ulf Strohmayer in diesem Heft. Denn ge-

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braucht wurden nun eher thematisch segmentierte und auf die       sionsbeiträgen der „Götter“ (und damit waren die Professo-
planbaren Zukünfte von Räumen ausgerichtete, mit quantita-        ren gemeint: Hartke, 1962:117) auch für Außenstehende evi-
tiven Methoden arbeitende, auf der Basis einer boomenden          denzbasiert offenbarten.
thematischen Kartographie betriebene Geographien. Schon              Viele Teilnehmende werden das Kieler Geschehen des-
in den Jahren vor „Kiel“ hatte sich der 1950 gegründete „Ver-     halb im Licht einer möglichen Bestätigung der eigenen Sicht
band deutscher Berufsgeographen“ zum Motor von Moder-             wahrgenommen und ihre Eindrücke dann umgehend in den
nisierungsprozessen in der Geographie und damit implizit zu       eigenen Netzwerken mit deutlich emotionaler Grundierung,
einer Interessenvertretung der Gruppe angewandt arbeiten-         je nach individuellem Erleben weitererzählt haben. Dabei
der und lehrender Geographen entwickelt. Nirgendwo sonst          wurde auch – wahrscheinlich unbeabsichtigt und unabhän-
wurden die traditionell betriebene Fachgeographie und ihre        gig von der berufsständischen Gruppierung – jene suggestive
professoralen Vertreter so treffend kritisiert (und fachöffent-   Evidenz mit vermittelt, die es notwendigerweise zur Geburt
lich genüsslich vorgeführt) wie in den Reihen der zunehmend       eines Mythos braucht. Denn im Unterschied zu normalerwei-
jünger werdenden Mitglieder des VdB (vgl. Wardenga et al.,        se in der sozialen Welt tradierten einfachen Geschichten be-
2011).                                                            stehen wesentliche Kennzeichen von Mythen darin, dass sie
   Ähnliche Verwerfungen zwischen Jung und Alt gab es             Energien freisetzen können, weil sie helfen, nicht mehr am
auch in der Schulgeographie. Hier kamen die Modernisie-           Herkömmlichen festhalten zu müssen, dadurch neue Sinn-
rungszumutungen bereits 1960, und zwar von außen mit den          ordnungen sichtbar werden lassen und so dazu beitragen kön-
Saarbrücker Rahmenvereinbarungen der bundesdeutschen              nen, Identitäten zu formen und in der Folge auch Legitima-
Kultusministerkonferenz. Sie nötigten einem völlig überrum-       tionsansprüche durchzusetzen (vgl. Wardenga, 2011; Korf,
pelten Schulgeographenverband die nur langsam dämmernde           2014).
unbequeme Einsicht auf, dass erhebliche Umstrukturierun-
gen in der Lehramtsausbildung nötig waren. Das betraf vor
allem die deutlich aufzuwertende Humangeographie (v. a. in        6   „Kiel 1969“ und die Wirkungen eines Mythos
den Segmenten Wirtschafts- und Sozialgeographie, Bevölke-
rungsgeographie und Entwicklungsländerforschung) bei ei-          Aus diesem Blickwinkel betrachtet handelt es sich bei
nem gleichzeitig stark zu reduzierenden Anteil traditionel-       „Kiel 1969“ tatsächlich um einen Mythos. Denn unmittelbar
ler Länder- und Landschaftskunde. Das hieß in der Kon-            nach „Kiel“ hat sich die Verbandslandschaft der westdeut-
sequenz konkret: kompletter Verzicht auf den liebgewon-           schen Geographie drastisch verändert. 1970 wurde der „Ver-
nenen zweimaligen länderkundlichen Durchgang. Wesentli-           band Deutscher Hochschulgeographen“ auf Initiative des
che Triebkraft für eine Veränderung der Verhältnisse war in       universitären „Mittelbaus“ gegründet. Er entwickelte sofort
der Schulgeographie nicht deren Verband, sondern die vom          eine prononcierte Aktivitätsstruktur, die den Hochschulleh-
Westermann-Verlag in Braunschweig herausgegebene „Geo-            rerverband als etablierte Standesvertretung der Professoren-
graphische Rundschau“. Sie hat sich in den 1960er Jahren zu       schaft mit Vergnügen gezielt provozierte. Schon im Jahr dar-
einem höchst lebendigen Forum für eine breite, von jüngeren       auf wurde der „Hochschulverband für Geographie und ihre
Geographielehrer*innen enthusiastisch mitgetragene Debat-         Didaktik“ ins Leben gerufen. Auch er ein Sammelbecken für
tenkultur über Neuansätze geographischen Schulunterrichts         jüngere Kolleg*innen, die sich schon vor dem Kieler Geogra-
entwickelt und damit erheblich die Professionalisierung der       phentag mit dem vergleichsweise konservativen Schulgeo-
universitären Fachdidaktik gefördert (vgl. Wardenga, 2019).       graphenverband schwergetan hatten, zumal dieser nach wie
   Man darf sich das auf dem Kieler Geographentag anwe-           vor monopolisierte Geltungsansprüche für „die“ richtig (was
sende Publikum mithin wohl kaum als eine homogene Mas-            heißt: im Paradigma der Länder- und Landschaftskunde) ar-
se von Geograph*innen vorstellen, die – im ideologischen          beitende schulische Fachdidaktik vertrat.
Verblendungszusammenhang des länder- und landschafts-                „Durch Kiel“ ist die bundesdeutsche Geographie also ein
kundlichen Paradigmas befangen – schockerstarrt mit wach-         ganzes Stück weit bunter, moderner und anderen Fächern ge-
sendem inneren Groll den Ausführungen der Fachschaften            genüber auch offener und anschlussfähiger geworden. Aller-
lauschte. So konnten z. B. die Thesen der pragmatisch ar-         dings war das ein langer, für viele Kolleginnen und Kollegen
gumentierenden und mit Datenmaterial operierenden „Mün-           auch steiniger und zum Teil bitterer Weg, zumal über „Kiel“
chener“ Gruppe der Studierenden mit viel innerer Zustim-          nach „Kiel“ in vielen Instituten beredt geschwiegen wurde.
mung rechnen, sowohl bei den jüngeren angewandt arbei-            Ich persönlich habe von „Kiel“ an der Universität in Frank-
tenden Geograph*innen, bei einer Vielzahl der anwesenden          furt/Main in meinem zweiten oder dritten Semester 1977 ge-
Assistent*innen als auch bei jungen Lehrer*innen. Die The-        hört, nicht etwa in Vorlesungen, sondern mehr en passant
sen der „Berliner“ Gruppe der Studierenden mögen wieder-          beim zufälligen Aufschnappen von Gesprächsfetzen älterer
um bei manchen Zuhörenden quer über alle berufsständi-            Studierender in der Bibliothek. Jedenfalls habe ich sofort den
schen Gruppierungen der Geographie hinweg klammheim-              bleibenden Eindruck mitgenommen, dass es sich bei „Kiel“
liche Schadenfreude ausgelöst haben, weil es vor allem die-       offensichtlich um so etwas wie die Urkatastrophe der Geo-
se Thesen waren, die das reflexive Unvermögen von Diskus-         graphie im 20. Jahrhundert handeln müsse. Irgendwann habe

Geogr. Helv., 76, 299–303, 2021                                                      https://doi.org/10.5194/gh-76-299-2021
U. Wardenga: Kiel 1969: Ein quellenkritischer Blick auf Tradierungsprozesse als „Arbeit am Mythos“                                 303

ich dann allen Mut zusammengenommen und Bodo Freund                 Hartke, W.: Die Bedeutung der geographischen Wissenschaft in der
in einer Sprechstunde gefragt, was denn „Kiel“ wohl bedeu-             Gegenwart. Herausgeber: Hartke, W. und Wilhelm, F., in: Deut-
te? Er hat nur sibyllinisch gelächelt und mit einem für mich           scher Geographentag Köln, 22. bis 26. Mai 1961, Tagungsbericht
schwer interpretierbaren Unterton gesagt: „Na, dann lesen              und wissenschaftliche Abhandlungen, Steiner, Wiesbaden, 113–
Sie mal Hard . . . “ Also bin ich nach „Hard“ auf die Suche            131, 1962.
                                                                    Korf, B.: Kiel 1969 – ein Mythos?, Geogr. Helv., 69, 291–292, htt-
gegangen und habe bei der Lektüre seiner Texte (z. B. Hard,
                                                                       ps://doi.org/10.5194/gh-69-291-2014, 2014.
1970, 1973) eine spannende Aufgabe entdeckt, die mich seit-         Marquard, O. (Hrsg.): Lob des Polytheismus, in: Abschied vom
her fesselt: nämlich Geschichten über Geographie zu erzäh-             Prinzipiellen, Reclam, Stuttgart, 1981, 91-116.
len.                                                                Meckelein, W. und Borcherdt, C. (Hrsg.): Deutscher Geographen-
                                                                       tag Kiel, 21. bis 26. Juli 1969, Tagungsbericht und wissenschaft-
                                                                       liche Abhandlungen, Steiner, Wiesbaden, 1970, Bestandsaufnah-
Datenverfügbarkeit. Für diesen Artikel wurden keine Datensätze         me: 191–207, Diskussion, 208–232, 1970.
genutzt.                                                            IfLA/Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geogra-
                                                                       phie: Verband deutscher Hochschullehrer der Geographie
                                                                       (Nr. 537/3/115), Leipzig.
Interessenkonflikt. Die Autor*in erklärt, dass kein Interessen-     IfLA/Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie:
konflikt besteht.                                                      Verband deutscher Hochschullehrer der Geographie (537/2/97-
                                                                       98; 537/2/100, 537/2/101, 104), Leipzig.
                                                                    IfLA/Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geogra-
Haftungsausschluss. Publisher’s note: Copernicus Publications          phie: Verband deutscher Hochschullehrer der Geographie
remains neutral with regard to jurisdictional claims in published      (Nr. 537/3/110), Leipzig.
maps and institutional affiliations.                                IfLA/Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie:
                                                                       Nachlass Emil Meynen, 811a–b, online aufrufbar: http://
                                                                       kalliope-verbund.info/DE-611-HS-1246248 (online aufrufbar:
                                                                       6 Juli 2021).
Danksagung. Die Autorin bedankt sich bei zwei Gutachtenden
                                                                    Knübel, H.: Ausbildungsfragen auf dem 37. Deutschen Geogra-
für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und bei Benedikt
                                                                       phentag in Kiel, Geogr. Rundschau, 21, 428–432, 1969.
Korf für die Einladung zur Mitwirkung an der Fachsitzung in Kiel
                                                                    Wardenga, U.: Geographie als Brückenfach – oder Arbeit am
2019.
                                                                       Mythos, in: entgrenzt, Studentische Zeitschrift für Geographi-
                                                                       sches, Ausgabe 1, SoSe 2011, 5–16, online aufrufbar: http:
                                                                       //entgrenzt.de/ausgaben/entgrenzt-ausgabe-1/ (online aufrufbar:
Begutachtung. This paper was edited by Benedikt Korf and re-           6 Juli 2021), 2011.
viewed by two anonymous referees.                                   Wardenga, U.: Von der Länderkunde zu Regionalen Geographien,
                                                                       Geogr. Rundschau, 71, 46–51, 2019.
                                                                    Wardenga, U.: Vergangene Zukünfte – oder: Die Verhandlung neu-
Literatur                                                              er Möglichkeitsräume in der Geographie, Geogr. Z., 108, 4–22,
                                                                       https://doi.org/10.25162/gz-2019-0009, 2020.
Blumenberg, B.: Arbeit am Mythos, Suhrkamp, Frankfurt am Main,      Wardenga, U., Henniges, N., Brogiato, H., und Schelhaas, B.: Der
  1979.                                                                Verband deutscher Berufsgeographen 1950–1979: Eine sozial-
Hard, G.: Die „Landschaft“ der Sprache und die „Landschaft“ der        geschichtliche Studie zur Frühphase des DVAG, Forum IfL 16,
  Geographen, in: Semantische und forschungslogische Studien zu        Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, S. 136, 2011.
  einigen zentralen Denkfiguren in der deutschen geographischen
  Literatur, Ferdinand Dümmlers Verlag, Bonn, 1970.
Hard, G.: Die Geographie. Eine wissenschaftstheoretische Einfüh-
  rung, De Gruyter, Berlin, New York, 1973.

https://doi.org/10.5194/gh-76-299-2021                                                           Geogr. Helv., 76, 299–303, 2021
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