Vorbild mit Widersprüchen - Konrad-Adenauer-Stiftung
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ERINNERT Vorbild mit Widersprüchen Zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl * 9. Mai 1921 in Forchtenberg, 22. Februar 1943 in München JUDITH MICHEL Geboren 1979 in Tübingen, Wissen- sie schon bald Führungsaufgaben über- schaftliche Referentin, Abteilung Zeit- nahm. Doch das nationalsozialistische geschichte, Wissenschaftliche Dienste / Vorgehen gegen Aspekte der von ihr geleb- Archiv für Christlich-Demokratische ten Jugendkultur sowie die einfältige Uni- Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung. formität regten ersten Widerwillen in ihr. Den Krieg lehnte sie von Beginn an ab; Sophie Scholls Weg in den Widerstand den Arbeits- und Kriegshilfsdienst, den sie war keineswegs vorgezeichnet: Aufgewach- 1941/42 ableisten musste, empfand sie als sen in einer bildungsbürgerlichen Familie, stupide Zumutung. Dennoch dauerte es bis gesegnet mit Selbstbewusstsein und Le- 1942, bis die aus einem evangelischen El- bensfreude, genoss Sophie Scholl zunächst ternhaus stammende Sophie Scholl unter als begeistertes Jungmädel die Entfaltungs- dem Einfluss reformkatholischer Intellek- möglichkeiten in der NS-Jugendorganisa- tueller Denken und Handeln in Einklang tion Bund Deutscher Mädel (BDM), in der brachte – ohne Märtyrerabsichten, doch 120 Die Politische Meinung
im vollen Bewusstsein der möglichen Straßen nach Sophie Scholl benannt, wäh- Konsequenzen. 1942/43 war sie maßgeb- rend es weit weniger Benennungen nach lich an der Vervielfältigung und Verbrei- den anderen Mitgliedern des inneren Wi- tung der von ihrem Bruder Hans und wei- derstandskreises gibt, die mindestens ge- teren Mitstreitern verfassten „Flugblätter nauso intensiv an der Verfassung und Ver- der Weißen Rose“ beteiligt. Von den breitung der Flugblätter beteiligt waren Nationalsozialisten gefasst, wurden ihr und allesamt für ihre Taten mit dem Le- und ihren Mitverschwörern Hans Scholl, ben bezahlten. Zudem ist sie die Protago- Alexander Schmorell, Willi Graf, Chris- nistin mehrerer Spielfilme. Auch als Denk- toph Probst und Kurt Hubert Hochverrat, mal – etwa in der Walhalla bei Regensburg Wehrkraftzersetzung und Feindbegüns- oder in der popkulturellen Variante als tigung vorgeworfen, wofür sie 1943 hin- Wachsfigur bei Madame Tussauds in Ber- gerichtet wurden. lin – muss Sophie Scholl stellvertretend Sophie Scholls mutiges Handeln ruft für den gesamten studentischen Wider- auch einhundert Jahre nach ihrer Geburt stand herhalten, während man ihre Mit- zu Recht Bewunderung hervor. Ihre Idea- streiter dort vergeblich sucht. lisierung zur Ikone des selbstlosen, reinen Widerstands, die schon bald nach Kriegs- ende einsetzte, wird ihren Taten jedoch LEITFIGUR FÜR ALLE nur teilweise gerecht. Auch heute halten POLITISCHEN LAGER sich verklärende Darstellungen der jungen Widerständlerin als Märtyrerin, die zur „säkulare[n] Konsensheilige[n]“ (Robert Dabei wurde sie auch immer wieder von M. Zoske) der Deutschen avancierte. Er- den Falschen vereinnahmt – und das nicht heblichen Vorschub für das idealisierte erst durch den absurden Vergleich einer Bild leistete die Darstellung der älteren jungen „Querdenkerin“ aus Kassel, die be- Schwester Inge Scholl aus dem Jahr 1952. kannte, sie fühle sich wie Sophie Scholl, da Sie prägte damit zum einen den Begriff der sie seit Monaten aktiv im Widerstand sei. „Weißen Rose“, als deren Mittelpunkt sie So bezeichnete sich beispielsweise 2012 unter Marginalisierung der anderen Betei- die islamophobe und rechtspopulistische ligten ihre Geschwister darstellte; zum Kleinpartei „Die Freiheit“ als die „neue anderen zeichnete sie ein nahezu wider- Weiße Rose“. 2013 zog der Allgemeine spruchsfreies Bild ihrer zur Heldin gebo- Studentenausschuss der Freien Universität renen Schwester Sophie. Berlin Parallelen zwischen der „Weißen Obgleich Inge Scholl zutreffend be- Rose“ und der linksterroristischen „Roten schrieb, dass ihr Bruder Hans im Vergleich Armee Fraktion“ (RAF), und 2017 warb ein zu Sophie die treibende Kraft der Wider- Kreisverband der Alternative für Deutsch- standstätigkeit war, fokussierte sich das land (AfD) mit dem Slogan „ Sophie Scholl öffentliche Interesse und Gedenken in den würde AfD wählen!“. folgenden Jahrzehnten auf das jüngste Die Vereinnahmungen von Sophie und einzige weibliche Mitglied des inne- Scholl und der „Weißen Rose“ durch diese ren Kreises der Widerstandsgruppe. So verschiedenen Seiten weisen auf ein Phä- wurden zahlreiche Schulen, Plätze und nomen hin, das auch zur vergleichsweise 121 Nr. 567, März/April 2021, 66. Jahrgang
Erinnert Sophie Scholl verabschiedete am 23. Juli 1942 Freunde beziehungsweise Mitglieder der „Weißen Rose“, die in einer Studentenkompanie zum Sanitätsdienst an die Ostfront (Russland) abkommandiert wurden (München, Ostbahnhof). Von links: Hubert Furtwängler (kein Widerstandskämpfer), Hans Scholl, Raimund Samüller, Sophie Scholl und Alexander Schmorell. Foto: © George (Jürgen) Wittenstein / akg-images schnellen Würdigung der Widerstands- in ihren Flugblättern zwar deutlich ihre gruppe im Nachkriegsdeutschland bei- Ablehnung des Nationalsozialismus, blieb trug: Durch die idealisierte Darstellung aber nur vage bei der Formulierung von des Widerstands als Sühneopfer wurde er Nachkriegsplänen, die mit Schlagwörtern zugleich entpolitisiert und taugte damit wie „christlich“, „liberal“, „rechtsstaat- als Vorbild für alle politischen Lager. Da- lich“, „‚vernünftig‘-sozialistisch“ und rüber hinaus ersparte der Bezug auf eine „eu ropäisch“ lediglich skizziert wurden. vermeintlich unpolitische Widerstands- Dies erleichterte ebenfalls die Verein- gruppe der Nachkriegsgesellschaft die nahmung der Widerstandsgruppe für ei- inhalt liche Auseinandersetzung mit der gene Ziele – vom Antifaschismus bis zum NS-Vergangenheit. Rechtspopulismus. Anders als den Attentätern des 20. Juli Die Forschu ng hat inzwischen 1944 haftete der „Weißen Rose“ zudem ein weit differenzierteres Bild von der nicht der Vorwurf des „Verrats“ am eige- „Weißen Rose“ im Allgemeinen und von nen Volk und Vaterland an; auch schien Sophie Scholl und ihrer Rolle innerhalb die Lebenswelt der Studenten insbesonde- der Widerstandsgruppe im Besonderen re jungen Menschen näher zu sein als die gezeichnet. Neuere Publikationen be- der Offiziere um Claus Schenk Graf von schreiben Sophie Scholl als jungenhafte, Stauffenberg. Die „Weiße Rose“ äußerte naturliebende, künstlerisch begabte und 122 Die Politische Meinung
Vorbild mit Widersprüchen, Judith Michel belesene junge Frau, die sowohl in sich mit ihrem Freund Fritz Hartnagel führte, gekehrt als auch lebenslustig, kompliziert der sich bereits 1936 freiwillig als Berufs- und klug war. offizier verpflichtet hatte. Ihre Ablehnung Das pazifistische und NS-kritische des Militärdienstes erklärte sie damit, dass Eltern haus bewahrte sie und ihre älteren ein Soldat unterschiedlichen Herren und Geschwister nicht davor, sich in Ulm be- Wahrheiten dienen müsse, sich aber kein geistert in den nationalsozialistischen Ju- Mensch und keine irdische Macht an die gendorganisationen zu engagieren, ohne Stelle des Absoluten setzen dürfe. In jahre- das eigene Denken jedoch einzustellen. langer Korrespondenz gelang es der vier Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich bei- Jahre jüngeren Sophie, ihren Freund zum spielsweise daran, dass sich Sophie Scholl Kritiker des Nationalsozialismus und zwar konfirmieren ließ, dabei aber die Kriegsgegner zu bekehren. Uniform der Hitlerjugend (HJ) trug. An- Durch die Mutter – eine ehemalige ders als von ihrer Schwester Inge darge- Diakonissin – lernten die Geschwister stellt, gab es keinen einschneidenden Wen- Scholl eine protestantische Frömmigkeit depunkt, an dem sich die jüngere Schwes- kennen. Für ihre Widerstandstätigkeit ter vom „Saulus“ zum „Paulus“ wandelte. ausschlaggebender war jedoch die katholi- Zwar schrieb sie schon 1937 in ihr Tage- sche Erneuerungsbewegung, die sie durch buch: „Von der HJ habe ich mich ohne den Ulmer Freundeskreis um Otto (Otl) mein Wollen ganz gelöst. Ich habe nichts Aicher, einen Freund ihres jüngeren Bru- mehr zu geben, nichts mehr zu nehmen.“ ders Werner, und später über den Publi- zisten Carl Muth und den Schriftsteller Theodor Haecker kennenlernten. Durch SCHLEICHENDE ENTFREMDUNG diese Kreise wurde Sophie Scholl zur reli- giös Suchenden. Ihre verschlungenen re- ligiösen Gedankengänge, die wir ihren 1938 wurde sie als Gruppenführerin abge- Briefen entnehmen können, sind für heu- setzt, nahm jedoch bis 1941 an Veranstal- tige Leser mitunter nur schwer nachvoll- tungen des Bundes Deutscher Mädel teil – ziehbar – ihre damalige Freundin Susanne möglicherweise, um das Abitur machen Hirzel nannte sie in der Rückschau gar zu können. Die Entfremdung schien eher „überkandidelt religiös“. Dies sowie ein ein schleichender Prozess gewesen zu Elitebewusstsein, das sie mit den anderen sein, der zunächst durch die Einschrän- Mitgliedern des Widerstandskreises teilte, kungen der Jugendkultur und die zeit- sind Teile einer uns fernen Lebenswelt. weilige Verhaftung der Geschwister we- Es sind keine Hinweise übermittelt, gen „bündischer Umtriebe“ ausgelöst ob Sophie Scholl die Verfolgung und wurde (Hans wurde zudem „Unzucht“ Vertreibung der Juden aus Ulm besonders nach Paragraf 175 vorgeworfen – hiervon wahrnahm oder sie sie gar bedrückte. wusste Sophie jedoch nichts). Manche Bemerkung, die sie oder auch an- Militärdienst und Krieg lehnte Sophie dere Mitstreiter zur Judenverfolgung äu- Scholl hingegen von Beginn an kompro- ßerten, erscheint heute zudem befremd- misslos als Vergeudung von Menschen- lich. So erwiderte sie auf einen Bericht leben ab, was zu hitzigen Diskussionen von Fritz Hartnagel über NS-Verbrechen 123 Nr. 567, März/April 2021, 66. Jahrgang
Erinnert gegen Juden in Amsterdam, diese Brutali- gesteigerten Intensität gegeben. Während tät sei zu begrüßen, da nur so der wahre die Männer der Widerstandsgruppe im Charakter des Regimes offensichtlich wer- Sommer 1942 an der Front waren, bemüh- de: „Übrigens, dass man überall radikal te sie sich um einen Vervielfältigungsappa- vorgeht, finde ich nur gut. Es verwirrt die rat und knüpfte Kontakte über München Erkenntnis der ganzen Sache weniger, als hinaus. Bei der zweiten Flugblattaktion wenn man hier etwas Gutes, da etwas Anfang 1943 war sie durch den Einkauf Schlechtes findet und nicht weiß, welches von Abzugspapier, Umschlägen, Brief- nun das Wahre ist.“ Unter anderem durch marken und Matrizen, die Finanzbeschaf- Hartnagel und ihren Bruder Hans erfuhr fung und -verwaltung sowie die Vertei- sie schließlich von den NS-Verbrechen im lung der Schriften unentbehrlich und so- Osten, an denen sie sich, wie sie gegenüber mit weit mehr als ein „Anhängsel“ der Hartnagel bekannte, mitschuldig fühlte: Widerstandsgruppe. „Ein unschuldiges Hineingezogenwerden in eine Schuld, in meine Schuld.“ Die Ablehnung des Holocaust war BEREITSCHAFT ZUM nicht das Hauptmotiv des Widerstands SELBSTOPFER der „Weißen Rose“. Ihr Einsatz für Frei- heit, Verantwortung des Einzelnen, Men- schenwürde und Solidarität mit den Ver- Sophie Scholl wusste, dass dieser Wider- folgten schloss jedoch auch die Juden ein. stand lebensgefährlich war. So schrieb sie Die Flugblätter, an deren Formulierung ihrem Freund Fritz Hartnagel: „Du weißt, Sophie Scholl zwar nicht beteiligt war, de- wie schwer ein Menschenleben wiegt, und ren Inhalt sie sich jedoch zu eigen machte, man muss wissen, wofür man es in die prangerten den Krieg, die Judenvernich- Waagschale wirft.“ Gegenüber dem be- tung, die nationalsozialistische Willkür- freundeten Maler Wilhelm Geyer soll sie herrschaft und die Unterdrückung von gesagt haben: „Es fallen so viele Menschen Wahrheit, Gewissen, Sittlichkeit und Frei- für dieses Regime, es ist Zeit, dass jemand heit an. Dieses an die bürgerliche Elite ge- dagegen fällt.“ Folgerichtig schlug sie nach richtete Fanal traf die Nationalsozialisten ihrer Festnahme im Verhör das Angebot in ihrem Kommunikationsmonopol, zeig- des Gestapo-Beamten aus, eine milde te eine Gegenmacht auf und war daher Strafe zu bekommen, wenn sie sich als Op- hochpolitisch. fer ihres Bruders darstellte. Sie bekannte Hans Scholl rief als Medizinstudent vielmehr: „Ich bin nach wie vor der Mei- in München zusammen mit Alexander nung, das Beste getan zu haben, was ich Schmorell die „Weiße Rose“ mit den ers- gerade jetzt für mein Volk tun konnte. ten vier Flugblättern, verfasst von Ende Ich bereue deshalb meine Handlungs- Juni bis Mitte Juli 1942, ins Leben. Ohne weise nicht und will die Folgen, die mir Sophie Scholl, die erst später für ihr Philo- aus meiner Handlungsweise erwachsen, sophie- und Biologiestudium nach Mün- auf mich nehmen.“ chen kam, hätte es jedoch den zweiten Teil Noch kurz vor ihrem Tod zeigte der Widerstandsaktion mit dem fünften sie sich bereit zur Selbstopferung: „Was und sechsten Flugblatt nicht in seiner liegt an meinem Tod, wenn durch unser 124 Die Politische Meinung
Vorbild mit Widersprüchen, Judith Michel Handeln Tausende von Menschen aufge- Mitstreiter, ein durch ihre Zeit gepräg- rüttelt und geweckt werden.“ Umso tragi- ter Mensch mit Fehlern und Schwächen scher ist es, dass ihre Ermordung in der war, dessen Widerstand aus dem inneren Bevölkerung und auch unter ihren Kom- Ringen um die richtige Haltung erwuchs, militonen keine unmittelbare Wirkung kann sie weiter Vorbild für unsere eigenen hatte. Auch als Helmuth James Graf von Handlungen sein. Moltke das sechste Flugblatt nach Eng- Hans Scholls letzte Worte auf dem land bringen ließ und es von der briti- Richtblock lauteten „Es lebe die Freiheit!“, schen Luftwaffe hunderttausendfach über und auch Sophie schrieb gleichsam als deutschen Großstädten abgeworfen wur- Vermächtnis auf die Rückseite ihrer An- de, blieben die Deutschen passiv. klageschrift zweimal das Wort „Freiheit“. In einer anscheinend ausweglosen Situa- tion folgten die Mitglieder der „Weißen „LASST SIE ZWISCHEN Rose“ ihrem Gewissen, um die Menschen UNS SITZEN“ aufzurütteln, das Menschliche zu tun. Heute müssten wir dafür nicht um unser Leben fürchten – umso erstaunlicher, dass Fritz Hartnagel schrieb schon 1947 über wir nach wie vor oft Schwierigkeiten ha- die Mitglieder der „Weißen Rose“: „Das ben, ihrem Appell zu folgen. sicherlich ehrliche Bemühen, ihr Gedächt- nis zu wahren, birgt die Gefahr in sich, dass sie auf einem Denkmalsockel stehen, Literatur weit über unser tägliches Leben erhaben. Beuys, Barbara: Sophie Scholl. Biografie, München Lasst sie uns hereinholen in unsere Hörsä- 2010. Gottschalk, Maren: Wie schwer ein Menschenleben le, lasst sie zwischen uns sitzen.“ Die bei wiegt. Sophie Scholl. Eine Biografie, München 2020. genauerem Blick offengelegte Komplexität Hartnagel, Thomas (Hrsg.): Sophie Scholl und und Widersprüchlichkeit Sophie Scholls, Fritz Hartnagel. Damit wir uns nicht verlieren. die gleichermaßen zweifelnd wie selbstbe- Briefwechsel 1937–1943, Frankfurt am Main 2005. Jens, Inge (Hrsg.): Hans Scholl und Sophie Scholl. wusst war, vermag dabei mög licherweise Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1989. die erkennbare Distanz zwischen ihrer Scholl, Inge: Die Weiße Rose, Frankfurt am Main 1952. und unserer Lebenswelt zu überbrücken Zoske, Robert M.: Sophie Scholl. Es reut mich nichts. helfen. Ja, gerade weil sie, wie auch ihre Porträt einer Widerständigen, Berlin 2020. 125 Nr. 567, März/April 2021, 66. Jahrgang
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