Vorbilder und ihre Grenzen - Lesepredigt zum 26.04.2020

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Vorbilder und ihre Grenzen –
                  Lesepredigt zum 26.04.2020
                                         Vorbilder, Menschen, an denen ich
1. Petrus 2,21-25                        mein Verhalten bewusst oder
(Übersetzung: Basisbibel)                unbewusst      orientieren     kann,
                                         braucht wohl jede und jeder von uns
21 Denn auch Christus hat für euch       Besonders in der Kinder- und
gelitten. Er hat euch ein Vorbild        Jugendzeit, wenn sich die eigene
gegeben,      damit     ihr    seinen    Persönlichkeit entwickelt sind sie
Fußstapfen nachfolgt.                    wichtig.
22 Er hat keine Schuld auf sich          Vielleicht erinnern Sie sich noch
geladen und aus seinem Mund kam          daran, wie das bei Ihnen war: Wen
nie ein unwahres Wort.                   Sie zum Vorbild genommen haben:
23 Wenn er beschimpft wurde, gab         War das ein Fußballspieler, ein Star
er es nicht zurück. Wenn er litt,        aus dem Fernsehen oder dem Radio;
drohte er nicht mit Vergeltung.          eine berühmte Person aus der
Sondern er übergab seine Sache dem       Geschichte, die Großes geleistet hat;
gerechten Richter.                       ein Freund, eine Freundin, ein
24 Er selbst hat unsere Sünde mit        Verwandter oder eine Verwandte,
seinem eigenen Leib hinaufgetragen       die Ihnen imponierte. Oder auch
an das Holz. Dadurch sind wir für die    eine erfundene Figur, aus einem
Sünde tot und können für die             Comic, einem Film oder einer Serie
Gerechtigkeit leben. Durch seine         (bei mir war das Jean-Luc Picard, der
Wunden seid ihr geheilt.                 moralisch stets integre Captain des
25 Ihr wart wie Schafe, die sich         Raumschiffs Enterprise in der Serie
verirrt hatten. Aber jetzt seid ihr zu   Star Trek– The Next Generation).
eurem Hirten und Beschützer
zurückgekehrt.                           Vorbilder haben Grenzen
                                         Jeder Mensch braucht Vorbilder.
Wir brauchen Vorbilder                   Aber, liebe Schwestern und Brüder,
Ein „Vorbild“ nennt unser Predigttext    wir wissen auch: Vorbilder haben
heute Jesus Christus; ein Vorbild in     ihre Grenzen. Bei erfundenen
dessen Fußstapfen wir treten sollen.     Figuren aus Serien oder Romanen

                                                                        1
leuchtet das unmittelbar ein. Als         genauso“ scheint der Autor uns
Jugendlicher habe ich irgendwann          damit zuzurufen.
gemerkt: Nicht alles, was Captain         Und vielleicht leuchtet das erst
Picard auf seiner Enterprise tut, lässt   einmal ein. Jesus Christus als Vorbild
sich eins zu eins nachahmen. Ich          für das eigene Leben – das
lebe nun einmal nicht auf einem           entspricht doch dem, was wir in der
Raumschiff im 23. Jahrhundert.            Kirche öfter hören, was wir vielleicht
Aber auch bei Vorbildern, die real        sogar schon erwarten. Wir sollen
existieren, ist das so. Auch sie haben    Christus nachfolgen, sollen mit
ihre Grenzen. Ein Fußballspieler mag      unserem Leben das weitertragen,
auf dem Platz mein großer Held sein       was Jesus vorgelebt hat: „Liebe
– aber irgendwann merke ich: In           deinen Nächsten“, „Halte die andere
seinem Leben ist er sonst eigentlich      Wange hin“, „Vergib, dann wird dir
ein ganz normaler Mensch, mit             vergeben.“
Stärken und Schwächen.                    Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich
Vorbilder sind eben immer auch das:       glaube, da ist erst einmal sehr viel
Bilder, die wir uns von Menschen          dran. Das Vorbild Jesu kann in
machen; Blickwinkel und Hinsichten,       unserem Leben eine große Kraft
unter denen wir einen Menschen            entfalten. Wenn wir uns an ihm und
betrachten, die uns aber bestenfalls      seiner     Botschaft      konsequent
einen Teil seiner Persönlichkeit          orientieren, davon bin ich überzeugt,
zeigen.                                   werden wir in vielerlei Hinsicht ein
                                          „besseres“ Leben führen.
Der leidende Christus als Vorbild?        Aber ich glaube auch: Die Art und
Der Autor des ersten Petrusbriefes        Weise, wie der Autor des
stellt also Jesus Christus selbst         Petrusbriefes Jesus hier als Vorbild
seinen Lesern als Vorbild vor Augen.      hinstellt, ist hochproblematisch.
Er hat keine Schuld auf sich geladen      Denn es sind nicht etwa alle
und aus seinem Mund kam nie ein           Menschen aus seiner Gemeinde
unwahres Wort. Wenn er beschimpft         oder gar alle Christinnen und
wurde, gab er es nicht zurück. Wenn       Christen, an die er sich mit diesen
er litt, drohte er nicht mit Vergeltung   Worten wendet, sondern eine
(1. Petr 2,23). „Nehmt euch ein           bestimmte Gruppe:
Beispiel daran und macht es

                                                                              2
Ihr Sklaven, ordnet euch euren           gesagt: „Muckt bloß nicht auf! Gebt
Herren unter und achtet sie. Dies        keine Widerrede! Nehmt es hin –
betrifft nicht nur die guten und         euer Herr Jesus hat es genauso
freundlichen, sondern gerade auch        gemacht!“
die unberechenbaren. Denn das ist        Welch schlimme Folgen hat solch
Gnade: Wenn jemand Schweres              eine Haltung im Laufe der
geduldig erträgt und sogar zu            Kirchengeschichte immer wieder
Unrecht leidet.“ (1. Petrus 2,18f)       gehabt! Welch Duckmäusertum,
                                         welch       Opportunismus         und
Den christlichen Sklaven also            Anpassung an bestehendes Unrecht
empfiehlt      der     Autor       des   hat sie gefördert! Welch unsägliches
Petrusbriefes Christus als Vorbild. So   menschliches Leiden wurde so nicht
wie Jesus alles ertragen, erlitten und   nur in Kauf genommen, sondern
erduldet hat, so sollen sie auch alles   geradezu legitimiert! Ihr Frauen,
ertragen, erleiden und erdulden. Die     ordnet euch euren Männern unter,
Willkür ihrer Herren, Schläge,           selbst wenn sie euch schlagen und
Misshandlungen und was damals            misshandeln! Euer Herr Jesus hat
sonst noch alles als Sklavin oder        auch ohne Widerworte gelitten! Ihr
Sklave auf einen zukam, wenn man         Bauern ordnet euch euren Fürsten
das Pech hatte und im Dienst eines       unter, auch wenn sie euch
solchen „unberechenbaren“ Herren,        auspressen und euch eure Ernte
stand.                                   wegnehmen! Euer Herr Jesus
                                         Christus soll euch ein Vorbild sein im
Kein Vorbild für die, die Unrecht        Leiden! Ihr Deutschen, seid
leiden!                                  Gehorsam eurem Führer, auch wenn
Ich muss gestehen: Die Art, wie der      er euch in Krieg und Verderben
Autor des 1. Petrusbriefes hier          stürzt! Euer Herr Jesus war auch bis
argumentiert, finde ich unerträglich.    in den Tod gehorsam!
Gerade denjenigen, die sowieso           Nein, liebe Schwestern und Brüder,
unter    Unrecht      leiden,   den      das, was der Autor des 1.
Rechtlosen, denen, die am Rand der       Petrusbriefes hier tut, halte ich für
Gesellschaft standen, die in ihrem       falsch. Er vergisst: Vorbilder haben
Leben sowieso besonderer Härte           Grenzen! Wenn ich mir den
ausgesetzt waren, denen wird             leidenden Jesus Christus als Vorbild

                                                                             3
nehme und erst recht, wenn ich ihn       gewaltsam      Unterdrückten       als
anderen als Vorbild empfehle, dann       Vorbild hinstellen wollen? Oder
muss ich mir bewusst sein: Auch hier     bräuchten sie nicht viel eher das
handelt es sich um ein Bild, um einen    Vorbild des gerechten Jesus, der sich
Aspekt des Lebens und der Person         für die Unterdrückten einsetzt, den
Jesu. Die Bibel überliefert eine         Mut des Revolutionärs, der es wagt,
Vielzahl solcher Bilder oder Aspekte:    Ordnungen und Gepflogenheiten in
Da ist Jesus, der Heiler, der Wunder     Frage zu stellen, wenn sie dem
tut und Menschen gesund macht; da        Willen Gottes widersprechen oder
ist Jesus, der Lehrer und Prediger,      die Hoffnung, die uns der Heiler
der die Menschen unterweist und          Jesus schenkt, wenn er uns zeigt, das
ihnen Orientierung gibt; da ist Jesus,   Verletzungen des Körpers und der
der sich für Gerechtigkeit einsetzt,     Seele unser Leben nicht für immer
für die, die am Rand stehen; da ist      bestimmen müssen, dass neues
der Jesus, der Mitleidende, der die      Leben in Freiheit möglich ist?
Menge um die Ehebrecherin fragt:
Wer von euch ohne Sünde ist, werfe       Ein Vorbild zur Freiheit
den ersten Stein!“, da ist Jesus, der    Liebe Schwestern und Brüder,
Revolutionär, der die bestehende         nehmen Sie sich Jesus als Vorbild! Es
Ordnung in Frage stellt und die          ist gut und wichtig, immer wieder ins
Händler aus dem Tempel wirft – von       Neue Testament zu schauen, um aus
ihm haben wir eben in der Lesung         den Erzählungen von Jesu Handeln
gehört. Und ja – und und und. Und ja,    Kraft und Orientierung für das
da ist auch der Jesus der                eigene Handeln zu gewinnen. Aber
Passionsgeschichten, der duldsam         tut es so, dass Sie sich bewusst sind,
leidet, der freiwillig den Spott und     welches Bild Sie da gerade vor Augen
den Hohn der Menschen aushält,           haben und warum es dieses und kein
der ans Kreuz und in den Tod geht.       anderes Bild ist! Seien Sie sich
Aber, liebe Schwestern und Brüder,       bewusst: Kein Bild fasst ihn ganz,
ist es von allen diesen Bildern, die     keine Perspektive auf sein Leben
uns von Jesus gegeben sind, nun          reicht aus, um ihn vollkommen zu
ausgerechnet jenes Bild des duldsam      fassen. Und wenn Sie anderen Jesus
Leidenden, das wir den Rechtlosen,       als Vorbild hinstellen, Kindern,
den Opfern von Gewalt, den               Enkeln, Freundinnen und Freunden,

                                                                             4
Schwestern und Brüder aus der           Verändert sich etwas durch mein Tun?
Gemeinde, seien Sie besonders
achtsam! Fragen Sie sich: Geht es       Denn gerade, wenn wir uns den
jetzt wirklich darum, anderen mit       leidenden Jesus zum Vorbild
dem Vorbild Jesu eine neue              nehmen, halte ich Folgendes für
Perspektive für ihren Weg und ihr       wichtig: Jesus hat nicht einfach so
Handeln zu zeigen – oder geht es nur    um des Leidens willen, gelitten!
darum, meine eigene Position,           Sondern er hat mit seinem Leiden
meine      eigene    Meinung      zu    etwas bewirkt. Er hat etwas
unterfüttern und ihr religiöse          verändert: uns selbst. Er hat uns frei
Autorität zu verleihen?                 gemacht von dem, was uns gefangen
                                        nimmt und an einem erfüllten Leben
Und ein letzter Gedanke zum Schluss:    mit Gott hindert. Jesus verzichtet
Es mag Situationen geben, in denen      nicht     einfach     bloß    darauf,
auch und gerade der leidende Jesus      zurückzuschimpfen, er hält nicht
uns als Vorbild dienen kann –           einfach bloß das Unrecht aus, das er
Situationen, in denen es am Tag sein    erleidet, sondern er durchbricht auf
kann       „es      nicht      sofort   diese Weise den Kreislauf der Gewalt
zurückzugeben“ und nicht gleiches       und öffnet gerade so einen Weg in
mit gleichem zu vergelten -etwa,        eine freiere Zukunft. Wenn wir
eine bissige Bemerkung, die mir auf     etwas aushalten und etwas erleiden,
der Zunge liegt, runterzuschlucken,     dann sollten wir uns das fragen:
um einen Konflikt nicht noch weiter     Bleibt alles einfach beim Alten,
anzuheizen; nicht sofort bis zur        werden        eingefahrene,     böse
letzten Instanz zu klagen, weil das     Verhaltensmuster nur bestätigt, wird
Kind der Nachbarsfamilie mal wieder     bestehendes        Unrecht       bloß
bei mir im Vorgarten spielt und über    weitergetragen?
die Blumenrabatten trampelt. Es gibt    Oder: Verändert sich etwas –
Situationen, da ist es gut, es dem      verändert sich etwas hin zu einem
leidenden Jesus gleichzutun und         freieren und gerechteren Umgang:
Dinge     auch     einfach    einmal    bei mir selbst und bei meinem
auszuhalten.                            Nächsten.
Um solche Situationen zu erkennen,      Denn das, liebe Schwestern und
hilft mir persönlich die Frage:         Brüder, scheint mir ein Aspekt zu

                                                                            5
sein, der allen Jesusbildern im             Menschen zu einem Leben in
Neuen Testament gemeinsam ist –             Freiheit zu verhelfen, einem Leben,
dem Bild vom Heiler, vom Lehrer,            das erfüllt ist von liebevoller
vom Prediger, vom Revolutionär              Zuwendung        und      heilsamen
oder vom leidenden Dulder am                Beziehungen – zu mir selbst, zu
Kreuz. Immer geht es Jesus beim             meinen Nächsten und zu Gott.
seinem Tun und Leiden darum, uns

Pfr. Tobias Schreiber
Hinweis: Diese Predigt mitsamt Gottesdienst zum Mitfeiern gibt es online auf
www.kgtm.de!
Die nächste Lesepredigt finden Sie am „Rost“ vor der Kirche am Sonntag, den 03. Mai.

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