WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf
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SPITZMARKE TD T EN ECKE EL N W UN E DI D 5 EI N N TEIL HE SS BI C CH A M E SS E R EN B EISIGE WELTEN Die landschaftsprägenden Eismassen der Gletscher sind zu sichtbaren Ikonen der Klimakrise geworden. Fünf Personen erzählen, wie sie die Veränderung erleben – ein Porträt der schwindenden Schönheiten, die manche als Lebewesen verstehen. TEXT: SIMON SCHÖPF FOTOS: ROBBIE SHONE Faszinosum Eis Am Ende einer Gletscherzunge – wie hier am Taschachferner in den Ötztaler Alpen – bildet sich durch Schmelzwasser eine halbrunde Öffnung, das Gletschertor. Aus dem Bauch des Gletschers fließt im ständigen Strom die sogenannte Gletschermilch. 18 19
SPITZMARKE 1. Der Forscher uns Gletscherforschern erst im Mai an. Gut, dass wir den ganzen Winter Zeit zum Üben hatten.“ 70 % DAS EIS ALS Der Grund für diese glaziologische Schwer- arbeit ist die Massenbilanz, die Prinz mit sei- DES SÜSSWASSERS der Welt und sind in Gletschern GROSSES nem Team am Institut für Atmosphären- und (inkl. Polregionen & Grönland) gespeichert. Sie sind nach den Kryosphärenwissenschaften der Universität Inns- Ozeanen die größten Wasser- FREILUFTLABOR bruck jährlich für den Hintereisferner erstellt. Al- speicher der Erde. le 20 vertikalen Zentimeter wird ein Röhrchen mit Schnee gefüllt und gewogen, die Dichte von Schnee reicht von 100 (lockerer Pulverschnee) bis 900 (festes Eis) Kilogramm pro Kubikmeter. „Auf die gesamte Gletscherfläche extrapoliert wissen wir dann, wie viel Wasser hier über den Winter D er erste Mai sollte ein Traumtag werden. Wolkenloser Himmel, ein bisschen Neu- gespeichert wurde.“ Jedes Jahr wird Bilanz gezo- gen, und das bereits seit über 60 Jahren, die zweit- 1/3 schnee, wenig Wind. Gut so, denn wenn man längste Messreihe weltweit. Der Schneeschacht einen der führenden Glaziologen Österreichs ist gleichzeitig ein konserviertes Witterungspro- treffen will, muss man schon mal rauf auf über tokoll: Bei 3,50 Meter identifiziert Prinz eine klei- DES ANSTIEGS 3.000 Meter. Auch wenn unten im Südtiroler ne, gelbliche Schicht, „das ist Schnee vom letzten DER MEERESSPIEGEL Vinschgau bereits die Apfelbäume blühen, hier Oktober, vermischt mit Saharastaub. Da gab’s ist auf die weltweite Gletscher- oben in den Ötztaler Alpen ist noch tiefster einen großen Sturm mit Überschwemmungen in schmelze zurückzuführen. Winter, die Landschaft mit einer meterdicken Oberitalien“, erinnert sich der Forscher. Schneeschicht überzogen. 3,82 Meter, um ganz Der Hintereisferner wird ähnlich gut über- genau zu sein, und Rainer Prinz interessiert jeder wacht wie ein Patient auf der Intensivstation. Zentimeter davon. Tägliche Messungen mit dem Laserscanner, Web- Nur, ihn zu lokalisieren ist in der Praxis cams, Wetterstationen, Schneeschächte, Massen- gar nicht so einfach – wir sind mit den Tourens- bilanz – mittels High-Tech-Ausrüstung werden ki auf das „Hintere Eis“ gestiegen, stehen genau hier Messungen und Methoden verfeinert, die auf der Grenze von Nord- und Südtirol, vor uns Modelle global angewandt. Für die Forscher ist 10 m ein Panorama der Extraklasse. Von hier oben be- die Gegend ein einmaliges, riesiges Freiluftlabor. trachtet sieht man kleine, schwarze Punkte über „Solche Daten über einen derart großen Zeitraum das endlose Weiß des Hintereisferners ziehen, sind weltweit fast einzigartig“, meint Prinz nicht NEUSCHNEE wie Ameisen, die über ein riesiges Bettlaken spa- ohne Stolz in der Stimme. Nur deuten alle Daten besitzt frisch gefallener Schnee, zieren. Die meisten Ameisen bilden eine Straße darauf hin: Der Patient liegt im Sterben. Gletschereis komprimiert ihn zu in Richtung Weißkugel, mit 3.735 Metern der einer Dichte von 0,9 g/cm3 vierthöchste Berg Österreichs und an diesem Fei- ertag ein entsprechend begehrtes Gipfelziel bei DIE GLETSCHER VERÄNDERN SICH Alpinisten. Nur zwei kleine Punkte in der Mitte des Gletschers reißen aus dem Pilgerstrom aus, Warum uns das alle etwas angeht erschließt sich verschwinden manchmal ganz, tauchen wenig erst nach Sonnenuntergang – und nach erledig- später wieder an der Oberfläche auf. Erst aus der ter Arbeit in der kleinen Biwakschachtel der Uni Nähe betrachtet entdeckt man den mannstiefen Innsbruck. In exponierter Lage am Grat hoch Glaziologische Schwerarbeit Schacht, aus dem alle paar Sekunden eine Schau- über dem Gletscher ist sie seit 1966 ein Refugi- Fast vier Meter tief ist 0,1 felladung Schnee nach oben katapultiert wird, mit um für die Wissenschaftler. Ein kleines Mat- der Schacht, den Rainer unserem gesuchten Glaziologen darin. „Ab zwei ratzenlager gibt es hier, die Gaslampe flackert, Prinz mit seinem Team Metern Tiefe wird das Schaufeln exponentiell an- am Herd köchelt die Kilopackung Spaghetti ge- der Uni Innsbruck jedes g / cm3 DICHTE Jahr in den Hintereis- strengender“, sagt Rainer Prinz und wischt sich mächlich Richtung al dente. Rainer Prinz kommt besitzt frisch gefallener Schnee, ferner schaufelt. Sinn den Schweiß von der Stirn. „3,82 Meter sind es mehrmals im Jahr hier hoch, immer bepackt mit Gletschereis komprimiert ihn zu ist die Erstellung der hier bis zum Eis. Das Schneeschaufeln fängt bei schwerem Rucksack voller Messinstrumente, einer Dichte von 0,9 g/cm3 Massenbilanz. 20 21
SPITZMARKE LEBENDES SYSTEM GLETSCHER Wie entsteht eine Gletscherspalte, wie schnell bewegt sich das Eis, wie schwer wiegt Schnee? Fast wie ein Spiegel 730.000 Gletscher haben durch ihre Reflexion einen ILLUSTRATION: MANUEL BORTOLETTI entscheidenden Einfluss km3 auf das Weltklima: bedecken die rund 200.000 Ihre weiße Oberfläche Gletscher auf unserem Planeten. reflektiert bis zu 90% Die weltweite Gletscherfläche der Sonnenstrahlung. ist damit etwa so groß wie Deutschland, Dänemark Woraus Frischwasser besteht Ein Gletscher und Polen zusammen. 1,2% Oberflächenwasser ist eine aus Schnee her vorgegangene Eismasse mit einem klar definierten 1 Einzugsgebiet, die sich aufgrund von nÄhrgebiet 30,1% Grundwasser spezifischen Faktoren eigenständig bewegt. 2 zehrgebiet 68,75% Gletscher, Oberflächeneis 3000 Meter über dem Meer 200.000 Hier liegen die Messstationen der Forscher am Hintereisferner, die seit Jahrzehnten wichtige Klimadaten akribisch protokollieren. Die Wartung der feinen Instrumente ist entsprechend aufwendig. 7.000 Anzahl der weltweiten Gletscher Ihre Gesamtfläche beträgt etwa eisfliessbewegung gletschertor moräne 730.000 Quadratkilometer METER PRO JAHR fließt der Jakobshavn Isbræ 1 auf Grönland und ist damit Als bedeutende Landschafts- Gletscher der Welt Aus Schnee former ragten die Alpengletscher Sie bedecken eine der dauerhaft am schnellsten wird Eis fließende Eisstrom der Welt. in Kaltzeiten bis ins Alpenvorland Fläche so groß wie 0,1 g/cm3 0,1 und prägen die Landschaft bis Deutschland, Polen Dichte g/cm3 heute. Gletscher sind zudem und Dänemark besitzt frisch Indikatoren für Klimaänderungen. zusammen gefallener Nahezu weltweit ist seit Beginn Proviant, der obligatorischen Flasche Rotwein für Die Gletscher sind zu Ikonen des Klimawandels Schnee, der Industrialisierung ein deut- 33% den Abend. Gezeichnet vom ganzen Tag Schnee- geworden“, meint Prinz. „Gut, neben den Eisbä- Gletschereis licher Rückgang der Gletscher komprimiert ihn zu beobachten. Schmilzt im schaufeln unter der intensiven Höhensonne wird ren. Wenn wir so weitermachen wie bisher pro- zu einer Dichte 0,9 Zehrgebiet mehr Eis als im bei einem Glas Merlot erst so richtig klar, wor- phezeien uns alle Messungen und Modelle, dass von 0,9 g/cm3. Nährgebiet produziert wird g/cm3 um es ihm eigentlich geht: „Den Gletschern ist wir in 100 Jahren weitgehend eisfreie Alpen ha- (siehe oben), zieht sich der des beobachteten Anstiegs es ziemlich egal, ob sie schmelzen oder nicht. Die ben werden. Aber die Pyrenäen sind doch auch Gletscher zurück. des Meeresspiegels ist auf schmelzende Gletscher zurückzuführen Auswirkungen treffen vor allem uns Menschen. ohne Gletscher wunderschön, oder nicht?“, kom- Nur leider fehlt es oft am Verständnis für den mentiert er die Entwicklung durch seine nüch- 10 Meter Wie schnell ist 2 größeren Zusammenhang der Dinge, für das Sys- tern-wissenschaftliche Brille. Und wird nach Neuschnee randspalten ein Gletscher? tem. Was uns die Gletscher geben, sind zeitverzö- einem Schluck Merlot aber doch emotional: „Je sind notwendig, Entstehung (Meter/Jahr) 7.000 von längsspalten um 1,10 Meter Jakobshavn gerte Alarmleuchten.“ mehr wir über Gletscher wissen, desto mehr wer- Gletscher querspalten Gletschereis zu (Grönland) Dass sich das globale Klima rapide erwärmt, den wir uns mit ihnen verbunden fühlen. Schafft erzeugen. spalten séracs ist mittlerweile tausendfach belegt. Dass homo es die Menschheit, den Temperaturanstieg auf un- Durch die 46,8 sapiens der Hauptverursacher dieser Verände- ter 2°C zu begrenzen, können wir ein Drittel des ständige Fließbewegung rung ist, ebenso. Selten ist diese Veränderung so heutigen Eisvolumens der Alpen retten. Schaffen des Eises greifbar, so gut sichtbar wie an gewaltigen Eis- wir das nicht, gibt es keinen Weg, sie wieder zu- METER PRO TAG entstehen massen, die sich mit einem bisher ungesehenen rückzuholen.“ Denn neben der Biodiversität und bewegte sich der Jakobshavn je nach Tempo zurückziehen. Zwei Drittel seines Volu- den Wasserspeichern schmilzt mit den Gletschern Isbræ 2012, die größte je gemes- Untergrund sene Fließgeschwindigkeit des Längs- bzw. gletscherbett 20 mens hat der Hintereisferner seit 1850 eingebüßt, vor allem eines: ein einzigartig-ästhetisches Na- Gletschers. Der Hintereisferner Querspalten. eis Hintereisferner „ seit rund 30 Jahren ist die Gletscherschmelze in turwunder, das uns Menschen und unseren Le- bewegt sich mittlerweile rund 20 (Alpen) Stauchwüste den Alpen zu hundert Prozent menschengemacht. bensraum seit Jahrtausenden prägt. Meter. Pro Jahr. 22 23
SPITZMARKE 3. Die Hüttenwirtin DAS EIS ALS NACHBAR S usanne Gleirschers Nachbar zieht jedes Jahr ein Stück weiter weg von ihr. Was nicht an Su- sannes Art liegt, die wäre als offenherzig und ehr- lich einzustufen, sondern daran, dass ihr Nachbar aus Eis gebaut ist: Der Sulzenauferner gehört zu den größten Gletschern in Tirol und ist beinahe vom ganzen Stubaital aus sichtbar, er verleiht der Landschaft ihre alpine Prägung. Susanne bewirt- schaftet seit sechs Jahren das gleichnamige Alpen- vereins-Schutzhaus zu seinen Füßen, die idylli- sche Sulzenauhütte auf 2.191 Metern Meereshöhe. Aus Eis wird Wasser. Der mächtige Sulzenauferner reichte vor 70 Jahren bis zur Hütte „Vom Küchenfenster siehst genau auffi aufn hinunter, jetzt sind es gute eineinhalb Stunden Fußmarsch bis zum Gletscher. Ferner, und wenn mal nit viel los is, schaut ma früher das „ewige Eis“ das Tal bedeckte, ist ein Susanne Gleirscher scho viel rauf. Und macht sich so seine Gedan- See entstanden, gespeist vom Schmelzwasser des und ihre Sulzenauhütte Skigebiet Stubaier Gletscher im Sommer. Im Winter tummeln sich hier tausende Skifahrer in den Stubaier Alpen. auf weißen Pisten, im Sommer werden die Eisreste durch riesige, weiße Vliese geschützt. ken“, sagt Gleirscher. Sie ist lange genug hier Gletschers. Und just diese veränderte Landschaft Die Postkarte zeigt den oben, um eine Veränderung zu bemerken: Seit bereitet der Hüttenwirtin Kopfzerbrechen. Stand des Sulzenaufer- ihrem sechsten Lebensjahr verbringt sie jeden Vor zwei Jahren prasselte im Sommer be- ners vor gut 30 Jahren, Sommer am Berg, schon ihre Eltern haben die sonders viel Regen auf den Ferner, wahrschein- im Hintergrund der reduzierte Jetztstand. Hütte bewirtschaftet, ihr Ur-Ur-Großvater ist der lich lösten sich dadurch größere Eisbrocken – der Grundeigentümer. „Meine Oma erinnert sich See entlud sich eines Augustabends mit ganzer daran, dass die Gletscherzunge früher sogar bis Gewalt, eine Flutwelle mit Tonnen von Steinen unterhalb der Hütte gereicht hat. Heute sind es bahnte sich ihren Weg Richtung Hütte, „es hat eineinhalb Stunden Fußmarsch bis zum Eis“, be- g’rumpelt, dass das Haus g‘wackelt hat“, erin- richtet Gleirscher. Damit veränderte sich auch nert sich die Hüttenwirtin. Nur durch Glück das Klientel der Hüttengäste. Früher kamen pri- blieb die Hütte verschont, das E-Werk und die mär Hochtourengeher mit Gletscherausrüstung, Versorgungsleitungen allerdings nicht. Zehn Ta- auch Ausbildungskurse wurden regelmäßig hier ge musste die Sulzenauhütte geschlossen bleiben, veranstaltet. Heute sind es vorwiegend Wanderer die Reparaturen dauerten bis in den Herbst. Mitt- in leichten Trekkingschuhen, die am Stubaier Hö- lerweile ist der See wieder gut gefüllt, an Regen- henweg unterwegs sind. „Wir mussten sogar den tagen schleicht sich auf der Hütte ein mulmiges Normalweg auf das Zuckerhütl sperren, unser Gefühl ein. „Wir müssen uns mit den Umständen prominentester Gipfel hier. Zu wenig Eis, zu viel arrangieren“, meint Gleirscher pragmatisch. Steinschlag. Gäste, die vor zehn oder 20 Jahren Von der sonnigen Terrasse aus, auf der un- schon mal hier waren, können das oft gar nicht sere Gastgeberin ihre Geschichte erzählt, hört glauben, die sind regelrecht geschockt.“ man an diesem Sommertag die Vögel trällern. Zusatzfoto: Simon Schöpf Die Alpengletscher hatten um 1850 ihre letz- „Während meiner Kindheit war hier Stille. Un- ten Höchststände. Seitdem sind sie am Rückzug, ten im Tal, freute ich mich immer am meisten auf doch in den letzten Jahren wurde das Tempo im- das Gezwitscher“, erinnert sich Gleirscher. Durch mer rasanter. Im Falle des Sulzenauferners ist die die Klimaveränderung sind Singvögel zu neuen Veränderung besonders anschaulich: Dort, wo Hüttengästen geworden. 24 25
SPITZMARKE 2. Der Betreiber DAS EIS ALS TOURISTEN ATTRAKTION E igentlich war alles nur ein einziger, großer Zufall. Ein kleiner Spalt – nicht mal zwei Me- ter breit – genügte, um Roman Erlers Aufmerk- Roman Erler samkeit zu fesseln. „Ich war gerade mit einer ist der Entdecker und Betreiber des Natureispalastes am Gruppe am Rückweg vom Olperer, da is ma der Hintertuxer Gletscher, einer Schlitz neben der Piste Nummer 5 aufgefallen. eisigen Wunderkammer. Am nächsten Tag bin ich dann gleich no amal rauf.“ Eine neue Öffnung im Eis wäre sonst ei- gentlich nichts Ungewöhnliches auf einem Glet- scher, Spalten gibt es am Hintertuxer Gletscher im Tiroler Zillertal zu Hauf. Überall, nur eben ordinäre Gletscherspalte“, erinnert sich Erler. nicht auf der Piste Nummer 5. Bis jetzt. Tatsächlich hat sich am Hintertuxer Gletscher Roman Erler, großgewachsen, weißer Bart, auf 3.200 Metern Seehöhe eine Gletscherhöhle strenger Blick, ist ein von Grund auf neugieriger gebildet. Das Eis ist hier am Fels festgefroren und Mensch. Im Sommer zieht es ihn in abgelegene bleibt durch geografische Besonderheiten von Täler, die sonst keiner durchwandert, er sucht dem fließenden Teil des Gletschers getrennt, „seit nach Bärenknochen und seltenen Mineralien. Im 10 Jahren hat sich das keinen Zentimeter bewegt.“ Winter begleitet er als Bergführer Gäste auf den Durch diesen Umstand hatte das Wasser genü- Olperer, den höchsten Berg der Tuxer Alpen in gend Zeit und Muße, sich in bizarrste Eisskulptu- Tirol, organisiert Spaltenrettungen mit der Ber- ren zu verwandeln und sein geheimes Innenleben grettung. Über 200 Tage im Jahr verbringt er jen- preiszugeben. „Wir sind hier tief im Gletscher, 35 seits der 3.000-Meter-Grenze, und genau darum Meter über uns ziehen die Skifahrer ihre Kurven. fiel ihm dieser kleine Spalt auf. Zwei Eisschrau- Aber was unter der Piste liegt, das ahnt da oben ben waren schnell platziert, der Klettergurt über- keiner“, sagt Erler. gestreift, und Roman Erler seilte sich kurzerhand Wer eintritt in diese Welt, muss kein Glazio- hinunter in das kalte, schwarze Loch. Was ihm loge sein, um sich für das Eis zu faszinieren. Es Flüssiges Eis damals, vor über 10 Jahren, im Lichtkegel der ist einer der wenigen Orte, an denen man einen Durch geografische Stirnlampe entgegenglitzerte, das lässt ihn bis Gletscher von innen bestaunen kann, ganz oh- Eigenheiten entstand heute nicht mehr los. ne Bergführerausbildung – Roman Erler betreibt am Hintertuxer Glet- Riesige Stalagmiten, Perleis an der Decke, den Natureispalast als kommerzielle Sehenswür- scher auf 3.200 Metern eine permanente Glet- Wabeneis an den Wänden – Roman Erler war digkeit. Wichtiger als der Nettoerlös ist ihm aber Zusatzfoto: Simon Schöpf scherhöhle samt unter- eingetaucht in eine Welt, die er heute Natureispa- eines: „Die Leute müssen mit eigenen Augen se- irdischem See im Eis. last nennt. „Erst amal hab i schlucken müssen. hen, wie faszinierend diese Welt aus Eis ist. Nur Sogar mit einem Boot Normal sind Gletscherhohlräume sehr kurzlebig, wer deren Schönheit gesehen hat, wird sich auch kann man hier fahren, und wer denn so will, die sind heute mal offen und morgen schon wie- Gedanken darüber machen, wie wir sie erhalten auch schwimmen. der zu. Aber das war eine richtige Höhle, keine können.“ 26 27
SPITZMARKE 4. Der Bergführer DAS EIS ALS EXISTENZ GRUNDLAGE „D er Mann, der mit den Murmeltieren spricht!“, hört man die ironische Selbstbe- schreibung Horst Fankhausers herüberschallen, als er mit der Sicherheit eines Seiltänzers über die klobigen Steine des Geröllfeldes balanciert. Dann ertönt kurz darauf aber doch ein schriller Pfeifton, das Warnsignal der dicken Alpinnager, und die braunen, massigen Fellknäuel wuseln zu ihren Bauten. Obwohl sie ihn eigentlich gut ken- Horst Frankhauser kennt die Gletscher um die Franz-Senn-Hütte in nen müssten, den Horst: Er ist seit etlichen Jahr- den Stubaier Alpen wie kein zweiter. Das Foto zehnten hier oben unterwegs, sommers wie win- illustriert den Rückgang des Alpeiner Ferners ters, und das trotz seiner 75 Jahre keinen Schritt zwischen den 30er Jahren und 2019 (großes Bild). langsamer. Horst Fankhauser führt uns heute zu einem seiner Lieblingsplätze, dorthin, „wo man den Gletscher richtiggehend spürt, ohne dabei am Eis zu stehen.“ Mit dabei hat er eine historische Postkarte, die den Stand des Alpeiner Ferners scher schmelzen.“ Für Bergführer wie ihn wan- vor 90 Jahren abbildet und damals vom gleichen delt sich auch der Arbeitsplatz gravierend. Durch Standort aufgenommen wurde. Etwas wehmütig den Gletscherschwund und das zunehmende Auf- blicken Fankhausers wache Augen unter den bu- tauen des Permafrostes werden viele Wege akut schigen Brauen schon in die Kamera, als wir das steinschlaggefährdet oder gleich gänzlich unpas- Vergleichsfoto aufnehmen, wobei er dann mit ei- sierbar, „auf die Wildgratscharte mussten wir nem Lächeln meint: „Eigentlich müsst i jetzt trau- vor acht Jahren sogar einen Klettersteig bauen“, rig schauen, aber des kann i gar nit.“ erklärt Fankhauser, und fügt hinzu: „Und mitt- Horst Fankhauser ist eine wandelnde Berg- lerweile schon drei Mal nach unten verlängern.“ steigerlegende, er war über 30 Jahre Hüttenwirt Viele der ehemals klassischen Nordwand-Eistou- auf der nahen Franz-Senn-Hütte in den Stubaier ren in der Gegend sind mittlerweile unbegehbar. Alpen, Bergführer-Ausbildner und stieg quasi ne- Mit Blick auf den zurückgezogenen Alpei- benbei auf zwei Achttausender. Kurz, es gibt wohl ner Ferner meint Fankhauser: „Irgendein schlau- keinen, der mit den Gipfeln, Gletschern und Mur- er Mann hat einmal gesagt: ‚Alles hat seine Zeit‘. Rückschau meltieren hier oben mehr verbunden ist, die Ver- Das trifft wohl auch auf die Gletscher zu. Wenn Die landschaftsprägenden Eisriesen sind, änderungen der Landschaft emotionaler miterlebt uns Gäste auf der Hütte fragen, wie wir dem Kli- bedingt durch den Klimawandel, weltweit auf dem Rückzug. Für Bergführer wie Horst hat. „Für mich ändert sich ein Weltbild“, meint mawandel begegnen, dann sag‘ i immer: Wir Fankhauser bedeutet dies ein veränderndes Fankhauser, „seit gut zehn Jahren galoppiert das pflanzen jetzt Palmen an und machen einen Golf- Arbeitsumfeld: Viele der Touren seiner Tempo, da kannst direkt zuschauen, wie die Glet- platz auf.“ Jugend sind heute nicht mehr kletterbar. 28 29
SPITZMARKE 5. Der Gletscherfotograf Aletschgletscher bei Zermatt in der Schweiz mit DAS EIS ALS eigenen Augen gesehen. An vier aufeinanderfol- genden Jahren nahm Shone an Expeditionen teil, GESAMT um die tiefen Gletschermühlen zu fotografieren. Jedes Jahr waren die Veränderungen noch deut- KUNSTWERK licher sichtbar, das Eis zum Teil hunderte Meter weit zurückgezogen. „Ich konnte einfach nicht glauben, dass es so schnell gehen kann. Und dass der Mensch der größte Treiber dieser Beschleu- nigung ist.“ Alle Fotos dieser Geschichte stammen von B lau. Es sind vor allem die facettenreichen Schattierungen dieser Farbe, die es Robbie Shone angetan haben. „Vom fast durchsichti- Robbie Shone selbst. Viele Male sind wir dafür über ein ganzes Jahr in Richtung „Ewiges Eis“ ausgerückt, und der Autor darf berichten: Shone gen Hellblau über ein sattes Türkis bis hin zum kann sich eine geschlagene Stunde mit einem ein- Stahlblau, im Eis findest du alle Tönungen. Für zigen Eiszapfen beschäftigen. Dutzende Male den mich ist das die schönste Farbe, die ich kenne“, Winkel verändern, die Blitze versetzen, das Ob- meint Shone. Er gehört zu einer Handvoll Leu- jektiv wechseln. Bis der Eiszapfen in seiner ganzen ten weltweit, die die Berufsbezeichnung „Höhlen- Erhabenheit eingefangen ist. Und es ist exakt die- fotograf“ auf ihre Visitenkarte gedruckt haben. se Faszination für die Schönheit des Eises, die ihn Und die muss man sich erstmal hart erarbeite – antreibt: „Die Gletscher sind die letzten sichtbaren über 15 Jahre lang robbte Robbie durch die meist Zeichen einer vergangenen Welt, der Eiszeit. Den schlammigen Höhlen seiner Heimat England, die Gedanken, dass unsere Enkelkinder diese Formen Kamera immer im Anschlag. Und wer die Insel und Farben möglicherweise gar nie zu Gesicht be- kennt, wird verstehen, dass der primäre Farbton kommen werden, kann ich nicht ertragen. Wir hier eine Mischung aus matschbraun und stein- müssen die Schönheit bewahren“, sagt Shone. Sein grau ist. Umso faszinierter war Robbie, als er mit Mittel zum Zweck ist die Kamera. seinem Umzug nach Innsbruck vor fünf Jahren das Blau der Gletscher für sich entdeckte. Wie schnell sich das Eis zurückziehen kann, hat der Fotograf zum ersten Mal am Gorner- und Robbie Shone dokumentiert leidenschaft- lich die Veränderung der Foto: Colin Ronald Gletscher. Die Fotos dieser Geschichte sind seine und sensibilisieren für die fra gile Schönheit des Eises. 30 31
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