Wenn die Sinne kurzzeitig schwinden - Deutsches Ärzteblatt

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Wenn die Sinne kurzzeitig schwinden - Deutsches Ärzteblatt
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SYNKOPEN

Wenn die Sinne kurzzeitig
schwinden
Die neue S1-Leitlinie möchte einen einheitlichen Standard zur Abklärung und Therapie von
Synkopen bei allen an der Behandlung dieses Krankheitsbildes beteiligten Fachdisziplinen –
wie Neurologen, Internisten und Allgemeinmedizinern – etablieren.

                    ie aktualisierte S1-Leitlinie über Synkopen             Ist Näheres über die Ursache noch nicht bekannt,
             D      wurde im März 2020 von der Deutschen Ge-
             sellschaft für Neurologie (DGN) vorgestellt (1).
                                                                         ist die Bezeichnung „kurzer Bewusstseinsverlust“
                                                                         oder „TLOC“ („transient loss of consciousness“) zu
             Beibehalten wurde die Empfehlung eines streng hy-           bevorzugen. Insofern ist Synkopenabklärung zu-
             pothesenorientierten diagnostischen Vorgehens,              nächst einmal TLOC-Abklärung.
             das sich zunächst nur auf die Ergebnisse einer                 Entsprechend der hypothesenorientierten Logik
             schlanken Basisdiagnostik stützt und mögliche               der Leitlinie soll die Basisdiagnostik Informationen
             Zusatzdiagnostik nur bei entsprechender Verdachts-          zur Beantwortung von 3 Fragen liefern:
             diagnose in Betracht zieht.                                 ● Handelt es sich bei dem Ereignis um eine Synkope
                Der therapieleitende Stellenwert des Ereignis-              oder liegt eine andere Ursache für einen Bewusst-
             rekorders hat in der neuen Leitlinie bei Patienten             seinsverlust vor?
             mit rezidivierenden vasovagalen Synkopen erheblich          ● Kann schon eine sichere ätiologische Diagnose
             an Bedeutung gewonnen. Eine große Studie aus Ita-              oder zumindest eine Verdachtsdiagnose gestellt
             lien (2) zeigte, dass bei diesen Patienten aufgezeich-         werden?
             nete Asystolien während einer Synkope eine erfolg-          ● Liegen Hinweise für ein hohes Risiko schwerwie-
             reiche Schrittmachertherapie vorhersagen ließen.               gender kardiovaskulärer Ereignisse vor?
                                                                            Die 4 Säulen der Basisdiagnostik umfassen eine
             Basisdiagnostik                                             detaillierte Anamnese und Fremdanamnese, eine
             Der Begriff „Synkope“ sollte nicht vorschnell verwen-       körperliche Untersuchung, ein 12-Kanal-EKG
             det werden. Wenn der Arzt mit einem Patienten kon-          und einen aktiven Stehtest mit wiederholten Blut-
             frontiert wird, der eine kurze Ohnmacht erlitten hat,       druck- und Pulsmessungen über mindestens 3 Mi-
             weiß er ja zunächst noch gar nichts über die Pathogene-     nuten (verkürzter Schellong-Test). Wird die Anam-
             se des Anfalls. Gemeinsam ist allen Synkopenursachen        nese sorgfältig durchgeführt und beleuchtet die Me-
             eine kurzzeitige globale zerebrale Minderperfusion.         dikamenteneinnahme, Vorerkrankungen, frühere
             Erst wenn eine solche unterstellt werden darf, sollte       Ohnmachten, Begleitumstände, Prodromi und Dau-
             man den Ohnmachtsanfall als Synkope bezeichnen.             er der Ohnmacht, motorische Auffälligkeiten in der

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Attacke und den Verlauf des Aufwachens und der                 eine recht zeitaufwendige Untersuchung, erfreute
Reorientierung, so kann sie wegweisend für die Di-             sich vor allem aus diesem Grunde bei Ärzten keiner
agnose sein. Berichtet der Patient zum Beispiel über           großen Beliebtheit und fiel in der TLOC-Abklärung
einen Schweißausbruch oder ein inneres Hitzeemp-               auch gern ganz unter den Tisch. Deshalb fordert die
finden im Vorfeld des TLOC, so kann daraus bereits             neue Leitlinie, nun auch in Übereinstimmung mit in-
sicher auf die vasovagale Genese geschlossen wer-              ternationalen Leitlinien, statt eines Schellong-Tests
den. In Verbindung mit den anderen basisdiagnosti-             einen „aktiven Stehtest“, bei dem (passend zum Zeit-
schen Untersuchungen kann im Sinne der ersten                  kriterium für den Blutdruckabfall bei einer orthosta-
Frage aber auch eine Weichenstellung in Richtung               tischen Hypotension, s. u.) nur noch eine Stehzeit
nichtsynkopaler TLOC-Ursachen erfolgen.                        von 3 Minuten erforderlich ist. Gemessen und pro-
   So lassen sich etwa Schilderungen von Prodromi              tokolliert werden Blutdruck und Puls im Liegen kurz
mit bestimmten Geruchswahrnehmungen nur durch                  vor dem Aufstehen und dann 3-mal im Minutenab-
epileptische Aktivität erklären. Komplett unauffälli-          stand nach dem Hinstellen.
ge organische Befunde in Verbindung mit besonders                 Fällt der Blutdruck nach 3 Minuten um weniger
lang andauernden Ohnmachten (> 3 min), merkwür-                als 20 mmHg systolisch, um weniger als 10 mmHg
digen Verrenkungen oder zusammengepressten Au-                 diastolisch ab und steigt der Puls um weniger als 30
genlidern lassen eine Psychogenese der Anfälle ver-            Schläge/min an (bei Jugendlichen ist die Grenze
muten –– insbesondere, wenn in der Anamneseerhe-               bei 40 Schlägen/min), liegt ein Normalbefund vor.
bung psychosoziale Belastungen exploriert wurden.                 Eine orthostatische Hypotension (OH) besteht,
   Das 12-Kanal-EKG ermöglicht die sichere Diag-               wenn der Blutdruckabfall nach 3 Minuten die nor-
nose zahlreicher rhythmogener Synkopenursachen,                malen Grenzen überschreitet und der Patient dabei
wobei hier als einschlägige Befunde nur der AV-                von orthostatischen Beschwerden berichtet oder ei-
Block dritten Grades, die persistierende Sinusbrady-           ne Synkope erleidet. Steigt trotz deutlichen Blut-
kardie und die ventrikulären Tachykardien genannt              druckabfalls der Puls nur wenig an, so kann dies als
werden sollen. Solche Befunde zeigen zugleich eine             Hinweis für eine neurogene OH gewertet werden,
Hochrisikokonstellation an, die zu einer unverzügli-           bei der nicht nur die sympathische Gefäßinnervati-
chen Überwachung des Patienten führen sollte. Wei-             on beeinträchtigt ist, sondern auch die sympathi-
tere Hochrisikomerkmale kann die Anamnese liefern.             sche und vagale kardiale Innervation.
Beispiele: neu einsetzender thorakaler Schmerz, Pal-              Bei jungen Menschen, die unter einer ausge-
pitationen vor der Ohnmacht, bekannte Herzinsuffi-             prägten orthostatischen Intoleranz leiden, zeigt der
zienz, Synkope während körperlicher Belastung.                 aktive Stehtest oft bei Replikation der Beschwer-
   Die konsequente Anwendung der Basisdiagnostik               den einen Normalbefund in der Blutdruckkurve,
ermöglicht bereits bei 50 % der Patienten, die sich we-        während der Puls teilweise massiv die obere nor-
gen TLOC vorstellen, eine sichere Diagnose (3). Weite-         male Grenze von 30 Schlägen/min überschreitet.
re Zusatzdiagnostik ist nur bei den dann noch unklaren         Dies ist der typische Befund des posturalen Ta-
Fällen oder aber zur Therapieplanung erforderlich.             chykardiesyndroms (POTS) (5). Bei klinischem
   Trotz der Evidenzbasierung dieses Vorgehens zeigt           Verdacht auf POTS sollte die Stehzeit auf 10 Minu-
leider die Praxis, dass zumindest der aktive Stehtest bei      ten ausgedehnt werden, wenn die Symptome und
TLOC-Patienten nicht konsequent durchgeführt wird              der geforderte Pulsanstieg um mindesten 30 Schlä-
(4). Die praktische Durchführung und die diagnosti-            ge/min (bei Jugendlichen 40 Schläge/min) nicht
sche Wertigkeit dieser Untersuchungsmethode sollen             schon nach 3 Minuten des Stehens auftreten soll-
deshalb im folgenden Abschnitt dargestellt werden.             ten. Bei längeren Stehzeiten mündet die posturale
                                                               Tachykardie oft in einer vasovagalen Synkope
Der aktive Stehtest                                            (VVS). Tabelle 1 zeigt aktive Stehtestprotokolle ei-
Der „klassische“ Schellong-Test ist bei einer gefor-           nes Normalprobanden und je eines Patienten mit
derten Liege- und Stehzeit von jeweils 10 Minuten              OH und mit POTS.

  TABELLE 1

  Aktiver Stehtest bei gesunder Kontrolle (Normalbefund), orthostatischer Hypotension (OH) und
  posturalem Tachykardiesyndrom (POTS)

                                 Normalbefund                         OH                          POTS
    Position            Blutdruck        Puls          Blutdruck           Puls       Blutdruck       Puls
    Liegen              130/75           72            145/87              83         115/68          64
    Stehen (1 min)      125/72           82            121/81              88         121 /78         89
    Stehen (2 min)      131/77           84            112/79              87         119/77          99
    Stehen (3 min)      126/81           87            99/71               88         116/83          111

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Provokationstests bei Verdacht auf                          macht nach sich ziehen kann (6). Der Kipptisch-
     vasovagale Synkopen                                         test, bei dem Probanden bei einem Kippwinkel von
     Der aktive Stehtest ist in der Regel ungeeignet für die     70 Grad bis zu 45 Minuten stehen müssen, ist geeig-
     Provokation einer vasovagalen Synkope (VVS). Bei            net, bei vielen Patienten mit vermuteter VVS eine
     der orthostatischen Variante der VVS kommt es näm-          solche vasovagale Reaktion auszulösen. Die Grafik
     lich erst nach längerer Stehzeit zu der typischen           (unterer Teil) zeigt den typischen Verlauf in der kon-
     Kreislaufreaktion mit massivem Blutdruckabfall und          tinuierlich aufgezeichneten Blutdruck- und Pulskur-
     zumeist auch mehr oder weniger ausgeprägtem Puls-           ve kurz vor und während einer VVS.
     abfall mit konsekutiver Synkope oder Präsynkope.               Im Gegensatz dazu fällt der Blutdruck bei der
     Langes Stehen führt auch bei Personen ohne Synko-           neurogenen OH bereits rasch nach dem Hinstellen
     penneigung zu einer langsamen, aber kontinuierlichen        ab und die Pulsverlangsamung bleibt aus (Grafik,
     Verlagerung des zentralen Blutvolumens in den unte-         oberer Teil). Aufgrund einer zentralen Störung wie
     ren Bauchraum und in die Beine. Der Baroreflex er-          bei der Multisystematrophie oder peripheren Ner-
     möglicht aber durch eine Konstriktion der Wider-            venschädigung wie bei der diabetischen autonomen
     standsgefäße und einen beschleunigten Herzschlag            Neuropathie verweigert hier der Sympathikusnerv
     auch in dieser Situation stabile Blutdruckverhältnisse.     schon zu Beginn des Stehvorgangs seine Mitwir-
        Bei Patienten mit orthostatischer VVS funktio-           kung bei der Blutdruckregulation.
     niert dies zunächst ebenso. Das sinkende zentrale              Bei der klinischen Bewertung eines Kipptischbe-
     Blutvolumen, über Niederdruckrezeptoren im Lun-             fundes ist zu berücksichtigen, dass eine Synkope nicht
     genkreislauf gemessen und via Vagusnerv zum                 bei jedem VVS-Patienten auf dem Kipptisch ausgelöst
     Hirnstamm gemeldet, führt bei diesen Patienten              werden kann (unzureichende Sensitivität) und dass
     aber nach längerem Stehen zu einer Notfallreaktion          mitunter vasovagale Reaktionen auch bei gesunden
     in den kreislaufregulierenden Hirnstammzentren:             Personen provoziert werden (unzureichende Spezifi-
     Der Sympathikusnerv wird aktiv gehemmt und der              tät). Der Kipptischtest ist immer im Gesamtkontext
     Herzvagus aktiviert, was zu den oben genannten              der Anamnese, der übrigen Basisdiagnostik und gege-
     Auswirkungen im Kreislauf führt und eine Ohn-               benenfalls weiterer Zusatzdiagnostik einzuordnen.

       GRAFIK

       Kontinuierliche Aufzeichnung von Puls und Blutdruck auf dem Kipptisch. Bei der orthostatischen Hypotonie
       fällt der Blutdruck sofort nach dem Hinstellen ab, während bei der vasovagalen Synkope die Hypotonie erst
       nach längerem Stehen einsetzt

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TABELLE 2

  Subtypen von VVS mit typischen Auslösern

    Subtyp                                                 Auslöser
    Orthostatische VVS                                     Langes ruhiges Stehen
    Blut- und verletzungsassoziierte VVS                   Blutsehen, Verletzungen, plötzlicher Schmerz
    Karotissinussyndrom                                    Druck auf den Karotissinus
    VVS bei bestimmten Reizungen                           Zum Beispiel Schlucken, Miktion

    Ein Kipptischtest ist nicht erforderlich, wenn typi-   meinsam ist, dass Verhaltensaspekte bei der Synko-
sche vasovagale Provokationsfaktoren in der Anam-          penauslösung eine wichtige Rolle spielen, besteht die
nese eruiert werden können (Tabelle 2) und wenn die        Therapie zunächst in einer sorgfältigen Aufklärung
Patienten pathognomonische Begleitsymptome einer           des Patienten über die Natur seiner Ohnmachten und
VVS kurz vor der Synkope schildern (Schwitzen,             die Möglichkeiten ihrer günstigen Beeinflussung.
Wärme- oder Hitzegefühl im Bauch- oder Brust-                 Bei der VVS und beim POTS liegen ja keine ge-
raum). Auch in Fällen mit seltenen und verletzungs-        fährlichen Grunderkrankungen vor, was für viele Pa-
frei verlaufenden Ohnmachten ohne Hinweis für kar-         tienten als Information bereits entlastend wirkt. Ist
dialen Ursprung ist der Kipptischtest entbehrlich.         das Stehen wichtigster Auslösefaktor, sollte längeres
    Empfohlen wird der Kipptisch dagegen bei häufi-        Stehen nach Möglichkeit gemieden werden und spä-
gen Ohnmachten und solchen mit Verletzungsfolgen.          testens nach ersten Synkopenprodromi (flaues Ge-
Ist bei Patienten mit motorischen Entäußerungen die        fühl im Kopf, Schwitzen, Wärmegefühl) beendet
Differenzierung zwischen epileptischem Anfall und          werden. Weiterhin kann eine sich anbahnende Syn-
konvulsiver Synkope schwierig, kann der Kipptisch          kope durch physikalische Gegenmanöver (das gilt
durch den Nachweis einer konvulsiv verlaufenden            auch für die OH) wie Hocken, Kreuzen der Beine
Ohnmacht, bei der es zu irregulären und asymmetri-         und Anspannung der Bein-, Gesäß-, Bauch- und
schen Zuckungen einzelner Muskelgruppen oder so-           Armmuskeln wirksam verhindert werden (7).
gar ganzer Extremitäten kommt, weiterhelfen. Der              Bei VVS-Patienten mit anderen Auslösern wie
dabei dokumentierte Blutdruckabfall beweist die            Blutsehen oder Miktion (Tabelle 2) ist es naturgemäß
synkopale Genese der Konvulsionen.                         schwierig, diese zu vermeiden. Umso wichtiger ist es
    Bei Patienten mit TLOCs in Zusammenhang mit            für diese Patienten, bei Prodromi einer Synkope so-
Manipulationen am Hals oder bei Personen von über          fort mit Hinlegen oder physikalischen Gegenmanö-
60 Jahren mit ätiologisch unklaren Ohnmachten wird         vern zu reagieren.
als Provokationstest die Karotissinusmassage emp-             Eine zweite Therapiesäule bei den neurogenen
fohlen. Zur Vermeidung von Hirnembolien sollten da-        Synkopen besteht in der Durchführung präventiver
für höhergradige Karotisstenosen ausgeschlossen            Maßnahmen. Bei der orthostatischen VVS hilft täg-
werden. Der Test sieht nacheinander eine 10-sekündi-       liches Stehtraining (angelehntes ruhiges Stehen für
ge Massage beider Karotisglomera vor, zunächst im          30 Minuten) die symptomfreie Stehdauer zu verlän-
Liegen, bei negativem Ergebnis auch in stehender Po-       gern (8). Bei POTS-Patienten kommt es oft früh im
sition (nach Möglichkeit auf einem Kipptisch).             Verlauf der Erkrankung zu einer allgemeinen Schon-
    Abgeleitet werden dabei das EKG und nach Mög-          haltung und zur Vermeidung körperlicher Anstren-
lichkeit auch kontinuierlich der Blutdruck. Eine Asys-     gungen. Diese Patienten können ihre orthostatische
tolie von ≥ 3 Sekunden oder ein systolischer Druck-        Toleranz durch regelmäßiges Ausdauertraining deut-
abfall um mehr als 50 mmHg zeigen einen hypersen-          lich steigern (5).
sitiven Karotissinus an. Kommt es zeitgleich zu einer         Bei Patienten mit neurogener OH kann das Aus-
Replikation der beklagten Symptomatik, kann ein            maß des orthostatischen Blutdruckabfalls durch eine
Karotissinussyndrom diagnostiziert werden.                 Reihe von präventiven physikalischen Maßnahmen
                                                           reduziert werden. Dazu gehören die Steigerung der
Therapie der Synkopen                                      täglichen Salzzufuhr auf 5–10 g und der täglichen
Die Leitlinie beschreibt auch die aktuellen Therapien      Trinkmenge auf 2–2,5 l Wasser. Eine abdominelle
bei den rhythmogenen und mechanisch bedingten              Bauchbinde verhindert das venöse Pooling im Stehen
kardialen Synkopen. Dieser Beitrag fokussiert auf          besser als Stützstrümpfe (9). Das Schlafen in Kopf-
die Therapie der neurogenen Synkopen, also der             hochlage vermindert die nächtliche Diurese und da-
neurogenen OH, der VVS und des POTS.                       mit eine Blutvolumenabnahme.
   Das Ziel der Therapie besteht vor allem darin, die         Physikalische präventive Maßnahmen sind aller-
Synkopenhäufigkeit zu reduzieren und den Ablauf            dings bei schwereren Formen einer neurogenen OH oft
einer Synkope oder Präsynkope günstig zu beeinflus-        nicht ausreichend für eine Symptomkontrolle, sodass
sen. Da allen Formen der neurogenen Synkopen ge-           auch eine medikamentöse Therapie erforderlich ist.

Perspektiven der Neurologie 2020 | Deutsches Ärzteblatt                                                            21
Zugelassene und wirksame Medikamente bei der OH          tanen Synkope (der Kipptischtest ist hier nicht aussa-
zur Reduktion der orthostatischen Hypotonie sind das     gekräftig!) mittels Ereignisrekorder aufgezeichnet
Alphasympathomimetikum           Midodrin       (3-mal   werden. Patienten, die dabei längere Asystolien ha-
2,5–10 mg) zur Verbesserung der Vasokonstriktion         ben, profitieren nach neueren Studienergebnissen
und das Mineralocorticoid Fludrocortison (1- bis         deutlich vom Zweikammerschrittmacher (2).
2-mal 0,5 mg) für eine Volumenvermehrung (Letzteres         Fest etabliert ist der Schrittmacher auch beim hy-
nur für die Kurzzeittherapie zugelassen). Vor dem Ein-   persensitiven Karotissinus mit nachgewiesener
satz solcher Medikamente sollte bei Hypertonikern ei-    Asystolie während der Karotismassage. Unselektier-
ne Reduktion der Antihypertensiva erwogen werden.        te Patienten mit VVS haben dagegen vom Schrittma-
   Bei VVS und POTS spielt die medikamentöse             cher keinen signifikanten Vorteil gegenüber einer
Therapie bei unzureichender Studienlage eine nach-       Placebobehandlung.                                  ▄
rangige Bedeutung. In Fällen, bei denen die Aufklä-      DOI: 10.3238/PersNeuro.2020.07.08.04
rung über Gegenmanöver und die präventiven Maß-
nahmen erfolglos bleiben, kann bei beiden Diagno-                                     Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Rolf R. Diehl
sen Midodrin erwogen werden. Beim POTS hilft in                                                                Klinik für Neurologie
Einzelfällen eine pulssenkende Therapie mit Beta-                                  Alfried Krupp Krankenhaus Essen-Rüttenscheid
blockern (z. B. Propranolol 10–40 mg) oder mit Iva-
bradin (2,5–7,5 mg) (10).                                Interessenskonflikt: Der Autor erklärt, dass kein Interessenskonflikt be-
   Eine besondere Herausforderung für die Therapie       steht.
sind Patienten mit VVS, die ohne Prodromi mitun-
ter auch in gefährlichen Situationen synkopieren. Bei    Literatur im Internet:
diesen Patienten sollte das EKG während einer spon-      www.aerzteblatt.de/lit2720

ÜBERMÄSSIGER AZNEIMITTELKONSUM

Dem Teufelskreis von Kopfschmerzen
und Medikation entgehen
       ach Schätzungen sind 70 % aller Patienten mit     ge Beratung kann zwar bei Übergebrauch von Tripta-
N      chronischen Kopfschmerzen und 80 % der
Menschen, die an chronischer Migräne leiden, von
                                                         nen oder einfachen Analgetika zielführend sein,
                                                         wenn keine größeren psychiatrischen Komorbiditä-
dem sogenannten Medikamentenübergebrauchskopf-           ten vorliegen. Bei Übergebrauch von Opioiden, Bar-
schmerz betroffen. Dieser „MOH“ kann nicht nur           bituraten oder Tranquilizern rät die Leitlinie aber zur
durch NSAID, sondern auch durch Triptane, Opioide        Überweisung an einen Kopfschmerzexperten oder in
und Ergotamine ausgelöst werden. MOH ist definiert       ein spezialisiertes Schmerzzentrum. Denn grundsätz-
als Kopfschmerzen an mehr als 15 Tagen pro Monat         lich muss immer ein Entzug oder zumindest eine
länger als 3 Monate, die mit einem oder mehreren         sanfte Reduzierung der Übergebrauchsmedikamente
Medikamenten behandelt werden. Für Triptane ist          erfolgen, um den MOH langfristig zu therapieren.
die Einnahme an mehr als 10 Tagen im Monat zur              Offen bleibt die Frage, zu welchem Zeitpunkt bei
Diagnosestellung Voraussetzung.                          Patienten mit MOH und chronischer Migräne eine
   Grundlegende und wichtigste Präventionsmaß-           gezielte Migränetherapie (Onabotulinumtoxin Typ A
nahmen sind nach Ansicht der Autoren einer neuen         oder CGRP-Antikörper) erfolgen sollte. „Im Prinzip
Leitlinie der „European Academy of Neurology“ In-        ist es ratsam, die Patienten zunächst vom Schmerz-
formation und Patientenedukation. „Studien belegen,      mittelübergebrauch zu entwöhnen. Auf der anderen
dass ein Beratungsgespräch plus Print-Informations-      Seite sind Patienten mit chronischer Migräne stark
material um einiges effektiver ist als das Informati-    leidgeprüft, sodass man ihnen eine wirksame Medi-
onsmaterial allein. Es liegt auf der Hand, dass regel-   kation nicht über eine längere Zeit vorenthalten soll-
mäßige Gespräche die Sensibilität für die Thematik       te. Die Entscheidung für den Start der Migränethera-
erhöhen und die Bereitschaft, trotz Schmerzen gele-      pie ist also immer nur individuell zu treffen“, so
gentlich auf Medikamente zu verzichten oder die Do-      Diener.                                    Dustin Grunert
sis zu reduzieren, weiter stärken“, so Erstautor Prof.
Dr. med. Hans-Christoph Diener.                          Quelle: Diener HC, Antonaci F, Braschinsky M, et al.: European Academy of
                                                         Neurology guideline on the management of medication overuse headache.
   Die intensive Beratung gelangt aber an Grenzen,       Eur J Neurol 2020. https://doi.org/10.1111/ene.14268.
wenn es um die MOH-Behandlung geht: Die alleini-

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SYNKOPEN

Wenn die Sinne kurzzeitig
schwinden
Die neue S1-Leitlinie möchte einen einheitlichen Standard zur Abklärung und Therapie von
Synkopen bei allen an der Behandlung dieses Krankheitsbildes beteiligten Fachdisziplinen –
Neurologen, Internisten und Allgemeinmedizinern – etablieren.

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Perspektiven der Neurologie/2020 | Deutsches Ärzteblatt                                      6
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