"Wir leben in einer Zeit, Spiel steht" in der viel auf dem - lu ...

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"Wir leben in einer Zeit, Spiel steht" in der viel auf dem - lu ...
34 | 15.3.2021 | ZUKUNFT

                        «Wir leben
                       in einer Zeit,
                    in der viel auf dem
                        Spiel steht»

                        Klima, Demokratie, Wirtschaft:
               Die Menschheit steckt bereits mitten in der Krise,
                sagt der Historiker und Philosoph Philipp Blom.
             Wolle sie noch Schlimmeres vermeiden, dürfe sie nicht
              einfach so weitermachen wie bisher. Sondern müsse
                      den Mut haben, sich neu zu erfinden.
                               Interview: Ralf Kaminski, Benita Vogel
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ZUKUNFT | 15.3.2021 | 35

                                         P
                                                   hilipp Blom, unsere
                                                   Welt befinde sich am
                                                   Ende von etwas, schrei­
                                                   ben Sie in Ihrem neuen
                                         Buch. Am Ende von was genau?
                                         Am Ende der Zeitperiode, die
                                         ­treffend mit dem biblischen Satz
                                          «Macht euch die Erde untertan»
                                          umschrieben ist. Diese Zeit ist
                                          charakterisiert durch Eroberung,
                                          Herrschaft, Unterdrückung und
                                          Ausbeutung – auch durch eine
                                          einseitige Beziehung zur Natur.

                                         Woraus schliessen Sie, dass es
                                         damit dem Ende zugeht?
                                         Aus den eskalierenden Neben­
                                         wirkungen. Die hielten sich lange
                                         in Grenzen, weil unser Verhalten
                                         nur lokale Konsequenzen hatte,
                                         doch durch das enorme Bevölke­
                                         rungswachstum, den techno­
                                         logischen Fortschritt und die
                                         ­Glo­balisierung hat dieses Prinzip
                                          uns nun in eine schwere Krise
                                          ­gestürzt. Insbesondere die Folgen
                                           für Umwelt und Klima sind
                                           ­zunehmend existenzbedrohend.

                                         Auch Corona hat uns unsere
                                         Grenzen aufgezeigt.
                                         Umso mehr als dieses Virus auch
         Philipp Blom                    eine dieser Nebenwirkungen ist.
     befürchtet, dass                    Durch unser Eingreifen sind sich
        die Folgen des                   Tierarten begegnet, die sonst
       ­Klimawandels                     kaum je zusammenkämen, was
­existenzbedrohend                       die Mutation und das Übersprin­
  für die Menschheit                     gen des Virus auf den Menschen
    ­werden könnten.                     erst ermöglicht hat. Corona hat
                                         uns die Verletzlichkeit unserer
                                         ­Zivilisation bewusst gemacht.

                                         Sie beziehen sich in Ihrem Buch
                                         auf die dramatischen Folgen, die
                                         die Kleine Eiszeit im 17. Jahr­
                                         hundert hatte – erst kam eine
                                         schwere Krise, dann eine neue,
                                         bessere Welt. Und Sie vermuten,
                                         dass wir gerade am Beginn einer
                                         ähnlichen Umwälzung stehen.
                                         Das glaube ich tatsächlich. Und
                                         anhand der Kleinen Eiszeit lässt
                                         sich gut darstellen, was für tief­
                                         greifende Folgen der Klimawan­
                     Bild: iStockphoto

                                         del haben kann. Er traf damals
                                         auf ein veraltetes landwirtschaft­
                                         liches System, das damit nicht
                                         umgehen konnte, was zu einer
"Wir leben in einer Zeit, Spiel steht" in der viel auf dem - lu ...
ZUKUNFT | 15.3.2021 | 37

                              Historiker und Autor
                             Philipp Blom (51) ist ein deutscher
                              Historiker, Philosoph und Autor
                               zahlreicher Bücher. In seinem      schweren systemischen Krise führte. Diese           eine Illusion zu glauben, diese sei der
                           ­neuen Werk befasst er sich mit den     erfasste bald auch die Gesellschaft und             ­Normalzustand, nur weil wir in einer auf­
                            Krisensymptomen der Gegenwart          ihre Vorstellungen über sich und die Welt,           gewachsen sind. Im heutigen Sinne gibt es
                             und möglichen Folgen des Klima-       ihre Meistererzählung sozusagen.                     Demokratie erst seit wenigen Jahrzehnten
                             wandels auf unsere Gesellschaft.                                                           und nur in wenigen Ländern. Sie wurde hart
                          Blom ist verheiratet und lebt in Wien.   Wie sah diese Meistererzählung aus?                  errungen, ist alles andere als selbstverständ­
                                                                   Gott hat uns die Erde gegeben und sorgt für          lich, und es besteht ein ernsthaftes Risiko,
                                                                   uns, solange wir seine Gebote befolgen und           dass sie im Zuge grösserer gesellschaftlicher
                                                                   ihm Dankbarkeit zeigen. Doch plötzlich               Veränderungen weggespült wird. Wir leben
                                                                   war das nicht mehr so, die Menschen hatten           in einer Zeit, in der viel auf dem Spiel steht.
                                                                   nicht mehr genug zu essen, weil das kalte,
                                                                   nasse Wetter die Ernteerträge drastisch             Oft werden Autokraten aus Verzweiflung
                                                                   ­reduzierte. Und nichts, was die Leute inner­       gewählt. Den Menschen geht es schlecht,
                                                                    halb ihrer Meistererzählung versuchten, um         und alle anderen haben nicht geholfen.
                                                                    das Problem zu lösen, bewirkte eine Besse­         Ja, das schöne Versprechen der liberalen
                                                                    rung: weder Bussgottesdienste noch Selbst­         Demokratie – «euren Kindern wird es
                                                                    geisselungen. Besser wurde es erst, als andere     mal besser gehen als euch» – das gilt für die
                                                                    Erzählungen ins Spiel kamen, die letztlich         ­grosse Mehrheit nicht mehr. Es gibt für
                                                                    der Wissenschaft und wettbewerbsorien­              viele keine positive Zukunftsvision. Die
                                                                    tierten Märkten zum Durchbruch verhalfen –          ­Antworten, die bisher immer wahr schienen,
                                                                    den Anfängen unserer heutigen Welt.                  funk­tionieren nicht mehr. Die Frage ist, ­
                                                                                                                         ob wir den politischen Willen zur Umsetzung
                                                                   Und jetzt befinden wir uns in einem                   ­alternativer Modelle haben.
                                                                   ­ähnlichen Moment?
                                                                    Richtig, der Klimawandel hat begonnen, die         An was denken Sie da?
                                                                    ersten Folgen spüren wir bereits. Und unsere       Da käme eine CO2-Steuer, ein Fokus auf
                                                                    Meistererzählung des ewigen Wachstums,             nachhaltig hergestellte Produkte oder das
                                                                    des ewigen Fortschritts, der Herrschaft über       bedingungslose Grundeinkommen ins Spiel,
                                                                    die Natur funktioniert nicht mehr – wir            über das Sie in der Schweiz sogar schon ab­
                                                                    ­können in einer endlichen Welt kein unend­        gestimmt haben. Klar, ganz ohne Wachstum
                                                                     liches Wachstum haben. Und wenn wir nur           geht es nicht, aber wir könnten unsere
                                                                     einfach so weitermachen wie bisher, werden        ­Ökonomien und Gesellschaften auf weniger
                                                                     wir die Krise nicht verhindern geschweige          schädliches Wirtschaften umstellen, wir
                                                                     denn bewältigen können. Aber es gibt schon         müssen es nur wollen. Der Markt ist da, um
                                                                     jetzt neue Erzählungen, alternative Ideen,         uns zu dienen, nicht umgekehrt – derzeit
                            «Der Markt                               die miteinander im Wettbewerb stehen, um
                                                                     die alte Meistererzählung zu ersetzen.
                                                                                                                        aber profitieren zu wenig Leute von ihm. Im
                                                                                                                        Grunde haben die meisten doch schon
                           ist da, um uns                          Ganz so negativ ist die Lage also gar nicht?
                                                                                                                        ­akzeptiert, dass die heutigen Konzepte keine
                                                                                                                         Zukunft mehr haben.
                          zu dienen, nicht                         Schon, aber es ist auch ein gefährlicher
                                                                   ­Moment. Denn unter diesen Erzählungen              Woraus schliessen Sie das?
                            umgekehrt –                             sind einige nicht besonders menschen­
                                                                    freundliche. In den USA etwa sehen wir, wie
                                                                                                                       Etwa aus dem, was Politikerinnen und Poli­
                                                                                                                       tiker vor Wahlen als Hoffnungsszenarien
                            derzeit aber                            eine liberale Demokratie so weit erodiert ist,
                                                                    dass ein substanzieller Teil der Bevölkerung
                                                                                                                       präsentieren, um für sich zu werben: sichere
                                                                                                                       Arbeitsplätze, weniger Einwanderung, hö­
                           profitieren zu                           das Resultat einer demokratischen Wahl
                                                                    für Betrug hält und den Sturm aufs Capitol
                                                                                                                       here Grenzmauern. Es geht um Statussiche­
                                                                                                                       rung, darum, dass sich nichts verändert, dass
                            wenig Leute                             in Washington Anfang Januar gutheisst.
                                                                    Zum Glück gibt es auch andere Erzählun­
                                                                                                                       einem nichts weggenommen wird. Niemand
                                                                                                                       macht Wahlkampf mit Ideen, wie der Konti­
                             von ihm.»                              gen – etwa jene der Klimajugend –, aber wir
                                                                    kommen nun in eine heikle Phase, in der wir
                                                                                                                       nent 2050 besser wird als heute. Dabei wäre
                                                                                                                       das Hoffnungsszenario doch, unseren Enkeln
                                                                    ­experimentieren müssen, um uns auf eine           eine Welt zu hinterlassen, für die wir uns
                                                                     neue Meistererzählung festzulegen. Und da­        nicht schämen müssen.
                                                                     bei braucht es vielleicht ein paar rote Linien.
Bild: Heike Bogenberger

                                                                                                                       Was wir bis jetzt tun, reicht also nicht?
                                                                   Was für Linien?                                     Nein, und wir stecken ja bereits mitten in
                                                                   Wir sollten festlegen, wo wir keine Kompro­         der Krise. Aber das ist vielleicht auch gar
                                                                   misse machen wollen, etwa bei Menschen­             nicht so schlecht – wenn wir uns nicht
                                                                   rechten und liberaler Demokratie. Es ist            selbst zu Veränderungen aufraffen können,
ZUKUNFT | 15.3.2021 | 39

    «Es kann
  einem schon
    ein wenig
   den Magen                        werden wir dann einfach von Ereignissen
                                    dazu gezwungen.
                                                                                       Von uns Menschen?
                                                                                       Es ist Teil der biblischen Selbstüberschät­
   umdrehen,                        In welchen Bereichen müssen wir umden­
                                                                                       zung, dass wir uns nicht mehr als Tiere
                                                                                       ­begreifen. Dabei liessen sich aus unserer
daran zu denken,                    ken? Geht es primär um die Wirtschaft?
                                    Nicht nur, wir sollten auch unsere Demo­
                                                                                        ­evolutionären Entwicklung einige nützliche
                                                                                         Erkenntnisse zu unseren Primatenbedürfnis­
 worauf unsere                      kratie neu organisieren – häufigere Sach­
                                    abstimmungen wie bei Ihnen in der Schweiz
                                                                                         sen ziehen. Etwa, dass wir uns am wohlsten
                                                                                         fühlen, wenn wir in Gruppen von 30 bis
     Kinder                         wären eine gute Idee. Vor allem aber muss
                                    der Grundgedanke der neuen Meistererzäh­
                                                                                         40 Personen leben, oder dass wir ein Gefühl
                                                                                         von Sicherheit und Gemeinschaft brauchen.
   zugehen.»                        lung stimmen – dass wir Menschen nicht
                                    ­ausserhalb der Natur stehen, sondern tief
                                                                                         Gleichzeitig leben wir heute in sehr diversen
                                                                                         Gesellschaften – und viele Menschen fühlen
                                     verstrickt mit ihr sind, verbunden mit allem        sich wohl so. Wir können also nicht davon
                                     in einem unendlich komplexen System. Auf            ausgehen, dass eine einzige Form des Daseins
                                     ­dieser Basis müssen wir neu über uns und           für alle funktioniert. Eine positive Zukunfts­
                                      ­unsere Beziehung zur Welt nachdenken.             gesellschaft muss Platz haben für ganz unter­
                                                                                         schiedliche Lebensentwürfe.
                                    Ist das Risiko nicht hoch, dass viele erst
                                    dann Einsicht zeigen, wenn sie ernsthafte          Was kann der Einzelne dazu beitragen,
                                    Nachteile am eigenen Leib spüren?                  damit es in die richtige Richtung geht?
                                    Leider. Aber so lange wird das nicht mehr          Er kann sich als Konsument umwelt- und
                                    dauern. Schon jetzt verlagert sich die Zone,       klimafreundlich verhalten, wirtschaftlich
                                    in der man Getreide anbauen kann, pro Jahr         und politisch Druck ausüben, sich im
                                    um 20 Kilometer vom Äquator weg. Das               ­Rahmen seiner Möglichkeiten gesellschaft­
                                    wird für Millionen ein Problem und zu gros­         lich engagieren.
                                    sem politischen Chaos führen, das auch wir
                                    in den reichen Ländern spüren – zum Teil           Was tun Sie konkret?
                                    tun wir es jetzt schon, etwa anhand der            Ich besitze kein Auto, esse sehr bewusst
                                    Flüchtlingszahlen. Nur war 2015 harmlos            ­weniger Fleisch, schreibe Bücher und halte
                                    verglichen mit dem, was kommen wird.                Vorträge. Aber am Ende sind wir hier in
                                                                                        der westlichen Welt unvermeidlich alle
                                    Im Buch schreiben Sie, durch den Klima­             Komplizen von grossen Schweinereien, die
                                    wandel entstehe ein Strudel der Trans­              im Rahmen des Systems angerichtet wer­
                                    formation, der die Macht habe, alles, was           den, in dem wir uns so bequem eingerichtet
                                    als fortschrittlich, gesichert und zivilisiert      haben. Es ist nahezu unmöglich, sich da
                                    betrachtet wird, mit sich zu reissen und zu         ­herauszunehmen und zu behaupten, mit
                                    zermalmen. Das klingt schon sehr düster.             ­einem selbst habe das nichts zu tun.
                                    Ja. Aber nur wenn wir begreifen, wie ernst
                                    die Lage ist, können wir die Entschlossen­         Sie haben keine Kinder – auch weil Sie die
                                    heit aufbringen, richtig zu handeln.               Welt nicht weiter belasten wollen und für
                                                                                       die Zukunft eher pessimistisch sind?
                                    Wie könnte eine bessere Welt in                    Nein, es hat sich einfach nicht ergeben. Aber
                                    100 Jahren aussehen?                               ich kann diese Gründe gut verstehen. Ich
                                    Zunächst mal bin ich sicher, dass man in           nehme viel Anteil an den Kindern meiner
                                    100 Jahren mit Erstaunen und auch Ekel             Freunde, und es kann einem schon ein wenig
                                    auf unsere Zeit schauen wird. Wir sind             den Magen umdrehen, daran zu denken,
                                    die Generation, die am Kippschalter der            ­worauf diese Kinder zugehen.
                                    ­Klimakatastrophe sitzt, die diese furchtbaren
                                     Tierfabriken betreibt, um billige Schnitzel       Sind Sie eher optimistisch oder pessimis­
                                     ­essen zu können, die ihre Städte ruiniert, um    tisch, dass die Menschheit die Kurve noch
                                      sie mit Blechkisten durchfahren zu können.       rechtzeitig kriegt?
                                      Unsere Zeit wird dereinst als sehr seltsam       Das hängt von der jeweiligen Tagesstim­
                                      gelten. Aber Utopien sind auch keine Lösung.     mung ab. Es ist in der Tat nicht leicht, opti­
           Buchtipp:                  Dabei stellt man sich in der Regel eine ideale   mistisch zu sein, wenn man sich mit diesen
   Philipp Blom: «Das grosse          Gesellschaft vor und versucht dann, die          Themen ernsthaft befasst. Entscheidend ist,
Welttheater. Von der Macht der        ­Menschen zu schaffen, die dort reinpassen.      nicht aufzugeben. Corona hat auch gezeigt,
  ­Vorstellungskraft in Zeiten         Das ist bisher immer gründlich schiefgegan­     dass die Natur erstaunliche Regenerations­
des Umbruchs», Zsolnay 2020,           gen. Ein Ansatz wäre vielleicht der Versuch     kräfte hat, wenn man ihr eine Chance gibt.
   bei exlibris.ch für Fr. 21.50      einer artgerechten Haltung.                     Und genau das müssen wir tun. MM
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