Who lost Russia? Der Niedergang der europäischen Sicherheitsordnung 2000 2022 - Bundeswehr
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SICHERHEITSPOLITIK Who lost Russia? Der Niedergang der europäischen Sicherheitsordnung 2000‑2022 Hatte die europäische Sicherheitsordnung bereits in den späten 1990er Jahren Risse bekommen, so beschleunigte sich ihr Ende seit der Jahrtausendwende. Der russische Präsident Wladimir Putin hat daran maßgeblichen Anteil, trägt aber keine Alleinschuld. Von Tim Geiger IMAGO/ZUMA Press »Grüne Männchen« auf der Krim: In Simferopol wie an anderen Orten auf der Krim-Halbinsel tauchen Anfang März 2014 schwer bewaffnete Soldaten ohne Hoheitszeichen auf. Sie entpuppen sich bald als Streitkräfte der Russischen Föderation. 1 (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Militärgeschichte | Dossier T rotz zunehmender Spannungen hindern. In Russland löste das Empö- dukusch verstetigte. Den 2003 von der zwischen Russland und dem Wes- rung aus. Bis heute benutzt die Kreml- Bush-Administration mutwillig, sogar ten wurde 1999 beim OSZE-Gipfel Propaganda dieses Beispiel als Beleg mit falschen Angaben im VN-Sicher- in Istanbul ein Anpassungsabkommen für eine heuchlerisch-opportunistische heitsrat herbeigeführten Irak-Krieg zum zum Vertrag über die konventionellen Doppelmoral des Westens: Da es für den Sturz des Diktators Saddam Hussein Streitkräfte in Europa unterzeichnet NATO-Einsatz kein VN-Mandat gegeben lehnten dann nicht nur Moskau, son- (AKSE). Damit sollte dieser noch auf habe, sei er ein völkerrechtswidriger An- dern auch Berlin und Paris ab. der überkommenen Blockstruktur des griffskrieg zugunsten einer Separatisten- Putins Russland suchte zunehmend Kalten Krieges basierende Eckstein kon- bewegung gewesen, deren Anführer spä- den Schulterschluss mit anderen Mäch- ventioneller Stabilität der neuen geo- ter selbst wegen Kriegsverbrechen vor ten, die anstelle globaler US-Hegemonie politischen Lage angepasst werden, wie Gericht standen. Kosovos Anerkennung eine multipolare Weltordnung einfor- in der NATO-Russland-Grundakte von als eigener Staat 2008 widerspreche zu- derten. Diesem Ziel diente 2001 die 1997 vorgesehen. Diese Aktualisierung dem eklatant dem OSZE-Prinzip, dass Gründung der Schanghaier Organisa- wurde 2004 von Russland ratifiziert, staatliche Grenzen nicht durch Gewalt- tion für Zusammenarbeit (SOZ), der mit nicht aber von allen N ATO-Staaten. Vor anwendung verändert werden dürfen. Russland, China, Indien, Pakistan, Kiri- allem die USA wollten so den Abzug Ganz von der Hand weisen lassen sich gisistan, Tadschikistan und Usbekistan russischer Truppen aus Moldawien und diese Deutungen trotz ihrer parteiischen immerhin 40 Prozent der Weltbevölke- Georgien erzwingen, wo diese in den Verzerrung und Überzeichnung nicht. rung angehören; 2006 kam es zum separatistischen Regionalkonflikten Im Jahr 2000 beerbte Wladimir Putin BRICS-Zusammenschluss (Brasilien, (Transnistrien, Abchasien beziehungs- Boris Jelzin im russischen Präsidenten- Russland, Indien, China und Südafrika), weise Südossetien) als Friedentruppe amt. Sein Ziel war, im Innern staatliche deren erster Gipfel 2009 in Jekaterinen- firmierten, faktisch aber Konfliktpartei Kontrolle und international Moskaus burg stattfand; und auch die Organisa- aufseiten der (pro-)russischen Minder- frühere Größe wiederherzustellen. Dies tion des Vertrags über kollektive Sicher- heiten waren. Von partnerschaftlichem kollidierte zwangsläufig mit Ambitio- heit (OVKS, 2002) verfolgte besagtes Respekt zeugte dies kaum. nen der amerikanischen Regierung un- Ziel. ter George W. Bush, als »einzig verblie- Uni- oder multipolare bene Supermacht« eine »unipolare Erosion der Abrüstungsverträge Weltordnung? Weltordnung« zu organisieren. Nach den islamistischen Terroranschlägen Zeitgleich begann der Zerfall des inter- 1999 griff die NATO in den Kosovokrieg von »9/11« unterstützte Russland noch nationalen Rüstungskontrollregimes, ein, um durch die Bombardierung Ser- solidarisch den Anti-Terror-Einsatz des auf dem die Friedensarchitektur von biens einen weiteren Völkermord wie Westens in Afghanistan. Das änderte 1990 beruhte. Vertragskonform endeten zuvor in Bosnien-Herzegowina zu ver- sich, als sich die NATO-Präsenz am Hin- 2001 (siehe den Beitrag Friedensord- picture alliance/ASSOCIATED PRESS|Jerome Delay Regime Change im Zeichen der »unipolaren Welt- ordnung«: Amerikanische Soldaten stürzen kurz nach ihrem Einmarsch in Bagdad eine Statue des irakischen Diktators Saddam Hussein, April 2003. 2 (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
SICHERHEITSPOLITIK Rückfall in den Kalten Krieg? Der russische Präsident Putin wirft dem Westen bei der Münchener Sicherheitskonferenz am 10. Februar 2007 mangelnde Koope- rationsbereitschaft, Verlogenheit und Dominanzstreben vor. picture-alliance/dpa|Matthias Schrader nung von 1990), zehn Jahre nach der man selbst. Analog zu Präsident Ronald niens, der Slowakei und der drei bal- Vernichtung aller amerikanischen und Reagans Plänen einer Strategic Defense tischen Republiken Estland, Lettland sowjetischen Mittelstreckenraketen, Initiative (SDI) in den 1980er Jahren und Litauen rückte die NATO weiter die letzten durch den INF-Vertrag ge- fürchtete Moskau, sein Raketenarsenal an Russland heran. Das wog aus Sicht regelten Inspektionen. Im selben Jahr solle durch den Verlust der Zweitschlags- der Moskauer Führung, die die Allianz kündigte die Bush-Administration je- kapazität einseitig entwertet werden – inzwischen (wieder) primär als Hege- doch auch den ABM-Vertrag von 1972. was das Land künftig wehrlos gegen monialinstrument der USA betrachtete, Das Verbot von Anti-Ballistic Missiles westliche Pressionen machen würde. weit schwerer als die NATO-Beitritte auf war ein Grundstein aller bisherigen nu- Auf das Ende des ABM-Vertrags ant- dem Balkan (2009 Albanien und Kroa- klearen Abrüstungsverträge gewesen, wortete Russland 2002 mit dem Rück- tien, 2017 Montenegro und 2020 Nord- garantierte der beidseitige Verzicht auf zug aus dem START-II-Vertrag (Strategic mazedonien). eine Raketenabwehr doch den zentra- Arms Reduction Treaty). Das fiel zu- Wie sehr sich die Fronten verhärtet len Grundsatz der nuklearen Abschre- nächst wenig ins Gewicht, da Bush und hatten, wurde 2007 bei der Münchner ckung: Wer als erster schießt, stirbt als Putin unmittelbar zuvor einen weiteren Sicherheitskonferenz deutlich: Dort zweiter. Der Verzicht auf Raketenab- nuklearen Abrüstungsvertrag unter- klagte der russische Präsident den Wes- wehrmaßnahmen garantierte seither zeichnet hatten. Dieser Strategic Offen- ten an, Völkerrechtsnormen machiavel- genau diesen friedenswahrenden Erhalt sive Reductions Treaty (SORT) stellte listisch zu instrumentalisieren, Abrüs- der wechselseitigen atomaren Zweit- erstmals statt auf Trägersysteme auf ak- tungsvereinbarungen schleifen zu schlagskapazität (siehe den Beitrag zum tive Nuklearsprengköpfe ab, die auf ma- lassen und mit der NATO-Osterweite- Konzept der Abschreckung). ximal 2200 pro Seite begrenzt wurden. rung frühere Versprechen gebrochen zu Angesichts der Nuklearwaffenambitio- Abgebaute Gefechtsköpfe mussten nur haben. Ungeachtet dieses Warnschusses nen Nordkoreas und des Iran hielt Wa- stillgelegt, nicht vernichtet werden – schritten die Pläne für ein Raketenab- shington indes den vorbeugenden Auf- und blieben damit reaktivierbar. Zudem wehrsystem und damit eine ständige bau eines Schutzschildes gegen deren fehlte ein Verifikationsregime, obwohl US-Militärpräsenz in Rumänien und künftige Raketen für geboten. Ohne genau dies das Schlüsselelement jeder Bulgarien voran. Daraufhin setzte Russ- ABM-Vertrag konnte ein entsprechendes Abrüstungsvereinbarung ist. land 2007 den KSE-Vertrag aus. So brach Abwehrsystem in Europa stationiert ein weiterer Grundpfeiler der Abrüs- werden. Russland hegte allerdings den Verhärtung der Fronten tungsarchitektur weg. Verdacht, eigentlicher Adressat dieser Um die unübersehbare Entfremdung US-Pläne seien weniger die beiden ge- 2004 erfolgte die zweite Runde der Russlands nicht auf die Spitze zu trei- nannten Länder, denen solch weitrei- NATO-Osterweiterung: Durch den ben, blockierten Frankreich und chende Raketen fehlten, als vielmehr Beitritt Bulgariens, Rumäniens, Slowe- Deutschland beim Bukarester NATO- 3 (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Militärgeschichte | Dossier Fatale Fehlkalkulation? Bun- deskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy verhindern beim NATO- Gipfel in Bukarest 2008 die von den USA gewünschte schnelle Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO. picture-alliance/dpa|Abaca Ozdemir148828 Gipfel im April 2008 die von der Bush- Wirtschaft, Justiz und Zivilgesellschaft parkten Putin, bis dieser selbst 2012 Administration forcierte Aufnahme Ge- einer zentralen staatlichen Kontrolle un- dorthin zurückkehrte, ohne die Macht je orgiens und der Ukraine in die NATO – ein terworfen. Immer stärker wurden Wah- aus der Hand gegeben zu haben. Sowe- folgeschwerer Schritt, über dessen Be- len manipuliert und die Pressefreiheit nig dieses Intermezzo innenpolitisch zu wertung angesichts der weiteren Ent- eingeschränkt. Im zweiten Tschetsche- echter Liberalisierung führte, so wenig wicklungen noch lange gestritten wer- nienkrieg (1999‑2009) ging die Armee fruchtete außenpolitisch das Bestreben den wird. Denn wäre die Ukraine damals brutal gegen die eigene Bevölkerung der USA unter Präsident Barack Obama der NATO beigetreten, hätte Putin sie vor. Zur Abschreckung wurde 2003 der um ein besseres Verhältnis (»reset«) zu heute vielleicht nicht überfallen. Da da- mächtige Oligarch Michail Chodor- Russland, auch wenn 2010 das New mit in Russlands Sicherheitsbedürfnis kowski in einem Schauprozess zu einer START-Abkommen immerhin zu einer eine »rote Linie« überschritten worden mehrjährigen (Lager-)Haft verurteilt. weiteren Reduzierung der beidseitigen wäre, hätte andererseits dies schon da- Reihenweise starben tatsächliche oder Nukleararsenale führte. mals zum Rückfall in eine Konfronta- vermeintliche Regimegegner eines ge- Misstrauen gegen den Westen domi- tion geführt, für die der Westen verant- waltsamen Todes: 2006 die Journalistin nierte längst wieder in Russland. Mit wortlich gemacht worden wäre. Und in Ana Politkowskaja und der abtrünnige Argusaugen verfolgte der Kreml, wie der Ukraine selbst, die politisch, konfes- Ex-Agent Alexander Litwinenko (in 2003 in Georgien (»Rosenrevolution«) sionell und kulturell lange in eine stär- London spektakulär vergiftet mit radio- und 2005 in der Ukraine (»Orangene Re- ker west- und eine stärker russland aktivem Polonium), 2015 der Reformpo- volution«) pro-westliche Kräfte mos- orientierte Landeshälfte zerfiel, wäre litiker Boris Nemzow oder 2019, mitten kauorientierte Machthaber mittels Pro- eine NATO-Mitgliedschaft damals ohne in Berlin von einem russischen Auftrags- testbewegungen vertrieben. Hinter klare Mehrheit geblieben. killer erschossen, ein feindlicher Tschet- diesen stark durch die neuen Medien schenienkämpfer. Eher zufällig überleb- und soziale Netzwerke befeuerten Moskaus Autoritarismus und ten 2018 der Doppelagent Sergej Skripal »Farbrevolutionen« machte das von pa- Furcht vor regime change und 2020 der Dissident Alexej Nawalny ranoider Verschwörungsfurcht getrie- Anschläge mit – vertraglich verbotenen bene Regime des einstigen KGB-Offi- Nicht nur außenpolitisch ging der Kreml – chemischen Kampfstoffen. ziers Putin nur eine Fortführung der immer mehr auf Distanz zum Westen. Da die Verfassung eine dritte Amtszeit amerikanischen Politik des regime change Auch innenpolitisch verabschiedete in Folge ausschloss, inszenierte Putin aus. Demnach wurde nun sogar in Mos- sich Putin mit einem zunehmend auto- einen Ämtertausch mit einem Gefolgs- kaus ureigenster Einflusszone insze- kratischen Kurs vom westlichen Werte- mann. Ab 2008 fungierte Dimitri Med- niert, was 2001 in Afghanistan, 2003 im system. Sukzessive wurden in Russland wedjew im Präsidialamt als Platzhalter Irak und 2011 in Libyen mit Gaddafis praktisch alle Bereiche von Politik, des als Ministerpräsident zwischenge- Sturz begonnen worden war. 4 (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
SICHERHEITSPOLITIK Interventionen im russischen Engste verbunden, sodass die russische Männchen«), die sich als russische »Hinterhof« Schwarzmeerflotte auch nach dem Aus- Truppen entpuppten. Unter deren Ge- einanderbrechen der Sowjetunion stets wehrläufen und ohne internationale Durchdrungen von einem neo-impe- auf der Krimhalbinsel stationiert blieb. Wahlbeobachter fand am 16. März 2014 rialen Sendungsbewusstsein, das aus Die bisherige Pendelpolitik der Ukraine ein Referendum über den künftigen Sta- der Historie einen legitimen Anspruch zwischen Russland und dem Westen tus der Krim statt. Eine große Mehrheit Russlands auf »Größe« ableitete, und kam an ihr Ende, als der ukrainische Prä- plädierte für den Beitritt zu Russland – gestärkt durch sprudelnde Erdgas- so- sident Wiktor Janukowitsch im Novem- das diesem Votum prompt entsprach. wie Erdöleinnahmen, begann Russland, ber 2013 überraschend die Unterschrift (siehe Konfliktraum Krim, Ukraine im die primär auf westlichen Regeln basie- unter das fertig ausgehandelte Assoziie- 20. Jahrhundert) rende internationale Ordnung in Frage rungsabkommen mit der Europäischen Auch im Donbas sagten sich östliche zu stellen. Als Georgien im August 2008 Union verweigerte. Die daraufhin ent- Landesteile der Ukraine von der Regie- eine Offensive gegen Separatisten be- standene mehrmonatige Protestbewe- rung in Kiew unter dem neu gewählten gann, griff Russland militärisch ein und gung (»Euromaidan«) trieb Januko- Präsidenten Petro Poroschenko los. Mit- warf die georgischen Streitkräfte nach witsch nach blutiger Eskalation Mitte hilfe des russischen Militärs trotzten die fünf Tagen Krieg aus Südossetien und Februar 2014 außer Landes, obwohl am selbsternannten »Volksrepubliken« Do- Abchasien. Beide abtrünnige Regionen Vortag unter deutsch-französisch-polni- nezk und Luhansk allen Rückerobe- erkannte Moskau nun als eigenständige scher Vermittlung ein Abkommen für rungsversuchen der ukrainischen Zent- Staaten an, während dies international eine Übergangsregierung und Neuwah- ralregierung. Die von Bundeskanzlerin als Verletzung der georgischen Souverä- len erreicht worden waren. Im stärker Angela Merkel und dem französischen nität gewertet wurde. orthodoxen, russischsprachigen Osten Präsidenten François Hollande vermit- Noch dramatischer verlief die Ent- des Landes und auf der Krim stieß dies telten »Minsker Abkommen«, die im wicklung in der Ukraine. Mit dem slawi- auf Widerspruch. Ende des Monats September 2014 und Februar 2015 einen schen Nachbarn fühlte sich Russland tauchten auf der Halbinsel Soldaten Sonderstatus der Gebiete und besondere historisch, kulturell und sprachlich aufs ohne Hoheitszeichen auf (»grüne Schutzrechte für die russischsprachige picture-alliance/dpa|Sergei_Chirikov Hilfloser Protest gegen Moskaus Militärintervention im »kaukasischen Hinterhof«: Junge Georgier demonstrieren gegen Russlands Ein- marsch in ihr Land im August 2008. 5 (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Militärgeschichte | Dossier Bevölkerung vorsahen, blieben Makula- gielieferungen aus Russland bewusst der NATO-Russland-Grundakte, keine tur; der im Westen weitgehend unbe- umging, unbekümmert vorangetrieben substanziellen Kampftruppen dauerhaft achtete Krieg im Donbas kostete seither und die ohnehin gefährlich große Ener- in den neuen Mitgliedsstaaten zu statio- über 10 000 Menschenleben. gieabhängigkeit von Russland verstärkt. nieren, blieb die Gesamtzahl der 2016 Auch die Obama-Administration zeigte beschlossenen Enhanced Forward Pre- 2014 – die wahre »Zeitenwende« sich wenig interessiert und überließ sence auf unter 5000 Soldaten be- Deutschland und Frankreich die Media- schränkt, die zudem halbjährlich rotier- Mit Russlands völkerrechtswidriger tionsbemühungen im Ukraine-Konflikt ten. Das zugleich entschlossen wie Annexion der Krim und seiner unver- (»Normandie-Format«). beschwichtigend gemeinte Signal ver- hohlenen Unterstützung der Donbas- So fiel die Reaktion auf die Aggression fehlte im Kreml jede Wirkung. Rebellen markierte bereits das Jahr in der Ukraine insgesamt zurückhaltend Wie eine Antwort auf Obamas ab- 2014 die eigentliche Zäsur im interna- aus: Russland wurde aus der G 8-Gruppe schätzige Bemerkung, Russland sei bes- tionalen System: Mit dem Übergang zu verbannt und es wurden Wirtschafts- tenfalls »eine Regionalmacht«, wirkte einer offenen Aggressionspolitik brach sanktionen gegen das Land verhängt. 2015 Moskaus militärisches Eingreifen Russland ungezählte völkerrechtliche Die NATO begann, die Landes- und in den syrischen Bürgerkrieg. Russlands Verträge und Übereinkommen zur Ge- Bündnisverteidigung wieder zu entde- skrupellose Kriegshilfe rettete Diktator waltfreiheit (siehe den Beitrag zum Völ- cken, die nach 1990 zugunsten von Aus- Baschar al-Assad und demonstrierte kerrecht). landseinsätzen und dem Kampf gegen machtvoll die Rückkehr des Landes auf In Ost-, Mittel- und Nordeuropa den globalen Terrorismus verkümmert die weltpolitische Bühne. Russische wurde die brutale neue Realität klar er- war (siehe Beitrag zur Landes- und Internet-Trolle und Hacker lancierten kannt; sogar das neutrale Schweden Bündnisverteidigung). Der NATO-Gip- Cyberattacken in NATO-Staaten und be- führte 2017 daher die Wehrpflicht wie- fel in Wales bekräftigte 2014 das Zwei- einflussten mittels hybrider Kriegfüh der ein. Der »alte Westen« hingegen ver- Prozent-Ziel und leitete eine verstärkte rung 2016 den Ausgang des Brexit-Refe- schloss davor die Augen in einer Mi- Militärpräsenz an der Ostflanke ein, ins- rendums wie der amerikanischen schung aus Selbsttäuschung, Arroganz besondere im exponierten Baltikum. Präsidentschaftswahlen. und Naivität. In Deutschland wurde die Selbst jetzt blieb die Allianz bemüht, Pipeline North Stream 2, welche die Uk- russischen Befindlichkeiten dabei Rech- Zerfall des Westens … raine, Polen und das Baltikum bei Ener- nung zu tragen. Gemäß der Zusage in Der Sieg von Donald Trump muss dem Kreml wie ein Geschenk des Himmels erschienen sein: Der Milliardär und picture alliance/AP Photo/Dmitry Lovetsky politische Laie bewunderte autoritäre Führer wie Putin. Weit mehr als in Russ- land sah der neue US-Präsident in China und der wirtschaftlich konkurrierenden EU die Hauptgegner von »America First«. Der Westen begann, seinen Zu- sammenhalt zu verlieren: Die Europäi- sche Union war geschwächt durch zähe Brexit-Verhandlungen und seit 2015 durch den Streit über Flüchtlinge und Migration. Transatlantische Handels- konflikte nahmen zu. Die USA waren tief gespalten durch den »Trumpismus« und zunehmend bizarre postkoloniale Identitätsdebatten. Neoisolationistisch und ohne Rücksicht auf Verbündete betrieb die Trump-Administration ei- nen radikalen Abbau von Amerikas globalen Verpflichtungen. Das zeigte sich in Afghanistan, wo das im Februar 2020 mit den Taliban geschlossene »Doha-Abkommen« den überstürzten Abzug westlicher Truppen im Folgejahr Vorschub leistete. Da die europäischen 6 (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
SICHERHEITSPOLITIK Triumphierend verabschiedet sich IMAGO/UPI Photo Präsident Putin von US-Präsident Trump bei deren Gipfeltreffen am 16. Juli 2018 in Helsinki. In einer gemeinsamen Pressekonferenz hat Trump verkündet, nicht den Hinwei- sen der eigenen Nachrichtendienste für eine russische Einflussnahme auf die US-Wahlen von 2016 Glauben zu schenken, sondern Putins Dementi. Verbündeten, allen voran die Deut- mit von im Vertrag verbotenen Fest- So ungewiss derzeit der Ausgang die- schen, es trotz jahrelanger Mahnungen landbasen – abzufeuern. Im Oktober ses Krieges ist, sicher ist, dass Putin sich weiterhin versäumten, den zugesagten 2018 verkündigte US-Präsident Trump eindeutig verkalkuliert hat. Bereits jetzt Umfang für einen angemessenen eige- schließlich den Ausstieg der USA aus steht Russland – vielleicht nicht militä- nen Verteidigungsbeitrag zu leisten, er- dem INF-Vertrag. Seit August 2019 ist risch, aber rechtlich, moralisch, wirt- klärte der rein ökonomistisch denkende der erste wirkliche Abrüstungsvertrag schaftlich und politisch – auf der Verlie- Trump die NATO für »obsolet«. Die seit des Kalten Krieges somit Geschichte. rerseite: Die einst befreundete Ukraine jeher dominierende Führungsmacht Im November 2020 verließen die USA, ist auf Jahrzehnte entfremdet. Die des Bündnisses drohte zwischenzeitlich im Februar 2021 dann Russland den NATO, die EU, der Westen insgesamt ist sogar mit einem Allianzaustritt. Inso- Open-Skies-Vertrag von 1992, der zur geeint wie seit Jahren nicht mehr. Selbst fern besaß die drastische Diagnose des Vertrauensbildung Aufklärungsflüge die Deutschen sind aus ihren lethargi- französischen Präsidenten Emmanuel über Militäreinrichtungen erlaubt hatte. schen sicherheitspolitischen Träumen Macron vom November 2019, die NATO Das einst solide Abrüstungsregime, auf erwacht. Sie wollen die jahrzehntelange sei »hirntot«, durchaus Berechtigung. dem die Friedensordnung von 1990 be- Unterfinanzierung der Bundeswehr ruhte, glich einem Trümmerfeld. Selbst stoppen und erkennen, dass Sicherheit ... und der Abrüstungsverträge das letzte nukleare Abrüstungsabkom- und Freiheit einen Preis haben. Statt men, New START von 2010, drohte den Westen vorzuführen und weiter zu Die verbliebene internationale Abrüs- ohne Ersatz auszulaufen, da die Trump- schwächen, hat Putin das Gegenteil be- tungsarchitektur zertrümmerte Trump Administration vergeblich auf einer Ein- wirkt: Eine erstarkte NATO rückt nun in ähnlicher Weise. Schon die Obama- beziehung der Volksrepublik China in erst recht näher an Russlands Grenzen. Administration hatte Russland seit diesen amerikanisch-russischen Vertrag Ein Dauerzustand darf diese Konfron- 2014 vorgeworfen, den INF-Vertrag zum beharrte. In letzter Minute rettete die tation, schon mit Blick auf das noch im- Verbot nuklearer Mittelstreckenwaffen neue US-Administration unter Joe Bi- mer gewaltige gegenseitige atomare durch neue russische Marschflugkör- den den Vertrag durch eine Verlänge- Vernichtungspotential, gleichwohl per jenseits der vertraglich erlaubten rung um fünf Jahre. Mehr als ein kurzer nicht werden. Eher früher als später wer- 500 Kilometer Reichweite zu verletzen. Zeitgewinn ist dies nicht. den beide Seiten, wie einst in den Hoch- Auch die russische Seite sprach von Die europäische Friedensordnung von phasen des Kalten Krieges, wieder mitei- Vertragsbruch, da es den USA technisch 1990 war also schon in einem prekären nander Gespräche und Verhandlungen ohne großen Aufwand möglich sei, be- Zustand, bevor Putin ihr mit dem russi- führen müssen. Unverzichtbar werden stimmte seegestützte Cruise Missiles schen Angriffskrieg auf die Ukraine am dabei zunächst militärische vertrauens- von deren Raketenabwehrstationen 24. Februar 2022 den Todesstoß ver- und sicherheitsbildende Maßnahmen in Rumänien und Bulgarien – und da- setzte. sein, die von beiden Seiten engmaschig 7 (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Militärgeschichte | Dossier picture alliance/ZUMAPRESS.com|Ukrainian President‘s Office »Munition statt Mitfahrgelegenheit«: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seiner ersten Rede an die Nation nach dem russischen Angriff. Einst Schauspieler verkörpert er wie kein anderer den Wider- standswillen seines Landes. zu verifizieren sind. Nur so werden ge- schlagene Wunden mühsam heilen, nur Dr. Tim Geiger ist wissenschaftlicher Literaturtipps so kann eine neue, alle Beteiligten be- Mitarbeiter des Instituts für Zeitge- Martin Aust: Die Schatten des Imperiums. friedigende internationale Ordnung schichte München-Berlin bei der Edition Russland seit 1991. München 2019. entstehen. Leicht und schnell verspiel- »Akten zur Auswärtigen Politik der Wolfgang Richter: Ukraine im Nato-Russland- tes Vertrauen kann eben nur mühsam, Bundesrepublik Deutschland« in der Spannungsfeld. (SWP-Aktuell 2022/A 11). kraft- und zeitaufwändig wieder aufge- Abteilung im Auswärtigen Amt. Berlin 2022, doi:10.18449/2022A11 baut werden. picture alliance/abaca|ABACA #StandWithUkraine: (v. li) NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der japanische Minis- terpräsident Fumio Kishida, der kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau, US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz, der briti- sche Premierminister Boris Johnson und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron beim Sondergipfel am 24. März 2022 in Brüssel. 8 (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
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