Großmächte in der Arktis - Einleitung
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NR. 50 JUNI 2020 Einleitung Großmächte in der Arktis Die sicherheitspolitischen Ambitionen Russlands, Chinas und der USA machen einen militärischen Dialog erforderlich Agne Cepinskyte / Michael Paul Im Rahmen der »Murmansk-Initiative« rief Michail Gorbatschow gegen Ende des Kalten Krieges dazu auf, die Arktis in eine »Zone des Friedens« zu verwandeln. Bis vor einigen Jahren prägte eine solche Sichtweise die Politik aller Anrainerstaaten. Gemäß der Vorstellung vom »arktischen Exzeptionalismus« galt die Region als frei von geo- politischen Spannungen. Doch zunehmend entwickelt sich auch hier zwischen den USA, Russland und China ein strategischer Wettbewerb um Macht und Einfluss. Der bessere Zugang zum hohen Norden, verursacht durch steigende Temperaturen und schmelzendes Eis, verschafft der Arktis sicherheitspolitisch eine größere Bedeutung – was auch neue Akteure wie China betrifft. Moskau plädiert zwar weiterhin für Koope- ration, hat in der russischen Arktis aber seine militärischen Aktivitäten erheblich verstärkt. China bezeichnet sich als »Fast-Arktisstaat« und legt in seiner jüngsten Arktispolitik einen Schwerpunkt auf das Thema Sicherheit. Für die USA erwächst so ein Sicherheitsdilemma; sie stehen vor der Frage, ob sie ihr militärisches Engagement in der Arktis erhöhen oder den fragilen Status quo bewahren sollen. Angesichts dieser prekären Lage gilt es, ein Forum zu etablieren, das einen Dialog über militäri- sche Sicherheit in der Region ermöglicht. Während des Kalten Krieges war die Arktis zusammengefasst wurden. Ziel war, die eine der am stärksten militarisierten Regio- militärischen Aktivitäten in der Arktis zu nen der Welt. Jenseits des Polarkreises hiel- verringern. Geschehen sollte dies durch ten die verfeindeten Militärblöcke einen Schaffung einer atomwaffenfreien Zone, negativen Frieden aufrecht. Es kam zwar durch Beschränkungen von Marineaktivitä- zu keinem gewaltsamen Konflikt, doch die ten und durch die Förderung grenzüber- kontinuierlichen Spannungen zwischen schreitender Kooperation bei nichtmilitä- USA und Sowjetunion behinderten eine rischen Fragen – darunter Ressourcen- regionale Zusammenarbeit. Dies begann entwicklung, Angelegenheiten indigener sich im Oktober 1987 zu ändern, als der Völker, Umweltschutz und Seetransport. sowjetische Staats- und Parteichef Michail Die Murmansk-Initiative markierte einen Gorbatschow eine Reihe von Maßnahmen radikalen Wandel in der sowjetischen einleitete, die als »Murmansk-Initiative« Arktispolitik und führte schließlich dazu,
dass die zwischenstaatlichen Beziehungen der Arktis signalisierte. Ebenfalls 2007 in der Region entpolitisiert wurden. wurden die in sowjetischer Zeit praktizier- In den folgenden zwei Jahrzehnten galt ten Langstreckenflügen über dem Nord- die regionale Ordnung in der Arktis gemein- polarmeer wieder aufgenommen, im Jahr hin als »außergewöhnlich«. Die Anrainer- darauf auch die Patrouillen der Nordflotte. staaten – Dänemark, Kanada, Norwegen, Zudem verabschiedete der Kreml 2008 ein Russland und die USA – strebten danach, erstes umfassendes Dokument zur russi- das Gebiet konfliktfrei zu halten, indem schen Arktispolitik. Darin wurden die Ziele sie eine Machtbalance durch Normen der und strategischen Prioritäten in der Region Zusammenarbeit und des Multilateralismus für den Zeitraum 2008–2020 festgelegt. aushandelten. Dies spiegelte sich im Begriff Dem Dokument nach ist Russland »eine des arktischen Exzeptionalismus wider, der führende arktische Macht«, und als eines die Region als frei von geopolitischen Span- der grundlegenden politischen Ziele wurde nungen kennzeichnet. Konzeptionell wurde genannt, militärische Formationen in der dieser Begriff jedoch in Frage gestellt. Kriti- Region aufrechtzuerhalten. ker wandten ein, er sei zu staatszentriert Es folgte der 15-Jahres-Plan Moskaus von und erkenne das Engagement nicht aus- März 2020, betitelt »Über die Grundlagen reichend an, das nichtstaatliche Akteure der Staatspolitik der Russischen Föderation für die Erhaltung von Frieden und Stabilität in der Arktis für die Zeit bis 2035«. Er zielt in der Arktis leisteten, vor allem mit Blick auf die sozio-ökonomische Entwicklung des auf den Umweltschutz und die indigenen Landes mittels arktischer Ressourcen. Dem- Völker. nach sollen Steuergelder eingesetzt werden, Militärische Sicherheitsbedenken waren um private Investitionen in Projekte der seit den späten 1980er Jahren weitgehend Energiewirtschaft auf dem Kontinental- aus der Arktispolitik verschwunden. 1996 schelf zu unterstützen und die Besiedlung entstand mit der Ottawa-Erklärung der der russischen Arktis zu fördern. Ferner Arktische Rat als hochrangiges Forum zur sollen wissenschaftliche und ingenieur- Diskussion regionaler Fragen. Unterzeich- technische Lösungen erarbeitet werden, mit ner der Deklaration waren acht Staaten mit denen sich klimawandel-bedingte Schäden Souveränität über arktisches Territorium: an der Infrastruktur in der russischen Arktis Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Nor- verhindern lassen. Außerdem werden die wegen, Russland, Schweden und die USA. Stärkung der Kampffähigkeiten sowie die Dabei wurden Angelegenheiten militäri- Schaffung und Modernisierung militäri- scher Sicherheit vom Mandat des Rates scher Infrastruktur als Hauptaufgaben rus- explizit ausgeschlossen; er sollte sich viel- sischer Politik in der Arktis dargestellt. mehr auf Fragen von Umweltschutz und Die USA reduzierten ab den 1990er nachhaltiger Entwicklung konzentrieren. Jahren ähnlich wie Russland ihre Präsenz Nach Ende des Kalten Krieges stellte in der Region. In einer Direktive von Juni Russland zunächst viele Einheiten seiner 1994 betonte Präsident Bill Clinton zwar Nordflotte außer Dienst und gab aus sowje- noch, es gebe dank der neuen Kooperation tischer Zeit stammende Militäreinrichtun- mit Moskau »beispiellose Möglichkeiten gen in der Arktis auf. Erst in der zweiten der Zusammenarbeit« zwischen allen acht Hälfte der 2000er Jahre kam die geopoliti- arktischen Nationen. Danach jedoch artiku- sche Bedeutung der Region in Moskaus lierte Washington mehr als zehn Jahre lang Politik wieder zum Tragen. Als russischer keine Arktispolitik mehr. Entsprechenden Beitrag zum vierten Internationalen Polar- Direktiven, die Präsident George W. Bush jahr platzierte 2007 das Tauchboot MIR 1 im Januar 2009 erließ, folgte nur geringes am Nordpol demonstrativ die Flagge des Engagement. Präsident Barack Obama Landes auf dem Meeresboden. Dies wurde wiederum definierte die Ziele der amerika- als aggressive Geste wahrgenommen, da es nischen Arktispolitik erst im Mai 2013, also expansive Gebietsansprüche Moskaus in in seiner zweiten Amtszeit. Sein Strategie- SWP-Aktuell 50 Juni 2020 2
papier zielte auf den Ausbau der arktischen weitung seiner militärischen Aktivitäten Infrastruktur und die Stärkung der inter- dort eine legitime Maßnahme, um natio- nationalen Zusammenarbeit in der Region. nale Interessen und kritische Infrastruktur Der hohe Norden sollte eine »konfliktfreie zu schützen. Da die politische und wirt- Zone« bleiben, wobei dem Arktischen Rat schaftliche Bedeutung der russischen Arktis eine wichtige Rolle als Forum zur Förde- für den Moskauer Staatshaushalt wächst, rung der Kooperation »im Rahmen seines sind Einrichtungen zur Förderung und zum derzeitigen Mandats« – also ohne militä- Transport von Öl und Gas aus russischer rische Themen – zugedacht war. Sicht per se potentielle Angriffsziele, die es Als Washington den Vorsitz des Gremi- zu verteidigen gilt. Außerdem soll die Nörd- ums für die Jahre 2015–2017 übernahm, liche Seeroute als wichtige nationale Was- wurde erstmals ein US-Sonderbeauftragter serstraße den Zugang der eigenen Flotte zu für die Arktis ernannt. Die Bilanz fiel indes Atlantik und Pazifik gewährleisten. bescheiden aus. Durch Obamas Arktisstra- Darüber hinaus genießt die russische tegie wurden frühere Richtlinien lediglich Nordflotte auf der Kola-Halbinsel für Mos- ergänzt, und erfolglos versuchte man, den kau »absolute Priorität« – sie soll die mit Kongress zur Genehmigung neuer Eisbre- ballistischen Raketen bestückten Untersee- cher zu bewegen – was die Umsetzung boote des Landes sichern und damit zwei einer aktiveren Politik in der Region auf Drittel seiner maritimen nuklearen Zweit- Jahre hinaus erschweren wird. Das Penta- schlagfähigkeit. Das aus Sowjetzeiten reak- gon erklärte im Dezember 2016, dass die tivierte Bastionskonzept sieht dafür einen Arktis ein Gebiet der Zusammenarbeit Schutzraum vor, der sich über die Barents- bleibe, obwohl es immer noch »Reibungs- see bis nach Island erstreckt. Der eigenen punkte« mit Kanada und Russland bezüg- Flotte soll im Konfliktfall der Zugang zum lich der Seewege gebe. Seit Russland und Atlantik gesichert, anderen der Zugang China sich stärker im hohen Norden enga- zur russischen Arktis verwehrt werden. Im gieren, richtet die Trump-Administration Verbund mit mobilen S-350-Flugabwehr- ihr Interesse auf die Arktis – wenn auch systemen sollen im Rahmen einer Abhalte- nur punktuell und nicht konsequent. strategie (Anti-Access/Area Denial – A2/AD) die russischen Stützpunkte auf Franz-Josef- Land, Sewernaja Semlja, den Neusibirischen Russland und China im Inseln, Nowaja Semlja und der Wrangel- hohen Norden Insel geschützt werden. Die Reichweite des Gesamtsystems deckt alle Inseln und Archi- Die Arktis wird mit dem schmelzenden pele entlang der Nördlichen Seeroute ab. Meereis leichter und im Jahresverlauf län- Russland zeigt ein defensives Verständnis ger zugänglich, daher nehmen dort Schiffs- der Arktis, ist im Konfliktfall aber auf eine verkehr, Ressourcennutzung, Fischerei und rasche Eskalation vorbereitet. Möglich Tourismus zu. Dass sich das »ewige Eis« wären dann zur Verteidigung der Bastion auflöst, weckt zugleich verständliche Be- auch offensive Operationen, darunter die sorgnisse. Russland erhält gewissermaßen Eroberung von Teilen Nordskandinaviens. neue Außengrenzen, die es vor einem Eine weitere treibende Kraft in der Re- potentiellen Aggressor zu schützen gilt. gion ist China. Das Land erhielt 2013 einen Daher hat Moskau seine militärische Prä- Beobachterstatus im Arktischen Rat und senz im hohen Norden stetig ausgebaut. betreibt seitdem eine ambitionierte Politik Präsident Wladimir Putin betonte bei meh- im hohen Norden. Präsident Xi Jinping reren Gelegenheiten, dass Russland nicht bezeichnete die Volksrepublik im selben nur der größte Arktisstaat sei, sondern auch Jahr als »polare Großmacht«. Entsprechend fast ein Drittel seines Territoriums im Polar- umfassend sind Pekings Interessen. Im gebiet liege. Insofern sei Russland der wich- Rahmen der chinesischen Belt and Road tigste Akteur in der Region und die Aus- Initiative (BRI) gilt das Nordpolarmeer – SWP-Aktuell 50 Juni 2020 3
nach dem Landkorridor durch Zentralasien China, das sich als »Fast-Arktisstaat« und der maritimen Seidenstraße durch das bezeichnet, hat in seiner jüngsten Arktis- europäische Mittelmeer – als dritter wich- politik tatsächlich einen Schwerpunkt auf tiger Korridor. Dabei steht Chinas Versor- das Thema Sicherheit gelegt. Das Nationale gungssicherheit im Mittelpunkt. Es geht Sicherheitsgesetz von 2015 postulierte das Peking darum, Transportwege zu diversifi- Recht, die Sicherheit chinesischer Aktivitä- zieren und über eine Ausweichroute zum ten in den Polarregionen zu gewährleisten ägyptischen Suezkanal zu verfügen. Wer- (Artikel 32). Drei Jahre später wurde Pekings den Rohstoffe und Waren über den Nahen Arktispolitik im Weißbuch des Staatsrats Osten von und nach China verschifft, müs- näher erläutert. Es stellte Chinas Engage- sen sie zwischen dem Indischen Ozean und ment in Fragen der Arktis, auch zu Sicher- dem Südchinesischen Meer die Straße von heit und Governance, als notwendig dar, Malakka passieren, die im Konfliktfall blo- weil diese Angelegenheiten »für die Exis- ckiert werden kann. Einem solchen Risiko tenz und Entwicklung aller Länder und der sind Transporte über die Arktis nicht ausge- Menschheit lebenswichtig sind und die setzt. Dabei haben gesicherte Versorgungs- Interessen der nichtarktischen Staaten ein- wege auch einen militärischen Nutzen, schließlich Chinas direkt betreffen«. Weiter wenn es zu Konflikten kommt. Insofern ist hieß es dort, dass Peking die Aufgabe habe, China an den arktischen Seewegen nicht Frieden und Sicherheit in der Arktis zu nur aus ökonomischen Gründen interes- fördern, nicht zuletzt weil die Nutzung der siert, sondern auch aus geopolitischen. dortigen Seewege und die Erforschung der Der Vergleich zwischen Arktis und Süd- regionalen Ressourcen »einen enormen Ein- chinesischem Meer erscheint dabei auf den fluss auf die Energiestrategie und die wirt- ersten Blick weit hergeholt, ist aber durch- schaftliche Entwicklung Chinas« hätten. aus stichhaltig, was das Verhalten Chinas gegenüber anderen Staaten betrifft. Däne- mark und die USA entschieden sich dafür, Arktisches Sicherheitsdilemma in Grönland »strategisch zu investieren«, nachdem chinesische Investoren geplant Vor dem Hintergrund der verschlechterten hatten, auf der Insel – ähnlich wie im Beziehungen Russlands zum Westen nach Indopazifik – Flughäfen auszubauen und Annexion der Krim 2014 lassen die Aktivi- Häfen zu errichten. China engagiert sich täten Moskaus und Pekings in der Arktis besonders in kleineren und nichtalliierten befürchten, dass sich dort ein Sicherheits- Ländern wie dem Nicht-EU-Staat Island oder dilemma entwickelt. Ein solches Dilemma dem Nicht-Nato-Staat Finnland. Es setzt entsteht, wenn die Politik eines Staates, darauf, in einer fragmentierten politischen seine Sicherheit durch Steigerung der Landschaft seine Interessen stärker zur eigenen militärischen Macht zu erhöhen, Geltung bringen zu können. Größere und andere Staaten verunsichert. Oft sehen sich wohlhabendere Arktisstaaten wie Däne- Letztere dann gezwungen, wiederum ihre mark, Norwegen und Schweden zeigen sich eigenen militärischen Fähigkeiten zu stär- mittlerweile skeptisch gegenüber der Volks- ken. Dies erzeugt eine Spirale des Macht- republik, und die USA sehen sich in ihrer wettbewerbs und führt dazu, dass sich die kritischen Haltung zunehmend bestätigt. Sicherheit aller beteiligten Akteure letztlich Schon im Jahr 2013 – als China den Beob- eher verringert als erhöht. So stehen die achterstatus beim Arktischen Rat erhielt – USA und andere Nato-Staaten vor der Frage, hatte Washington die expansiven Bestre- wie sie auf das verstärkte Engagement Russ- bungen Pekings im Südchinesischen Meer lands und Chinas in der Arktis, das auch missbilligt. US-Außenminister Michael militärisch und sicherheitspolitisch rele- Pompeo befürchtet nun, dass es ähnlich wie vant ist, reagieren sollen. dort auch in der Arktis zu Militarisierung Damit politische Entscheidungsträger und Territorialstreitigkeiten kommen wird. darüber befinden können, wie sie auf wahr- SWP-Aktuell 50 Juni 2020 4
genommene Entwicklungen dieser Art ressourcenreichen Regionen tätig zu antworten, müssen sie zunächst Absichten werden. und Fähigkeiten des potentiellen Gegners Die Rolle des Militärs hat China bei beurteilen. Dies wirft in erster Linie die seinen polaren Aktivitäten jahrzehntelang Frage auf, welchem Zweck die wachsende erfolgreich verborgen. Doch sind die Streit- Militärmacht eines anderen Staates dienen kräfte der Volksrepublik integraler Bestand- soll. Ist sie defensiver Natur, also darauf teil der Ambitionen, die sie als »polare gerichtet, die eigene Sicherheit zu erhöhen, Großmacht« hegt, und ihrer global – auf oder geht es im offensiven Sinne darum, Arktis wie Antarktis – ausgerichteten mari- den Status quo zum eigenen Vorteil zu ver- timen Strategie. Dieser umfassende Ansatz ändern? Oftmals ist es jedoch kompliziert, begründet nicht zuletzt die hohen Investi- zwischen der offensiven und der defensiven tionen, die während der letzten 20 Jahre Haltung eines anderen Staates zu unter- in die chinesische Marinerüstung geflossen scheiden, insbesondere wenn es an Vertrau- sind. Die Bedeutung des Militärs demons- en in den bilateralen Beziehungen mangelt. trierten im September 2015 fünf Kriegs- Russlands Regierung hat es als notwen- schiffe, als sie in der ersten »Freedom of dige Schritte zum Schutz nationaler Inter- Navigation«-Operation der chinesischen essen gerechtfertigt, dass sie in der Arktis Geschichte amerikanische Territorialgewäs- ihre Streitkräfte modernisiert, die militäri- ser vor Alaska durchquerten. Insofern wäre sche Infrastruktur ausbaut und entspre- es konsequent für Peking, zu einer neuen chende Basen aus dem Kalten Krieg reakti- Marinestrategie überzugehen, in der auch viert. Die Militärdoktrin der Russischen die beiden Polarzonen als Einsatzgebiet Föderation von 2014 nennt die Wahrung definiert würden – neben der Verteidigung der nationalen Interessen Russlands in der der nahen Seegebiete, dem Schutz entlege- Region als eine der Hauptaufgaben der ner Seegebiete und ozeanischer Präsenz. Streitkräfte (Artikel 32s). Präsident Putin Der geplante erste nuklear betriebene Eis- hat bekräftigt, dass das Verteidigungsminis- brecher Chinas könnte zur Umsetzung einer terium und der Föderale Sicherheitsdienst solchen Strategie dienen. Wissenschaftliche darauf hinarbeiten, die nationalen Interes- Arbeiten zu Navigation und Kommunika- sen des Staates zu schützen, indem sie die tion, wie Chinas sie betreibt, haben neben Verteidigungsfähigkeit in der Arktis ge- der zivilen stets auch militärische Rele- währleisten und einen stabilen Betrieb auf vanz. Dies betrifft etwa die Stationen für der Nördlichen Seeroute sicherstellen. BeiDou-2-Satellitennavigation auf Grönland China behauptet ähnlich wie Russland, und Spitzbergen. sein arktisches Engagement diene primär Die US-Regierung nimmt das wachsende dazu, die Sicherheit von Schifffahrt und Sicherheitsinteresse Russlands und Chinas Handel zu gewährleisten sowie Frieden und im Norden nicht als defensiv wahr, auch Stabilität in der Region zu erhalten. Zwar wenn die beiden Länder es entsprechend finden sich im Weißbuch von 2018 zur rechtfertigen. Unter Präsident Trump prägt Arktispolitik keine direkten Hinweise auf die Rivalität zwischen den Großmächten militärische Sicherheit, doch mit seiner um- die Art und Weise, wie Washington mit der fassenderen Politik des »Energie-Nationalis- Arktis umgeht. Diese wurde zwar in der mus« zielt China darauf ab, Rohstoffliefe- Nationalen Sicherheitsstrategie von 2017 rungen zu sichern und zu schützen. Dies nur einmal beiläufig erwähnt und über- hat auch die Modernisierung der chinesi- haupt nicht in der offenen Version der Ver- schen Marine vorangetrieben; sie soll den teidigungsstrategie von 2018. Beim Minis- Zugang zu maritimen Versorgungswegen tertreffen des Arktischen Rates im Mai 2019 garantieren, für deren Sicherheit sorgen jedoch äußerte US-Außenminister Pompeo und – ähnlich wie im Südchinesischen seine Besorgnis über »ein Muster aggressi- Meer – Rivalen davon abschrecken, in ven russischen Verhaltens«, »unrechtmäßi- ge Ansprüche« und »destabilisierende Akti- SWP-Aktuell 50 Juni 2020 5
vitäten« in der Arktis. Pompeo stellte fest, Arktis nicht mehr unempfindlich gegen- dass »Chinas Worte und Taten Zweifel an über Konkurrenz und Spannungen zwischen seinen Absichten aufkommen lassen«, da Großmachtstaaten sei. Damit weicht die sie »einem sehr vertrauten Muster« an Be- Strategie eklatant vom kooperativen Ansatz mühungen folgten, »kritische Infrastruktur früherer US-Regierungen ab. Die Arktis sei, zu entwickeln und letztlich eine ständige wie in der Sprache des Kalten Krieges for- Sicherheits- und Militärpräsenz zu errich- muliert wird, »ein potentieller Vektor für ten«. Er verwies ferner auf Russlands »an- Angriffe [...] auf das Heimatland«. Um die haltende aggressive« Militäraktionen in der Strategie zu implementieren, sollen um- Ukraine und auf Chinas Verhalten im Süd- fangreiche Maßnahmen zur Erhaltung und chinesischen Meer, um den Verdacht poten- Erweiterung von US-Stützpunkten in der tiell offensiver Motive hinter der arktischen Arktis, vor allem solcher der Luftwaffe, Sicherheitspolitik Moskaus und Pekings zu ergriffen werden. Bislang ist jedoch unklar, unterstreichen. ob das Pentagon bereit – und unter den Kurz nach dem Ministertreffen des Arkti- absehbaren Etatbeschränkungen aufgrund schen Rates stellte das US-Verteidigungs- Covid-19 auch fähig – sein wird, die not- ministerium in einem Dokument seine wendigen Investitionen zu tätigen. Nichts- Arktisstrategie vor. Diese wird darin als destotrotz trägt die jüngste Ausrichtung der Reaktion auf Aktivitäten »strategischer Kon- amerikanischen Arktispolitik dazu bei, das kurrenten« in der Region bezeichnet. Das Sicherheitsdilemma zu vertiefen, das vor Papier konzentriert sich auf den »Wettbe- allem durch Russlands und Chinas wach- werb mit Russland und China als Haupt- sendes Engagement im Nordpolargebiet ent- herausforderung für die langfristige Sicher- standen ist. heit und den Wohlstand der USA«. Gewarnt wird vor den zunehmenden militärischen Aktivitäten der beiden Länder in der Arktis. Wiederaufnahme des Dialogs Konkret erwähnt werden Russlands Bemü- über militärische Sicherheit hungen, Flugplätze und Infrastruktur wie- derherzustellen, neue Militärstützpunkte Sicherheitspolitisches Denken hat für die zu errichten sowie »ein Netzwerk von Luft- Entwicklungen im hohen Norden also verteidigungs- und Küstenraketensystemen, wieder an Bedeutung gewonnen. Daher ist Frühwarnradaren, Rettungszentren und es für die arktischen Staaten von grund- einer Vielzahl von Sensoren« zu etablieren. legender Wichtigkeit, einen Dialog über Hier wird Bezug genommen auf das reak- Fragen der militärischen Sicherheit zu füh- tivierte Bastionskonzept aus sowjetischer ren. Die Institutionalisierung eines solchen Zeit, das – wie erwähnt – einen Schutz- Austauschs könnte dafür sorgen, dass die raum für strategische U-Boote über die militärischen Absichten hinter der arkti- Barentssee bis nach Island vorsieht. Was schen Sicherheitspolitik einzelner Staaten China angeht, so wird in der Arktisstrate- transparenter werden. Damit ließe sich das gie festgestellt, dass dessen Präsenz in der Sicherheitsdilemma für alle Beteiligten ent- Region begrenzter sei als jene Russlands. schärfen und der weitere Aufbau militäri- Allerdings wird die Aufmerksamkeit auf scher Kapazitäten im hohen Norden mög- eisbrechende Schiffe und zivile Forschungs- licherweise verlangsamen. bemühungen Chinas gelenkt. Sie könnten Trotz der Spannungen zwischen dem künftig eine Militärpräsenz des Landes im Westen und Russland läuft die multilatera- Arktischen Ozean unterstützen, einschließ- le Kommunikation mit Moskau weiterhin lich der Stationierung von Unterseebooten. über verschiedene Kanäle, wie den UN- In der Arktisstrategie des Pentagon heißt Sicherheitsrat, die OSZE, die G20 – um nur es zwar, die unmittelbare Aussicht auf einen einige zu nennen. Derzeit gibt es jedoch Konflikt in der Region sei gering. Zugleich kein Forum für einen auf die Arktis ausge- aber wird davon ausgegangen, dass die richteten militärischen Sicherheitsdialog, SWP-Aktuell 50 Juni 2020 6
der Russland einbeziehen würde. Seit scheinen lässt als den Nato-Russland-Rat Beginn des russisch-ukrainischen Konflikts oder die OSZE. 2014 war Russland nicht an den jährlichen Der Erweiterung des Mandats müssten Treffen des Runden Tisches der arktischen alle Mitgliedstaaten des Arktischen Rates Sicherheitskräfte (Arctic Security Forces zustimmen. Bis ein solcher Konsens er- Roundtable, ASFR) beteiligt, und der Stab reicht ist, gibt es andere potentielle Orte, der arktischen Verteidigungschefs (Arctic um den Dialog über militärische Sicherheit Chiefs of Defence Staff, ACDS) hat seit 2013 zwischen den Arktisstaaten zu reaktivieren. nicht mehr getagt. Andere bestehende Russland könnte wie früher zur Teilnahme regionale Plattformen, an denen Russland am ASFR eingeladen werden, ebenso ließen weiterhin teilnimmt, nämlich der Arktische sich die ACDS-Treffen wieder einberufen. Rat, der Euro-Arktische Barents-Rat (Barents Zudem könnte Moskau durch bestehende Euro-Arctic Council, BEAC) und das Arkti- internationale Konferenzen, etwa solche sche Küstenwachenforum (Arctic Coast von der Arctic Circle Assembly organisierte, Guard Forum, ACGF), befassen sich nicht in den Dialog einbezogen werden. Alles in mit Fragen harter Sicherheit. allem wäre die Einrichtung eines militärisch- Über die Notwendigkeit, Russland wieder sicherheitspolitischen Dialogs zwischen den in den militärischen Sicherheitsdialog zur Arktis-Anrainern ein grundlegender Schritt, Arktis einzubeziehen, besteht weitgehend um in der Region eine Sicherheitsarchitek- Einigkeit. Doch gehen die Meinungen aus- tur aufzubauen. einander, welches der geeignete Ort dafür ist. Die praktikabelste Option wäre wohl, das Mandat des Arktischen Rates um Fragen Ein militärischer Verhaltenskodex der militärischen Sicherheit zu erweitern. für die Arktis Zwar gibt es Bedenken, dass harte Sicher- heitsfragen weiche untergraben könnten Das empfohlene Dialogforum zu militäri- und eine Politisierung des Forums die Zu- scher Sicherheit würde den Arktisstaaten sammenarbeit zwischen den Arktisstaaten (und anderen betroffenen Ländern) auch womöglich gefährden würde. Dennoch die Möglichkeit bieten, zu erörtern und haben Spitzenpolitiker der beteiligten Staa- festzulegen, welche militärischen Praktiken ten die Idee eines erweiterten Mandats in der Arktis als akzeptabel gelten. Ähn- unterstützt. So erklärte Islands Premier- liche Vereinbarungen bestehen schon in ministerin Katrín Jakobsdóttir in ihrer Er- anderen Bereichen, so etwa für Such- und öffnungsrede auf der Arktiskonferenz von Rettungseinsätze (SAR) und die Umwelt- Oktober 2019: »Wir müssen und sollten zusammenarbeit, doch der Bereich militä- darüber diskutieren, ob der Arktische Rat rischer Sicherheit blieb bislang außen vor. sich auch mit Sicherheitsfragen befassen Im Raum steht der Vorschlag, einen mili- sollte.« Der damalige finnische Regierungs- tärischen Verhaltenskodex für die Arktis chef Antti Rinne sprach sich 2019 ebenfalls (Arctic Military Code of Conduct, AMCC) für eine solche Initiative aus. zu schaffen, der legitime Vorgehensweisen Als ein Forum, das seit mehr als zwei definieren würde. Er könnte dazu beitra- Jahrzehnten aktiv ist, verfügt der Arktische gen, die Transparenz zu fördern und das Rat über einen hohen Grad an Institutiona- Risiko von Fehleinschätzungen zu verrin- lisierung. Sein Mandat auszudehnen bietet gern. Auf diese Weise ließe sich ein gewis- daher einen schnelleren und kostengüns- ses Maß an Vertrauen gegenüber den mili- tigeren Weg als die Schaffung eines völlig tärischen Absichten der jeweils anderen neuen Formats. Darüber hinaus versammelt Seite schaffen, was das Sicherheitsdilemma er alle regionalen Hauptakteure, was ihn abschwächen würde. als vernünftigere Option zur Diskussion Als vertrauensbildendes Instrument militärischer Sicherheit in der Arktis er- könnte sich der AMCC auf das Wiener Doku- ment der OSZE über vertrauens- und sicher- SWP-Aktuell 50 Juni 2020 7
heitsbildende Maßnahmen (VSBM) stützen. Ein mögliches Modell für den Kodex ist auch das Fischereiabkommen für die Hohe See des zentralen Arktischen Ozeans. Das Abkommen bietet ein Format für Verhand- lungen zwischen den fünf Küstenstaaten der Arktis, vier weiteren Staaten, die Fische- rei in der Arktis betreiben können, und der Europäischen Union. Der AMCC könnte in ähnlicher Weise neben den fünf arktischen © Stiftung Wissenschaft Anrainerstaaten auch nichtregionale Staa- und Politik, 2020 ten einschließen, die zu militärischen Alle Rechte vorbehalten Operationen in der Arktis fähig sind, wie China, Großbritannien und Frankreich. Das Aktuell gibt die Auf- Zweck des Verhaltenskodex wäre es, die fassung der Autoren wieder. Zusammenarbeit zu fördern und die Region In der Online-Version dieser konfliktfrei zu halten. Daher wäre der Publikation sind Verweise Arktische Rat, der im gleichen Geist arbei- auf SWP-Schriften und tet, ein geeigneter Ort, um die Diskussion wichtige Quellen anklickbar. darüber zu beginnen, welche militärischen SWP-Aktuells werden intern Praktiken akzeptabel sind und welche einem Begutachtungsverfah- nicht. 2021 wird Russland den Vorsitz in ren, einem Faktencheck und dem Gremium übernehmen. Moskau könn- einem Lektorat unterzogen. te dann mit den anderen Arktis-Anrainern Weitere Informationen und möglicherweise weiteren Staaten, die zur Qualitätssicherung der militärische Fähigkeiten in der Region SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. besitzen, in einen Dialog über militärische swp-berlin.org/ueber-uns/ Sicherheit eintreten. Allerdings zeigt das qualitaetssicherung/ Beispiel der Rüstungskontrolle, dass die allgemeine Bereitschaft zur präventiven SWP Risiko-Einhegung signifikant abgenommen Stiftung Wissenschaft und Politik hat. Dabei sind Transparenz und die Be- Deutsches Institut für grenzung militärischer Potentiale wie Akti- Internationale Politik und vitäten wichtige Stabilitätsanker in einer Sicherheit möglichen Krise. Schließlich ist die Arktis keine Region fernab aller Konflikte mehr, Ludwigkirchplatz 3–4 sondern zunehmend ein Ort widerstreiten- 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 der Interessen der Großmächte. Fax +49 30 880 07-100 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6364 doi: 10.18449/2020A50 Dr. Agne Cepinskyte ist Stipendiatin des TAPIR-Programms in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. SWP-Aktuell 50 Juni 2020 8
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