Russland im globalen Wasserstoff-Wettlauf - Einleitung
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NR. 48 JUNI 2021 Einleitung Russland im globalen Wasserstoff-Wettlauf Überlegungen zur deutsch-russischen Wasserstoffkooperation Yana Zabanova / Kirsten Westphal Im Oktober 2020 hat Russland eine Roadmap für die Wasserstoffentwicklung verab- schiedet, ein umfassendes Konzept wird in Kürze erwartet. Auch wenn Russland dem vielgepriesenen Wasserstoff (H2) nach wie vor skeptisch gegenübersteht, will es seinen Erdgasreichtum nutzen, um ein führender Exporteur auch von H2 zu werden. Dabei sieht es Deutschland als wichtigen potentiellen Partner. Da Russland bisher keine am- bitionierte Dekarbonisierungsagenda hat, ist die große Herausforderung, die Wasser- stoffproduktion in erster Linie für den Export und ohne nennenswerte Binnennach- frage zu stimulieren. Obwohl sich Russlands politische Beziehungen zum Westen stetig verschlechtern, bleibt die Kooperation bei erneuerbaren Energien und bei H2 einer der wenigen vielversprechenden Bereiche. Diese Zusammenarbeit könnte signi- fikant zur Entwicklung der H2-Wertschöpfungsketten in beiden Ländern beitragen. Angesichts des rasant wachsenden globalen und Russlands Potential in diesem Sektor Interesses an H2 wird der Export in Russland erläuterte. Seitdem ist Wasserstoff zum heiß diskutiert. Das von der Regierung finan- Thema hochrangiger Konferenzen und zierte EnergyNet Infrastructure Centre, das Foren, runder Tische in der Duma und un- die technologische Führungsrolle russischer zähliger Medienartikel geworden. Laut Unternehmen auf dem Energiemarkt för- Deutschlands Nationaler Wasserstoffstrate- dern soll, veröffentlichte Ende 2018 einen gie vom Juni 2020 wird es große Mengen Bericht. Darin wird Russland aufgefordert, importieren müssen. Das verlieh Russlands schnell zu handeln, um seinen Anteil am Ambitionen noch mehr Auftrieb, Wasser- zukünftigen globalen Wasserstoffmarkt zu stoffexporteur zu werden und damit seine sichern. In mehreren Pilotprojekten sollen Position als Energielieferant auch in Zeiten die vorhandenen freien Kapazitäten des der Energietransformation zu erhalten. russischen Stromerzeugungssystem genutzt werden, um aus Kern- oder Wasserenergie zu wettbewerbsfähigen Kosten sauberen Wasserstoffpolitik in Russland Wasserstoff für den Export zu produzieren. Im Jahr 2019 verfasste das Skolkovo Energy Im Jahr 2020 verabschiedete Russland zwei Centre eine detaillierte Studie, in der es die politische Dokumente, in denen es seine neuesten internationalen Entwicklungen Wasserstoff-Pläne umreißt. Das erste ist die
Energiestrategie vom Juni 2020 für den Zeit- kommen sind halbherzig und laufen darauf raum bis 2035. Darin erklärt die russische hinaus, dass die Emissionen bis 2030 um Führung, dass Kohlenwasserstoffe wichtig 30% gegenüber 1990 reduziert werden. Da bleiben, setzt sich aber auch zum Ziel, sie nach Auflösung der UdSSR 1991 stark Russland zu einem der weltweit führenden gesunken sind, wurde dieses Ziel bereits Produzenten und Exporteure von Wasser- erreicht. 2018 betrugen sie nur noch 52% stoff zu machen. Die Exportziele liegen bei des Niveaus von 1990. Selbst das klima- 200 000 Tonnen bis 2024 und 2 Millionen freundlichste Szenario im Entwurf der Stra- Tonnen bis 2035. Zwar heißt es in der Stra- tegie für eine CO2-arme Entwicklung hätte tegie auch, die Inlandsnachfrage nach zur Folge, dass die Emissionen gegenüber Wasserstoff müsse stimuliert werden, etwa heute in absoluten Zahlen wieder steigen. im Transportsektor und für die Energie- In Russlands aktuellen politischen Doku- speicherung. Trotzdem ist eine klare Export- menten fehlt grüner, also aus erneuerbaren orientierung unverkennbar. Energien erzeugter Wasserstoff, obwohl er Das zweite Dokument, die Roadmap für im neuen Konzept wahrscheinlich erwähnt die Wasserstoffentwicklung bis 2024, wurde werden wird. Russland verfügt derzeit über im Oktober 2020 verabschiedet. Die Konzer- begrenzte Wind- und Solarinstallationen ne Gazprom und Rosatom sollen die Haupt- mit insgesamt unter 3 GW Leistung, die rolle dabei spielen, die Ziele der Energie- weniger als 1% des gesamten Stroms erzeu- strategie zu erfüllen. Laut Roadmap verfügt gen. Untersucht wird, inwieweit große Was- Russland über Wettbewerbsvorteile bei Was- serkraft (die installierte Kapazität liegt bei serstoff in den Bereichen technologisches 49 GW) für die Produktion erneuerbaren Know-how, Forschung und Entwicklung Wasserstoffs geeignet ist. Zwar gibt es zur- (F&E) sowie bei der vorhandenen Ressour- zeit keine grünen Wasserstoffprojekte in cenbasis, Überkapazitäten im Energieerzeu- Russland, aber einige Unternehmen haben gungssystem, einer ausgebauten Transport- Interesse bekundet. Enel Russia baut derzeit infrastruktur und der geographischen Nähe einen 201-MW-Windpark auf der Kola-Halb- zu Großverbrauchern. Zudem werden in insel im Gebiet Murmansk, der im Dezem- der Roadmap erste Schritte für die Wasser- ber 2021 fertiggestellt sein soll. Zusammen stoffentwicklung skizziert. mit Rusnano, Russlands großer Institution Ein detailliertes H2-Konzept ist in Arbeit, für Innovationsentwicklung, will Enel aber Berichten zufolge wird darin eine stra- Russia in diesem Windpark jährlich 12 000 tegische Zusammenarbeit mit Deutschland, Tonnen grünen Wasserstoff für den Export Frankreich, Japan und Südkorea angepeilt. in die EU produzieren. Allerdings gibt es bei Laut Konzeptentwurf wird Russland bis diesem Pilotprojekt viele Unwägbarkeiten, 2050 schätzungsweise 7,9 bis 33,4 Millionen von den Kosten für diesen Wasserstoff bis Tonnen Wasserstoff jährlich exportieren hin zu den verfügbaren Transportwegen, und damit bis zu 100 Milliarden Dollar denn in der Oblast Murmansk existieren einnehmen. Russische Experten diskutieren keine Gaspipelines. lebhaft über den Kurs der Wasserstoffpoli- tik und die richtige Balance zwischen Ex- porten, Inlandsnachfrage und Entwicklung Schlüsselakteure in Russlands der Wasserstofftechnologie. Viele mahnen, Wasserstoff-Entwicklungsplänen der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft im eigenen Land sei unerlässlich, um ein füh- Gazprom render Exporteur zu werden. Weil die Nachfrage nach Erdgas in der EU Allerdings ist die Wasserstoffentwicklung wohl sinken wird, könnte der Export von in Russland (noch) nicht Teil einer wirk- CO2-armem Wasserstoff, hergestellt aus Erd- lichen Dekarbonisierungspolitik. Russland gas, ein neues Geschäftsmodell für Gazprom hat keine CO2-Regulierung eingeführt. Seine sein. Der Konzern ist schon ein bedeutender Verpflichtungen gemäß dem Pariser Ab- Produzent solchen »grauen« Wasserstoffs. SWP-Aktuell 48 Juni 2021 2
Mit Dampf-Methan-Reformierung (SMR) Stattdessen hat die Gazprom-Führung erzeugt Gazprom rund 360 000 Tonnen pro ihre klare Präferenz geäußert, Wasserstoff Jahr. Bei diesem Prozess gelangen große vor Ort in Europa in der Nähe großer indu- Mengen CO2 in die Atmosphäre. Das Unter- strieller Verbraucher zu erzeugen. Beim nehmen hat begonnen, bei der EU aktiv für Deutsch-Russischen Rohstoff-Forum im einen technologieoffenen Ansatz für Wasser- Dezember 2020 schlug Alexander Ishkov stoff zu werben, der sich auf die gesamten von Gazprom vor, eine Wasserstoffproduk- CO2-Emissionen konzentriert, anstatt nur tionsanlage in Norddeutschland zu bauen, auf erneuerbaren Wasserstoff zu setzen. an der Anlandungsstelle von Nord Stream 1 Eine Herausforderung für Gazprom wird und Nord Stream 2, wo Wasserstoff aus rus- sein, skalierbare und wirtschaftliche Wege sischem Gas entweder mittels SMR mit CCUS zu finden, um den CO2-Fußabdruck seiner oder Methanpyrolyse hergestellt werden Wasserstoffproduktion zu reduzieren – würde. Ende 2020 kündigte Gazprom die sei es durch Abscheidung, Nutzung und Gründung eines neuen Unternehmens (Gaz- Speicherung von Kohlenstoff (CCUS) oder prom Hydrogen) an, das für die Weiterent- durch Methanpyrolyse. Gazprom kooperiert wicklung des Wasserstoffgeschäfts verant- mit der Polytechnischen Universität Tomsk wortlich sein wird. Nun muss Gazprom bei der Weiterentwicklung der letztgenann- seinen Worten auch Taten folgen lassen. ten Technologie, doch bis zur Marktreife ist es noch ein langer Weg. International Rosatom werden jedoch mehrere Formen der Methan- Rosatoms Wasserstoff-Pläne genießen in pyrolyse entwickelt, zum Beispiel vom Europa bisher nur wenig Aufmerksamkeit, Karlsruher Institut für Technologie in Zu- obwohl das Unternehmen die Wasserstoff- sammenarbeit mit Wintershall Dea. entwicklung 2018 als Priorität in seine F&E- Oft wird argumentiert, Russlands riesiges, Politik aufgenommen hat und mehrere von Gazprom kontrolliertes Netz an Gas- Pilotprojekte durchführt. Als staatlicher pipelines verschaffe dem Land einen Vorteil russischer Atomkonzern ist es an der gesam- als potentieller Wasserstoffexporteur. Im ten Wasserstoff-Lieferkette interessiert. In Oktober 2019 sagte James Watson, General- den nächsten Jahren will Rosatom Wasser- sekretär des europäischen Branchenver- stofftechnologien anbieten und auch Elek- bands Eurogas, dass die Gaspipeline Nord trolyseure, die Russland vorerst importiert, Stream 2 nach ihrer Fertigstellung poten- selbst produzieren. Im April 2021 unter- tiell bis zu 80% Wasserstoff transportieren zeichnete Rosatom eine Vereinbarung mit könne. Doch Vertreter von Gazprom äußer- dem französischen Stromgiganten Électrici- ten sich offen skeptisch über den Transport té de France (EDF) über die Zusammenarbeit von Wasserstoff oder Wasserstoff-Methan- bei CO2-armen Wasserstoffprojekten in den Gemischen durch ihre Gaspipelines. Laut Bereichen Verkehr und industrielle De- dem Konzern wurden keine Studien durch- karbonisierung in Russland und Europa. geführt, um festzustellen, in welchem Um- Rosatoms Vorschlag, H2 mit Kernenergie fang und zu welchen Kosten die Infrastruk- zu erzeugen, baut auf der bisherigen jähr- tur für den Transport von Wasserstoff lichen Herstellung von 4 200 Tonnen auf. genutzt werden könnte und welcher Anteil Rosatom könnte den Auslastungsgrad der Beimischung möglich ist, ohne eine seiner Kernkraftwerke erhöhen, von denen Versprödung zu riskieren. Zwar schlug das einige unter ihrer Kapazität arbeiten, zum Ministerium für wirtschaftliche Entwick- Beispiel das Kernkraftwerk Kola im Gebiet lung im April 2021 vor, allen unabhängi- Murmansk. Wichtig ist jedoch, dass Rosa- gen Wasserstoffproduzenten Zugang zum tom Technologieoffenheit beibehält: Sein Gastransportsystem zu gewähren. Dieser F&E-Programm umfasst ein breites Spek- Vorschlag wird aber wohl auf heftigen trum an Methoden zur Wasserstofferzeu- Widerstand stoßen. gung, einschließlich Elektrolyse, SMR mit CCUS und gasgekühlte Hochtemperatur- SWP-Aktuell 48 Juni 2021 3
reaktoren (HTGR). Rosatom ist außerdem die Absicht signalisiert, sich an der Wasser- ein bedeutender Akteur auf dem russischen stoffentwicklung in Russland zu beteiligen. Windmarkt, verfügt über 360 MW Kapazi- Im Januar 2021 unterzeichneten Novatek täten zur Stromerzeugung und könnte und der Energieversorger Uniper eine Ab- damit zukünftig auch grünen Wasserstoff sichtserklärung über die Lieferung von herstellen. blauem und grünem Wasserstoff an Uni- Gegenwärtig erstellt Rosatom Machbar- pers Kraftwerke in Russland und Europa. keitsstudien für zwei H2-Projekte auf der Außerdem plant Novatek, etwa 2,2 Millio- fernöstlichen Insel Sachalin, die zum ersten nen Tonnen kohlenstoffarmes Ammoniak, Wasserstoff-Cluster in Russland werden soll. der aktuell das wichtigste Derivat von Was- Das erste Projekt zum Einsatz von Wasser- serstoff ist, in seinem LNG-Hafen Sabetta stoff im Schienenverkehr wird in Zusam- auf der sibirischen Halbinsel Jamal zu pro- menarbeit mit den Russischen Eisenbahnen duzieren. Darüber hinaus erwägt Novatek, (RZD), Transmashholding (einer Maschinen- seine geplante LNG-Anlage am Fluss Ob auf bauholding) und der Regionalregierung der die Erzeugung sauberen Ammoniaks umzu- Oblast Sachalin durchgeführt. Bis 2025 sol- stellen, das wie LNG per Tanker transpor- len sieben Vorort-Wasserstoffzüge in Betrieb tiert werden kann. So wäre Novatek nicht genommen werden, bis 2030 dann 13 wei- auf Gazproms Pipelinesystem angewiesen. tere. Rosatom soll hierfür Wasserstoff pro- duzieren und eine Infrastruktur für die H2-Technologie-Cluster Wasserstoffbetankung auf der Insel schaf- Russlands Tradition bei der Wasserstoff- fen. Das zweite Projekt hat zum Ziel, CO2- forschung reicht bis in die Sowjetzeit zu- armen Wasserstoff nach Japan zu exportie- rück. Mehrere Universitäten forschen an ren. Im September 2019 unterzeichnete Wasserstofftechnologien, die von Energie- Rusatom Overseas, eine Tochtergesellschaft speichersystemen über wasserstoffbetriebe- von Rosatom, ein Kooperationsabkommen ne Drohnen und Autos bis hin zu neuen mit dem japanischen Ministerium für Wirt- Produktionsmethoden wie Methanpyrolyse schaft, Handel und Industrie. Gegenstand reichen. Ein Großteil dieser F&E ist jedoch des Abkommens ist eine Machbarkeitsstudie sehr spezialisiert und abgeschottet, der zum Export von verflüssigtem Wasserstoff Marktreifegrad ist niedrig, und die Ver- aus Russland nach Japan. Die Ergebnisse marktung bleibt eine Herausforderung. der Studie sollen bis Sommer 2021 vorlie- Im November 2020 schlossen sich, initi- gen. Zusätzlich einigte sich Rosatom im iert von der Polytechnischen Universität April 2021 mit dem führenden französi- Tomsk, sechs renommierte technische Uni- schen Industriegasunternehmen Air Liquide versitäten in Russland zusammen, um das und der Regionalregierung von Sachalin sogenannte Technological Hydrogen Valley auf ein Memorandum of Understanding zu gründen. Dieses Forschungscluster soll (MoU). Auch darin wurde eine Machbarkeits- Synergien in der Forschung schaffen und studie vereinbart, diesmal über die groß- Kooperationen mit wichtigen Wirtschafts- technische Produktion (jährlich 30- bis akteuren aufbauen, darunter Rosatom, 100 000 Tonnen) von blauem Wasserstoff, Gazprom, Severstal, Gazprom Neft und der erzeugt wird wie der graue, aber ohne Sibur. Auch will das Konsortium die inter- das meiste CO2 in die Atmosphäre gelangen nationale Zusammenarbeit ausweiten. zu lassen. Dies wäre das größte CO2-arme AFK Sistema, ein führender Privatinve- Wasserstoffproduktionsprojekt in Russland. stor in der russischen Wirtschaft, möchte gemeinsam mit dem Institut für Probleme Novatek der chemischen Physik in Tschernogolowka Obwohl nicht explizit in der Wasserstoff- dort ein gesamtrussisches Wissenschafts- Roadmap erwähnt, hat Novatek, ein un- und Technologiezentrum für H2 gründen. abhängiges Gasunternehmen und ein füh- Es würde eine Produktionsstätte für die render Hersteller von Flüssigerdgas (LNG), Entwicklung von Produktprototypen (ein- SWP-Aktuell 48 Juni 2021 4
schließlich H2-Brennstoffzellen und H2- Verwendung von Methan-Wasserstoff- Speicherlösungen) umfassen und damit auf Gemischen für Fahrzeuge. die Kommerzialisierung der Wasserstoff- Das Arktis-Cluster soll das Potential der forschung in Russland hinarbeiten. Wasserstoffnutzung zur Energiespeiche- rung in abgelegenen und isolierten Gebie- ten ausloten. Ein großer Teil des dünn Erste Initiativen für eine besiedelten arktischen Gebiets ist vom natio- Wasserstoffwirtschaft in Russland nalen Stromnetz isoliert und wird mit ex- trem teurem, umweltschädlichem Diesel ver- Regionale Wasserstoff-Cluster sorgt. Diese Region würde am unmittelbar- Das EnergyNet-Expertenzentrum hat vorge- sten vom Wechsel zu sauberer Energie pro- schlagen, drei regionale H2-Cluster in Russ- fitieren. Jakutien hat mehrere Hybridkraft- land zu schaffen: im Fernen Osten (Sacha- werke (Diesel plus erneuerbare Energien) lin), im Nordwesten (St. Petersburg) und in installiert und arbeitet nun an einem Pilot- der Arktis. projekt mit der Moskauer Technischen Uni- Das Sachalin-Cluster ist am weitesten fort- versität Bauman, um erneuerbaren Wasser- geschritten. Im April 2021 unterzeichneten stoff zur Energiespeicherung zu nutzen. Als Rosatom, die Regierung Sachalins und das weiteres Pilotprojekt ist die kohlenstofffreie russische Föderale Ministerium für die Ent- internationale arktische Forschungsstation wicklung des Fernen Ostens und der Arktis Snezhinka (Schneeflocke) vorgesehen. Sie eine offizielle Kooperationsvereinbarung. soll 2023 eröffnet werden und wasserstoff- Sachalin, deren Gouverneur Valery Lima- basierte Lösungen für die Energiespeiche- renko hochrangige Positionen bei Rosatom rung und den Transport erforschen. innehatte, soll Standort für Rosatoms Pro- jekte werden, zum Beispiel die Erkundung H2 in der Industrie des Exports von verflüssigtem Wasserstoff Wegen der fehlenden nationalen CO2-Regu- nach Japan. Mit ihm sollen bis 2030 maxi- lierung hat sich die Idee, sauberen Wasser- mal 40% des japanischen Bedarfs gedeckt stoff zur Dekarbonisierung der Industrie zu und auch andere asiatisch-pazifische Länder verwenden, in Russland noch nicht durch- versorgt werden. Auf Sachalin könnte die gesetzt. Der zurzeit diskutierte Gesetzesent- Verwendung von Wasserstoff und Wasser- wurf zur Begrenzung von Treibhausgasemis- stoff-Methan-Gemischen getestet werden, sionen wurde durch den Druck von Indu- etwa bei der schweren Bergbauausrüstung striekonzernen zahnlos gemacht: Er sieht und beim Personentransport. Künftig könn- nur die freiwillige Berichterstattung großer te Sachalin auch grünen Wasserstoff aus Emittenten über CO2-Emissionen vor und Windenergie produzieren. Schließlich ist enthält keine restriktiven Maßnahmen. Sachalin die erste russische Region, die CO2- Dennoch wird sich die Verschärfung der Neutralität anstrebt (bis 2025). Sie wurde als internationalen Klimapolitik auf Russlands Testgebiet für CO2-Handelsmechanismen exportorientierte Firmen auswirken. Einige ausgewählt, die in den kommenden Jahren von ihnen, vor allem in der Metallindustrie, in Russland eingeführt werden könnten. beginnen Schritte zu unternehmen, um Das nordwestliche Cluster in St. Peters- ihren CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Der burg wird auf den Export von Wasserstoff russische Aluminiumgigant Rusal hat ausgerichtet sein, der durch Elektrolyse im »Allow« eingeführt, seine eigene Marke von Wasserkraftwerk Leningradskaya erzeugt »grünem Aluminium« mit einem Kohlen- wird, aber auch auf den Einsatz von Wasser- stoff-Fußabdruck von weniger als 4 Tonnen stoff zur Dekarbonisierung bestimmter CO2 pro Tonne. Es wird mit Energie aus industrieller Prozesse und des Transports. großen sibirischen Wasserkraftwerken her- Dazu gehören die Direktreduktion von gestellt. Die Nachfrage dürfte in den kom- Eisenerz in der Stahlindustrie, der Einsatz menden Jahren steigen. Ein weiteres viel- von H2 in der Zementproduktion und die versprechendes Beispiel ist der Stahlprodu- SWP-Aktuell 48 Juni 2021 5
zent NLMK, der mit Air Liquide zusammen- men bei Wasserstofftechnologien wie Brenn- arbeitet, um seine Wasserstoffanlagen zu stoffzellen und Energiespeicherlösungen. Es entwickeln und den CO2-Fußabdruck seines erhielt eine Finanzierung von der Russian Stahls zu verringern. Im Januar 2021 unter- Venture Company und arbeitet eng mit dem zeichnete NLMK außerdem eine Absichts- Institut für Probleme der chemischen Phy- erklärung mit Novatek, bei kohlenstoff- sik zusammen. InEnergy kooperiert mit armen Technologien, CCUS und der Nutzung dem russischen Lkw-Hersteller KAMAZ, um von Wasserstoff als sauberem Brennstoff in Prototypen von Wasserstoffbussen zu ent- industriellen Prozessen zu kooperieren. wickeln. Einer davon soll im Herbst vorge- Russische Firmen verfolgen aufmerksam stellt werden. KAMAZ, das bereits Lithium- die Entwicklungen rund um den Carbon Ionen-Elektrobusse baut, hat wasserstoff- Border Adjustment Mechanism (CBAM) der betriebene Busse und Lkw in sein F&E-Pro- EU, der darauf abzielt, CO2-Importzölle zu gramm aufgenommen. erheben, um unfairen Wettbewerb zu ver- Zudem hat die wohlhabende Moskauer hindern. In Russland wird er weithin als Stadtverkehrsbehörde, die viel in eine elek- eine der größten Bedrohungen für seine trische Busflotte investiert, Interesse an CO2-intensive Wirtschaft angesehen. Laut Wasserstoffbussen gezeigt. Rosatom und einer oft zitierten Prognose der Wirtschafts- Transmashholding, die ein Joint Venture prüfungsgesellschaft KPMG wird Russland zur Förderung von Wasserstoff-Mobilitäts- durch den Mechanismus bis zum Jahr 2030 lösungen planen, hoffen darauf, an der Um- bis zu 50,6 Milliarden Euro verlieren. Sobald setzung dieser Vision mitwirken zu können. seine endgültige Ausgestaltung feststeht, Schwierig bleibt jedoch, eine Infrastruk- werden russische Firmen der Chemie-, tur für die Wasserstoffbetankung zu schaf- Metall- und Petrochemieindustrie sich ver- fen. Heute gibt es in Russland nur eine stärkt bemühen, den CO2-Fußabdruck ihrer einzige H2-Tankstelle, in Tschernogolowka. Produkte zu reduzieren. Wasserstoff könnte Eine positive Initiative ist die geplante Auto- eine der Lösungen dabei werden, neben er- bahnstrecke Moskau-Kasan, die mit Wasser- neuerbaren Energien, CCUS und Investitio- stofftankstellen ausgerüstet werden soll. nen in Wälder als Kohlenstoffsenken. Dies Dennoch bleibt der Wettbewerb zwi- könnte Firmen aus Deutschland und der EU schen den Technologien ein Problem. Ande- die Chance eröffnen, Russland mit Techno- re Formen der Mobilität sind besser sichtbar logien und Know-how bei der industriellen und großzügiger finanziert. Eine davon ist Dekarbonisierung zu unterstützen. das staatliche Programm zur Förderung von Erdgas als Kraftstoff für Fahrzeuge. Es wird H2 im Transport von der Gazprom-Tochter Gazprom Gazo- Der Verkehrssektor wird aus mehreren motornoye Toplivo betrieben. Gründen zur ersten Nische der Wasserstoff- technologie werden: Es gibt aufstrebende russische Technologieanbieter, konkrete Gründe und Perspektiven deutsch- Pilotprojekte (wie den Sachalin-Wasserstoff- russischer Zusammenarbeit zug) und ein Interesse bei Investoren. Zudem existiert ein Vorzeigeprojekt, die wasserstoff- Angesichts der Sicherheitskrise zwischen betriebene Straßenbahn in St. Petersburg, Russland und dem Westen ist jede weiter- die das Staatliche Forschungszentrum Kry- gehende Zusammenarbeit mit Russland lov 2020 entwickelte. Auch Präsident Putin zwangsläufig umstritten. Falls der politi- hat jüngst die Bedeutung des öffentlichen sche Wille dazu besteht, ist aber nachhalti- Nahverkehrs auf Wasserstoffbasis betont ge Energie einer der wenigen vielverspre- und dazu aufgerufen, bis 2023 die Produk- chenden und für beide Seiten vorteilhaften tion von Wasserstoffbussen zu starten. Bereiche. Außerdem ist es ohnehin not- InEnergy, ein 2015 gegründetes Start-up, wendig, die Auswirkungen des CBAM und ist Russlands fortschrittlichstes Unterneh- SWP-Aktuell 48 Juni 2021 6
der Dekarbonisierung auf den bestehenden bilaterale Zusammenarbeit in Wirtschaft, Energiehandel zu managen. Technologie und Wissenschaft fördern. Die für Energie zuständigen Ministerien Russland bleibt geographisch Nachbar Deutschlands und Russlands haben am und absehbar Rohstofflieferant, etwa von 20. April 2021 eine Absichtserklärung zur Platin und Iridium für Elektrolyseure. Um Zusammenarbeit bei den erneuerbaren das klimaneutrale Europa zu verwirklichen, Energien unterzeichnet. Die Vorteile der ist es außerdem wichtig, sich des »grünen Kooperation liegen nicht nur im poten- Paradoxons« bewusst zu sein: Hört Europa tiellen Zugang zu CO2-armem H2, sondern auf, Kohlenwasserstoffe aus Russland zu auch in der Öffnung eines Marktes für deut- importieren, bleiben diese Ressourcen nicht sche Wasserstofftechnologien. Deutschland im Boden, sondern werden günstig an rasch könnte eine herausragende, strategisch wachsende asiatische Volkswirtschaften bedeutsame Rolle dabei spielen, Russland verkauft. Das bringt keinen Nettogewinn bei dessen Anpassung an ein dekarbonisie- für das globale Klima. Besser wäre es, Erdgas rendes Europa zu begleiten. Eine deutsch- für einen Übergangszeitraum zu nutzen. russische Wasserstoffpartnerschaft könnte Kooperieren könnte man bei der Produk- sich als entscheidend bei Erforschung, Inno- tion von CO2-armem Wasserstoff mit CCUS vation und Skalierung von Technologien und türkisem, also durch Pyrolyse erzeug- erweisen. Deutschlands Entscheidung, H2 tem Wasserstoff sowie bei Methanleckagen. stärker in den bilateralen Energiebeziehun- Auf dem Papier spricht einiges für eine gen mit Russland zu gewichten und ein H2-Partnerschaft zwischen Deutschland und Wasserstoffbüro in Moskau zu eröffnen, Russland. Dazu gehört die bestehende Gas- sind entsprechende Schritte. infrastruktur mit parallelen Leitungssträn- Um auf eine dekarbonisierte Zukunft gen, die einen allmählichen Ausstieg aus hinzuarbeiten, müssen Wege gefunden dem Gastransport und die Umnutzung die- werden, große Öl- und Gasexporteure bei ser Leitungen und Kompressoren für Wasser- der Neuausrichtung ihrer ölbasierten Wachs- stoff ermöglichen. Ebenfalls zu nennen sind tumsmodelle zu unterstützen. Da die EU langjährige Joint-Ventures von Energie- der wichtigste Markt für Russlands Öl und unternehmen sowie die enge technologi- Gas ist, bildet ihre Dekarbonisierungsagenda sche und wissenschaftliche Kooperation. eine ernsthafte Herausforderung für Russ- Die angespannten politischen Beziehun- lands Wirtschaftsmodell und Rentenwirt- gen bleiben freilich ein großes Hindernis. schaft. In einer dekarbonisierten Energie- Darüber hinaus bestehen Hürden, die von welt wird nicht die Extraktion, sondern die beiden Seiten angegangen werden müssen. Konversion von Energie eine größere Rolle Erstens wäre da das Henne-Ei-Problem, das spielen. Technologien und Know-how wer- die Wasserstoffentwicklung weltweit betrifft, den wichtiger. Dadurch entstehen andere nämlich: Wie, wann und wofür sollen Wert- Geschäftsmodelle und völlig neue Wert- schöpfungsketten und dann auch noch der schöpfungsketten, die auf der Verfügbarkeit Transport verändert oder neu geschaffen von Technologien und deren jeweiligen werden, wenn weder Nachfrage noch Ange- Innovations- und Lebenszyklen beruhen. bot gesichert sind? Bislang haben langfristi- Diese Transformation wird Gewinner und ge Verträge über die vertikal integrierte Verlierer hervorbringen. Während sinkende Wertschöpfungskette mit preisgebundenen Renten aus Öl und Gas die russischen Eliten Verträgen geholfen, solche Hürden zu über- treffen werden, kann die Transformation winden. Vor dem Hintergrund neuer EU- für viele Unternehmen auch Anreize zur Regularien müssen Mechanismen konzi- Modernisierung schaffen. Die deutsch-russi- piert werden, um Angebot und Nachfrage sche Kooperation trüge dazu bei, den Ener- verlässlich aufeinander abzustimmen, die giesektor umzubauen und Russland eine Preisdifferenz zu grauem Wasserstoff und neue Funktion in der Energiewelt zu geben. alternativen Brennstoffen zu überbrücken Das würde auch die zukunftsgerichtete und den Transport zu sichern. SWP-Aktuell 48 Juni 2021 7
Die zweite Herausforderung betrifft die nen, wenn die umkämpfte Nord Stream 2 Farbenlehre. Der deutsche politische Dis- (teilweise) für Wasserstoff umgewidmet und kurs konzentriert sich auf die »Farben« des zu einem Teil eines neuen Wasserstoff- Wasserstoffs statt auf den CO2-Fußabdruck Technologie-Röhren-Deals gemacht würde. der verschiedenen Erzeugungsmethoden. Solch ein Abkommen müsste aber zuvor Dies bildet eine freiwillige Begrenzung im europäisch verankert werden. Vergleich zu vielen anderen Ländern. Es gibt aber zahlreiche gute Gründe, den CO2- Abdruck und die Schwellenwerte der EU- Fazit Taxonomie als Referenzpunkte zu nehmen, © Stiftung Wissenschaft um konsistent und transparent zu sein. Russland signalisiert sein Interesse, in den und Politik, 2021 Russland erwägt eine breite Palette von globalen Wasserstoffwettlauf einzusteigen. Alle Rechte vorbehalten Wasserstoffproduktionsmethoden, ein- Es sieht sich als zukünftiger Wasserstoff- schließlich der Erzeugung in großen Wasser- lieferant für Deutschland und den asiatisch- Das Aktuell gibt die Auf- und Kernkraftwerken. Diesen Ansatz teilt es pazifischen Raum. Allerdings geht die Ent- fassung der Autorinnen wieder. mit vielen seiner potentiellen Partner wie wicklung zu einem wichtigen Wasserstoff- Frankreich, Südkorea und Japan. Während exporteur Hand in Hand mit dem Aufbau In der Online-Version dieser klar ist, dass Deutschlands Förderprogramm einer Wasserstoffwirtschaft in Russland Publikation sind Verweise für langfristige und marktbasierte Importe selbst. Will es sich seinen Platz sichern, auf SWP-Schriften und (H2 Global) ausschließlich grünen Wasser- kommt es nicht umhin, eine ehrgeizigere wichtige Quellen anklickbar. stoff unterstützen wird, ist der großskalige Dekarbonisierungspolitik zu betreiben. SWP-Aktuells werden intern Import und Verbrauch anderer Arten von Auch kann Russland nicht davon ausgehen, einem Begutachtungsverfah- CO2-armem Wasserstoff noch offen. dass es ein unverzichtbarer Wasserstoff- ren, einem Faktencheck und Das dritte Hindernis ist die kritische Hal- lieferant für die EU bleiben wird. H2 schafft einem Lektorat unterzogen. tung gegenüber CCUS in Deutschland. Was- die Option, sich seine Partner zu wählen. Weitere Informationen serstoff hierzulande vor Ort zu produzieren Der Wettlauf um Wasserstoff verschärft zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- hat Vor- und Nachteile. Einerseits würde es sich, Regierungen und Unternehmen inve- Website unter https://www. Deutschland ermöglichen, seinen Wasser- stieren große Summen. Deswegen muss swp-berlin.org/ueber-uns/ stoffbedarf schnell und flexibel zu decken Russland ein Risiko eingehen und den poli- qualitaetssicherung/ und Schlüsseltechnologien weiterzuent- tischen Willen und die Ressourcen aufbrin- wickeln. Andererseits würde es – im Falle gen, um sich seinen Anteil am zukünftigen SWP Stiftung Wissenschaft und von blauem Wasserstoff – den Aufbau Wasserstoffmarkt zu sichern. Politik eines CO2-Netzes, von Speichern oder von Was Deutschland betrifft, sollte es den Deutsches Institut für beidem erfordern. Das muss in Deutschland CO2-Gehalt von Wasserstoff zum Haupt- Internationale Politik und diskutiert werden. kriterium machen oder zumindest klar Sicherheit In Russland wiederum haben sich die benennen, welcher H2 zur Anwendung Erfahrungen mit dem Wandel der EU-Regu- kommen darf, um Sicherheit für potentielle Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin lierungen eingebrannt. Ist aber der politi- Investoren zu schaffen. Gut durchdachte Telefon +49 30 880 07-0 sche Wille vorhanden, nachhaltiger Energie Pilotprojekte sind in diesem frühen Stadi- Fax +49 30 880 07-100 Vorrang einzuräumen und gegenseitige um entscheidend. Außerdem ist die indu- www.swp-berlin.org Barrieren zu überwinden, ließen sich große strielle Dekarbonisierung in Russland ein swp@swp-berlin.org Projekte über die gesamte Wertschöpfungs- ungenutzter und vielversprechender Bereich ISSN (Print) 1611-6364 kette hinweg umsetzen, um Vertrauen wie- der bilateralen Zusammenarbeit, der weit- ISSN (Online) 2747-5018 derherzustellen. Die Bausteine sind offen- aus größere Aufmerksamkeit verdient. doi: 10.18449/2021A48 sichtlich. Es ist keine Frage der technischen Machbarkeit, sondern der wirtschaftlichen (Deutsche Übersetzung von und politischen Prioritätensetzung. Ein SWP Comment 34/2021) klimaneutrales Europa hat viel zu gewin- Yana Zabanova ist Gastwissenschaftlerin und Dr. Kirsten Westphal ist Leiterin des Projekts »Geopolitics of Hydrogen« in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt gefördert. SWP-Aktuell 48 Juni 2021 8
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