Widerfahrnis Bodo Kirchhoff
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Bodo Kirchhoff Widerfahrnis × × Reither, bis vor kurzem Verleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist ... Bodo Kirchhoff erzählt in seiner großartigen Novelle "Widerfahrnis" von der Möglichkeit einer Liebe sowie die Parabel von einem doppelten Sturz: in die Liebe, ohne ausreichend lieben zu können, und in das Mitmenschliche, ohne ausreichend gut zu sein. "Aber wo wären wir ohne etwas Selbstüberschätzung", sagt der Protagonist Reither, um sich Mut zu machen für den ersten Kuss mit Leonie Palm, "jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben." "Widerfahrnis" wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2016 ausgezeichnet. Genre: Drama Zeit: Gegenwart Hauptfigur(en): Reither und Leonie Palm Zielgruppe: für Erwachsene Themen: Fremdsein / Identität / Kammerspiel / Kunst / Liebe / Reise / Tod / Werteverlust Bodo Kirchhoff Widerfahrnis – 1/10
Stoff: Novelle Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt GmbH Erscheinungsdatum: 1. September 2016 ISBN: 978-3627002282 Fassungen: Theaterfassung von Christof Küster / 2D, 1H Adaptionsrechte: Bühne / Funk Presse Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung "Eines der schönsten Bücher des Herbstes: Bodo Kirchhoffs meisterhaft komponierte Novelle Widerfahrnis, ein poetologisches Kunststück." Auszeichnungen Deutscher Buchpreis 2016 Aus der Jurybegründung: "Bodo Kirchhoff erzählt vom unerhörten Aufbruch zweier Menschen, die kein Ziel, nur eine Richtung haben – den Süden. [...] Kirchhoff gelingt es, in einem dichten Erzählgeflecht die großen Motive seines literarischen Werks auf kleinem Raum zu verhandeln. Gleichzeitig erzählt er von unserer Gegenwart und davon, wie zwei melancholische Glückssucher den Menschen begegnen, die in der Jetztzeit den umgekehrten Weg von Süden nach Norden antreten. Kirchhoffs 'Widerfahrnis' ist ein vielschichtiger Text, der auf meisterhafte Weise existentielle Fragen des Privaten und des Politischen miteinander verwebt und den Leser ins Offene entlässt." 21st Century Best Foreign Novel of the Year Award in China 2017 Shortlist Europese Literatuurprijs 2018 Bodo Kirchhoff Widerfahrnis – 2/10
Premieren 25. April 2020 Altonaer Theater, Hamburg 1. November 2019 Studio Theater, Stuttgart Bodo Kirchhoff Widerfahrnis – 3/10
Autor Geboren 1948 in Hamburg; 1955 Umzug der Eltern in den Schwarzwald – ein Kulturschock. Ab 1959, nach Scheidung der Eltern, in einem christlichen Internat am Bodensee, auch ein Schock. Dort 1968 das Abitur gemacht, danach Ausbilder beim Militär und anschließend Eisverkäufer in Amerika. Ab 1971 Studium der Heilpädagogik in Frankfurt am Main; 1978 über Jaques Lacan und den Begriff des Widerstands promoviert. 1979 erste Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag, den Kirchhoff im Jahr 2001 aufgrund der dortigen Nachfolgesituation verlassen hat, seitdem Autor der © LAURA J. GERLACH Frankfurter Verlagsanstalt. Bodo Kirchhoff ist seit 1987 mit Ulrike Bauer verheiratet, die beiden haben zwei erwachsene Kinder und geben in ihrem Haus in Italien seit 2003 Schreibseminare. Auszeichnungen: Bodo Kirchhoff erhielt etliche Auszeichnungen, u. a. den Rheingau-Literaturpreis, den Preis der LiteraTour Nord, den Deutschen Kritikerpreis und die Carl Zuckmayer-Medaille für Verdienste um die deutsche Sprache. Für "Widerfahrnis" erhielt er den Deutschen Buchpreis 2016. Kontakt Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG Telefon: +49-30-313 90 28 Verlag für Bühne Film und Funk Telefax: +49-30-312 93 34 Hardenbergstraße 6 Internet: http://www.felix-bloch-erben.de 10623 Berlin E-Mail: stoffrechte@felix-bloch-erben.de Bodo Kirchhoff Widerfahrnis – 4/10
Stoffrechte Frankfurter Verlagsanstalt Bodo Kirchhoff / Widerfahrnis Für dieses Werk vertreten wir die Bearbeitungsrechte für Bühne und Hörspiel. Da wir leider kein Ansichtsmaterial verschicken können, bitten wir Sie, das Buch im Buchhandel zu erwerben und sich bei einem Aufführungsinteresse hinsichtlich der Rechte an uns zu wenden. Es ist möglich, in Rücksprache mit dem Verlag eine eigene Adaption dieses Buches zu erstellen. Das Buch ist bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen. Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Lektüre. Mit herzlichen Grüßen Ihr Felix Bloch Erben Verlag -1-
4 Am Tag und bei Sonne war das Weissachtal wie geschaf- fen, um nach Jahrzehnten in der Stadt die Augen noch einmal leuchten zu lassen – zu beiden Seiten der Straße Wiesen und Wald, darin eingebettet die Weissach, rau- schend über hellem Gestein, und der Anstieg zum Pass erst auf dem letzten Talstück in gestreckten Kurven; nachts aber ging es wie dem Ende der bewohnten Welt entgegen, es gab nur die Wagenlichter und ringsherum keine. Reither fuhr noch vorgebeugt, spähend durch ein freigewischtes Feld in der beschlagenen Scheibe, als aber Lüftung und Heizung auf Touren kamen, weit zurück- gelehnt und mit gestreckten Armen wie auf all seinen früheren Fahrten. Bis zum Achensee hinter der Passhöhe brauchte man sogar weniger als eine Stunde, wenn er sich richtig erinnerte, also wäre es das Verkehrteste, den Son- nenaufgang dort abzuwarten, zumal die Sonne erst über die Bergrücken steigen musste. Außerdem war es ein trostloser See, eingezwängt von Fels und Geröll und mit den sich andienernsten aller Familienhotels an der Ufer- straße, dazwischen ein paar Haltebuchten mit Kiosk. An einem dieser Plätze könnte man freilich das Tageslicht abwarten und hoffen, dass der Kiosk bald öffnet für den kleinen Braunen, wie es dort hieß; der See war nämlich schon ein Tiroler See und der Kiosk eine Trafik. Reither sah zur Seite, auf den Kragen seiner Leder- 45
jacke mit dem so fremden Haar und fremden Ohr dar- über. Falls wir das mit dem Achensee machen, wäre das bereits ein Sonnenaufgang im Ausland, sagte er, und von der Beifahrerin kam nur ein zustimmender Laut, so träumerisch leise zustimmend, dass er nichts als weiter- fahren konnte, als hätte man damit schon besprochen, was nach dem Sonnenaufgang käme, oder wäre sich we- nigstens einig, dass man im Begriff war, ins Blaue zu fahren, auch wenn noch tiefes Dunkel herrschte. Eigent- lich liebte er solche Nachtfahrten, wenn es nach Süden ging, Stunde um Stunde, und er für sich war, rauchte und Musik hörte und dabei der Wärme und dem Licht näher kam, aber es hatte auch Fahrten zu zweit gegeben, beide eingehüllt in den Rauch, die Musik und die Dunkelheit ringsherum, Christine und er, und irgendwann ein Stopp an einer Nebenstraße, man riecht schon das nahe Meer, aber auch, was es angeschwemmt hat, man leert den Aschenbecher, ist schon barfuß, geht dann auf den Rück- sitz, warum nicht, und auch dieses Tun dort hat etwas Gestrandetes. Österreich, da ist das Benzin billiger, sagte die Palm auf einmal, ein Köder, was ihm, dem Fahrer, erst klar wurde, als er darauf einging: Ja, richtig, wollen wir dort tanken? Er nahm etwas Gas weg, als könnte das den Gang der Dinge noch aufhalten. Und dann fahren wir, nachdem wir getankt haben, am besten gleich noch etwas weiter, sagte seine Mitreisende, oder was war sie sonst, wenn sie noch etwas weiter wollte, über den Achensee hinaus, das hieß, hinunter ins Inntal, wo das Ganze ja längst kein Ausflug mehr wäre. Wir fahren einfach, bis die Sonne irgendwo aufgeht, dann frühstücken wir. 46
Die Frontscheibe beschlug, und Reither ließ sein Fens- ter ein Stück herunter; die verwaiste Grenzstation tauchte schon auf, und bald käme der trostlose See, das wusste er von seiner einzigen Fahrt auf dieser Strecke, im vergange- nen Sommer, nach Besichtigung der Wallberg-Apart- ments. Sonst hatte er immer die Schweizroute gewählt, um in den Süden zu fahren, über das Engadin, auch bei der letzten Reise mit Christine; sie wollten nach Sizilien, aber kamen nur bis Reggio an der Meerenge, dort fiel die Entscheidung gegen das Kind, ein am Anfang fast ver- nünftiges Gespräch bei einer Flasche Wein in einem Stra- ßenlokal. Das mit dem Kind, schau, das macht doch für uns keinen Sinn, hatte er beim Nachschenken gesagt, und Christine trank und schüttelte den Kopf, was aber ein Ja war in dem Moment, ja, es hat keinen Sinn, jeder geht seiner Sache nach, wo soll da ein Kind auch bleiben, und noch mit dem Weinglas am Mund sprach sie es aus, gut, dann eben nicht, es ist wohl besser so, besser für uns beide, und er sagte, ja, du kannst am Theater bleiben, kannst dort weiter komplexe Tränen vergießen – das waren ihre eige- nen Worte für Bühnentränen, er hatte sie nur wiederholt: ohne ein Kind, das dich jede Nacht dreimal weckt, kannst du weiter komplexe Tränen vergießen, und sie war dann einfach vom Tisch aufgestanden und davongegangen, und er war zu erschöpft oder zu feige, ihr nachzueilen. Er trank den Wein aus, während sie zum Bahnhof lief, wo- hin sonst, um mit dem Zug nach Hause zu fahren. Reither schloss sein Fenster, die Frontscheibe war frei. Und dann sah man schon den Achensee, dunkel und glatt, das Ufer mit der Straße hastig bebaut, das gegenüber- liegende dagegen öde, mit schottrigen Ausläufern von 47
Moränen; es war ein länglicher See, nur in der Mitte ge- krümmt, etwas unglücklich Eingezwängtes ging von ihm aus, selbst nachts, und immer wieder gab es seitlich der Straße kleinere Parkplätze mit Ausblick, er entschied sich für einen ohne Kiosk, nur eine Haltebucht mit Geländer über steil abfallendem Wald bis zum Ufer. Zigaretten- pause, sagte er und stieg aus. Der Platz war von Schnee geräumt, an den Seiten lagen schwärzliche Haufen mit Glitzerresten. Reither ging an das Geländer, er wartete, bis seine Beifahrerin oder Mitreisende neben ihn trat, er hielt ihr das Päckchen hin, ein frisches, und sie bediente sich, er gab ihr Feuer, sie schützte die Flamme und auch gleich seine immer noch kalte Hand, ihre dagegen war warm. Jetzt stehen wir hier also, sagte er. Und schauen auf den Achensee. Statt zu schlafen. Sind Sie müde, soll ich lieber fahren? Die Palm wollte seine Jacke schließen, nur fehlte seit Jahren das kleine Anhängerteil am Reißverschlussschieber, man musste ihn zwischen die Finger nehmen, und er zeigte es ihr. So geht das, sagte er, und sie sagte, Gut. Gut, dann fahre ich jetzt, Sie schlafen etwas, oder was meinen Sie? Meinen Sie wieder, dass wir zu viel reden? Sie zog an der Ziga- rette, in den Augen einen Schimmer von der Glut. Und wie das aussähe in einem Buch, der Dialog untereinan- dergeschrieben, von einem, der nur zu bequem ist, die Umstände zu erzählen? Zwei mitten in der Nacht an einem See, an dem selbst Leute zu bedauern sind, die hier im Sommer Urlaub machen, ein Mann und eine Frau, der grüblerische Mann im Pullover, die nicht ganz so grüble- rische Frau in einer Lederjacke mit fehlendem Reißver- schlussanhänger, Punkt. 48
Ich fahre noch zu einer Tankstelle kurz vor der Auto- bahn, sagte Reither, dann fahren Sie. Man bekommt dort auch die Mautplakette, für zehn Tage, für zwei Monate, für ein Jahr, je nachdem. Was denken Sie, brauchen wir eine? Er trat seine Zigarette aus und ging zum Wagen zu- rück. Entweder kaufen wir keine, weil wir gar nicht erst auf die Autobahn fahren, oder wir kaufen die für ein Jahr, was ja nicht heißt, dass man ein ganzes Jahr wegbleiben muss. Man kann auch dreihundertvierundsechzig Tage verfallen lassen, niemand würde einem das übelnehmen. Also, was schlagen Sie vor, Leonie? Er drehte den Zünd- schlüssel herum, der Motor sprang ohne weiteres an; er legte den Gang ein und fuhr wieder auf der Straße, ein Fahren mit einer Hand, weil kein Auto entgegenkam, die freie Hand lag auf dem Schaltknüppel wie eh und je. Und eigentlich brauchte er keine Ablösung, das Fahren durch die Nacht hatte die Lebensgeister geweckt, ein Wort, das man belächeln konnte – was sind schon Lebensgeister heutzutage –, und dennoch ließen ihn die Serpentinen hinunter ins Inntal in Melodiefetzen atmen, wie es seine Mutter getan hatte, wenn es ihr gut ging, dann waren es Fetzen aus der Zauberflöte oder Fledermaus, und wenn es ihr nicht gut ging, waren es stille Schlager, Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt, bin ich mit mei- ner Sehnsucht allein, das hatte ihr Atem noch auf dem Sterbebett hingelegt. Auch die Serpentinen fuhr er mit einer Hand, und die Palm hob nur eine Braue, das konnte er sehen in jeder Spitzkehre. Wir sollten diese Plakette kaufen, sagte sie. Ich zahle das und auch das Benzin, wir rechnen dann später alles ab, falls Sie darauf Wert legen. 49 Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
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