Wie der mensch das system Erde verändert - die biophysikalischen leitplanken für nachhaltige Entwicklung - Biologie in ...

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Wie der mensch das system Erde verändert - die biophysikalischen leitplanken für nachhaltige Entwicklung - Biologie in ...
DOI:10.11576/­biuz-4105

                          Die biophysikalischen Leitplanken für nachhaltige
                          Entwicklung

                          Wie der Mensch das
                          System Erde verändert
                          H annes P etrischak

Das rapide Wachstum der Weltbevölkerung und                                                         Abb. 1 Blick auf die Erde, aufgenommen
                                                                                                       von der Apollo-17-Crew auf dem Weg
vor allem das Wirtschaftswachstum mit                                                                     zum Mond am 7.12.1972. Der Blick
­hohem Ressourcen- und Flächenver-                                                                          aus den Apollo-Raumschiffen auf
                                                                                                              die Erde hat die frühe Umwelt­
 brauch sowie der damit einhergehen-                                                                            bewegung der 1970er Jahre
                                                                                                                 maßgeblich beeinflusst und
 den zunehmenden Belastung und                                                                                    das Engagement vieler Men­
 Zerstörung der Ökosysteme führen                                                                                  schen für den Erhalt der
                                                                                                                   Lebensgrundlagen auf unse­
 uns aktuell mehr denn je die Be-                                                                                   rem Planeten angetrieben.
 grenztheit unseres Planeten (Abbil-                                                                                Foto: NASA.

 dung 1) vor Augen. Unsere Konsum-
 und Produktionsmuster bewirken
 tagtäglich milliardenfache Eingriffe in                                                                         Die Erde als System
                                                                                                                 Die starke Vernetzung hat zur
 das System Erde, und zwar oft an Or-                                                                           Folge, dass es kein einfaches
 ten, die von unserem Alltag scheinbar                                                                       Ursache-Wirkungs-Prinzip gibt. Da-
 weit entfernt sind. Wir verändern damit                                                                   durch entzieht sich das Problem ein-
                                                                                                       fachen Lösungen: Wenn man glaubt, den
 unseren Planeten – mit gravierenden Auswir-                                                     richtigen Hebel gefunden zu haben, treten
 kungen auf die Lebensgrundlagen der heute und in                                    meist neue, unerwünschte Nebenwirkungen auf. Nach-
 Zukunft lebenden Menschen.                                                          haltige Entwicklung setzt daher in besonderer Weise vor-
                                                                                     ausschauendes und vernetztes Denken und Handeln vor-
                                                                                     aus. Dabei gilt es, vor allem die folgenden Eigenschaften
                                                                                     komplexer Systeme im Blick zu behalten [2]:

                          W      ir müssen uns mit den Funktionsweisen des Sys-
                                 tems Erde auseinandersetzen, um die Auswirkun-
                          gen unseres Handelns wirklich einordnen und damit die
                                                                                     –– Starke, nicht lineare Interaktionen, die bewirken, dass
                                                                                         ein Input nicht immer zu einem proportionalen Out-
                                                                                         put führt: Kleine Ursachen können große Wirkungen
                          richtigen Ansatzpunkte für die Transformation in Rich-         erzielen. Im Laufe der Zeit können Stauungen, Sätti-
                          tung Nachhaltigkeit finden zu können. Die komplexen            gungen oder Beschleunigungen auftreten, so dass die
                          Verknüpfungen der Komponenten im System Erde sor-              Wirkung nicht immer gleich bleibt.
                          gen dafür, dass Eingriffe in das System nicht nur Verän-   –– Positive Rückkopplungen können die Wirkung einer
                          derungen in einem bestimmten Teilaspekt zur Folge ha-          Handlung durch die Rückwirkung, die sie auslöst, wei-
                          ben, sondern dass es immer Wechselwirkungen mit an-            ter steigern.
                          deren Teilen des Systems gibt: Klimawandel, Verlust        –– Zeitliche und räumliche Verzögerungen sind beson-
                          biologischer Vielfalt, Wassermangel, Bodendegradation          ders tückisch, da Folgen unseres Handelns erst spät er-
                          und die Anreicherung von Schadstoffen sind Umweltver-          kannt werden und Gegenmaßnahmen erst mit starker
                          änderungen, die sich gegenseitig zum Teil erheblich ver-       Verzögerung greifen.
                          stärken, so dass die Gesamtwirkung globaler Umweltver-     –– Bestimmte Prozesse können schlagartig ein verändertes
                          änderungen größer ist als die Summe der Einzelwirkun-          Verhalten des Systems nach sich ziehen, wenn eine
                          gen [1].                                                       gewisse Grenze überschritten wurde. Ein System kann

                                                             Online-Ausgabe unter:                          © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit
30   Biol. Unserer Zeit    1/2021 (51)	
                                       www.biuz.de veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz
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Globaler Wandel                  |   Im Fokus

    dann zusammenbrechen oder in einen anderen Zu-              Arten (Biodiversitätsverlust). Die planetaren Grenzen sind
    stand wechseln und seine ursprünglichen Funktionen          zwar auf einzelne Prozesse mit entsprechenden Indikato-
    nicht mehr aufrechterhalten. Manchmal scheint das           ren bezogen, aber trotzdem miteinander verbunden:
    System vor Erreichen des Schwellenwerts nicht auf die       Wenn eine Sicherheitsgrenze überschritten ist, geraten
    treibende Kraft zu reagieren, die letztlich zur abrup-      andere Erdsystemprozesse unter verstärkten Druck. So
    ten Veränderung führt. Dadurch können gravierende,          kann die Vernichtung des Amazonas-Regenwaldes die
    irreversible Veränderungen plötzlich und unvorherge-        Wasserressourcen in Tibet beeinflussen. Anthropogene
    sehen auftreten.                                            Veränderungen in einem Teilsystem haben aufgrund der
                                                                vielfältigen Wechselbeziehungen (beispielsweise zwi-
Prototypisches Beispiel eines komplexen Systems ist übri-       schen Biodiversität, Landnutzung und Klimawandel) also
gens die lebende Zelle, in der all diese beschriebenen Ef-      sehr oft auch negativen Einfluss auf andere Bereiche. In
fekte in vielfältiger Form auftreten. Die Gefahr bei den        drei Bereichen wurde bereits die Überschreitung des
hier genannten Prozessen liegt darin, dass das System Erde      ­„sicheren Handlungsraums“ durch die Menschheit festge-
einen neuen Zustand einnimmt, der auch für menschliche           stellt: Der fortschreitende Klimawandel, die Vernichtung
Gesellschaften existenzbedrohend sein kann. Aus einem            von Biodiversität und der massive Stickstoffeintrag gefähr-
systemischen Verständnis heraus ergibt sich unmittelbar          den eindeutig wesentliche Erdsystemfunktionen.
ein zentraler Grundsatz nachhaltiger Entwicklung, nämlich            Im Januar 2015 legte ein 18-köpfiges Autorenteam um
das Handeln nach dem Vorsorgeprinzip. Zudem können              Will Steffen eine Aktualisierung des Konzepts vor [4]. Die
wir nicht davon ausgehen, dass die Menschheit bereits           Autoren zeigen hierin auf, dass auch die Summe kleinräu-
alle wesentlichen Prozesse und Parameter kennt.                 miger Veränderungen (beispielsweise in der Landnutzung)
                                                                dazu führen kann, dass sich der globale Zustand verändert.
    Planetare Grenzen                                           Regionale Veränderungen können die Resilienz – gemeint
Im Jahr 2009 veröffentlichten Johan Rockström und 27 wei-       ist hier das Erhalten der seit Jahrtausenden bestehenden
tere Autoren das Konzept der „Planetary Boundaries“ [3].        lebensfreundlichen Bedingungen für die Menschheit – des
Dieser Studie liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die mensch-   Systems Erde im Zusammenspiel mit anderen Prozessen
liche Zivilisation sich während der letzten 10.000 Jahre        wie dem Klimawandel erheblich schwächen, etwa wenn
unter relativ stabilen Rahmenbedingungen entwickeln             dadurch CO2-Senken verloren gehen oder Ökosysteme
konnte, zumal die anthropogenen Änderungen relativ               durch Artenverluste geschwächt werden. Daraus folgt au-
klein und die Pufferkapazitäten sehr groß waren. Die der-        ßerdem, dass man bereits unterhalb des globalen Maß-
zeitigen Aktivitäten der Menschheit beeinflussen das Sys-        stabs Sicherheitsgrenzen definieren muss, die nicht über-
tem Erde jedoch so massiv, dass dadurch irreversible und         schritten werden sollten, weil bestimmte Regionen bedeut-
in einigen Fällen sehr plötzliche Veränderungen ausgelöst        sam für die Aufrechterhaltung von Erdsystemfunktionen
werden können, die erhebliche Verschlechterungen der             sind. Vorrangig werden genannt:
(Über-)Lebensbedingungen für große Teile der Mensch-             –– die Intaktheit der Biosphäre in großen Land-, Meeres-
heit bedeuten würden. Basierend auf den Erkenntnissen                und Süßwasserökosystemen
der Erdsystemforschung skizziert das Autorenteam neun
Bereiche im System Erde, bei denen das Überschreiten
bestimmter Schwellenwerte solche gravierenden Verän-
derungen der Umweltbedingungen nach sich zöge:                    I n K ü rze
–– Klimawandel
–– Ozeanversauerung                                               – Die Komplexität des Systems Erde bewirkt, dass durch den Menschen ausgelöste
–– Ozonabbau in der Stratosphäre                                    Umweltveränderungen durch zahlreiche Wechselwirkungen, Rückkopplungen,
–– biogeochemische Stoffflüsse (Stickstoff- und                     zeitliche Verzögerungen und Schwellenwerte oft unerwünschte und teilweise
                                                                    nicht vorhersehbare Auswirkungen haben.
    ­Phosphorkreislauf)
                                                                  – Das Konzept der planetaren Grenzen veranschaulicht, dass die Menschheit
–– globaler Süßwasserverbrauch                                      durch den Verlust von Biodiversität, den Klimawandel sowie die Umgestaltung
–– Wandel der Landnutzung                                           der Nährstoffkreisläufe und der Landnutzung einen sicheren Handlungsraum
–– Biodiversitätsverlust                                            bereits verlassen hat.
–– Aerosolgehalt in der Atmosphäre                                – Zahlreiche Kippelemente können bei weiterer Temperaturerhöhung selbstver­
                                                                    stärkende Prozesse auslösen, die unweigerlich zu einer Forcierung des Klima-
–– Belastung mit Chemikalien.
                                                                    wandels führen.
                                                                  – Die gegenwärtige Vernichtung von Arten, Populationen und Lebensräumen
Um einen „sicheren Handlungsraum für die Menschheit“                verläuft auf dem Pfad des sechsten Massenaussterbens der Erdgeschichte und
(safe operating space for humanity) festzulegen, wurden             schwächt die Funktionalität der Ökosysteme erheblich.
bestimmte Indikatoren identifiziert, deren Werte sicher           – Nachhaltige Entwicklung im Sinne der Sicherung der Lebensgrundlagen für die
                                                                    Menschheit bedingt vorsorgendes und vorausschauendes Denken und Han­
unterhalb gefährlicher Schwellenwerte liegen sollten. Sol-
                                                                    deln und ist nur innerhalb der biophysikalischen Leitplanken des Systems Erde
che Indikatoren sind unter anderem der CO2-Gehalt in der            möglich.
Atmosphäre (Klimawandel) oder die Aussterberate von

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Wie der mensch das system Erde verändert - die biophysikalischen leitplanken für nachhaltige Entwicklung - Biologie in ...
Abb. 2     Die planetaren G renzen nach S teffen et al. ( 2015)                      –– Veränderungen der Landnutzung in waldreichen
                                                                                        Großregionen
                                                                                     –– Süßwassernutzung in den Hauptflusssystemen der Erde
                                                                                     –– Eingriffe in Phosphor- und Stickstoffkreisläufe insbe-
                                                                                        sondere in den landwirtschaftlich intensiv genutzten
                                                                                        Gebieten.

                                                                                      Die planetaren Grenzen werden folgendermaßen darge-
                                                                                      stellt: Sie umschließen den Sicherheitsbereich (safe ope-
                                                                                      rating space), innerhalb dessen das Risiko für bedrohliche
                                                                                      Veränderungen als vertretbar angesehen wird (Abbil-
                                                                                      dung 2). Außerhalb dieser Grenzen folgt ein Unsicher-
                                                                                      heitsbereich, der durch die Begrenztheit des derzeitigen
                                                                                      Wissensstandes und die Unwägbarkeiten der Systempro-
                                                                                      zesse und ihrer Wechselwirkungen gekennzeichnet ist. In
                                                                                      diesem Bereich wächst also das Risiko, dass wichtige Erd-
                                                                                      systemfunktionen untergraben werden. Weiter außen
                                                                                      liegt die Hochrisikozone, die unverantwortliches Handeln
                                                                                      widerspiegelt und bei deren Erreichen mit hoher Wahr-
                                                                                      scheinlichkeit kritische Schwellenwerte irreversibel über-
                                                                                      schritten sind. Das Ergebnis zeigt, dass die Menschheit
                                                                                      sich in vier Bereichen bereits außerhalb des sicheren
Auf den sicheren Handlungsraum (grün, innen) folgen außen die Unsicher­               Handlungsraums bewegt: Klimawandel und Landnutzung
heitszone (gelb) und schließlich die Hochrisikozone (rot). Die Sicherheitsgrenze      finden in der Unsicherheitszone statt, die Vernichtung von
wird durch den dickeren Kreis innen markiert. Grau gekennzeichnet sind die­
                                                                                      Biodiversität und die Änderung der Stickstoff- und Phos-
jenigen Prozesse, für die globale Sicherheitsgrenzen noch nicht quantitativ
definiert werden können. Abb. aus [4].                                                phorkreisläufe bewegen sich deutlich in der Hochrisiko-
                                                                                      zone (Abbildung 2).
                                                                                          Am Beispiel der Ozeanversauerung sei hier die Anwen-
                                                                                      dung von Indikatoren für die Einschätzung der aktuellen
Abb. 3  Interaktionen zwischen der V erä nderung der
                                                                                      Situation der Erdsystemprozesse erläutert: Etwa ein Viertel
         Biosphä renintaktheit und den anderen E rds y stem­
                                                                                      der anthropogenen CO2-Emissionen wird von den Ozea-
         prozessen
                                                                                      nen aufgenommen und verändert die Chemie des Ozean-
                                                                                      wassers. Durch die verstärkte Bildung von Kohlensäure
                                                                                      verringert sich der pH-Wert des oberflächennahen Was-
                                                                                      sers. Die Konzentration freier H+-Ionen im oberflächen-
                                                                                      nahen Ozeanwasser ist in den vergangenen 200 Jahren um
                                                                                      30 Prozent gestiegen. In der Folge löst sich Aragonit, Bau-
                                                                                      material für Schalen und Skelette vieler mariner Organis-
                                                                                      men, zunehmend im Ozeanwasser. Der Aragonit-Sätti-
                                                                                      gungsgrad sollte 80 Prozent gegenüber dem vorindustriel-
                                                                                      len Wert nicht unterschreiten. Zum Zeitpunkt der Analyse
                                                                                      lag er bei 84 Prozent. Bei Einhalten der Sicherheitsgrenze
                                                                                      für den Klimawandel (350 ppm CO2) bliebe die Ozeanver-
                                                                                      sauerung innerhalb des Sicherheitsbereiches. Bei steigen-
                                                                                      den CO2-Konzentrationen gerät die Ozeanversauerung
                                                                                      jedoch ebenso wie der Klimawandel schnell deutlich in
                                                                                      den Hochrisikobereich. Hier ist anzumerken, dass die
                                                                                     ­atmosphärische CO2-Konzentration inzwischen über
                                                                                      410 ppm liegt. Die Folge ist eine erhebliche Verschlech-
                                                                                      terung der Lebensbedingungen für zahlreiche Meeres­
                                                                                      organismen (unter anderem Plankton und Korallen) mit
                                                                                      drastischen Auswirkungen auf die Strukturen mariner
In allen Fällen zeigen die Pfeile positive Rückkopplungen an, d. h. jeder Prozess,
                                                                                      Ökosysteme. Alle Erdsystemprozesse sind integrierte Teile
der aus dem Sicherheitsbereich gelangt, treibt auch andere Prozesse in Rich­
tung Risikobereich. Dicke Pfeile stehen für starke, unmittelbare Effekte, dünne       eines komplexen Systems mit wechselseitigen Beeinflus-
Pfeile für schwächere Wechselwirkungen und gestrichelte Pfeile für schwache           sungen (Abbildung 3). Diese Wechselwirkungen systema-
oder unsichere und komplexe Effekte. Quelle: [4], Supplementary Materials.            tisch und quantitativ zu erfassen, entzieht sich weitge-

                                                                                                                © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit
32   Biol. Unserer Zeit   1/2021 (51)                          www.biuz.de                     veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz
Wie der mensch das system Erde verändert - die biophysikalischen leitplanken für nachhaltige Entwicklung - Biologie in ...
Globaler Wandel                  |   Im Fokus

hend dem aktuellen Forschungsstand, aber das Erdsystem         chanismus wird als Eis-Albedo-Rückkopplung beschrie-
agiert in einem klar definierten Status, innerhalb dessen      ben. Am Beispiel des Verlustes des Grönlandeises lässt
die Prozesse und ihre Wechselwirkungen verstärkende            sich die Wirkung von Kippelementen verdeutlichen: Der
oder schwächende Rückkopplungen auslösen. Deshalb              Eisverlust in Grönland hat durch ins Meer fließende Glet-
müssen für eine nachhaltige Entwicklung stets verschie-        scher und verstärktes Abschmelzen im Sommer stark zu-
dene interagierende Umweltprozesse gemeinsam betrach-          genommen. Der stellenweise drei Kilometer starke Eis-
tet werden.                                                    schild verliert an Höhe, und seine Oberfläche gerät in
                                                               niedrigere, wärmere Luftschichten. Das verstärkt das Ab-
    Kippelemente                                               schmelzen, das letztlich einen Meeresspiegelanstieg von
In einem System bezeichnet der Begriff „Kipppunkt“ eine        sieben Metern verursachen kann [6]. Zu den wichtigsten
kritische Grenze, an der eine kleine Störung den Zustand       Kippelementen im System Erde (Abbildung 4) zählen:
des Systems gravierend verändern kann. Auch im System          –– Schmelzen des arktischen Meereises
Erde gibt es Kippelemente, also wesentliche Komponen-          –– Verlust des Grönlandeises
ten des Systems (Subsysteme von überregionaler Größe),         –– Auftauen von Dauerfrostböden (mit Freisetzung von
die Kipppunkte aufweisen, deren Überschreiten eine qua-            Methan und CO2)
litative Veränderung nach sich zieht [5]. Dies hat oft Aus-    –– Methanausgasung aus den Ozeanen
wirkungen auf das Gesamtsystem bzw. auf die Lebens­            –– Abschwächung der „Atlantischen Thermohalinen Zir-
bedingungen großer Teile der Menschheit. Menschliche               kulation“
Eingriffe in das System können selbstverstärkende Pro-         –– Destabilisierung des indischen Monsuns
zesse auslösen, die oft zu einem sprunghaften, unumkehr-       –– Störung des El Niño-Phänomens
baren Überschreiten eines Kipppunktes führen. Eine aus-        –– Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes
führliche Darstellung dieser „Achillesfersen im Erdsystem“     –– Abschwächung der marinen Kohlenstoffpumpe
findet sich auf der Internetseite des Potsdam-Instituts für    –– Zerstörung von Korallenriffen.
Klimafolgenforschung (PIK) [6].
     Schmelzende Eismassen liefern ein Paradebeispiel für         Das Anthropozän
einen positiven Rückkopplungseffekt: Das leuchtend wei-        Zu Beginn unseres noch jungen Jahrtausends kam ein Be-
ße Eis hat eine kühlende Rückstrahlwirkung, während die        griff in die Welt, der bereits eine beeindruckende Karri-
dunkleren Oberflächen des frei werdenden Gesteins oder         ere hinter sich hat: Das Anthropozän. Er macht in neuer
des Meeres mehr Sonnenwärme aufnehmen und dadurch              Dimension sehr nachdenklich über den Einfluss des Men-
das weitere Abtauen des Eises beschleunigen. Dieser Me-        schen auf den Planeten Erde und die damit verbundenen

Abb. 4       Kippelemente im Erds ystem

                                                                                                                              Die wichtigsten
                                                                                                                              Kippelemente im
                                                                                                                              Erdsystem lassen
                                                                                                                              sich in drei Klassen
                                                                                                                              einteilen: schmel­
                                                                                                                              zende Eiskörper,
                                                                                                                              sich ver­ändernde
                                                                                                                              Strömungssysteme
                                                                                                                              von Ozeanen und
                                                                                                                              Atmosphäre und
                                                                                                                              bedrohte, über­
                                                                                                                              regional bedeut­
                                                                                                                              same Ökosysteme.
                                                                                                                              Quelle: PIK [6].

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Wie der mensch das system Erde verändert - die biophysikalischen leitplanken für nachhaltige Entwicklung - Biologie in ...
Folgen, wird von Vertretern unterschiedlicher Wissen-           asche) als Folgeprodukte der Verbrennung fossiler Ener-
                          schaftsdisziplinen äußerst kontrovers diskutiert und ist        gieträger verteilt. Außerdem sind starke anthropogene
                          dabei auch zum Leitthema ganzer Tagungen und sogar              Sedimentflüsse zu registrieren, etwa durch Erosion in Folge
                          großer Kunstprojekte geworden. Das Anthropozän um-              von Entwaldung. Geochemisch ist die Anreicherung poly­
                          schreibt eine neue erdgeschichtliche Epoche, das Zeitalter      aromatischer Kohlenwasserstoffe (z. B. PCB) und von Pes-
                          des Menschen. Bislang wird die gegenwärtige Epoche –            tizidrückständen belegbar, aber auch von Industriemetal-
                          die rund 12.000 Jahre seit dem Ende der jüngsten Eiszeit –      len und Seltenen Erden. Auch die Verdoppelung des Ein-
                          als Holozän bezeichnet. Aus der Erkenntnis heraus, dass         trags von Stickstoff und Phosphor im zurückliegenden
                          mittlerweile der Mensch die stärkste gestaltende Kraft im       Jahrhundert lässt sich in Seesedimenten und im grön­
                          System Erde ist, verhalf der niederländische Meteorologe        ländischen Eis nachweisen. Die Atomwaffentests in der
                          und Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen dem Kon-            2. Hälfte des 20. Jahrhunderts haben ebenfalls ihre Spuren
                          zept des „Anthropozän“ zum Durchbruch. Crutzen zählt            (Radionuklide) hinterlassen. Die Erderwärmung in Höhe
                          in seiner sehr häufig zitierten kurzen Vorstellung des An-      von knapp 1 °C seit 1900 überschreitet die Bandbreite des
                          thropozänkonzepts aus dem Jahr 2002 eine Auswahl von            Holozäns während der letzten 14.000 Jahre; ähnlich ver-
                          Belegen für die gravierenden Veränderungen des Systems          hält es sich mit dem Anstieg des Meeresspiegels um durch-
                          Erde durch den Menschen auf [7], unter anderem:                 schnittlich rund 3,2 mm pro Jahr. Seit dem Jahr 1500 lie-
                          –– 30–50 Prozent der Landfläche sind von der Mensch-            gen die Aussterberaten von Arten deutlich über den na­
                              heit umgestaltet worden.                                    türlichen „Hintergrundraten“, ab dem 19. Jahrhundert
                          –– Die tropischen Regenwälder und mit ihnen unzählige           stiegen sie weiter deutlich an; außerdem ist der weltweite
                              Arten werden rasant vernichtet, was zum Anstieg des         Austausch von Arten durch entsprechende biologische
                              CO2-Gehalts in der Atmosphäre beiträgt.                     Invasionen und die Nutztierhaltung ohne Vorbild in der
                          –– Flusssysteme werden unter anderem durch Staudäm-             Erdgeschichte. Waters et al. (2016) verzeichnen unüberseh-
                              me umgestaltet, und mehr als die Hälfte des verfüg-         bare geologische Auswirkungen der menschlichen Einflüs-
                              baren Süßwassers wird genutzt.                              se in vielen Bereichen seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie
                          –– Durch Düngemittel wird in der Landwirtschaft mehr            lassen hier mit der „Großen Beschleunigung“ das eigent-
                              Stickstoff eingebracht, als natürlicherweise in allen       liche Anthropozän beginnen, allerdings mit Vorläufern in
                              terrestrischen Ökosystemen fixiert wird.                    der Ausbreitung von Landwirtschaft und Entwaldungen,
                          –– Die Verbrennung von fossilen Energieträgern und die          dem Austausch von Arten seit der Entdeckung Amerikas
                              Landwirtschaft haben zu einer gravierenden Zunahme          und der Industriellen Revolution seit etwa 1800.
                              der Konzentrationen von Treibhausgasen in der At-
                              mosphäre geführt: Der Kohlendioxidgehalt ist (zum              Die Große Beschleunigung
                              Zeitpunkt der Veröffentlichung) um 30 Prozent und           Die „Große Beschleunigung“ setzte unmittelbar nach dem
                              der Methangehalt um mehr als 100 Prozent gestiegen.         Zweiten Weltkrieg etwa um das Jahr 1950 herum ein [9].
                              Damit sind alle Werte der letzten 400.000 Jahre nach-       Statistiken zu den unterschiedlichsten Themenfeldern be-
                              weislich übertroffen, und die Konzentrationen steigen       legen eindrucksvoll die rapide Vervielfachung der wirt-
                              weiter an.                                                  schaftlichen Aktivitäten und des Konsums – zum Beispiel
                                                                                          steigen der Papierverbrauch, der internationale Tourismus
                          Die Umgestaltung der Landfläche der Erde, die Verände-          oder der Wasserverbrauch seither exponentiell an, zu-
                          rung der Atmosphäre und die Eingriffe in die Ozeane be-         nächst ganz wesentlich getrieben durch die wirtschaftli-
                          schleunigen sich mit der wachsenden Zahl der Menschen           chen Aktivitäten in den westlichen Industrieländern. Par-
                          und mit der wachsenden Ressourcenintensität ihres Le-           allel dazu lassen sich die Veränderungen im System Erde
                          bensstils. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich in     belegen. So zeigen die Konzentrationen der Treibhausgase
                          der Luft, die im polaren Eis eingeschlossen ist, ein globaler   CO2, Lachgas und Methan, die Überfischung der Meere
                          Anstieg der Treibhausgase belegen. So könnte man diesen         oder der Verlust tropischer Wälder ähnliche „Wachstums-
                          Zeitpunkt als Beginn des Anthropozäns festlegen. Waters         raten“.
                          et al. (2016) stellen eine Reihe von Belegen dafür zusam-           Alle sozialen und wirtschaftlichen Prozesse sind mit
                          men, dass die Menschheit mit zunehmender Geschwindig-           anderen Teilen des Erdsystems wie dem Klima und den
                          keit die Erde verändert, und zwar mit signifikanten Aus-        Ozeanen gekoppelt. Insofern kann man im globalen Maß-
                          wirkungen auf langfristige geologische Prozesse [8]. Ent-       stab durchaus von einem sozial-ökologisch-geophysika­
                          scheidend für die Beurteilung, ob eine neue geologische         lischen System sprechen. Die Konsequenz daraus lautet,
                          Epoche nach dem Holozän begonnen hat, ist die stratigra-        dass sich im globalen Maßstab die sozialen und ökonomi-
                          fische Nachweisbarkeit in Sedimenten und im Eis mit             schen Prozesse – die sich unter anderem im globalisierten
                          deutlichen Unterschieden zum Holozän. Zu den anthro-            Handel, in der Finanzwelt und in der weltweiten Kommu-
                          pogenen Ablagerungen zählen „Technofossilien“ wie ele-          nikation manifestieren – signifikant auf andere Teile des
                          mentares Aluminium, Beton oder Plastik. Weltweit sind           Systems wie die Atmosphäre und die Biosphäre auswir-
                          außerdem verschiedenartige Kohlenstoffpartikel (Flug-           ken. Daraus lässt sich unmittelbar die Erkenntnis ableiten,

                                                                                                                     © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit
34   Biol. Unserer Zeit     1/2021 (51)                             www.biuz.de                     veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz
Wie der mensch das system Erde verändert - die biophysikalischen leitplanken für nachhaltige Entwicklung - Biologie in ...
Globaler Wandel                    |   Im Fokus

dass die Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen          A bb. 5    Mögliche Z ukunftspfade des irdischen K limas
auf der Erde nur erhalten bleiben können, wenn die
Menschheit sich aktiv und verantwortungsbewusst dafür
einsetzt [9].

    Negative Megatrends: Klimawandel und
    Biodiversitätsverluste
 Es ist von größter Bedeutung, dass die globale Erwärmung
 gestoppt wird, weil sie – bezogen auf die Zeiträume, die
 für die Zukunft der nachfolgenden Generationen von Be-
 deutung sind – irreversibel ist. Für mindestens 1.000 Jahre
 bleibt eine einmal erreichte Temperaturerhöhung nahezu
 unverändert bestehen, selbst wenn keine weiteren CO2-
 Emissionen mehr erfolgen [10].
     Ein in ferne Zukunft reichender Prozess, der durch
 den Temperaturanstieg ausgelöst wird, ist die Erhöhung
 des Meeresspiegels. Die Ergebnisse der Berechnungen ver-
 schiedener Wissenschaftlerteams ergeben, dass ein Mee-
 resspiegelanstieg von deutlich über einem Meter bis zum
 Jahr 2100 wahrscheinlich ist. Mit diesem Wert kalkulieren
 inzwischen Küstenschützer. Danach wird sich der Anstieg
 jedoch unausweichlich fortsetzen, denn die Wärme dringt
 nur sehr langsam von der Oberfläche der Ozeane in die
 Tiefsee vor. Die dadurch bedingte Ausdehnung des Meer-
 wassers ist neben dem Abschmelzen des Festlandeises ein
 wesent­licher Faktor zur Erhöhung des Meeresspiegels          Links unten ist der typische Zyklus von Eiszeiten und Zwischeneiszeiten
                                                               ­skizziert. Die x-Achse liegt auf Höhe der vorindustriellen globalen Durch­
 [11].
                                                                schnittstemperatur, die kleine Kugel repräsentiert die aktuelle Position der
     Im Jahr 2018 sorgte mitten im außergewöhnlich hei-         Erde auf ihrem Pfad in eine Heißzeit – oder die Stabilisierung durch umsich­
 ßen mitteleuropäischen Sommer eine Publikation zum             tiges Handeln der Menschheit bei Nicht-Überschreiten kritischer Schwellen­
 Risiko einer nahenden „Heißzeit“ für die Erde für große        werte (Kipppunkte). Abb. aus [12].
 öffentliche Aufmerksamkeit [12]. Darin wird beschrieben,
 dass die Erde sich bezogen auf die Temperatur im Holozän
 eigentlich am oberen Rand eines geschlossenen Zyklus‘         was zu weiterer Erwärmung führen und dominoartig wei-
 befindet (Punkt A in Abbildung 5), der den regelmäßigen       tere Kippelemente aktivieren kann („Tipping Cascades“).
 Wechsel von Eiszeiten und Zwischeneiszeiten beschreibt        Die Autoren setzen dieser Entwicklung die wünschens-
 und sich jeweils über 100.000 Jahre erstreckt. Im Anthro-     wertere Zukunft einer stabilisierten Erde entgegen, in der
 pozän verlässt die Erde nun sehr zügig den Temperatur-        die Menschheit sich als integraler Bestandteil des Erdsys-
 rahmen, innerhalb dessen dieser Zyklus abläuft, und be-       tems begreift und stabilisierenden Einfluss auf das Klima-
 wegt sich auf neue, deutlich heißere klimatische Bedin-       geschehen nimmt – Reduktion von Treibhausgasemissio-
 gungen mit einer völlig veränderten Biosphäre zu. Mit der     nen, Schutz und Förderung biologischer Kohlestoffsen-
 aktuellen Temperaturerhöhung von rund 1 Grad nähern           ken, technologische und gesellschaftliche Innovationen,
 wir uns den wärmsten Verhältnissen, die jemals in den         Anpassungen an den nicht mehr vermeidbaren Klimawan-
 Zwischeneiszeiten der vergangenen 1,2 Millionen Jahre         del sind Stichworte [12].
erreicht wurden. Da auf dem weiteren Pfad gleichzeitig             Niemand kann genau sagen, wie viele Arten wir zur-
zahlreiche biogeophysikalische Rückkopplungsprozesse           zeit verlieren – geschätzt werden bis zu 150 pro Tag. Das
greifen, die durch die menschengemachte Veränderung            im Jahr 2019 erschienene „Globale Assessment“ des Welt-
der Biosphäre noch verstärkt werden, ist zu befürchten,        biodiversitätsrats IPBES stellt fest, dass innerhalb der kom-
dass ab einem bestimmten Punkt diese Rückkopplungen            menden Jahrzehnte 25 Prozent der Spezies in den analy-
zu einem dominierenden Faktor werden und die Erde              sierten Tier- und Pflanzengruppen, insgesamt etwa eine
­beschleunigt in eine Jahrtausende währende „Heißzeit“         Million Arten, unmittelbar vom Aussterben bedroht sind
 („Hothouse Earth“) treiben (Abbildung 5). Der Schwellen-      [13]. Um die globalen Ausmaße des Artenschwunds zu
 wert für eine solche Entwicklung wird bei einer Tempe-        gewichten, wird zum Vergleich oft die natürliche Ausster-
 raturerhöhung von 2 Grad Celsius (möglicherweise auch         berate herangezogen. Das Ergebnis ist davon abhängig,
 schon darunter!) angenommen. Treiber dieser Entwick-          von wie vielen existierenden Arten und von welcher Zahl
 lung sind die bereits beschriebenen Kippelemente, die         an aussterbenden Arten man ausgeht. Die aktuelle Ausster-
 durch den Temperaturanstieg aktiviert werden können,          berate übertrifft die natürliche Rate mindestens um den

© 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit
veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz         www.biuz.de                             1/2021 (51)      Biol. Unserer Zeit   35
Massenaussterben meist rund fünf Millionen Jahre in An-
                                                                                         spruch genommen [16]. Auf der Analyse von Populations-
                                                                                         trends auf regionaler und globaler Ebene beruht der Living
                                                                                         Planet Index (LPI). In die Untersuchungen im Living
                                                                                         ­Planet Report 2020 des WWF sind Berechnungen aus
                                                                                          20.811 Populationstrends von 4.392 Wirbeltierarten ein-
                                                                                          geflossen. Ergebnis: Von 1970 bis 2016 zeigt der globale
                                                                                          LPI einen kontinuierlichen Rückgang um 68 Prozent, in
                                                                                          Süßwassersystemen sogar um 84 Prozent [17].

                                                                                             Veränderung der Stoffkreisläufe:
                                                                                             Beispiel Stickstoff
                                                                                         Durch menschliche Aktivitäten werden die globalen Stoff-
                                                                                         kreisläufe in jüngster Zeit gravierend verändert. Besonders
                                                                                         massiv ist dies beim Stickstoff der Fall. Die menschlichen
                          Abb. 6 Der Riesenalk (Pinguinus impennis), ein 85 cm großer,   Eingriffe in den Stickstoffkreislauf sind vielfältig, unter an-
                          flugunfähiger Seevogel, war einst im Nordatlantik weit         derem sind folgende Faktoren von besonderer Bedeutung:
                          verbreitet. Schon seit Mitte des 19. Jahrhundert ist er aus­   –– Vor allem bei der Verbrennung fossiler Energieträger
                          gerottet – und heute nur noch im Museum zu betrachten,
                          wie hier im Landesmuseum Hannover. Foto: H. Petrischak.
                                                                                             in Kraftwerken und Motoren entstehen als Nebenpro-
                                                                                             dukte Stickoxide (hauptsächlich aus dem Luftstick-
                                                                                             stoff).
                          Faktor 100 bis 1.000 [14]. Damit verbunden ist die Ein-        –– Mit der Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zu
                          schätzung vieler Wissenschaftler, dass wir kurz vor oder           Beginn des 20. Jahrhunderts konnte Stickstoff groß-
                          bereits in dem sechsten großen Massenaussterben der                technisch auf chemischem Wege fixiert werden. Da-
                          Erdgeschichte stehen. Die fünf bisherigen Massenausster-           mit konnten nun große Mengen an Kunstdünger her-
                          ben ereigneten sich am Ende der Erdzeitalter Ordovizium,           gestellt werden, was die landwirtschaftliche Produk­
                          Devon, Perm, Trias und Kreide, zuletzt also am Übergang            tion auf den zuvor stark ausgelaugten Böden erheblich
                          der Kreide zum Tertiär vor rund 65 Millionen Jahren. Ge-           erleichtert und der „Grünen Revolution“ mit ihren
                          waltige Meteoriteneinschläge und gravierende Verände-              ertragreichen Getreidesorten den Weg geebnet hat.
                          rungen des Klimas waren jeweils die Ursachen. Die Defi-        –– Auch das großflächige Anpflanzen von Nutzpflanzen
                          nition für ein Massenaussterben lautet, dass mindestens            wie Sojabohnen, die als Leguminosen eine effiziente
                          75 Prozent aller Arten innerhalb von höchstens zwei Mil-           Symbiose mit N-fixierenden Bakterien eingehen, trägt
                          lionen Jahren aussterben. Dieser Wert ist zwar bei den bis         zur Stickstofffixierung in großem Maßstab bei.
                          jetzt untersuchten Tiergruppen noch nicht erreicht. Das
                          kann aber in wenigen Jahrhunderten bereits der Fall sein,      Das hat neben den Vorteilen für die Produktion von Nah-
                          denn die Aussterberate ist heute bereits höher als bei den     rungsmitteln auch unerwünschte Folgen:
                          fünf erdgeschichtlichen Ereignissen [15].                      –– Stickoxide sind an der Bildung von gesundheitsschäd-
                               Aussterbeereignisse sind irreversibel (Abbildung 6).         lichem Ozon in der unteren Atmosphäre beteiligt und
                          Die menschlichen Eingriffe entscheiden aber nicht nur             verursachen sauren Regen.
                          über die Existenz einzelner Arten, sondern sind für die        –– Ein großer Teil des chemisch oder biologisch fixierten
                          Zukunft des Lebens auf dem Planeten viel umfassender:             Stickstoffs wird aus den Böden ausgewaschen und
                          Die Voraussetzungen für die weitere biologische Evolu­            führt zur Eutrophierung von Seen, Flüssen und Küsten-
                          tion auf der Erde werden massiv verändert. Weil nicht nur         gewässern.
                          Arten, sondern darüber hinaus in großem Umfang Popu-           –– Ein Teil des Stickstoffs findet seinen Weg im Lachgas
                          lationen mit ihren entsprechenden Genpools aussterben             (N2O) zurück in die Atmosphäre – ein hoch wirksames
                          und großflächige Lebensräume (Regenwälder, Korallen­              Treibhausgas, das zudem in der Stratosphäre an der
                          riffe, Feuchtgebiete) verloren gehen, werden Evolutions-          Zerstörung von Ozon beteiligt ist.
                          zentren wie die Tropen möglicherweise nicht mehr die-          –– Vor allem in unseren Breiten hat eine massive Über-
                          selbe Rolle wie nach früheren Massenaussterben überneh-           düngung zum Rückgang artenreicher Lebensräume ge-
                          men können. Bleibt der Einfluss des Menschen auch über            führt. Der Überschuss an Stickstoff beträgt im deutsch-
                          geologisch längere Zeiträume bestehen, wären beispiels-           landweiten Durchschnitt aktuell rund 90 Kilogramm
                          weise Artbildungsprozesse bei größeren Säugetieren gar            pro Hektar und Jahr.
                          nicht mehr vorstellbar. Außerdem werden nur solche Arten
                          stark gefördert, die sich an vom Menschen geprägte             Die Dimensionen der Veränderungen im Stickstoffkreis-
                          ­Lebensräume anpassen können. Eine erwartbare Erholung         lauf werden durch entsprechende Zahlen aus dem 2005
                          und Reorganisation der Lebensvielfalt hat nach früheren        erschienenen Millennium Ecosystem Assessment deutlich:

                                                                                                                     © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit
36   Biol. Unserer Zeit     1/2021 (51)                            www.biuz.de                      veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz
Globaler Wandel                          |   Im Fokus

Vorindustriell betrug der globale Stickstofffluss aus der          Literatur
Atmosphäre in Land- und Wasserökosysteme 90–140 Mil-            [1] WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
                                                                    Umweltveränderungen), Hauptgutachten: Welt im Wandel –
lionen Tonnen Stickstoff pro Jahr, was durch einen ent-
                                                                    Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, 2011.
sprechenden Rückfluss aufgrund der Denitrifizierung aus-       [2] J. Jäger, Was verträgt unsere Erde noch? Wege in die Nachhaltig-
geglichen wurde. Diesem Wert fügen wir jährlich rund                keit. S. Fischer, Frankfurt/Main, 2007.
210 Millionen Tonnen Stickstoff hinzu, davon allein             [3] J. Rockström et al., A safe operating space for humanity. Nature,
120 Millionen Tonnen durch Kunstdünger und den Anbau                2009, 461, 472–475.
                                                                [4] W. Steffen et al., Planetary boundaries: Guiding human develop-
von Pflanzen, die durch Symbiose mit N-fixierenden Bak-
                                                                    ment on a changing planet. Science, 2015,
terien effizient Luftstickstoff festlegen [18].                     https://doi.org/10.1126/science.1259855
                                                                [5] T.M. Lenton et al., Tipping elements in the Earth’s climate system.
    Zusammenfassung                                                 PNAS, 2008, 105, 1786–1793.
Alle Erkenntnisse über das System Erde zeigen deutlich auf,     [6] PIK (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung), Kippelemente –
                                                                    Achillesfersen im Erdsystem.
dass die Menschheit so massiv in die Prozesse des Systems
                                                                    www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente
eingreift, dass sich die Rahmenbedingungen für die Zu-          [7] P. J. Crutzen, P. J., Geology of mankind, Nature, 2002, 415, 23.
kunft – allerdings schon heute spürbar – deutlich ver-          [8] C. N. Waters et al., The Anthropocene is functionally and stratigra-
schlechtern. Die Ergebnisse der unterschiedlichen Konzepte          phically distinct from the Holocene. Science, 2016, 351,
weisen übereinstimmend in die gleiche Richtung: Mehrere             https://doi.org/10.1126/science.aad2622
                                                                [9] W. Steffen et al., The Anthropocene: From global change to
Sicherheitsgrenzen sind überschritten. Stoffkreisläufe wer-
                                                                    planetary stewardship. Ambio, 2011, 0044–7447,
den im globalen Maßstab umgestaltet. Die Menschheit ist             https://doi.org/10.1007/s13280-011-0185-x
mit sich weiter beschleunigender Wirkung zur stärksten         [10] S. Solomon et al., Irreversible climate change due to carbon
gestaltenden Kraft auf der Erde geworden. Mit dem Klima-            dioxide emissions. PNAS, 2009, 106, 1704–1709.
wandel und der Vernichtung von Biodiversität sind irrever-     [11] P. Horton et al., Estimating global mean sea-level rise and
                                                                    its uncertainties by 2100 and 2300 from an expert survey.
sible Prozesse eingeleitet, und die Funktionalität von Öko-
                                                                    npj Climate and Atmospheric Science, 2020, 3, https://doi.
systemen wird zunehmend eingeschränkt. Eine nachhal­                org/10.1038/s41612-020-0121-5
tige Entwicklung, die nicht zuletzt die Lebensgrundlagen       [12] W. Steffen et al., Trajectories in the Earth System in the Anthropo-
der Menschheit sicherstellt, ist jedoch nur innerhalb der           cene. PNAS, 2018, 115, 8252–8259.
biophysikalischen Grenzen des Systems Erde denkbar. Un-        [13] IPBES, Summary for policymakers of the global assessment report
                                                                    on biodiversity and ecosystem services, 2019.
sere Konsum- und Produktionsmuster müssen sich in aller-
                                                               [14] S. L. Pimm et al., The future of biodiversity. Science, 1995, 269,
erster Linie an diesen Grenzen orientieren, um nachhaltig           347–350.
zu sein.                                                       [15] A. D. Barnosky et al., Has the Earth’s sixth mass extinction already
                                                                    arrived? Nature, 2011, 471, 51–57.
    Summary                                                    [16] N. Myers, A.H. Knoll, The biotic crisis and the future of evolution.
                                                                    PNAS, 2001, 98, 5389–5392.
    The biophysical guardrails for sustainable
                                                               [17] WWF, Living Planet Report 2020.
    development: How human activities change                   [18] Millennium Ecosystem Assessment, Ecosystems and human
    the Earth system                                                well-being. Volume 1: Current state and trends. Island Press,
All scientific findings about the Earth system show clearly         Washington, Covelo, London, 2005.
that humanity intervenes so massively in Earth system pro-
cesses that the conditions for future generations – but al-        Der Autor
ready noticeable today – will deteriorate significantly. The                           Hannes Petrischak studierte Biologie in Kiel. Von
                                                                                       2006 bis 2016 war er im Saarland für die Bildungs-
results of different concepts point in the same direction
                                                                                       initiative „Mut zur Nachhaltigkeit“ tätig, ab 2010
consistently: Several planetary boundaries have been ex-                               als Geschäftsführer der Stiftung Forum für Verant-
ceeded, biochemical cycles are being reshaped on a global                              wortung. Seit 2016 leitet er den Geschäftsbereich
scale, humanity has even become the most powerful form-                                Naturschutz der Heinz Sielmann Stiftung. Am
ative force on earth, irreversible processes like climate                              Umwelt-Campus Birkenfeld (Hochschule Trier) ist
                                                                                       er Dozent im berufsbegleitenden Masterstudien-
change and loss of biodiversity are accelerating, the func-
                                                                                       gang „Sustainable Change – Vom Wissen zum
tionality of ecosystems is decreasing. Sustainable develop-                            Handeln“.
ment, which ensures the safe and comfortable existence of
human societies on Earth, is conceivable only within the
biophysical boundaries of the Earth system. Our consump-                               Korrespondenz:
                                                                                       Dr. Hannes Petrischak
tion and production patterns must first and foremost be
                                                                                       Heinz Sielmann Stiftung
oriented towards these boundaries in order to be sustain-                              Dyrotzer Ring 4
able.                                                                                  14641 Wustermark/Elstal
                                                                                       E-Mail: hannes.petrischak@sielmann-stiftung.de
    Schlagworte:
System Erde, Planetare Grenzen, Kippelemente, Anthropo-
zän, Stoffkreisläufe, Große Beschleunigung, Nachhaltigkeit.

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veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz           www.biuz.de                                     1/2021 (51)         Biol. Unserer Zeit   37
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