Wie der mensch das system Erde verändert - die biophysikalischen leitplanken für nachhaltige Entwicklung - Biologie in ...
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DOI:10.11576/biuz-4105 Die biophysikalischen Leitplanken für nachhaltige Entwicklung Wie der Mensch das System Erde verändert H annes P etrischak Das rapide Wachstum der Weltbevölkerung und Abb. 1 Blick auf die Erde, aufgenommen von der Apollo-17-Crew auf dem Weg vor allem das Wirtschaftswachstum mit zum Mond am 7.12.1972. Der Blick hohem Ressourcen- und Flächenver- aus den Apollo-Raumschiffen auf die Erde hat die frühe Umwelt brauch sowie der damit einhergehen- bewegung der 1970er Jahre maßgeblich beeinflusst und den zunehmenden Belastung und das Engagement vieler Men Zerstörung der Ökosysteme führen schen für den Erhalt der Lebensgrundlagen auf unse uns aktuell mehr denn je die Be- rem Planeten angetrieben. grenztheit unseres Planeten (Abbil- Foto: NASA. dung 1) vor Augen. Unsere Konsum- und Produktionsmuster bewirken tagtäglich milliardenfache Eingriffe in Die Erde als System Die starke Vernetzung hat zur das System Erde, und zwar oft an Or- Folge, dass es kein einfaches ten, die von unserem Alltag scheinbar Ursache-Wirkungs-Prinzip gibt. Da- weit entfernt sind. Wir verändern damit durch entzieht sich das Problem ein- fachen Lösungen: Wenn man glaubt, den unseren Planeten – mit gravierenden Auswir- richtigen Hebel gefunden zu haben, treten kungen auf die Lebensgrundlagen der heute und in meist neue, unerwünschte Nebenwirkungen auf. Nach- Zukunft lebenden Menschen. haltige Entwicklung setzt daher in besonderer Weise vor- ausschauendes und vernetztes Denken und Handeln vor- aus. Dabei gilt es, vor allem die folgenden Eigenschaften komplexer Systeme im Blick zu behalten [2]: W ir müssen uns mit den Funktionsweisen des Sys- tems Erde auseinandersetzen, um die Auswirkun- gen unseres Handelns wirklich einordnen und damit die –– Starke, nicht lineare Interaktionen, die bewirken, dass ein Input nicht immer zu einem proportionalen Out- put führt: Kleine Ursachen können große Wirkungen richtigen Ansatzpunkte für die Transformation in Rich- erzielen. Im Laufe der Zeit können Stauungen, Sätti- tung Nachhaltigkeit finden zu können. Die komplexen gungen oder Beschleunigungen auftreten, so dass die Verknüpfungen der Komponenten im System Erde sor- Wirkung nicht immer gleich bleibt. gen dafür, dass Eingriffe in das System nicht nur Verän- –– Positive Rückkopplungen können die Wirkung einer derungen in einem bestimmten Teilaspekt zur Folge ha- Handlung durch die Rückwirkung, die sie auslöst, wei- ben, sondern dass es immer Wechselwirkungen mit an- ter steigern. deren Teilen des Systems gibt: Klimawandel, Verlust –– Zeitliche und räumliche Verzögerungen sind beson- biologischer Vielfalt, Wassermangel, Bodendegradation ders tückisch, da Folgen unseres Handelns erst spät er- und die Anreicherung von Schadstoffen sind Umweltver- kannt werden und Gegenmaßnahmen erst mit starker änderungen, die sich gegenseitig zum Teil erheblich ver- Verzögerung greifen. stärken, so dass die Gesamtwirkung globaler Umweltver- –– Bestimmte Prozesse können schlagartig ein verändertes änderungen größer ist als die Summe der Einzelwirkun- Verhalten des Systems nach sich ziehen, wenn eine gen [1]. gewisse Grenze überschritten wurde. Ein System kann Online-Ausgabe unter: © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit 30 Biol. Unserer Zeit 1/2021 (51) www.biuz.de veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz
Globaler Wandel | Im Fokus dann zusammenbrechen oder in einen anderen Zu- Arten (Biodiversitätsverlust). Die planetaren Grenzen sind stand wechseln und seine ursprünglichen Funktionen zwar auf einzelne Prozesse mit entsprechenden Indikato- nicht mehr aufrechterhalten. Manchmal scheint das ren bezogen, aber trotzdem miteinander verbunden: System vor Erreichen des Schwellenwerts nicht auf die Wenn eine Sicherheitsgrenze überschritten ist, geraten treibende Kraft zu reagieren, die letztlich zur abrup- andere Erdsystemprozesse unter verstärkten Druck. So ten Veränderung führt. Dadurch können gravierende, kann die Vernichtung des Amazonas-Regenwaldes die irreversible Veränderungen plötzlich und unvorherge- Wasserressourcen in Tibet beeinflussen. Anthropogene sehen auftreten. Veränderungen in einem Teilsystem haben aufgrund der vielfältigen Wechselbeziehungen (beispielsweise zwi- Prototypisches Beispiel eines komplexen Systems ist übri- schen Biodiversität, Landnutzung und Klimawandel) also gens die lebende Zelle, in der all diese beschriebenen Ef- sehr oft auch negativen Einfluss auf andere Bereiche. In fekte in vielfältiger Form auftreten. Die Gefahr bei den drei Bereichen wurde bereits die Überschreitung des hier genannten Prozessen liegt darin, dass das System Erde „sicheren Handlungsraums“ durch die Menschheit festge- einen neuen Zustand einnimmt, der auch für menschliche stellt: Der fortschreitende Klimawandel, die Vernichtung Gesellschaften existenzbedrohend sein kann. Aus einem von Biodiversität und der massive Stickstoffeintrag gefähr- systemischen Verständnis heraus ergibt sich unmittelbar den eindeutig wesentliche Erdsystemfunktionen. ein zentraler Grundsatz nachhaltiger Entwicklung, nämlich Im Januar 2015 legte ein 18-köpfiges Autorenteam um das Handeln nach dem Vorsorgeprinzip. Zudem können Will Steffen eine Aktualisierung des Konzepts vor [4]. Die wir nicht davon ausgehen, dass die Menschheit bereits Autoren zeigen hierin auf, dass auch die Summe kleinräu- alle wesentlichen Prozesse und Parameter kennt. miger Veränderungen (beispielsweise in der Landnutzung) dazu führen kann, dass sich der globale Zustand verändert. Planetare Grenzen Regionale Veränderungen können die Resilienz – gemeint Im Jahr 2009 veröffentlichten Johan Rockström und 27 wei- ist hier das Erhalten der seit Jahrtausenden bestehenden tere Autoren das Konzept der „Planetary Boundaries“ [3]. lebensfreundlichen Bedingungen für die Menschheit – des Dieser Studie liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die mensch- Systems Erde im Zusammenspiel mit anderen Prozessen liche Zivilisation sich während der letzten 10.000 Jahre wie dem Klimawandel erheblich schwächen, etwa wenn unter relativ stabilen Rahmenbedingungen entwickeln dadurch CO2-Senken verloren gehen oder Ökosysteme konnte, zumal die anthropogenen Änderungen relativ durch Artenverluste geschwächt werden. Daraus folgt au- klein und die Pufferkapazitäten sehr groß waren. Die der- ßerdem, dass man bereits unterhalb des globalen Maß- zeitigen Aktivitäten der Menschheit beeinflussen das Sys- stabs Sicherheitsgrenzen definieren muss, die nicht über- tem Erde jedoch so massiv, dass dadurch irreversible und schritten werden sollten, weil bestimmte Regionen bedeut- in einigen Fällen sehr plötzliche Veränderungen ausgelöst sam für die Aufrechterhaltung von Erdsystemfunktionen werden können, die erhebliche Verschlechterungen der sind. Vorrangig werden genannt: (Über-)Lebensbedingungen für große Teile der Mensch- –– die Intaktheit der Biosphäre in großen Land-, Meeres- heit bedeuten würden. Basierend auf den Erkenntnissen und Süßwasserökosystemen der Erdsystemforschung skizziert das Autorenteam neun Bereiche im System Erde, bei denen das Überschreiten bestimmter Schwellenwerte solche gravierenden Verän- derungen der Umweltbedingungen nach sich zöge: I n K ü rze –– Klimawandel –– Ozeanversauerung – Die Komplexität des Systems Erde bewirkt, dass durch den Menschen ausgelöste –– Ozonabbau in der Stratosphäre Umweltveränderungen durch zahlreiche Wechselwirkungen, Rückkopplungen, –– biogeochemische Stoffflüsse (Stickstoff- und zeitliche Verzögerungen und Schwellenwerte oft unerwünschte und teilweise nicht vorhersehbare Auswirkungen haben. Phosphorkreislauf) – Das Konzept der planetaren Grenzen veranschaulicht, dass die Menschheit –– globaler Süßwasserverbrauch durch den Verlust von Biodiversität, den Klimawandel sowie die Umgestaltung –– Wandel der Landnutzung der Nährstoffkreisläufe und der Landnutzung einen sicheren Handlungsraum –– Biodiversitätsverlust bereits verlassen hat. –– Aerosolgehalt in der Atmosphäre – Zahlreiche Kippelemente können bei weiterer Temperaturerhöhung selbstver stärkende Prozesse auslösen, die unweigerlich zu einer Forcierung des Klima- –– Belastung mit Chemikalien. wandels führen. – Die gegenwärtige Vernichtung von Arten, Populationen und Lebensräumen Um einen „sicheren Handlungsraum für die Menschheit“ verläuft auf dem Pfad des sechsten Massenaussterbens der Erdgeschichte und (safe operating space for humanity) festzulegen, wurden schwächt die Funktionalität der Ökosysteme erheblich. bestimmte Indikatoren identifiziert, deren Werte sicher – Nachhaltige Entwicklung im Sinne der Sicherung der Lebensgrundlagen für die Menschheit bedingt vorsorgendes und vorausschauendes Denken und Han unterhalb gefährlicher Schwellenwerte liegen sollten. Sol- deln und ist nur innerhalb der biophysikalischen Leitplanken des Systems Erde che Indikatoren sind unter anderem der CO2-Gehalt in der möglich. Atmosphäre (Klimawandel) oder die Aussterberate von © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz www.biuz.de 1/2021 (51) Biol. Unserer Zeit 31
Abb. 2 Die planetaren G renzen nach S teffen et al. ( 2015) –– Veränderungen der Landnutzung in waldreichen Großregionen –– Süßwassernutzung in den Hauptflusssystemen der Erde –– Eingriffe in Phosphor- und Stickstoffkreisläufe insbe- sondere in den landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebieten. Die planetaren Grenzen werden folgendermaßen darge- stellt: Sie umschließen den Sicherheitsbereich (safe ope- rating space), innerhalb dessen das Risiko für bedrohliche Veränderungen als vertretbar angesehen wird (Abbil- dung 2). Außerhalb dieser Grenzen folgt ein Unsicher- heitsbereich, der durch die Begrenztheit des derzeitigen Wissensstandes und die Unwägbarkeiten der Systempro- zesse und ihrer Wechselwirkungen gekennzeichnet ist. In diesem Bereich wächst also das Risiko, dass wichtige Erd- systemfunktionen untergraben werden. Weiter außen liegt die Hochrisikozone, die unverantwortliches Handeln widerspiegelt und bei deren Erreichen mit hoher Wahr- scheinlichkeit kritische Schwellenwerte irreversibel über- schritten sind. Das Ergebnis zeigt, dass die Menschheit sich in vier Bereichen bereits außerhalb des sicheren Auf den sicheren Handlungsraum (grün, innen) folgen außen die Unsicher Handlungsraums bewegt: Klimawandel und Landnutzung heitszone (gelb) und schließlich die Hochrisikozone (rot). Die Sicherheitsgrenze finden in der Unsicherheitszone statt, die Vernichtung von wird durch den dickeren Kreis innen markiert. Grau gekennzeichnet sind die Biodiversität und die Änderung der Stickstoff- und Phos- jenigen Prozesse, für die globale Sicherheitsgrenzen noch nicht quantitativ definiert werden können. Abb. aus [4]. phorkreisläufe bewegen sich deutlich in der Hochrisiko- zone (Abbildung 2). Am Beispiel der Ozeanversauerung sei hier die Anwen- dung von Indikatoren für die Einschätzung der aktuellen Abb. 3 Interaktionen zwischen der V erä nderung der Situation der Erdsystemprozesse erläutert: Etwa ein Viertel Biosphä renintaktheit und den anderen E rds y stem der anthropogenen CO2-Emissionen wird von den Ozea- prozessen nen aufgenommen und verändert die Chemie des Ozean- wassers. Durch die verstärkte Bildung von Kohlensäure verringert sich der pH-Wert des oberflächennahen Was- sers. Die Konzentration freier H+-Ionen im oberflächen- nahen Ozeanwasser ist in den vergangenen 200 Jahren um 30 Prozent gestiegen. In der Folge löst sich Aragonit, Bau- material für Schalen und Skelette vieler mariner Organis- men, zunehmend im Ozeanwasser. Der Aragonit-Sätti- gungsgrad sollte 80 Prozent gegenüber dem vorindustriel- len Wert nicht unterschreiten. Zum Zeitpunkt der Analyse lag er bei 84 Prozent. Bei Einhalten der Sicherheitsgrenze für den Klimawandel (350 ppm CO2) bliebe die Ozeanver- sauerung innerhalb des Sicherheitsbereiches. Bei steigen- den CO2-Konzentrationen gerät die Ozeanversauerung jedoch ebenso wie der Klimawandel schnell deutlich in den Hochrisikobereich. Hier ist anzumerken, dass die atmosphärische CO2-Konzentration inzwischen über 410 ppm liegt. Die Folge ist eine erhebliche Verschlech- terung der Lebensbedingungen für zahlreiche Meeres organismen (unter anderem Plankton und Korallen) mit drastischen Auswirkungen auf die Strukturen mariner In allen Fällen zeigen die Pfeile positive Rückkopplungen an, d. h. jeder Prozess, Ökosysteme. Alle Erdsystemprozesse sind integrierte Teile der aus dem Sicherheitsbereich gelangt, treibt auch andere Prozesse in Rich tung Risikobereich. Dicke Pfeile stehen für starke, unmittelbare Effekte, dünne eines komplexen Systems mit wechselseitigen Beeinflus- Pfeile für schwächere Wechselwirkungen und gestrichelte Pfeile für schwache sungen (Abbildung 3). Diese Wechselwirkungen systema- oder unsichere und komplexe Effekte. Quelle: [4], Supplementary Materials. tisch und quantitativ zu erfassen, entzieht sich weitge- © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit 32 Biol. Unserer Zeit 1/2021 (51) www.biuz.de veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz
Globaler Wandel | Im Fokus hend dem aktuellen Forschungsstand, aber das Erdsystem chanismus wird als Eis-Albedo-Rückkopplung beschrie- agiert in einem klar definierten Status, innerhalb dessen ben. Am Beispiel des Verlustes des Grönlandeises lässt die Prozesse und ihre Wechselwirkungen verstärkende sich die Wirkung von Kippelementen verdeutlichen: Der oder schwächende Rückkopplungen auslösen. Deshalb Eisverlust in Grönland hat durch ins Meer fließende Glet- müssen für eine nachhaltige Entwicklung stets verschie- scher und verstärktes Abschmelzen im Sommer stark zu- dene interagierende Umweltprozesse gemeinsam betrach- genommen. Der stellenweise drei Kilometer starke Eis- tet werden. schild verliert an Höhe, und seine Oberfläche gerät in niedrigere, wärmere Luftschichten. Das verstärkt das Ab- Kippelemente schmelzen, das letztlich einen Meeresspiegelanstieg von In einem System bezeichnet der Begriff „Kipppunkt“ eine sieben Metern verursachen kann [6]. Zu den wichtigsten kritische Grenze, an der eine kleine Störung den Zustand Kippelementen im System Erde (Abbildung 4) zählen: des Systems gravierend verändern kann. Auch im System –– Schmelzen des arktischen Meereises Erde gibt es Kippelemente, also wesentliche Komponen- –– Verlust des Grönlandeises ten des Systems (Subsysteme von überregionaler Größe), –– Auftauen von Dauerfrostböden (mit Freisetzung von die Kipppunkte aufweisen, deren Überschreiten eine qua- Methan und CO2) litative Veränderung nach sich zieht [5]. Dies hat oft Aus- –– Methanausgasung aus den Ozeanen wirkungen auf das Gesamtsystem bzw. auf die Lebens –– Abschwächung der „Atlantischen Thermohalinen Zir- bedingungen großer Teile der Menschheit. Menschliche kulation“ Eingriffe in das System können selbstverstärkende Pro- –– Destabilisierung des indischen Monsuns zesse auslösen, die oft zu einem sprunghaften, unumkehr- –– Störung des El Niño-Phänomens baren Überschreiten eines Kipppunktes führen. Eine aus- –– Umwandlung des Amazonas-Regenwaldes führliche Darstellung dieser „Achillesfersen im Erdsystem“ –– Abschwächung der marinen Kohlenstoffpumpe findet sich auf der Internetseite des Potsdam-Instituts für –– Zerstörung von Korallenriffen. Klimafolgenforschung (PIK) [6]. Schmelzende Eismassen liefern ein Paradebeispiel für Das Anthropozän einen positiven Rückkopplungseffekt: Das leuchtend wei- Zu Beginn unseres noch jungen Jahrtausends kam ein Be- ße Eis hat eine kühlende Rückstrahlwirkung, während die griff in die Welt, der bereits eine beeindruckende Karri- dunkleren Oberflächen des frei werdenden Gesteins oder ere hinter sich hat: Das Anthropozän. Er macht in neuer des Meeres mehr Sonnenwärme aufnehmen und dadurch Dimension sehr nachdenklich über den Einfluss des Men- das weitere Abtauen des Eises beschleunigen. Dieser Me- schen auf den Planeten Erde und die damit verbundenen Abb. 4 Kippelemente im Erds ystem Die wichtigsten Kippelemente im Erdsystem lassen sich in drei Klassen einteilen: schmel zende Eiskörper, sich verändernde Strömungssysteme von Ozeanen und Atmosphäre und bedrohte, über regional bedeut same Ökosysteme. Quelle: PIK [6]. © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz www.biuz.de 1/2021 (51) Biol. Unserer Zeit 33
Folgen, wird von Vertretern unterschiedlicher Wissen- asche) als Folgeprodukte der Verbrennung fossiler Ener- schaftsdisziplinen äußerst kontrovers diskutiert und ist gieträger verteilt. Außerdem sind starke anthropogene dabei auch zum Leitthema ganzer Tagungen und sogar Sedimentflüsse zu registrieren, etwa durch Erosion in Folge großer Kunstprojekte geworden. Das Anthropozän um- von Entwaldung. Geochemisch ist die Anreicherung poly schreibt eine neue erdgeschichtliche Epoche, das Zeitalter aromatischer Kohlenwasserstoffe (z. B. PCB) und von Pes- des Menschen. Bislang wird die gegenwärtige Epoche – tizidrückständen belegbar, aber auch von Industriemetal- die rund 12.000 Jahre seit dem Ende der jüngsten Eiszeit – len und Seltenen Erden. Auch die Verdoppelung des Ein- als Holozän bezeichnet. Aus der Erkenntnis heraus, dass trags von Stickstoff und Phosphor im zurückliegenden mittlerweile der Mensch die stärkste gestaltende Kraft im Jahrhundert lässt sich in Seesedimenten und im grön System Erde ist, verhalf der niederländische Meteorologe ländischen Eis nachweisen. Die Atomwaffentests in der und Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen dem Kon- 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts haben ebenfalls ihre Spuren zept des „Anthropozän“ zum Durchbruch. Crutzen zählt (Radionuklide) hinterlassen. Die Erderwärmung in Höhe in seiner sehr häufig zitierten kurzen Vorstellung des An- von knapp 1 °C seit 1900 überschreitet die Bandbreite des thropozänkonzepts aus dem Jahr 2002 eine Auswahl von Holozäns während der letzten 14.000 Jahre; ähnlich ver- Belegen für die gravierenden Veränderungen des Systems hält es sich mit dem Anstieg des Meeresspiegels um durch- Erde durch den Menschen auf [7], unter anderem: schnittlich rund 3,2 mm pro Jahr. Seit dem Jahr 1500 lie- –– 30–50 Prozent der Landfläche sind von der Mensch- gen die Aussterberaten von Arten deutlich über den na heit umgestaltet worden. türlichen „Hintergrundraten“, ab dem 19. Jahrhundert –– Die tropischen Regenwälder und mit ihnen unzählige stiegen sie weiter deutlich an; außerdem ist der weltweite Arten werden rasant vernichtet, was zum Anstieg des Austausch von Arten durch entsprechende biologische CO2-Gehalts in der Atmosphäre beiträgt. Invasionen und die Nutztierhaltung ohne Vorbild in der –– Flusssysteme werden unter anderem durch Staudäm- Erdgeschichte. Waters et al. (2016) verzeichnen unüberseh- me umgestaltet, und mehr als die Hälfte des verfüg- bare geologische Auswirkungen der menschlichen Einflüs- baren Süßwassers wird genutzt. se in vielen Bereichen seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie –– Durch Düngemittel wird in der Landwirtschaft mehr lassen hier mit der „Großen Beschleunigung“ das eigent- Stickstoff eingebracht, als natürlicherweise in allen liche Anthropozän beginnen, allerdings mit Vorläufern in terrestrischen Ökosystemen fixiert wird. der Ausbreitung von Landwirtschaft und Entwaldungen, –– Die Verbrennung von fossilen Energieträgern und die dem Austausch von Arten seit der Entdeckung Amerikas Landwirtschaft haben zu einer gravierenden Zunahme und der Industriellen Revolution seit etwa 1800. der Konzentrationen von Treibhausgasen in der At- mosphäre geführt: Der Kohlendioxidgehalt ist (zum Die Große Beschleunigung Zeitpunkt der Veröffentlichung) um 30 Prozent und Die „Große Beschleunigung“ setzte unmittelbar nach dem der Methangehalt um mehr als 100 Prozent gestiegen. Zweiten Weltkrieg etwa um das Jahr 1950 herum ein [9]. Damit sind alle Werte der letzten 400.000 Jahre nach- Statistiken zu den unterschiedlichsten Themenfeldern be- weislich übertroffen, und die Konzentrationen steigen legen eindrucksvoll die rapide Vervielfachung der wirt- weiter an. schaftlichen Aktivitäten und des Konsums – zum Beispiel steigen der Papierverbrauch, der internationale Tourismus Die Umgestaltung der Landfläche der Erde, die Verände- oder der Wasserverbrauch seither exponentiell an, zu- rung der Atmosphäre und die Eingriffe in die Ozeane be- nächst ganz wesentlich getrieben durch die wirtschaftli- schleunigen sich mit der wachsenden Zahl der Menschen chen Aktivitäten in den westlichen Industrieländern. Par- und mit der wachsenden Ressourcenintensität ihres Le- allel dazu lassen sich die Veränderungen im System Erde bensstils. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich in belegen. So zeigen die Konzentrationen der Treibhausgase der Luft, die im polaren Eis eingeschlossen ist, ein globaler CO2, Lachgas und Methan, die Überfischung der Meere Anstieg der Treibhausgase belegen. So könnte man diesen oder der Verlust tropischer Wälder ähnliche „Wachstums- Zeitpunkt als Beginn des Anthropozäns festlegen. Waters raten“. et al. (2016) stellen eine Reihe von Belegen dafür zusam- Alle sozialen und wirtschaftlichen Prozesse sind mit men, dass die Menschheit mit zunehmender Geschwindig- anderen Teilen des Erdsystems wie dem Klima und den keit die Erde verändert, und zwar mit signifikanten Aus- Ozeanen gekoppelt. Insofern kann man im globalen Maß- wirkungen auf langfristige geologische Prozesse [8]. Ent- stab durchaus von einem sozial-ökologisch-geophysika scheidend für die Beurteilung, ob eine neue geologische lischen System sprechen. Die Konsequenz daraus lautet, Epoche nach dem Holozän begonnen hat, ist die stratigra- dass sich im globalen Maßstab die sozialen und ökonomi- fische Nachweisbarkeit in Sedimenten und im Eis mit schen Prozesse – die sich unter anderem im globalisierten deutlichen Unterschieden zum Holozän. Zu den anthro- Handel, in der Finanzwelt und in der weltweiten Kommu- pogenen Ablagerungen zählen „Technofossilien“ wie ele- nikation manifestieren – signifikant auf andere Teile des mentares Aluminium, Beton oder Plastik. Weltweit sind Systems wie die Atmosphäre und die Biosphäre auswir- außerdem verschiedenartige Kohlenstoffpartikel (Flug- ken. Daraus lässt sich unmittelbar die Erkenntnis ableiten, © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit 34 Biol. Unserer Zeit 1/2021 (51) www.biuz.de veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz
Globaler Wandel | Im Fokus dass die Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen A bb. 5 Mögliche Z ukunftspfade des irdischen K limas auf der Erde nur erhalten bleiben können, wenn die Menschheit sich aktiv und verantwortungsbewusst dafür einsetzt [9]. Negative Megatrends: Klimawandel und Biodiversitätsverluste Es ist von größter Bedeutung, dass die globale Erwärmung gestoppt wird, weil sie – bezogen auf die Zeiträume, die für die Zukunft der nachfolgenden Generationen von Be- deutung sind – irreversibel ist. Für mindestens 1.000 Jahre bleibt eine einmal erreichte Temperaturerhöhung nahezu unverändert bestehen, selbst wenn keine weiteren CO2- Emissionen mehr erfolgen [10]. Ein in ferne Zukunft reichender Prozess, der durch den Temperaturanstieg ausgelöst wird, ist die Erhöhung des Meeresspiegels. Die Ergebnisse der Berechnungen ver- schiedener Wissenschaftlerteams ergeben, dass ein Mee- resspiegelanstieg von deutlich über einem Meter bis zum Jahr 2100 wahrscheinlich ist. Mit diesem Wert kalkulieren inzwischen Küstenschützer. Danach wird sich der Anstieg jedoch unausweichlich fortsetzen, denn die Wärme dringt nur sehr langsam von der Oberfläche der Ozeane in die Tiefsee vor. Die dadurch bedingte Ausdehnung des Meer- wassers ist neben dem Abschmelzen des Festlandeises ein wesentlicher Faktor zur Erhöhung des Meeresspiegels Links unten ist der typische Zyklus von Eiszeiten und Zwischeneiszeiten skizziert. Die x-Achse liegt auf Höhe der vorindustriellen globalen Durch [11]. schnittstemperatur, die kleine Kugel repräsentiert die aktuelle Position der Im Jahr 2018 sorgte mitten im außergewöhnlich hei- Erde auf ihrem Pfad in eine Heißzeit – oder die Stabilisierung durch umsich ßen mitteleuropäischen Sommer eine Publikation zum tiges Handeln der Menschheit bei Nicht-Überschreiten kritischer Schwellen Risiko einer nahenden „Heißzeit“ für die Erde für große werte (Kipppunkte). Abb. aus [12]. öffentliche Aufmerksamkeit [12]. Darin wird beschrieben, dass die Erde sich bezogen auf die Temperatur im Holozän eigentlich am oberen Rand eines geschlossenen Zyklus‘ was zu weiterer Erwärmung führen und dominoartig wei- befindet (Punkt A in Abbildung 5), der den regelmäßigen tere Kippelemente aktivieren kann („Tipping Cascades“). Wechsel von Eiszeiten und Zwischeneiszeiten beschreibt Die Autoren setzen dieser Entwicklung die wünschens- und sich jeweils über 100.000 Jahre erstreckt. Im Anthro- wertere Zukunft einer stabilisierten Erde entgegen, in der pozän verlässt die Erde nun sehr zügig den Temperatur- die Menschheit sich als integraler Bestandteil des Erdsys- rahmen, innerhalb dessen dieser Zyklus abläuft, und be- tems begreift und stabilisierenden Einfluss auf das Klima- wegt sich auf neue, deutlich heißere klimatische Bedin- geschehen nimmt – Reduktion von Treibhausgasemissio- gungen mit einer völlig veränderten Biosphäre zu. Mit der nen, Schutz und Förderung biologischer Kohlestoffsen- aktuellen Temperaturerhöhung von rund 1 Grad nähern ken, technologische und gesellschaftliche Innovationen, wir uns den wärmsten Verhältnissen, die jemals in den Anpassungen an den nicht mehr vermeidbaren Klimawan- Zwischeneiszeiten der vergangenen 1,2 Millionen Jahre del sind Stichworte [12]. erreicht wurden. Da auf dem weiteren Pfad gleichzeitig Niemand kann genau sagen, wie viele Arten wir zur- zahlreiche biogeophysikalische Rückkopplungsprozesse zeit verlieren – geschätzt werden bis zu 150 pro Tag. Das greifen, die durch die menschengemachte Veränderung im Jahr 2019 erschienene „Globale Assessment“ des Welt- der Biosphäre noch verstärkt werden, ist zu befürchten, biodiversitätsrats IPBES stellt fest, dass innerhalb der kom- dass ab einem bestimmten Punkt diese Rückkopplungen menden Jahrzehnte 25 Prozent der Spezies in den analy- zu einem dominierenden Faktor werden und die Erde sierten Tier- und Pflanzengruppen, insgesamt etwa eine beschleunigt in eine Jahrtausende währende „Heißzeit“ Million Arten, unmittelbar vom Aussterben bedroht sind („Hothouse Earth“) treiben (Abbildung 5). Der Schwellen- [13]. Um die globalen Ausmaße des Artenschwunds zu wert für eine solche Entwicklung wird bei einer Tempe- gewichten, wird zum Vergleich oft die natürliche Ausster- raturerhöhung von 2 Grad Celsius (möglicherweise auch berate herangezogen. Das Ergebnis ist davon abhängig, schon darunter!) angenommen. Treiber dieser Entwick- von wie vielen existierenden Arten und von welcher Zahl lung sind die bereits beschriebenen Kippelemente, die an aussterbenden Arten man ausgeht. Die aktuelle Ausster- durch den Temperaturanstieg aktiviert werden können, berate übertrifft die natürliche Rate mindestens um den © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz www.biuz.de 1/2021 (51) Biol. Unserer Zeit 35
Massenaussterben meist rund fünf Millionen Jahre in An- spruch genommen [16]. Auf der Analyse von Populations- trends auf regionaler und globaler Ebene beruht der Living Planet Index (LPI). In die Untersuchungen im Living Planet Report 2020 des WWF sind Berechnungen aus 20.811 Populationstrends von 4.392 Wirbeltierarten ein- geflossen. Ergebnis: Von 1970 bis 2016 zeigt der globale LPI einen kontinuierlichen Rückgang um 68 Prozent, in Süßwassersystemen sogar um 84 Prozent [17]. Veränderung der Stoffkreisläufe: Beispiel Stickstoff Durch menschliche Aktivitäten werden die globalen Stoff- kreisläufe in jüngster Zeit gravierend verändert. Besonders massiv ist dies beim Stickstoff der Fall. Die menschlichen Abb. 6 Der Riesenalk (Pinguinus impennis), ein 85 cm großer, Eingriffe in den Stickstoffkreislauf sind vielfältig, unter an- flugunfähiger Seevogel, war einst im Nordatlantik weit derem sind folgende Faktoren von besonderer Bedeutung: verbreitet. Schon seit Mitte des 19. Jahrhundert ist er aus –– Vor allem bei der Verbrennung fossiler Energieträger gerottet – und heute nur noch im Museum zu betrachten, wie hier im Landesmuseum Hannover. Foto: H. Petrischak. in Kraftwerken und Motoren entstehen als Nebenpro- dukte Stickoxide (hauptsächlich aus dem Luftstick- stoff). Faktor 100 bis 1.000 [14]. Damit verbunden ist die Ein- –– Mit der Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zu schätzung vieler Wissenschaftler, dass wir kurz vor oder Beginn des 20. Jahrhunderts konnte Stickstoff groß- bereits in dem sechsten großen Massenaussterben der technisch auf chemischem Wege fixiert werden. Da- Erdgeschichte stehen. Die fünf bisherigen Massenausster- mit konnten nun große Mengen an Kunstdünger her- ben ereigneten sich am Ende der Erdzeitalter Ordovizium, gestellt werden, was die landwirtschaftliche Produk Devon, Perm, Trias und Kreide, zuletzt also am Übergang tion auf den zuvor stark ausgelaugten Böden erheblich der Kreide zum Tertiär vor rund 65 Millionen Jahren. Ge- erleichtert und der „Grünen Revolution“ mit ihren waltige Meteoriteneinschläge und gravierende Verände- ertragreichen Getreidesorten den Weg geebnet hat. rungen des Klimas waren jeweils die Ursachen. Die Defi- –– Auch das großflächige Anpflanzen von Nutzpflanzen nition für ein Massenaussterben lautet, dass mindestens wie Sojabohnen, die als Leguminosen eine effiziente 75 Prozent aller Arten innerhalb von höchstens zwei Mil- Symbiose mit N-fixierenden Bakterien eingehen, trägt lionen Jahren aussterben. Dieser Wert ist zwar bei den bis zur Stickstofffixierung in großem Maßstab bei. jetzt untersuchten Tiergruppen noch nicht erreicht. Das kann aber in wenigen Jahrhunderten bereits der Fall sein, Das hat neben den Vorteilen für die Produktion von Nah- denn die Aussterberate ist heute bereits höher als bei den rungsmitteln auch unerwünschte Folgen: fünf erdgeschichtlichen Ereignissen [15]. –– Stickoxide sind an der Bildung von gesundheitsschäd- Aussterbeereignisse sind irreversibel (Abbildung 6). lichem Ozon in der unteren Atmosphäre beteiligt und Die menschlichen Eingriffe entscheiden aber nicht nur verursachen sauren Regen. über die Existenz einzelner Arten, sondern sind für die –– Ein großer Teil des chemisch oder biologisch fixierten Zukunft des Lebens auf dem Planeten viel umfassender: Stickstoffs wird aus den Böden ausgewaschen und Die Voraussetzungen für die weitere biologische Evolu führt zur Eutrophierung von Seen, Flüssen und Küsten- tion auf der Erde werden massiv verändert. Weil nicht nur gewässern. Arten, sondern darüber hinaus in großem Umfang Popu- –– Ein Teil des Stickstoffs findet seinen Weg im Lachgas lationen mit ihren entsprechenden Genpools aussterben (N2O) zurück in die Atmosphäre – ein hoch wirksames und großflächige Lebensräume (Regenwälder, Korallen Treibhausgas, das zudem in der Stratosphäre an der riffe, Feuchtgebiete) verloren gehen, werden Evolutions- Zerstörung von Ozon beteiligt ist. zentren wie die Tropen möglicherweise nicht mehr die- –– Vor allem in unseren Breiten hat eine massive Über- selbe Rolle wie nach früheren Massenaussterben überneh- düngung zum Rückgang artenreicher Lebensräume ge- men können. Bleibt der Einfluss des Menschen auch über führt. Der Überschuss an Stickstoff beträgt im deutsch- geologisch längere Zeiträume bestehen, wären beispiels- landweiten Durchschnitt aktuell rund 90 Kilogramm weise Artbildungsprozesse bei größeren Säugetieren gar pro Hektar und Jahr. nicht mehr vorstellbar. Außerdem werden nur solche Arten stark gefördert, die sich an vom Menschen geprägte Die Dimensionen der Veränderungen im Stickstoffkreis- Lebensräume anpassen können. Eine erwartbare Erholung lauf werden durch entsprechende Zahlen aus dem 2005 und Reorganisation der Lebensvielfalt hat nach früheren erschienenen Millennium Ecosystem Assessment deutlich: © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit 36 Biol. Unserer Zeit 1/2021 (51) www.biuz.de veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz
Globaler Wandel | Im Fokus Vorindustriell betrug der globale Stickstofffluss aus der Literatur Atmosphäre in Land- und Wasserökosysteme 90–140 Mil- [1] WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen), Hauptgutachten: Welt im Wandel – lionen Tonnen Stickstoff pro Jahr, was durch einen ent- Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, 2011. sprechenden Rückfluss aufgrund der Denitrifizierung aus- [2] J. Jäger, Was verträgt unsere Erde noch? Wege in die Nachhaltig- geglichen wurde. Diesem Wert fügen wir jährlich rund keit. S. Fischer, Frankfurt/Main, 2007. 210 Millionen Tonnen Stickstoff hinzu, davon allein [3] J. Rockström et al., A safe operating space for humanity. Nature, 120 Millionen Tonnen durch Kunstdünger und den Anbau 2009, 461, 472–475. [4] W. Steffen et al., Planetary boundaries: Guiding human develop- von Pflanzen, die durch Symbiose mit N-fixierenden Bak- ment on a changing planet. Science, 2015, terien effizient Luftstickstoff festlegen [18]. https://doi.org/10.1126/science.1259855 [5] T.M. Lenton et al., Tipping elements in the Earth’s climate system. Zusammenfassung PNAS, 2008, 105, 1786–1793. Alle Erkenntnisse über das System Erde zeigen deutlich auf, [6] PIK (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung), Kippelemente – Achillesfersen im Erdsystem. dass die Menschheit so massiv in die Prozesse des Systems www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente eingreift, dass sich die Rahmenbedingungen für die Zu- [7] P. J. Crutzen, P. J., Geology of mankind, Nature, 2002, 415, 23. kunft – allerdings schon heute spürbar – deutlich ver- [8] C. N. Waters et al., The Anthropocene is functionally and stratigra- schlechtern. Die Ergebnisse der unterschiedlichen Konzepte phically distinct from the Holocene. Science, 2016, 351, weisen übereinstimmend in die gleiche Richtung: Mehrere https://doi.org/10.1126/science.aad2622 [9] W. Steffen et al., The Anthropocene: From global change to Sicherheitsgrenzen sind überschritten. Stoffkreisläufe wer- planetary stewardship. Ambio, 2011, 0044–7447, den im globalen Maßstab umgestaltet. Die Menschheit ist https://doi.org/10.1007/s13280-011-0185-x mit sich weiter beschleunigender Wirkung zur stärksten [10] S. Solomon et al., Irreversible climate change due to carbon gestaltenden Kraft auf der Erde geworden. Mit dem Klima- dioxide emissions. PNAS, 2009, 106, 1704–1709. wandel und der Vernichtung von Biodiversität sind irrever- [11] P. Horton et al., Estimating global mean sea-level rise and its uncertainties by 2100 and 2300 from an expert survey. sible Prozesse eingeleitet, und die Funktionalität von Öko- npj Climate and Atmospheric Science, 2020, 3, https://doi. systemen wird zunehmend eingeschränkt. Eine nachhal org/10.1038/s41612-020-0121-5 tige Entwicklung, die nicht zuletzt die Lebensgrundlagen [12] W. Steffen et al., Trajectories in the Earth System in the Anthropo- der Menschheit sicherstellt, ist jedoch nur innerhalb der cene. PNAS, 2018, 115, 8252–8259. biophysikalischen Grenzen des Systems Erde denkbar. Un- [13] IPBES, Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services, 2019. sere Konsum- und Produktionsmuster müssen sich in aller- [14] S. L. Pimm et al., The future of biodiversity. Science, 1995, 269, erster Linie an diesen Grenzen orientieren, um nachhaltig 347–350. zu sein. [15] A. D. Barnosky et al., Has the Earth’s sixth mass extinction already arrived? Nature, 2011, 471, 51–57. Summary [16] N. Myers, A.H. Knoll, The biotic crisis and the future of evolution. PNAS, 2001, 98, 5389–5392. The biophysical guardrails for sustainable [17] WWF, Living Planet Report 2020. development: How human activities change [18] Millennium Ecosystem Assessment, Ecosystems and human the Earth system well-being. Volume 1: Current state and trends. Island Press, All scientific findings about the Earth system show clearly Washington, Covelo, London, 2005. that humanity intervenes so massively in Earth system pro- cesses that the conditions for future generations – but al- Der Autor ready noticeable today – will deteriorate significantly. The Hannes Petrischak studierte Biologie in Kiel. Von 2006 bis 2016 war er im Saarland für die Bildungs- results of different concepts point in the same direction initiative „Mut zur Nachhaltigkeit“ tätig, ab 2010 consistently: Several planetary boundaries have been ex- als Geschäftsführer der Stiftung Forum für Verant- ceeded, biochemical cycles are being reshaped on a global wortung. Seit 2016 leitet er den Geschäftsbereich scale, humanity has even become the most powerful form- Naturschutz der Heinz Sielmann Stiftung. Am ative force on earth, irreversible processes like climate Umwelt-Campus Birkenfeld (Hochschule Trier) ist er Dozent im berufsbegleitenden Masterstudien- change and loss of biodiversity are accelerating, the func- gang „Sustainable Change – Vom Wissen zum tionality of ecosystems is decreasing. Sustainable develop- Handeln“. ment, which ensures the safe and comfortable existence of human societies on Earth, is conceivable only within the biophysical boundaries of the Earth system. Our consump- Korrespondenz: Dr. Hannes Petrischak tion and production patterns must first and foremost be Heinz Sielmann Stiftung oriented towards these boundaries in order to be sustain- Dyrotzer Ring 4 able. 14641 Wustermark/Elstal E-Mail: hannes.petrischak@sielmann-stiftung.de Schlagworte: System Erde, Planetare Grenzen, Kippelemente, Anthropo- zän, Stoffkreisläufe, Große Beschleunigung, Nachhaltigkeit. © 2021 Die Autoren. Biologie in unserer Zeit veröffentlicht durch VBiO e.V. unter der CC-BY-SA 4.0-Lizenz www.biuz.de 1/2021 (51) Biol. Unserer Zeit 37
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