Wie Hebammen zum ganzen Spektrum ihrer Kompetenzen zurückfinden
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Dossier Wie Hebammen zum ganzen Spektrum ihrer Kompetenzen zurückfinden Vor nicht allzu langer Zeit gehörte die Schwangerenvorsorge ganz selbstverständlich zum Tätigkeitsbereich der Hebamme. Mittlerweile geniesst die hebammengeleitete Schwangerenvorsorge Seltenheitswert: Im ersten Trimester werden heute schätzungs weise 4 % aller Kontrollen von Hebammen durchgeführt. Dabei können das salutogene Betreuungsmodell und die hebammenspezifische Sichtweise einen wichtigen Beitrag zu einer interventionsarmen, frauenzentrierten Geburtshilfe leisten. Es ist höchste Zeit, dass Hebammen eigene Standards entwickeln, sich politisch engagieren und ihre angestammten Kompetenzen einfordern. Beatrix Angehrn Okpara Auch wenn die Erfahrungen mit der Schwangerenvor- Geburtshilfe gestalten, Einfluss auf die Welt und auf die sorge im Geburtshaus Zürcher Oberland sehr positiv emotionale Matrix, in die sich das ungeborene Kind hin- sind, so begegnen den Hebammen doch wiederkehrend einentwickelt.[ 2 ] grosse Verunsicherungen, Unwissen und Druck. Viele Im Geburtshaus beraten wir Frauen so, dass sie eigenver- Schwangere sind im Glauben aufgewachsen, dass die antwortlich entscheiden können, was zur Stärkung und Geburt gefährlich und der «Schutz» durch eine überge- zum Schutz ihrer selbst sowie ihres Ungeborenen wichtig ordnete Institution deshalb notwendig sei. Es liegt oft ist. Die betreuten Frauen und Paare sollen «guter Hoff- ausserhalb ihrer Vorstellungskraft, dass die Sicherheit nung» sein. Gesunde Schwangere fühlen oft zuverlässig, im eigenen Körper zu finden ist, und sie kennen auch die ob es ihnen und ihrem Kind gut geht, das bestätigt sich eigenen Ressourcen nicht mehr, die ihnen zur Verfügung bei uns im Geburtshaus Zürich Oberland immer wieder – stehen. [ 1 ] und wir blicken auf 21 Jahre Erfahrung zurück, in denen Eine Gebärkultur beruht auf Erfahrungen. Genau diese Er- wir über 3500 Paare begleitet haben. Glücklicherweise fahrungen fehlen aber oft nicht nur Erstgebärenden, weil haben wir ein Umfeld mit ärztlichen Vertrauenspersonen, Geburten – genau wie der Tod – in fremden Institutionen die uns bei komplexen Fragestellungen beratend zur Seite stattfinden. Kein Wunder ist das Kohärenzgefühl der stehen. Schwangeren und damit auch deren Anpassungsfähig- keit an das Ereignis Geburt sehr schwach ausgeprägt.[ 1 ] Klima der Angst vermeiden Doch auch vielen Hebammen und Fachärztinnen fehlt Tatsächlich erreichen uns aber immer wieder Anfragen die Erfahrung im Umgang mit einer natürlichen Geburt, von verunsicherten Schwangeren: «Soll ich diesen Gluko- denn in Schweizer Spitälern sind Interventionen bei ca. setoleranztest wirklich machen?» «Jedes Mal ein Ultra- 90 % aller Geburten an der Tagesordnung. schall – muss das sein?» Später wird ihnen gesagt, «Ihr Kind ist zu klein», oder wahlweise «Ihr Kind ist zu gross», Eigenverantwortung der Frauen ansprechen auch gerne «Ihr Becken ist zu schmal, da sollten sie besser Schwangere zahlen für den vermeintlichen Schutz, den einen Kaiserschnitt planen». Erstmals sind die werdenden die vielen Routineuntersuchungen bieten sollen, einen Eltern gefordert, nicht nur für sich selbst zu entscheiden, hohen Preis, denn die oft damit verbundenen Ängste sondern auch für das Ungeborene. Diese Situation wird und Sorgen können rasch in einen anhaltenden Stresszu- von Betreuungspersonen gerne dazu benutzt, Druck in stand münden. Für das Hirn des Ungeborenen wird die- eine bestimmte Richtung auszuüben und Entscheidun- ser Zustand zum «Normalfall», er beeinflusst die neuro- gen zu forcieren. «Setzen Sie Ihr Kind keinem unnötigen logische Entwicklung, und es ist bisweilen sehr schwer, Risiko aus!» Unter der Wucht dieser Ermahnung akzeptie- diesen Drang zur Erzeugung innerer Unruhe, der durch ren Schwangere meist widerstandslos alle Empfehlungen solche Anpassungen der Hirnentwicklung an vorgeburt- und scheuen sich vor der Übernahme von Verantwor- liche Einflüsse entstanden ist, beim Kind später wieder tung, anstatt einfühlsam dabei begleitet zu werden, her- aufzulösen.[ 2 ] Somit hat die Art und Weise, wie Ärzte, auszufinden, was für sie individuell stimmig ist. Hebammen, Wissenschaftler, Politiker und andere ge- Die besten Karten haben hier Frauen, die bereits daran sellschaftliche Kräfte die Schwangerenvorsorge und die gewöhnt sind beziehungsweise darin bestärkt werden, selbstbewusst die Verantwortung für ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Entscheidungen zu übernehmen, 8 Hebamme.ch • Sage-femme.ch 6 2015
und die sich mit den Konsequenzen von Interventionen Wie Frauen Schwangerschaft und Geburt erleben, liegt während der Schwangerschaft auseinandersetzen. «Heb- auch in der Verantwortung der Hebammen (siehe Kasten ammen gehen unter allen Umständen auf die psychologi- unten). Generell werden Schwangere zu wenig über Nut- schen, physischen, emotionalen und spirituellen Bedürf- zen und mögliche Nachteile von Vorsorgeuntersuchun- nisse der Frauen ein, die eine gesundheitliche Betreuung gen informiert beziehungsweise kommt es den Frauen suchen», lautet der internationale Ethikkodex der Hebam- und ihren Partnern gar nicht in den Sinn, die gängige Pra- men.[ 3 ] Im aktuellen Betreuungsmodell werden Hebam- xis zu hinterfragen. Ein Frühultraschall in der 8. Schwan- men jedoch als mögliche Betreuungspersonen für die gerschaftswoche (SSW) erfolgt in einer empfindlichen Schwangerenvorsorge gänzlich ausgeklammert. Vielen Phase der Zellteilung und bringt keine erwiesenen Vor- Frauen ist gar nicht klar, dass Hebammen überhaupt teile für Mutter und Kind. Häufige Vaginalultraschall Schwangerenvorsorge anbieten und welche Grundhal- untersuchungen können das Infektionsrisiko sogar erhö- tung das hebammengeleitete Betreuungsmodell aus- hen. Die kontinuierliche Vorsorge durch Hebammen zeichnet. reduziert das Risiko eines Aborts vor der 24. SSW, vermin- Die Aktion der Zürcher Hebammensektion, die an der dert das Risiko für Frühgeburten und erhöht gleichzeitig Hochzeitsmesse im Januar Schwangerschaftstests mit die Chance auf eine natürliche Geburten ohne PDA oder dem Slogan «Zu jeder Schwangerschaft gehört eine Heb- operative Beendigung. [ 5 ] amme – von Anfang an» verteilten, ist deshalb beson- Die Schwangerenvorsorge liegt seit jeher eindeutig im ders gelungen. Fast alle Frauen vereinbaren nach einem Kompetenzbereich der Hebamme. Diese Kompetenz soll- positiven Schwangerschaftstest ganz automatisch ei- ten Hebammen mit Nachdruck einfordern, anstatt sich nen Termin bei ihrem Gynäkologen und bekommen die dem politischen Hickhack zu beugen und den bequemen weiteren Untersuchungstermine alle vier Wochen durch- Weg zu gehen, nämlich die Verantwortung an andere ab- choreografiert; vorgesehen sind neun Ultraschallunter- zutreten. Allzu oft gehen Hebammen bei der Ausübung suchungen. Wären Frauen besser informiert, würden sie ihrer Tätigkeit Kompromisse ein, zum Beispiel indem sie selbstbestimmt entscheiden, was nötig ist. gesunden Schwangeren Tests und Screenings wie Ultra- schall, Glukosetoleranztest und Strepto B empfehlen, Das traditionelle Selbstverständnis bröckelt damit sie rechtlich abgesichert sind. Dies, obwohl die Berufspolitisch erschwerend kommt hinzu, dass Hebam- Massnahmen keinen Mehrwert für Mutter und Kind men im Vergleich zu Gynäkologen nur selten Schwanger- nachweisen, sondern gesunde Schwangere völlig unnö- schaftsvorsorge übernehmen. Über 50 % der wenigen tig in die Gruppe der Risikoschwangeren katapultieren. Hebammenkontrollen erfolgen erst im dritten Trimester, Gewisse Routineuntersuchungen sollten bewusst nur im ersten Trimester sind es nur 4 % (siehe auch Artikel bei bestimmten Risikogruppen erfolgen. [ 6 ] auf Seite 4). Viele Hebammen verlieren dadurch das Ver- trauen in ihre Fähigkeit, eine Schwangerschaft von Umfassend und ergebnisoffen beraten Beginn weg eigenverantwortlich begleiten zu können Im Geburtshaus Zürcher Oberland sehen wir die Schwan- beziehungsweise scheuen die Verantwortung – nicht gerschaft als prägendes Ereignis in der Biographie der zuletzt aufgrund des von Angst geprägten Klimas. Frau beziehungsweise des Paares. Entsprechend möch- Diese schleichende Erosion des Berufsbildes ist auch bei ten wir sie dabei unterstützen, daran zu wachsen und der Geburt zu beobachten. Wenn eine Hebamme kaum stark zu werden. Ein erstes Gespräch ermöglicht eine natürliche Geburten erlebt, verliert sie das Vertrauen in richtungsweisende Besprechung: Welche Einstellung ha- diesen Lebensprozess und kann die Frau in der Schwan- ben die Frau und ihr Partner zum Leben? Was möchten gerschaft nicht (mehr) zielführend begleiten. Der Wis- sensstand von Hebammen und Fachärzten in der Schweiz beruht grösstenteils auf einer interventionsbasierten Ge- burtshilfe. Tatsächlich ist es durchaus möglich, sich zur Berufsprofil einer Hebamme Fachärztin ausbilden zu lassen, ohne je eine natürliche Als Expertinnen für Mutterschaft begleiten Hebammen Geburt erlebt zu haben! Doch was genau ist heute eine werdende Mütter, Gebärende, Neugeborene und ihre Fami- natürliche Geburt? lien während der Schwangerschaft, der Geburt, der Zeit im Definition natürliche Geburt gemäss Masterthesis von Wochenbett und der Stillzeit. Als Gesundheitsfachleute Beatrix Angehrn, 2010: [ 4 ] kommen sie von der Familienplanungsphase über die ersten – Die Geburt beginnt von selbst Wochen nach der Empfängnis bis zum vollendeten ersten – Die Frau nimmt eine aktive Gebärposition ein Lebensjahr des Kindes und dem Abschluss der Rückbildungs- prozesse bei der Frau zum Einsatz. Sie begleiten die Frau – Keine Opiate oder Periduralanästhesie (PDA) durch die gesamte Schwangerschaft und ziehen bei regel- – Keine Wehenbeschleunigung widrigen Verläufen andere Fachpersonen hinzu. – Kein Dammschnitt Die Hebammen tragen die Verantwortung für den Ablauf – Keine forcierte Pressphase des Geburtsprozesses, vom Einsetzen der Wehen bis zur – Keine operative Geburtsbeendigung Geburt. Die Anästhesisten, Gynäkologinnen, Kinderärzte Im Geburtshaus Zürcher Oberland gebären 90 % der sowie weitere Fachpersonen kommen erst zum Einsatz, Frauen natürlich, nach Beginn der Spontangeburt liegt wenn sich Komplikationen abzeichnen. die Kaiserschnittrate bei 4 %. In Kliniken finden gemäss Auszug des Textes unter www.hebamme.ch › Schweizerischer obiger Definition geschätzt noch 5 bis 10 % natürliche Hebammenverband › Hebamme werden › Berufsprofil Geburten statt. 6 2015 Hebamme.ch • Sage-femme.ch 9
Dossier Fünf Pfeiler der Hebammenarbeit im Geburtshaus Zürcher Oberland Salutogenese Lebens- Evidenzbasiert bejahend Ressourcen Hebammen- arbeit Kohärenzgefühl orientiert sie über Schwangerschaft und Geburt wissen? Wie stel- Ursprung, Herkommen, Entstehung steht. Als Begrün- len sie sich die Betreuung vor und was ist ihnen dabei der und Wortschöpfer gilt der Medizinsoziologe und wichtig? Welche Untersuchungen wünschen sie und was Stressforscher Aaron Antonovsky (1997). bringen diese Mutter und Kind konkret? Welches sind – Evidenzbasierte Medizin: Der gewissenhafte, aus- mögliche körperliche, therapeutische und emotionale drückliche und vernünftige Gebrauch der gegen Konsequenzen der Untersuchung beziehungsweise der wärtig besten externen, wissenschaftlichen Belege Ergebnisse? (Englisch: evidence) für Entscheidungen in der medi Gerade beim letzten Punkt ist eine umfassende und er- zinischen Versorgung individueller Patienten. gebnisoffene Beratung entscheidend. Diese ist eng an das – Sense of Coherence (SOC): Das Kohärenzgefühl von der Hebamme, Buchautorin und Dozentin Verena umfasst die drei Aspekte Nachvollziehbarkeit, Hand- Schmid geforderte eigenständige Denkmodell mit salu- habbarkeit und Bedeutsamkeit. Uns ist wichtig, togenem Schwerpunkt geknüpft. [ 1 ] Es gilt, sachlich und dass wir die Frau ganzheitlich bereits ab der Früh-SSW differenziert darzustellen, welchen Nutzen und auch wel- begleiten. Im Zentrum eines zukunftsfähigen Gesund- che Konsequenzen gewisse Informationen haben. Die heitskonzepts steht stimmige Verbundenheit. Jedes Journalistin Monika Hey, die mit 45 Jahren unerwartet Stimmigkeitserleben stärkt unsere Gesundheit. [ 9 ] schwanger wurde und sich nach einer Nackenfaltenmes- Von uns betreute Frauen geben die Rückmeldung sung unvermittelt mit der Prognose Schwere Trisomie 21 nach einer Schwangerschaftskontrolle durch Tast konfrontiert sah, fordert in ihrem Buch «Mein gläserner befunde, dass sie sich wohl fühlen, gestärkt und mit Bauch» ein Recht auf Nichtwissen. [ 7 ] Fest steht: Die Er- Zuversicht der weiteren Schwangerschaft und Geburt gebnisse von Frühtests bieten keine hundertprozentige entgegenblicken. Garantie, können die werdenden Eltern aber in eine tief- – Ressourcenorientiert: Ausgangspunkt ist im Geburts- greifende Krise stürzen – wobei erneut das Thema Dauer- haus die Frage: Was bringt die Frau mit, was stärkt stress in den Fokus rückt. Anhaltender, das heisst chroni- sie? Wir fördern das Vertrauen der Frau in sich und scher Stress führt zu Distress, der sich unmittelbar auf in ihr Kind, aber auch in uns als Hebammen, dass wir die Plazenta und damit das Kind auswirkt (verschlech- sie fachlich kompetent betreuen und ihr die Sicher- terte Plazentation, reduzierte Durchblutung). [ 1 ] Hinzu heit vermitteln, die sie benötigt. Medizinisch-wissen- kommt, dass sich die Folgen von Distress und die Ten- schaftlich formulierte Sicherheitsstandards sind für denz, Distress zu entwickeln, auf zukünftige Generatio- unsere Arbeit im Geburtshaus oft die grösste Hürde, nen übertragen können. [ 8 ] weil sie risikoorientiert sind und sich nicht an der gesunden Mehrheit der Schwangeren orientieren. Die Salutogenese als Leitstern – Lebensbejahend: Wir sehen Schwangerschaft und Im Geburtshaus Zürcher Oberland praktizieren wir ein Geburt als ein positives Erlebnis im Leben einer Frau. humanistisches Betreuungsmodell und stellen unsere Wir pflegen bewusst eine lebensbejahende Sprache Arbeit auf fünf Pfeiler. und vermeiden Aussagen wie etwa «Ihr Kind ist zu – Salutogenese: Die Salutogenese beschäftigt sich gross». Stattdessen arbeiten wir mit Formulierungen mit der Erhaltung von Gesundheit. Der Begriff leitet wie: «Ein kräftiges Kind! Toll, wie es seit der letzten sich vom lateinischen Wort salus ab, was so viel wie Kontrolle gewachsen ist.» Unverletztheit, Heil, Glück, bedeutet, während das Wort Genese aus dem Griechischen stammt und für 10 Hebamme.ch • Sage-femme.ch 6 2015
Im Geburtshaus Zürcher Oberland ist es unser Ziel, wer- nommierte Rechtsprofessor Rainer J. Schweizer kommt dende Eltern in ihrem Selbstbewusstsein und in ihrer in einem 18-seitigen Gutachten vom Februar zum Freude zu bestärken, sie kompetent und einfühlsam Schluss, dass dem Kanton im Rahmen der Spitalplanung zu begleiten und optimal auf die Geburt einzustimmen. die Rechtsgrundlage fehlt, «medizinische Indikationen Ein wichtiger Aspekt ist hierbei ein entspanntes Umfeld, zur Grundlage von absoluten Leistungsverweigerung zu vor allem im letzten Trimester. Wir beraten die Schwan- machen». Die Verweigerung der Kostenübernahme sei geren bezüglich Haltung, Ruhe, Ausdauer, Sich-Zeit-Neh- eine verfassungsrechtlich unzulässige Einschränkung der men, In-sich-Hineinspüren, Vorbereitung für die Entwick- Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Schwangeren. lung von Vertrauen in die Gebärfähigkeit (zum Beispiel Schweizer kritisiert insbesondere auch die Ungleichbe- Schwangerschaftsyoga, Hypnobirthing usw.). Leider ist handlung in Bezug auf die sogenannten Wunschkaiser- Stress am Arbeitsplatz ein wiederkehrendes Thema, das schnitte. Er beruft sich dabei auf einen Bericht des Bun- die werdende Mutter sehr beschäftigt und erschöpft. desamts für Gesundheit von 2013, in dem ausdrücklich Hier sollten Hebammen aufgrund ihrer Fachkompetenz vor dessen gravierenden Risiken für Mutter und Kind ge- befugt sein, ein Arbeitsunfähigkeitsattest auszustellen. warnt wird. In der Ablehnung des Rekurses vom 24. April Hilfreich wäre es zudem, wenn die Mutterschutzbestim- stellt die GDZ lapidar fest: «Es steht den Hebammen frei, mungen ausgeweitet würden, beispielsweise genügend mit berufspolitischen Schritten dem Trend von höheren frische Luft, Sonne, Ruhe und Bewegung. Ab der 36. SSW Kaiserschnittraten in Spitälern entgegenzuwirken.» müsste die Schwangere aus dem Arbeitsumfeld gelöst Dies zeigt, dass Hebammen nicht darauf warten können, werden. dass sich jemand für ihre und die gesellschaftlichen An- liegen einsetzt. Dabei könnten sie als erste Anlaufstelle Stolpersteine in der Politik für Schwangere einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Beim Trend, die Schwangeren zu Patienten zu machen, stressigen und oftmals mit unnötigen Interventionen geht es klar um die Sicherung von Marktanteilen. Ob- verbundenen Screenings einzudämmen, bei denen die wohl Hebammen die Schwangerenvorsorge kompetent Schweiz im europäischen Vergleich führend ist – ein und auch kostengünstig anbieten könnten, herrscht in trauriger Spitzenplatz. der Schweiz ein Verdrängungskampf, der mehr mit Lob- byarbeit als mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Finanzielle und rechtliche Aspekte tun hat. Die Schwangerschaftsvorsorge von Hebammen ermög- Mit dem kantonalen Versorgungsauftrag auf der Spital- licht in der Tarifierung mit dem 20-jährigen Hebammen- liste 2012 haben die zwei Zürcher Geburtshäuser erfah- vertrag keine Lebensgrundlage. Im Vergleich zur fachärzt- ren müssen, dass die Entscheidungsträger der Gesund- lichen Betreuung sind die Tarife sehr niedrig, und in der heitsdirektion Zürich (GDZ) kein Interesse daran hatten, hebammengeleiteten Schwangerenvorsorge fehlt eine bewährte Hebammenstandards zu übernehmen, son- Abgeltung für Infrastruktur und telefonische Beratung. dern ihr Augenmerk vor allem darauf richteten, die Inte Während ein Arzt bei einer komplikationslosen Schwan- ressen der Gynäkologen zu schützen. Das zähe Ringen gerenvorsorge mit wenig Aufwand rund CHF 5000.– der Geburtshäuser um eigene Standards hält an, weigert abrechnen kann, kommt die Hebamme auf magere sich doch die GDZ seit dem 1. Januar, die Kosten für CHF 500.– bis 1000.–. Frauen mit Status nach Sectio zu übernehmen. Der re- Das Damoklesschwert eines Schadensfalls und einer da- mit möglicherweise verbundenen Strafverfolgung hängt immer schwerer über den Köpfen der Hebammen. Welt- weit werden ausserklinisch arbeitende Hebammen für Autorin schwierige Outcomes verantwortlich gemacht mit der Begründung, es liege an der Geburtsleitung, obwohl pla- zentare organspezifische Probleme vorlagen, die sich nicht nach aussen zeigten. «Besonders Notfälle, die bei Hausgeburten auftreten, werden von den Gerichtsver- ständigen gerne in diese Richtung gedeutet und dann einem Versagen der Hebamme zugeschrieben.» [ 10 ] Hier muss unbedingt eine grundlegende gesellschaftliche Diskussion angestossen und die Hebammentätigkeit ge- schützt werden: «Der Durchbruch wäre es, wenn grund- sätzlich die physiologische Betreuung als der Standard gesehen würde, gegen den sich alle Interventionen als vergleichsweise besser behaupten müssten, anstatt umgekehrt. Leider wird dies trotz solider Evidenz, die Beatrix Angehrn Okpara Hebamme MSc Midwifery, beweist, dass so gut wie alle Tests, Medikamente, Proze- ist Geschäftsleiterin des Geburtshauses Zürcher Oberland. duren und Vorschriften bei häufigem oder routinemäs 2011 absolvierte sie den MBA Health Services Management. sigem Einsatz weder sicher noch sinnvoll sind, ein hartes Sie ist Co-Präsidentin der Interessengemeinschaft der Stück Arbeit bleiben.» [ 6 ] Geburtshäuser Schweiz und führt Tarifverhandlungen für stationäre Behandlungen (DRG) mit Krankenkassenverbänden. Sie ist verheiratet und Mutter eines Sohnes. info@geburtshaus-zho.ch | www.geburtshaus-zho.ch 6 2015 Hebamme.ch • Sage-femme.ch 11
Dossier Akademisierung ist Chance und Risiko zugleich Ganzes Spektrum an Kompetenzen einsetzen Der Studiengang Hebamme BSc/MSc ist in das schweize- Rund um den Erdball belegen die Erfahrungen in der rische und auch internationale Bildungssystem eingebet- ausserklinischen Geburtshilfe, das heisst in Geburtshäu- tet, was erfreulich und dem Ansehen des Hebammenbe- sern und bei Hausgeburten eindrücklich, dass eine inter- rufs sicherlich zuträglich ist. Dennoch ist die Ausbildung ventionsarme, bestärkende und individuelle Begleitung ein Spagat zwischen authentischer Hebammenwissen- während der Schwangerschaft der beste Garant für schaft und schulmedizinischer «Technik». Die Akademisie- einen positiven Verlauf der gesamten Mutterschaft ist. rung des Hebammenberufs stellt sowohl Risiko als auch Die Politik, der SHV, die Ausbildungsstätten und Kranken- Chance dar: Wird dabei das medizinisch-wissenschaftliche kassenverbände sind gemeinsam dafür verantwortlich, Modell angestrebt, wird dies das Konkurrenzdenken wei- die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Art ter verstärken. Resultiert daraus ein eigenes Denkmodell von Schwangerenvorsorge zum Standard wird. Für die mit salutogenetischem Schwerpunkt, kann ein Dialog Hebammen bedeutet es, dass sie zurück zum ganzen zwischen gleichwertigen Partnern mit unterschiedlichen Spektrum ihrer angestammten Kompetenzen finden und Kompetenzen entstehen. [ 1 ] diese vollumfänglich zum Wohle von Mutter und Kind Eigene Standards werden das Berufsbild der Hebamme einsetzen. Das salutogene ganzheitliche Modell sichert wesentlich stärken. Die Bestrebungen des Schweizeri- die Zufriedenheit im Hebammenberuf. Es ist die ureigene schen Hebammenverbandes (SHV), ein verbindliches Be- Fähigkeit der Frauen, Kinder zu gebären. Selbstbewusst rufsbild festzulegen und gängige Standards aus Sicht der sollten Hebammen Anspruch erheben auf eine frauen- Hebammenwissenschaft zu überprüfen und wo nötig zentrierte Geburtshilfe, welche die Würde, die Intimität anzupassen, sind äusserst begrüssenswert. Es braucht und auch die Unversehrtheit von Körper, Geist und Seele Mut, um gegen den Strom zu schwimmen, und es braucht gewährleistet. Erfahrung sowie eine nachhaltige wissenschaftliche Aus- einandersetzung mit dem Fachgebiet. Die Hebammen sind aufgefordert, sich für ihre Werte einzusetzen, sich ( das ganze Spektrum der Kompetenzen und einen reichen Wenn es einen Glauben gibt, Erfahrungsschatz anzueignen. Sie erreichen dieses Ziel, der Berge versetzen kann, so ist es wenn sie sich gemeinsam dafür einsetzen, dass in der der Glaube an die eigene Kraft. Schweiz eine frauenzentrierte Schwangerenvorsorge Marie von Ebner-Eschenbach, österreichische Fuss fassen kann. Schriftstellerin (1830–1916) Partnerschaftlichkeit als Grundlage für Systemwechsel Um dem gegenseitigen Misstrauen beziehungsweise der sich verschärfenden Konkurrenzsituation zwischen Gynäkologinnen / Gynäkologen und Hebammen sowie Referenzen Spitälern und Geburtshäusern andererseits zu begeg- 1 Schmid V: Schwangerschaft, Geburt und Mutter- nen, bedarf es einer politischen Grundsatzentscheidung: werden – ein salutogenetisches Betreuungsmodell. Wer ist wofür zuständig? Tatsache ist, dass diejenigen 2011. 2 Hüter G, Krens I: Das Geheimnis der ersten neun Betreuungsmodelle aus Sicht der frauenzentrierten Monate. Patmos Verlag 2008, 6. Auflage. Schwangerenvorsorge am besten funktionieren, die eine 3 International Codex of Midwifery (ICM), 1994, partnerschaftliche Betreuung aller beteiligten Betreu- Punkt 2d. ungspersonen sicherstellen. [ 11 ] 4 Angehrn B: Vertrauen in die Gebärfähigkeit. In England gelang die Kehrtwende in den 1990er-Jahren, Masterthesis 2010, Universität Krems. weil sich der Gesetzgeber für die hebammengeleitete Ge- 5 Midwife-led continuity models versus other models burtshilfe als Basismodell für Schwangerenvorsorge und of care for childbearing women. Cochrane Database Geburt entschied. [ 12 ] Das National Institute for Health Syst Rev 2013, DOI 10.1002/14651858.CD004667. and Care Excellence (NICE) stellt in der Leitlinie von 2014 pub3. 6 Schwarz C, Stahl K: Grundlagen der evidenz fest, dass für etwa die Hälfte aller Frauen mit einer un- basierten Betreuung. Elwin Staude Verlag 2011. komplizierten Schwangerschaft eine Hausgeburt oder die 7 Hey M: Mein gläserner Bauch: Wie die Pränatal Geburt in einem von Hebammen geleiteten Geburtshaus diagnostik unser Verhältnis zum Leben verändert. sicherer sei als die Geburt in einer Klinik.[ 13 ] «Every woman 2012. should ultimately have the freedom to choose where she 8 Nathanielsz P W: Life in the womb, the origin of wants to give birth and be supported in her choice», so health and disease. Ithaca 1999, New York. Christine Carson, clinical guideline programme director, 9 Petzold TD: Praxisbuch Salutogenese: Warum NICE. Gesundheit ansteckend ist. Südwest Verlag 2010. Die neuseeländische Premierministerin Helen Clark setzte 10 Rockenschaub A: Gebären ohne Aberglauben – Fibel und Plädoyer für die Hebammenkunst. Facultas den Rechtsgrundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Leistung» 2005, 3. Auflage, Seite 429. in die Praxis um und legte für alle Betreuungspersonen 11 Floyd-Davies R: Birth Models that Work. 2009. die gleichen Tarife fest – eine spektakuläre Entscheidung, 12 Tew M: Sichere Geburt. Mabuse-Verlag 2007, S. 99. die umgehend Wirkung zeigte, denn Hebammen sind 13 w ww.nice.org.uk > News > News and features > dort heute in 80 % der Fälle erste Ansprechperson für 03 December 2014. Schwangere. Beide Länder sind für Schweizer Hebammen 14 Floyd-Davies R: Birth Models that Work. ein wichtiges Best-Practice-Modell, von dem sie viel ler- 2009, S. 55. nen können. [ 14 ] 12 Hebamme.ch • Sage-femme.ch 6 2015
Literaturtipps Literaturtipps der Berner Fachhochschule, Fachbereich Gesundheit, Disziplin Geburtshilfe, Bern zusammengestellt von den Dozentinnen Anita Jakob, Helene Gschwend und Ilse Steininger Buckley S J (2015) NICE (2015) Hormonal Physiology of Childbearing: Evidence and Antenatale care Implications for Women, Babies, and Maternity Care Verfügbar unter www.nice.org.uk › Guidance › Clinical guidelines › Washington DC: Childbirth Connection Programs, National Partnership for Women Antenatal care (CG62) & Families, January 2015. Verfügbar unter http://childbirthconnection.org Diese NICE-Guideline gibt Informationen zu einer evidenz basierten, frauenzentrierten Schwangerenbetreuung. Sehr übersichtlich dargestellt werden die Neuheiten aus der For- schung zum Thema Lifestyle, hämatologische Screenings (Sichelzellanämie, Thalassämie), Gestationsdiabtetes (Screen ing, Risikogruppen) und Pränataldiagnostik. Ebenfalls aus geweitet wurden die Empfehlungen zur vorgeburtlichen Information und Beratung der Schwangeren. Die neuen Erkenntnisse sind relevant für die Schwangerenbetreuung durch Hebammen, da sie eine fundierte Grundlage zur in dividuellen Beratung bieten. Royal College of Obstetricians & Gynaecologists (2015) Chickenpox in Pregnancy: Greentop Guideline No 13 Verfügbar unter www.rcog.org.uk › Guidelines & research services › Guidelines Diese Greentop-Guideline beschreibt alles Wissenswerte zur Erkrankung mit Varizellen in der Schwangerschaft. Empfeh- lungen zu Erstinfektion, Impfungen, Isolation, Geburtsmodus, Die Childbirth Connection ist eine amerikanische Selbsthilfe- Übertragung auf das ungeborene Kind, Komplikationen usw. organisation, die ein auf die Physiologie abgestütztes Betreu- werden anhand von Fragen aus der Praxis aufgearbeitet und ungssystem für die Mutterschaft fördern will. Dr. med. mit ihrem Evidenzlevel untermauert. Der Algorithmus zum Sarah Buckley beschreibt in diesem 248 Seiten umfassenden Management bei Varizellenkontakt in der Schwangerschaft Skript das Grundlagenwissen zur hormonellen Steuerung von rundet diese praxisorientierte Guideline ab und macht sie Schwangerschaft und Geburt bis ins Wochenbett. Mit die- für Hebammen zu einem Werkzeug, das sie bei der Risikoein- sem Buch wird erklärbar, wie Hebammenarbeit die Physio schätzung und -selektion unterstützt. logie der Schwangerschaft und der Geburt unterstützen res- pektive schützen kann oder was vermieden werden sollte, um diese komplexen Prozesse nicht zu stören. Queensland Centre for Mothers & Babys Labour and Birth Decision Aids Verfügbar unter www.havingababy.org.au › Labour & Birth › Deutscher Hebammenverband (2015) Labour & Birth Decision Aids Schwangerenvorsorge durch Hebammen Die Entscheidungshilfen des unabhängigen Forschungszent- 3. Auflage, Stuttgart: Hippokrates Verlag rums der University of Queensland, finanziert durch die Ausgehend von den Bedürfnissen und Wünschen der schwan- Regierung von Queensland, sind ansprechend gestaltet, klar geren Frau, evidenzbasiertem Arbeiten und Grundsätzen der strukturiert und beschreiben Schritt für Schritt mögliche Schwangerenvorsorge durch Hebammen wird das praktische Entscheidungsvarianten für Schwangere / werdende Eltern Vorgehen von Hebammen im Bereich der Schwangerenvor- bezüglich ihrer Schwangerschafts- und Geburtsbetreuung. sorge ausführlich dargestellt. Dieses Buch vermittelt praxis Sie sind auf die Bedürfnisse von werdenden Eltern ausgerich- orientiertes Grundlagenwissen und kann als Nachschlage- tet, informieren umfassend und befähigen die Schwangere, werk dienen. Hilfreich zum Kopieren und Abgeben an die eine informierte Wahl zu treffen. Statistische Angaben zu Frauen sind die zahlreichen Informationsblätter mit Empfeh- Risiken werden anschaulich und sehr bildlich dargestellt. Sie lungen von Hebammen für die Schwangere. sind anhand von konkreten Fragen und Antworten sowie dem verfügbaren Stand der Evidenzen zu Interventionen ver- sehen. Der Hebamme können diese Entscheidungshilfen zur evidenzbasierten Information ihrer Klientinnen empfohlen werden. Sie sind als Diskussionsgrundlage und als Grundlage zur Erstellung eines Geburtsplanes bestens geeignet. 6 2015 Hebamme.ch • Sage-femme.ch 13
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