Nobels Friedenspreis für Bertha von Suttner - HELMUT BOCK
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UTOPIE 182-D 17.11.2005 8:17 Uhr Seite 1073 UTOPIE kreativ, H. 182 (Dezember 2005), S. 1073-1080 1073 HELMUT BOCK Nobels Friedenspreis für Bertha von Suttner Das Aktuelle in der Geschichte Im Herbst 1875 reiste eine junge Frau von Wien nach Paris, um sich als »sprachenkundige Sekretärin« zu verdingen. Sie folgte der Zei- tungsannonce eines »älteren Herrn«, der ihr nach wenigen Tagen anvertraute, eine ungeheure Absicht zu hegen: »Ich möchte einen Stoff, eine Maschine schaffen können, von so fürchterlicher, mas- senhaft verheerender Wirkung, dass dadurch Kriege überhaupt un- möglich würden!«1 Schrecklicher war die Idee des Weltfriedens zuvor nie gedacht worden. Hier keimte das Projekt, den Krieg durch die ihm eigene zerstörerische Logik, die bewusste Überspannung seiner Vernich- tungsgewalt, ad absurdum zu führen. Es war ein Plan, der sowohl von einem hochsinnigen »Doktor Faust« als auch von einem zyni- schen »Mephistopheles« verfolgt sein konnte. »[...] An dem Tag, da zwei Armeekorps sich gegenseitig in einer Sekunde werden ver- Helmut Bock – Jg. 1928; nichten können, werden wohl alle zivilisierten Nationen zurück- Prof. em. Dr. phil. habil., schaudern und ihre Truppen verabschieden.«2 Historiker, Mitglied der Leibniz-Sozietät. Zuletzt in Dieser Welt-Friedens-Täter, der den schlechthin verheerenden UTOPIE kreativ: Vom Elend Bannstrahl erzeugen wollte, um die Staaten zum Frieden zu zwingen, historischer Selbstkritik, war Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits. Die junge Frau: Grä- Heft 180 (Oktober 2005). fin Kinsky, alias Bertha von Suttner. I Nebenstehender Text war in Wer solche Ideen erinnert, muss nach dem politischen Hintergrund, der gekürzter Form ein Vortrag auf der Internationalen Konfliktlage Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fragen. Konferenz der Rosa-Luxem- Die Entstehung und die Entwicklung bürgerlicher Nationalstaaten ge- burg-Stiftung zum 100. Jah- bar Rivalitäten, die sich in militärischen Auseinandersetzungen ent- restag der Verleihung des luden. Seit dem Anfang des Krimkriegs, der Russland (das letzte Boll- Nobel-Friedenspreises an werk des Feudalsystems) aus der Arena der führenden Großmächte Bertha von Suttner, Prag, warf, wurde die europäische Staatenwelt bereits fünfmal durch Regio- 9. September 2005. Zusam- nalkriege mit schweren Blutopfern erschüttert: 1853/56, 1859, 1864, men mit Sigrid Bock hat der Verf. das historisch 1866, 1870/71. Der deutsch-französische Krieg, bei dem auf beiden wichtigste Werk Suttners Frontseiten mit Dynamit gekämpft wurde, brachte sogar eine besondere ediert: Die Waffen nieder! Zäsur der staatenpolitischen Verwicklungen hervor: Denn Bismarcks Eine Lebensgeschichte, provokatorische Reichsgründung im Spiegelsaal zu Versailles und der Berlin: Verlag der Nation darauf folgende Raubfrieden (1871) überspitzten den deutschen Tri- 1990 (im Folgenden zitiert umph gegen die französische Nation. Die Annexion Elsass-Lothringens als Berliner Ausgabe, darin zus. m. Sigrid Bock: Bertha und die Kriegskontribution von fünf Milliarden verursachten den Anta- von Suttner – Arbeiten für gonismus zwischen Frankreich und Deutschland: ein Menetekel des den Frieden, S. 405-458). Kriegs aller bisherigen Kriege – eines europäischen Gesamtkonflikts, Weitere Publikationen des der (wie wir Heutigen wissen) am Ende zum Weltkrieg entartete. Autors zu Suttner: Pazifisti-
UTOPIE 182-D 17.11.2005 8:17 Uhr Seite 1074 1074 BOCK Bertha von Suttner sche und marxistische Mit wachsender Sorge beobachteten Zeitgenossen, wie infolge des Frühwarnungen vor dem Siegeszuges der industriellen Revolution auch eine verhängnisvolle, ersten Weltkrieg, in: Zeit- noch heute andauernde Entwicklung begonnen hatte: die perma- schrift für Geschichts- nente Revolution der Waffentechnik und das darauf sich gründende wissenschaft, 1/1989, S. 35-49; Weltkrieg in Sicht. Wettrüsten aller Großmächte. Der Rüstungswettlauf trieb riesige Ar- Pazifismus und Marxismus, meen hervor, bestückt mit präzis funktionierenden Infanteriewaffen in: Die fatale Alternative. und weitreichender Artillerie, Magazingewehren und Sprenggrana- Von Krieg und Frieden ten, Festungssystemen und Panzerschiffen. Und schon wurde die (Diskurs. Streitschriften zu Konkurrenz verschärft von Erfindern, Industriellen, Militärtechnikern, Geschichte und Politik des die mit Torpedos gerüstete Unterwasserboote und Bomben werfende Sozialismus, Heft 12, Rosa- Luxemburg-Stiftung Sach- Flugmaschinen projektierten. Viele Jahrzehnte nach den Napoleoni- sen e. V.), Leipzig 2002, schen Kriegen war die fatale Alternativfrage »Krieg oder Frieden?« S. 38-55. zum dauernden Alpdruck all derer geworden, die eine Menschenwelt der Gerechtigkeit, der Solidarität, des Völkerfriedens wünschten. 1 Bertha von Suttner: II Lebenserinnerungen, hrsg. 1889, etliche Jahre nach Suttners Begegnung mit Nobel in Paris, v. Fritz Böttger, 4. Aufl., Berlin/DDR 1972, S. 165; wurde ebendort der 100. Jahrestag der Großen Revolution der Fran- vgl. Dieselbe: Memoiren, zosen begangen. Die bürgerliche Klasse, die seit Beginn ihrer Herr- hrsg. v. Lieselotte von Rein- schaft viele Volksproteste und Arbeiterunruhen niedergeschlagen, ken (mit Geleitwort v. Ava die wiederholt Staaten und Völker mit Krieg überzogen hatte, Helen Pauling u. Linus Pau- trumpfte diesmal als Gastgeber auf. Sie lud zur größten Industrie- ling), Bremen 1965, S. 92. messe und Weltausstellung. Auf eben dem Marsfeld, wo die repub- likanischen Bittsteller von 1791 zusammengeschossen, wo die 2 Lebenserinnerungen (Ausgabe Böttger), S. 302; Blusenmänner des Juniaufstands von 1848 exekutiert und verscharrt Memoiren (Ausg. Reinken), worden waren, demonstrierte die Bourgeoisie der Dritten Republik S. 233. ihre Macht nunmehr auf andere Weise: Dort ragte ein dreihundert Meter hoher, auf vier eisernen Stelzen balancierender Riese, den In- genieur Alexandre Eiffel und seine proletarischen Helfer errichtet hatten. Selbst nach Jahrzehnten noch höchstes Bauwerk der Erde, war der gigantische Eiffelturm ein »Arc de Triomphe« des Eisenbau- und Maschinenzeitalters. Tief unten, in seinem Schatten, nutzten die Vertreter auch anderer Länder das französische Centenarium. Sie hatten neueste Erfindun- gen und Fabrikate an das linke Ufer der Seine gebracht, um in glän- zenden Exponaten ihre Modernität und Konkurrenzfähigkeit zur Schau zu stellen. Dies alles bezeugte die stürmische Entwicklung von industrieller Baukunst und Fabrikproduktion, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Wissenschaften und Technologie. Aber die At- mosphäre war trügerisch. Hinter den Festreden, Preisverleihungen und Champagnergüssen der betuchten Männer des Kapitals lauerten die feindlichen Konkurrenzen, die alten und immer noch aktuellen Konflikte. In die vordergründige Hochstimmung mischten sich un- liebsame Warnungen. Der Eiffelturm zu Paris könnte ein zweiter Turmbau zu Babel sein. Derart sensibilisierte Kritiker, zumal Rüstungs- und Kriegsgegner, wirkten merklich aktiv am Rande der Festivitäten. Humane Quer- denker des Bürgertums, Liberale des Adels, vor allem Intellektuelle versammelten sich zum ersten Weltfriedenskongress, um die frühpa- zifistischen Rinnsale Europas und Nordamerikas in einem breiten Strombett zu vereinigen. Drei Wochen vor dem Gründungskongress der zweiten Arbeiter-Internationale konstituierte sich somit die mo-
UTOPIE 182-D 17.11.2005 8:17 Uhr Seite 1075 BOCK Bertha von Suttner 1075 derne bürgerliche Friedensbewegung.3 Ihre hauptsächliche Forde- 3 Alfred H. Fried: Hand- rung hieß: Vermeidung von Kriegen durch interstaatliche Schieds- buch der Friedensbewe- verträge, so dass Konflikte zwischen den Staaten durch völkerrecht- gung. Teil I: Grundlagen, Inhalt und Ziele der Frie- liche Schlichtung und mit Hilfe unabhängiger Gerichtshöfe befriedet densbewegung, 2. Aufl., würden. Logische Folge sollte ein Einhalt der Rüstungen, wenn Berlin – Leipzig 1911; Teil II: nicht sogar Abrüstung sein. Für die Propagierung der Zentralidee Geschichte, Umfang und wurden organisatorische Maßnahmen beschlossen: Gründung natio- Organisation der Friedens- naler Friedensgesellschaften, Aufbau eines internationalen Koordi- bewegung, 2. Aufl., Berlin – nierungsbüros, Veranstaltung periodischer Kongresse und Verbrei- Leipzig 1913. tung wirksamer Friedensschriften. Es waren die menschen- und völkerrechtlichen Ideale des Jahres 1789, die von den Friedensfreunden zum Maßstab internationaler Politik erhoben wurden: »Die Brüderlichkeit zwischen den Menschen bedingt die Brüderlichkeit zwischen den Völkern.« Gemäß dieser ethischen Prämisse erstrebte der Pazifismus eine den Frieden si- chernde Rechtsordnung aller Staaten und Völker. III In die Geburtsstunde der modernen Friedensbewegung, die wirk- samer Mittel bedurfte, um den Un-Geist des Militarismus und der Kriegsbereitschaft zu bekämpfen, trat unverhofft eine Unbekannte. Bertha von Suttner veröffentlichte genau im Jubiläumsjahr 1889 ein Buch, dessen Titel dem Pazifismus mit nur drei Worten den kürzes- ten und eindringlichsten Streitruf verlieh: »Die Waffen nieder!«4 4 Suttner: Die Waffen Man bedenke: Die Dinge dieses Jahrhunderts, ob gut oder schlecht, nieder! Eine Lebens- wurden von Männern gemacht. »Männer machen Geschichte!« Jetzt geschichte, E. Pierson’s aber wagte eine Frau den geistigen Aufstand gegen die ureigene Sache Verlag in Dresden u. Leipzig 1889. der Männlichkeit, das militärische Staatsdenken rivalisierender Großmächte. Ihr galt der Krieg nicht als »wichtigster Faktor der Kul- turentwicklung«, nicht als »Erwecker der schönsten menschlichen Tu- genden«, nicht als »Vater aller Dinge«. Was die öffentlich herrschende Meinung als geheiligte Institution behandelte, was die Regierungen gegen pazifistische und weltbürgerliche »Vaterlandsverräter« unter Staatsschutz stellten, was die Kirchen mit Gebet und Glockenklang absegneten – eben das entlarvte diese Frau: als Völkermord, »von Staats wegen« erlaubtes und begangenes Verbrechen. Hier verblasste die Glorie der Heerführer und Schlachtengewinner, die rühmliche Er- innerung an Alexander, Cäsar und Napoleon, die Hochschätzung ihrer beflissenen Epigonen. Mit allen Mitteln der rationalen Argumentation und der emotionalen Aufwiegelung appellierte diese Frau an die Zeit- genossen, ihre Regierungen und Parlamente in die Pflicht zu nehmen: Abrüstung und Völkerfrieden zu verlangen. Hier war Schreiben eine Tat. Was jedoch von den politischen Agi- tationen der Friedensgesellschaften verschieden war: Die Verfasse- rin hatte kein Pamphlet, auch kein Sachbuch, sondern einen Roman geschrieben: fiktive »Lebensgeschichte« ebenfalls einer Frau, die die meisten der genannten Militärkonflikte erfahren und erleiden musste – die vier Kriege von 1859, 1864, 1866 und 1870/71. Niemals zuvor war der Militarismus in Zentraleuropa mit den Mitteln litera- rischer Gestaltung so scharf angegriffen worden. Über alle Wider- stände hinweg sollte dieser Roman zum Bestseller der Epoche, zum Epochenbuch werden.
UTOPIE 182-D 17.11.2005 8:17 Uhr Seite 1076 1076 BOCK Bertha von Suttner IV Bertha von Suttner huldigte dem Fortschrittsglauben der Aufklä- rung: die Menschheitsgeschichte – eine aufsteigende Kulturentwick- lung, beruhend auf den Entdeckungen der Wissenschaften und deren Nutzanwendung. Sie sah eine Ratio in der Geschichte: die Vernunft der Humanität, die sich durch Gedanke und Tat bedeutender Men- schen gegen alle Hindernisse durchsetzen werde. Jedoch dieser Fortschrittsglaube wurde verdüstert durch schlimme Erfahrungen und Einsichten. Sie erkannte, dass »alle Errungenschaf- ten des neuen Geistes« von Barbaren der modernen Gesellschaft ausgenutzt, »alle Fortschritte der Technik sogleich für Mord- und Vertilgungszwecke« missbraucht wurden. Im Klima der Staatsriva- litäten, der Wehrhaftmachung und Verhetzung der Völker sah sie ein Militärwesen und eine Waffentechnik wuchern, die bereits alles Bis- herige übertrafen – bald aber mit geradezu sinnwidriger Zerstö- rungskraft gegen die Menschheit entfesselt würden. Es waren nicht mehr nur regionale Kriege – es war ein Krieg des ganzen Konti- nents, der am politischen Horizont heraufdrohte. Suttner beschrieb ihn in warnenden Visionen: »[...] Jedes Dorf eine Brandstätte, jede Stadt ein Trümmerhaufen, jedes Feld ein Leichenfeld und noch im- mer tobt der Kampf: unter den Meereswellen schießen die Torpedo- boote, um mächtige Dampfer in den Grund zu ziehen, in die Wolken steigen bewaffnete und bemannte Luftschiffe einer zweiten äro- 5 Jemand (d. i. Bertha von nautischen Truppe entgegen [...].«5 Dies werde der herandrohende Suttner): Das Maschinen- »nächste«, der »große«, der »letzte Krieg des zivilisierten Europa« alter. Zukunftsvorlesungen sein. Käme er aber etliche Jahre später, so werde der Missbrauch von über unsere Zeit, Zürich Wissenschaft und Technik zu noch viel schlimmeren, nämlich tota- 1889, S. 277. len Vernichtungsmitteln führen: zu weittragenden Schnellfeuerge- schützen mit »500 Schuss in der Minute«, zu elektrischen Mordma- schinen, die »mit einem Schlage ein ganzes Heer vertilgen«, zu »Sprengstoffpillen, die, aus Wolkenhöhen herunterregnend, in ein 6 Ebenda, S. 275. paar Minuten eine ganze Stadt zertrümmern«.6 Es war Nobels Primärwissen und unheilvolle Prognose, woraus diese Aufklärerin eine Folgerung zog, die uns noch heute bewegt. »Jener Punkt, wo alles, was ist, aufhören muss – der Punkt der Un- erträglichkeit – , von dem war die Waffenbelastung der Welt nicht mehr fern. Aller Reichtum, alle Volkskraft, alles Leben nur auf Ein Ziel – Vernichtung – hingelenkt: ein solches System muss endlich 7 Ebenda, S. 274. entweder die Menschheit oder sich selber vernichten.«7 Infolge dieser Erkenntnis schrieb Suttner »Die Waffen nieder!«, und die Wirksamkeit eben dieses Buches riss die Autorin auf Gedeih und Verderb in die Öffentlichkeit, in die Praxis der Friedensbewe- gung. Auf dem dritten Weltfriedenskongress in Rom (1891) sprach auf dem Kapitol, das traditionell nur Männern und den legendär altrömischen Gänsen vorbehalten war, eine Frau, die nach eigenen Worten »weiter keine Verdienste hatte, als ein aufrichtiges Buch ge- 8 Suttner: Lebenserinne- schrieben zu haben«8. Doch man wählte sie als Vizepräsidentin des rungen, S. 255; Memoiren, Internationalen Friedensbüros, das in Bern die Aktivitäten vieler S. 186. nationaler Organisationen abstimmte. Vom Sinn ihrer Arbeit hatte sie schon im »Epilog« ihres Romans geschrieben: Ein in Waffen starrender Frieden sei keine Wohltat – statt dessen sollte für Vereini- gungen gewirkt werden, »deren Zweck es ist, [...] durch den gebie-
UTOPIE 182-D 17.11.2005 8:17 Uhr Seite 1077 BOCK Bertha von Suttner 1077 terischen Druck des Volkswillens die Regierungen zu bewegen, ihre zukünftigen Streitigkeiten einem [...] internationalen Schiedsgericht zu übermitteln und so ein für allemal anstelle der rohen Gewalt das Recht einzusetzen«.9 9 Dieselbe: Die Waffen nieder!, Berliner Ausgabe, V S. 391 f. Suttners Friedensarbeit traf den Zentralnerv der rüstenden Staaten und ihrer nationalistischen Ideologien, besonders in Deutschland und Österreich. »Friedensbertha!« spotteten und kritisierten Politi- ker, Militärs, sogar Literaten. »[...] Jener Dame Ausführungen schä- digen die Volksseele, denn sie untergraben das Pflichtbewusstsein, die Vaterlandsliebe und die heldenhafte Gesinnung.«10 Unter den 10 Felix Dahn, Verfasser Zurufen aber, die der Friedensstreiterin dankten und sie ermutigten: des Buches »Ein Kampf um Alfred Nobel. In jeder Sprache der Welt müsse ihr Buch »Die Waf- Rom« (1876), in: Die Waffen nieder! Monatsschrift zur fen nieder!« gelesen werden. Er wünschte, dass »der Zauber ihres Förderung der Friedensidee, Stils und die Größe ihrer Ideen sehr viel weiter tragen werden als [...] Jg. 1896, S. 429. all die Werkzeuge der Hölle«.11 Das war nicht wenig gesagt von einem Genie, mit dem der Sünden- 11 Alfred Nobel an Suttner, fall moderner Naturwissenschaft und Technologie begonnen hatte. Paris, 1. April 1890, zit. n. Denn es gab einen abgründigen Riss in Nobels Leben und Schaffen. Suttner: Lebenserinnerun- Er hatte dem Ringen des Menschen mit der Natur nützlich sein wol- gen, S. 219. len: Dynamit sollte die Produktion in den Bergwerken, die Arbeiten im Straßen-, Kanal- und Eisenbahnbau erleichtern. Aber mit seiner Erfindung und zudem mit seinen eigenen Fabriken in Schweden und Krümmel bei Hamburg (1865) hatte er eine Entwicklung losgetre- ten, die weltweite Sprengstoffindustrien wie einen gleißenden Ko- metenschweif nach sich zog. Die unter Nobels Namen patentierte Dynamitproduktion stieg von 424 Tonnen im Jahre 1870 auf 66 500 Tonnen im Jahre 1896.12 In unheilvoller Geschwindigkeit verwob 12 Horst Kant: Dynamit sich die gute Absicht, den primitiven Arbeitsbedingungen des Men- und Friedenspreise. Ambi- schen abzuhelfen, mit der Herstellung menschenvernichtender valenz des wissenschaft- Waffen. Nobel hatte inzwischen sogar das Ballistit (1887), ein rauch- lich-technischen Fort- schritts, in: Krieg oder schwaches Pulver, erfunden, das bei Artilleriegefechten nur schwie- Frieden im Wandel der rig zu rekognoszieren war. Ob er es wollte oder nicht – er hatte sich Geschichte. Von 1500 bis selbst hineinbegeben in die Barbarei der Kriegsmittel- und Waffen- zur Gegenwart, hrsg. v. produktion, der kalkulierten Kriegsgefahren. Helmut Bock u. Marianne So beschaffen war die Welt, in der Nobel sein Genie entfaltete, Thoms, Berlin/DDR 1989, seine Sprengstofffabriken produzieren ließ, seine Riesengewinne S. 216; Derselbe: Alfred kassierte – und dennoch nicht glücklich war. In Gewissensnöten und Nobel, 2., erg. Aufl., Leipzig 1986, S. 41 ff. peinlichen Selbstbefragungen tastete er nach der massenvernichten- den Materie, der ungeheuren Mord- und Friedensmaschine, die den Kriegen ein Ende gebieten sollte. Immerhin begegnete ihm das Glück eines ebenfalls schöpferischen Alter ego: Das war die Frau, die ihm 1875, noch jung und wenig welterfahren, das genannte Ge- ständnis entlockt hatte – 1889 aber als gereifte Schriftstellerin ent- gegenkam. Bertha von Suttner antwortete auf Nobels Idee, den Krieg durch todbringende Abschreckung zu bannen, mit einer ganz und gar friedvollen Alternativkonzeption: Statt Frieden durch Androhung einer absolut vernichtenden Superwaffe – Frieden durch Recht! Einig blieben sich beide in dem Ziel, den Krieg unmöglich zu ma- chen. Nobel zahlte bedeutende Geldsummen für die Friedensarbeit.
UTOPIE 182-D 17.11.2005 8:17 Uhr Seite 1078 1078 BOCK Bertha von Suttner Obwohl er in Suttner die Frau verehrte, ihre leidenschaftlichen Ak- tivitäten guthieß, blieb er aber ein Zweifler – oder richtiger: ein en- gagierter Skeptiker. Er sah die Ideen des Schiedsgerichts und der Abrüstung »nur langsam vorankommen«: »Meine Fabriken werden vielleicht dem Krieg noch früher ein Ende bereiten als Ihre Kon- 13 Suttner: Lebenserinne- gresse [...].«13 Am 7. Januar 1893 lautete sein Neujahrsgruß aus rungen, S. 302; Memoiren, Paris: »Liebe Freundin! Möge das neue Jahr für Sie und für den S. 233. edlen Feldzug, den Sie so kraftvoll gegen die Unwissenheit und menschliche Verwilderung führen, günstig sein.« Dabei machte er den Vorschlag für ein kollektives Sicherheitssystem in Europa. Man müsste und könnte bald zu einem solchen Ergebnis kommen, »wenn alle Staaten sich verpflichten, sich geschlossen gegen den ersten An- greifer zu wenden«. »Dann werden die Kriege unmöglich werden. Und man erreichte, dass selbst der streitsüchtigste Staat sich an ei- nen Schiedshof wenden oder sich ruhig verhalten muss. Wenn der Dreibund an Stelle von drei Staaten alle Staaten umfasste, wäre der 14 Dieselbe: Lebenserin- Friede für Jahrhunderte gesichert.«14 nerungen, S. 303. »Drei- Nobel hatte also der Abschreckung durch die Gewalt der Waffen bund« nannte man das nicht abgeschworen. Dennoch trug er sich jetzt mit dem Gedanken, damalige Staatenbündnis einen Friedenspreis zu stiften. An die Erwägung, den Preis »alle fünf zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Jahre« und im ganzen nur etwa »sechsmal« zu verteilen, knüpfte er Italien, das seiner Tendenz eine sehr zweifelnde Vorausschau in das 20. Jahrhundert: »[...] Wenn zufolge gegen Frankreich es in dreißig Jahren nicht gelungen ist, das gegenwärtige System zu gerichtet war. reformieren, wird man notgedrungen in die Barbarei zurückfallen.«15 15 Ebenda. VI Der organisierte Pazifismus und Suttner selbst wollten den Wandel des Staatensystems durch Reform, nicht Revolution erreichen. Es war eine zwangsläufige Logik, dass sie immerfort auf einsichtige Fürsten, Regierungen, Parlamentarier hofften, die mit Hilfe völkerrechtlicher Institutionen die Staatenbeziehungen befrieden sollten. Jedoch in Deutschland erzwang die herrschende Politik den stetig steigenden Militäretat, wodurch das weitere Wettrüsten provoziert wurde. Weil nun das halbfeudale Russland einer solchen Konkurrenz nicht ge- wachsen war, erließ der junge Zar Nikolaus II. ein »Friedensmanifest« (1898), das die Regierungen zu einer internationalen Konferenz rief. Suttner hegte höchste Erwartungen, betrieb in Österreich und Deutschland eine Kampagne zugunsten der Zarenbotschaft und reiste selbst nach Den Haag, um die historische Wende zur Abrüstung nicht zu versäumen. Jedoch die wochenlangen Verhandlungen von 26 Regierungsvertretern (1899) scheiterten, insbesondere durch das destruktive Auftreten der deutschen Delegation, die jeden Rüstungs- stopp ablehnte. Es gab nur Vereinbarungen über die Art und Weise, wie militärische Auseinandersetzungen zu führen seien – mit diplo- matischer Heuchelei »Humanisierung des Krieges« genannt. »[...] Scheiße auf die ganzen Beschlüsse und verlasse mich lieber auf mein starkes Schwert!« lautet die Randglosse Kaiser Wilhelms II. in 16 Zit. n. Fritz Böttger: den Haager Papieren.16 Auch die Engländer erhöhten noch während Einleitung, in: Lebens- der Haager Verhandlungen ihren Militäretat und begannen sodann erinnerungen, S. 9. den Krieg gegen die Buren in Südafrika. Mit desillusionierten Erfahrungen kehrte Suttner heim. Nicht ge- nug, dass abermals Häme und Spott aufkamen – auch gegen sie per-
UTOPIE 182-D 17.11.2005 8:17 Uhr Seite 1079 BOCK Bertha von Suttner 1079 sönlich, wie aus den zeitgenössischen Journalen zu entnehmen ist. Habsburgs aggressive Balkanexperten und die Großdeutschen nörd- lich der Alpen entblödeten sich nicht, in der streitbaren Humanistin die Frau herabzuwürdigen: weil sie sich als »Friedensvettel«, »Frie- densfurie« – als Angehörige eines unbefugten Geschlechts – in die Politik einmische. VII Im neuen Jahrhundert bildeten Frankreich und Großbritannien die »Entente cordiale«: die Gegenmacht zu den Mittelmächten des »Dreibundes« (1904). Die feindlichen Fronten des kommenden großen Kriegs wurden konstituiert. In dieser Situation wachsender Spannungen – Nobel war seit 1896 tot – wurde Suttner von seinem Vermächtnis eingeholt. Das skandinavische Nobel-Komitee verlieh ihr im Herbst 1905 den Friedenspreis. Vor dem Storthing in Christiania (heute Oslo) vertrat die Preisträ- gerin in ihrem Vortrag am 18. April 1906 die inzwischen erweiterten Programmpunkte des zeitgenössischen Pazifismus. »1. Schiedsge- richtsverträge«. »2. Eine Friedensunion« möglichst aller Staaten, die jeden Angriff eines Staats gegen einen anderen mit gemeinsamer Kraft zurückweisen sollten (Nobels Idee). »3. Eine Internationale Institution« zur Wahrung des Rechts zwischen den Völkern. Die Quintessenz der Reformabsichten hieß kurz und knapp: »Abschaf- fung der Notwendigkeit, zum Kriege Zuflucht zu nehmen.«17 17 Suttner: Vortrag vor Jedoch der kritische Blick, mit dem die Preisträgerin ihre Ideale dem Nobel-Comitee des am realen Weltzustand messen musste, bilanzierte ganz anderes Storthing zu Christiania als Verständigung und Frieden: Da war die Menschenschlächterei am 18. April 1906, zit. n. Memoiren, S. 515 ff. des russisch-japanischen Kriegs und in dessen Folge die Revolution von 1905, die das Zarenreich erschütterte. In den Staaten Mittel- und Westeuropas gewahrte sie Säbelgerassel, Pressehetze und Rüstungen überall: »Festungen werden gebaut, Unterseeboote fabriziert, ganze Strecken unterminiert,kriegstüchtige Luftschiffe probiert, mit einem Eifer, als wäre das demnächstige Losschlagen die sicherste und wichtigste Angelegenheit der Staaten.« Auf der gesamten Erde wusste sie von Bränden, Raub, Bomben, Hinrichtungen, Massaker – »einer Orgie des Dämons Gewalt«. Ihr Urteil über die moderne Staatenwelt war vernichtend: »Auf Verleugnung der Friedensmöglichkeit, auf Geringschätzung des Lebens, auf den Zwang zum Töten ist bisher die ganze militärisch organisierte Gesellschaftsordnung auf- gebaut!« Diese düstere Umschau muss heute, da wir von der baldigen Explosion des politischen Weltkraters wissen, als Spiegelung am Vorabend der Katastrophe erscheinen. Es fehlt eigentlich nur der Kassandraruf, der den Untergang einiger dieser wettrüstenden, zum Krieg treibenden Staaten voraussagte. In Suttners Rede hingegen war der Gedankengang anders entwickelt. Sie sprach zuerst von den moralischen Pflichten einer gesitteten Menschheit, dann über deren Verletzungen durch eine kriegerische Staatenpolitik, schließlich aber – in einem gemischten Finale von etwas mehr Dur als Moll – über die noch immer bestehenden Chancen des Pazifismus: »die Ära des gesicherten Rechtsfriedens« herbeizuführen, »in der die Zivilisation zu ungeahnter Blüte sich entfalten« werde.
UTOPIE 182-D 17.11.2005 8:17 Uhr Seite 1080 1080 BOCK Bertha von Suttner Dieses Reformstreben war perspektivisch auf einen Völkerbund oder sogar auf Vereinte Nationen gerichtet. Es wollte die Lebensin- teressen der Menschheit erfüllen. Die Rednerin zählte unter den Per- sönlichkeiten, auf die der Pazifismus bauen könnte, nicht nur hohe Repräsentanten der bürgerlichen Demokratien Britanniens, Frank- reichs und der USA, sondern auch Jean Jaurès, den Sozialisten- führer und Friedenskämpfer in Paris. Sie tat dies in Anknüpfung an ihr berühmtes Buch, worin sie den tätigen, aber mitgliederschwachen Friedensgesellschaften des Bürgertums eine andere, weit größere Bewegung als möglichen Verbündeten bezeichnet hatte: »die Partei, deren Anhänger schon nach Millionen zählen, die Partei der Arbei- ter, des Volkes, auf deren Programm unter den wichtigsten Forde- 18 Suttner: Die Waffen rungen der ›Völkerfrieden‹ obenansteht.«18 nieder!, 5., bearb. Aufl., In den folgenden Jahren gewahrte Suttner mehr und mehr die hohe Dresden – Leipzig 1892, Wahrscheinlichkeit des Kriegs. Viele Monate lang reiste die fast S. 305. Suttners Text- Siebzigjährige durch Mitteleuropa und die USA, um die Gefahr änderungen von 1889 bis 1892 sind nachgewiesen in: bewusst zu machen und den Frieden zu propagieren. Weil sie in Berliner Ausgabe, S. 478 ff. Österreich und Deutschland immer entschiedener auftrat, war die »Friedensbertha« nun auch als »Rote Bertha« verschrien und von Redeverboten verfolgt. Als zutiefst ethischer Charakter gab sie ihr Letztes. Getreu dem Friedensstreiter Tilling, den sie in ihrem wich- tigsten Buch hatte sagen lassen: »Die Hoffnung, dass ich in Person das Reifen der Zeit beschleunigen könne oder die ersehnten Früchte daran sprießen sehe – die muss ich vernünftigerweise wohl aufgeben ... Was ich beitragen kann, ist gar winzig. Aber von der Stunde an, wo ich dieses Winzige als meine Pflicht erkannt, ist es mir doch zum 19 Ebenda, S. 350. Größten geworden – also harre ich aus.«19 Da wir am Ende sind, stellt sich die Frage: Stirbt es sich leichter, wenn man die Früchte seiner Lebensarbeit verdorren sieht, aber im- mer noch Hoffnungen hegt? Suttners Tagebuchnotiz vom 12. Mai 1914 lautet: »[...] Gegen den Übermilitarismus, der jetzt die Atmos- phäre erfüllt, ist nicht anzukämpfen. Die einzigen – weil sie auch eine Macht sind –, auf die man hoffen kann, dass sie den Massen- 20 Aus dem Tagebuch krieg abwenden, sind die Sozialdemokraten.«20 Kaum mehr als ein Bertha von Suttners – Monat verging, bis diese Hoffnungsträger in Gestalt ihrer Reichs- Januar bis Juni 1914, in: tagsabgeordneten die Kriegskredite bewilligten und zum Komplizen Lebenserinnerungen, S. 553. aller Kriegstreiber wurden. Die lange befürchtete, lang auch be- kämpfte Katastrophe begann: mit Maschinenwaffen und Kampfgas, Luftkampf und U-Boot-Krieg, nie gekannten Verheerungen unter Menschen und ihrer Kultur. Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Und auch die Frau, die unter den Friedensstreitern im besten Sinne die Grande Dame gewesen – war tot. Gestorben am 21. Juni 1914. Nur eine Woche vor den Todesschüssen von Sarajewo. Sie hinterließ eine Erbschaft, die in dem dauerhaft richtigen Streitruf besteht: »Die Waffen nieder!«
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