Nobels Friedenspreis für Bertha von Suttner - HELMUT BOCK

Die Seite wird erstellt Heiner Herold
 
WEITER LESEN
UTOPIE 182-D   17.11.2005    8:17 Uhr    Seite 1073

        UTOPIE kreativ, H. 182 (Dezember 2005), S. 1073-1080                                            1073

        HELMUT BOCK
        Nobels Friedenspreis
        für Bertha von Suttner
        Das Aktuelle in der Geschichte

        Im Herbst 1875 reiste eine junge Frau von Wien nach Paris, um sich
        als »sprachenkundige Sekretärin« zu verdingen. Sie folgte der Zei-
        tungsannonce eines »älteren Herrn«, der ihr nach wenigen Tagen
        anvertraute, eine ungeheure Absicht zu hegen: »Ich möchte einen
        Stoff, eine Maschine schaffen können, von so fürchterlicher, mas-
        senhaft verheerender Wirkung, dass dadurch Kriege überhaupt un-
        möglich würden!«1
          Schrecklicher war die Idee des Weltfriedens zuvor nie gedacht
        worden. Hier keimte das Projekt, den Krieg durch die ihm eigene
        zerstörerische Logik, die bewusste Überspannung seiner Vernich-
        tungsgewalt, ad absurdum zu führen. Es war ein Plan, der sowohl
        von einem hochsinnigen »Doktor Faust« als auch von einem zyni-
        schen »Mephistopheles« verfolgt sein konnte. »[...] An dem Tag, da
        zwei Armeekorps sich gegenseitig in einer Sekunde werden ver-            Helmut Bock – Jg. 1928;
        nichten können, werden wohl alle zivilisierten Nationen zurück-          Prof. em. Dr. phil. habil.,
        schaudern und ihre Truppen verabschieden.«2                              Historiker, Mitglied der
                                                                                 Leibniz-Sozietät. Zuletzt in
          Dieser Welt-Friedens-Täter, der den schlechthin verheerenden
                                                                                 UTOPIE kreativ: Vom Elend
        Bannstrahl erzeugen wollte, um die Staaten zum Frieden zu zwingen,       historischer Selbstkritik,
        war Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits. Die junge Frau: Grä-         Heft 180 (Oktober 2005).
        fin Kinsky, alias Bertha von Suttner.

        I                                                                        Nebenstehender Text war in
        Wer solche Ideen erinnert, muss nach dem politischen Hintergrund, der    gekürzter Form ein Vortrag
                                                                                 auf der Internationalen
        Konfliktlage Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fragen.   Konferenz der Rosa-Luxem-
        Die Entstehung und die Entwicklung bürgerlicher Nationalstaaten ge-      burg-Stiftung zum 100. Jah-
        bar Rivalitäten, die sich in militärischen Auseinandersetzungen ent-     restag der Verleihung des
        luden. Seit dem Anfang des Krimkriegs, der Russland (das letzte Boll-    Nobel-Friedenspreises an
        werk des Feudalsystems) aus der Arena der führenden Großmächte           Bertha von Suttner, Prag,
        warf, wurde die europäische Staatenwelt bereits fünfmal durch Regio-     9. September 2005. Zusam-
        nalkriege mit schweren Blutopfern erschüttert: 1853/56, 1859, 1864,      men mit Sigrid Bock hat
                                                                                 der Verf. das historisch
        1866, 1870/71. Der deutsch-französische Krieg, bei dem auf beiden        wichtigste Werk Suttners
        Frontseiten mit Dynamit gekämpft wurde, brachte sogar eine besondere     ediert: Die Waffen nieder!
        Zäsur der staatenpolitischen Verwicklungen hervor: Denn Bismarcks        Eine Lebensgeschichte,
        provokatorische Reichsgründung im Spiegelsaal zu Versailles und der      Berlin: Verlag der Nation
        darauf folgende Raubfrieden (1871) überspitzten den deutschen Tri-       1990 (im Folgenden zitiert
        umph gegen die französische Nation. Die Annexion Elsass-Lothringens      als Berliner Ausgabe, darin
                                                                                 zus. m. Sigrid Bock: Bertha
        und die Kriegskontribution von fünf Milliarden verursachten den Anta-
                                                                                 von Suttner – Arbeiten für
        gonismus zwischen Frankreich und Deutschland: ein Menetekel des          den Frieden, S. 405-458).
        Kriegs aller bisherigen Kriege – eines europäischen Gesamtkonflikts,      Weitere Publikationen des
        der (wie wir Heutigen wissen) am Ende zum Weltkrieg entartete.           Autors zu Suttner: Pazifisti-
UTOPIE 182-D    17.11.2005        8:17 Uhr   Seite 1074

     1074                                                                        BOCK Bertha von Suttner

     sche und marxistische           Mit wachsender Sorge beobachteten Zeitgenossen, wie infolge des
     Frühwarnungen vor dem           Siegeszuges der industriellen Revolution auch eine verhängnisvolle,
     ersten Weltkrieg, in: Zeit-     noch heute andauernde Entwicklung begonnen hatte: die perma-
     schrift für Geschichts-
                                     nente Revolution der Waffentechnik und das darauf sich gründende
     wissenschaft, 1/1989,
     S. 35-49; Weltkrieg in Sicht.   Wettrüsten aller Großmächte. Der Rüstungswettlauf trieb riesige Ar-
     Pazifismus und Marxismus,       meen hervor, bestückt mit präzis funktionierenden Infanteriewaffen
     in: Die fatale Alternative.     und weitreichender Artillerie, Magazingewehren und Sprenggrana-
     Von Krieg und Frieden           ten, Festungssystemen und Panzerschiffen. Und schon wurde die
     (Diskurs. Streitschriften zu    Konkurrenz verschärft von Erfindern, Industriellen, Militärtechnikern,
     Geschichte und Politik des      die mit Torpedos gerüstete Unterwasserboote und Bomben werfende
     Sozialismus, Heft 12, Rosa-
     Luxemburg-Stiftung Sach-
                                     Flugmaschinen projektierten. Viele Jahrzehnte nach den Napoleoni-
     sen e. V.), Leipzig 2002,       schen Kriegen war die fatale Alternativfrage »Krieg oder Frieden?«
     S. 38-55.                       zum dauernden Alpdruck all derer geworden, die eine Menschenwelt
                                     der Gerechtigkeit, der Solidarität, des Völkerfriedens wünschten.
     1 Bertha von Suttner:           II
     Lebenserinnerungen, hrsg.       1889, etliche Jahre nach Suttners Begegnung mit Nobel in Paris,
     v. Fritz Böttger, 4. Aufl.,
     Berlin/DDR 1972, S. 165;
                                     wurde ebendort der 100. Jahrestag der Großen Revolution der Fran-
     vgl. Dieselbe: Memoiren,        zosen begangen. Die bürgerliche Klasse, die seit Beginn ihrer Herr-
     hrsg. v. Lieselotte von Rein-   schaft viele Volksproteste und Arbeiterunruhen niedergeschlagen,
     ken (mit Geleitwort v. Ava      die wiederholt Staaten und Völker mit Krieg überzogen hatte,
     Helen Pauling u. Linus Pau-     trumpfte diesmal als Gastgeber auf. Sie lud zur größten Industrie-
     ling), Bremen 1965, S. 92.      messe und Weltausstellung. Auf eben dem Marsfeld, wo die repub-
                                     likanischen Bittsteller von 1791 zusammengeschossen, wo die
     2 Lebenserinnerungen
     (Ausgabe Böttger), S. 302;
                                     Blusenmänner des Juniaufstands von 1848 exekutiert und verscharrt
     Memoiren (Ausg. Reinken),       worden waren, demonstrierte die Bourgeoisie der Dritten Republik
     S. 233.                         ihre Macht nunmehr auf andere Weise: Dort ragte ein dreihundert
                                     Meter hoher, auf vier eisernen Stelzen balancierender Riese, den In-
                                     genieur Alexandre Eiffel und seine proletarischen Helfer errichtet
                                     hatten. Selbst nach Jahrzehnten noch höchstes Bauwerk der Erde,
                                     war der gigantische Eiffelturm ein »Arc de Triomphe« des Eisenbau-
                                     und Maschinenzeitalters.
                                        Tief unten, in seinem Schatten, nutzten die Vertreter auch anderer
                                     Länder das französische Centenarium. Sie hatten neueste Erfindun-
                                     gen und Fabrikate an das linke Ufer der Seine gebracht, um in glän-
                                     zenden Exponaten ihre Modernität und Konkurrenzfähigkeit zur
                                     Schau zu stellen. Dies alles bezeugte die stürmische Entwicklung
                                     von industrieller Baukunst und Fabrikproduktion, Verkehrs- und
                                     Nachrichtenwesen, Wissenschaften und Technologie. Aber die At-
                                     mosphäre war trügerisch. Hinter den Festreden, Preisverleihungen
                                     und Champagnergüssen der betuchten Männer des Kapitals lauerten
                                     die feindlichen Konkurrenzen, die alten und immer noch aktuellen
                                     Konflikte. In die vordergründige Hochstimmung mischten sich un-
                                     liebsame Warnungen. Der Eiffelturm zu Paris könnte ein zweiter
                                     Turmbau zu Babel sein.
                                        Derart sensibilisierte Kritiker, zumal Rüstungs- und Kriegsgegner,
                                     wirkten merklich aktiv am Rande der Festivitäten. Humane Quer-
                                     denker des Bürgertums, Liberale des Adels, vor allem Intellektuelle
                                     versammelten sich zum ersten Weltfriedenskongress, um die frühpa-
                                     zifistischen Rinnsale Europas und Nordamerikas in einem breiten
                                     Strombett zu vereinigen. Drei Wochen vor dem Gründungskongress
                                     der zweiten Arbeiter-Internationale konstituierte sich somit die mo-
UTOPIE 182-D   17.11.2005    8:17 Uhr    Seite 1075

        BOCK Bertha von Suttner                                                                           1075

        derne bürgerliche Friedensbewegung.3 Ihre hauptsächliche Forde-          3 Alfred H. Fried: Hand-
        rung hieß: Vermeidung von Kriegen durch interstaatliche Schieds-         buch der Friedensbewe-
        verträge, so dass Konflikte zwischen den Staaten durch völkerrecht-       gung. Teil I: Grundlagen,
                                                                                 Inhalt und Ziele der Frie-
        liche Schlichtung und mit Hilfe unabhängiger Gerichtshöfe befriedet
                                                                                 densbewegung, 2. Aufl.,
        würden. Logische Folge sollte ein Einhalt der Rüstungen, wenn            Berlin – Leipzig 1911; Teil II:
        nicht sogar Abrüstung sein. Für die Propagierung der Zentralidee         Geschichte, Umfang und
        wurden organisatorische Maßnahmen beschlossen: Gründung natio-           Organisation der Friedens-
        naler Friedensgesellschaften, Aufbau eines internationalen Koordi-       bewegung, 2. Aufl., Berlin –
        nierungsbüros, Veranstaltung periodischer Kongresse und Verbrei-         Leipzig 1913.
        tung wirksamer Friedensschriften.
           Es waren die menschen- und völkerrechtlichen Ideale des Jahres
        1789, die von den Friedensfreunden zum Maßstab internationaler
        Politik erhoben wurden: »Die Brüderlichkeit zwischen den Menschen
        bedingt die Brüderlichkeit zwischen den Völkern.« Gemäß dieser
        ethischen Prämisse erstrebte der Pazifismus eine den Frieden si-
        chernde Rechtsordnung aller Staaten und Völker.

        III
        In die Geburtsstunde der modernen Friedensbewegung, die wirk-
        samer Mittel bedurfte, um den Un-Geist des Militarismus und der
        Kriegsbereitschaft zu bekämpfen, trat unverhofft eine Unbekannte.
        Bertha von Suttner veröffentlichte genau im Jubiläumsjahr 1889 ein
        Buch, dessen Titel dem Pazifismus mit nur drei Worten den kürzes-
        ten und eindringlichsten Streitruf verlieh: »Die Waffen nieder!«4        4 Suttner: Die Waffen
           Man bedenke: Die Dinge dieses Jahrhunderts, ob gut oder schlecht,     nieder! Eine Lebens-
        wurden von Männern gemacht. »Männer machen Geschichte!« Jetzt            geschichte, E. Pierson’s
        aber wagte eine Frau den geistigen Aufstand gegen die ureigene Sache     Verlag in Dresden u. Leipzig
                                                                                 1889.
        der Männlichkeit, das militärische Staatsdenken rivalisierender
        Großmächte. Ihr galt der Krieg nicht als »wichtigster Faktor der Kul-
        turentwicklung«, nicht als »Erwecker der schönsten menschlichen Tu-
        genden«, nicht als »Vater aller Dinge«. Was die öffentlich herrschende
        Meinung als geheiligte Institution behandelte, was die Regierungen
        gegen pazifistische und weltbürgerliche »Vaterlandsverräter« unter
        Staatsschutz stellten, was die Kirchen mit Gebet und Glockenklang
        absegneten – eben das entlarvte diese Frau: als Völkermord, »von
        Staats wegen« erlaubtes und begangenes Verbrechen. Hier verblasste
        die Glorie der Heerführer und Schlachtengewinner, die rühmliche Er-
        innerung an Alexander, Cäsar und Napoleon, die Hochschätzung ihrer
        beflissenen Epigonen. Mit allen Mitteln der rationalen Argumentation
        und der emotionalen Aufwiegelung appellierte diese Frau an die Zeit-
        genossen, ihre Regierungen und Parlamente in die Pflicht zu nehmen:
        Abrüstung und Völkerfrieden zu verlangen.
           Hier war Schreiben eine Tat. Was jedoch von den politischen Agi-
        tationen der Friedensgesellschaften verschieden war: Die Verfasse-
        rin hatte kein Pamphlet, auch kein Sachbuch, sondern einen Roman
        geschrieben: fiktive »Lebensgeschichte« ebenfalls einer Frau, die
        die meisten der genannten Militärkonflikte erfahren und erleiden
        musste – die vier Kriege von 1859, 1864, 1866 und 1870/71. Niemals
        zuvor war der Militarismus in Zentraleuropa mit den Mitteln litera-
        rischer Gestaltung so scharf angegriffen worden. Über alle Wider-
        stände hinweg sollte dieser Roman zum Bestseller der Epoche, zum
        Epochenbuch werden.
UTOPIE 182-D   17.11.2005        8:17 Uhr   Seite 1076

     1076                                                                        BOCK Bertha von Suttner

                                    IV
                                    Bertha von Suttner huldigte dem Fortschrittsglauben der Aufklä-
                                    rung: die Menschheitsgeschichte – eine aufsteigende Kulturentwick-
                                    lung, beruhend auf den Entdeckungen der Wissenschaften und deren
                                    Nutzanwendung. Sie sah eine Ratio in der Geschichte: die Vernunft
                                    der Humanität, die sich durch Gedanke und Tat bedeutender Men-
                                    schen gegen alle Hindernisse durchsetzen werde.
                                       Jedoch dieser Fortschrittsglaube wurde verdüstert durch schlimme
                                    Erfahrungen und Einsichten. Sie erkannte, dass »alle Errungenschaf-
                                    ten des neuen Geistes« von Barbaren der modernen Gesellschaft
                                    ausgenutzt, »alle Fortschritte der Technik sogleich für Mord- und
                                    Vertilgungszwecke« missbraucht wurden. Im Klima der Staatsriva-
                                    litäten, der Wehrhaftmachung und Verhetzung der Völker sah sie ein
                                    Militärwesen und eine Waffentechnik wuchern, die bereits alles Bis-
                                    herige übertrafen – bald aber mit geradezu sinnwidriger Zerstö-
                                    rungskraft gegen die Menschheit entfesselt würden. Es waren nicht
                                    mehr nur regionale Kriege – es war ein Krieg des ganzen Konti-
                                    nents, der am politischen Horizont heraufdrohte. Suttner beschrieb
                                    ihn in warnenden Visionen: »[...] Jedes Dorf eine Brandstätte, jede
                                    Stadt ein Trümmerhaufen, jedes Feld ein Leichenfeld und noch im-
                                    mer tobt der Kampf: unter den Meereswellen schießen die Torpedo-
                                    boote, um mächtige Dampfer in den Grund zu ziehen, in die Wolken
                                    steigen bewaffnete und bemannte Luftschiffe einer zweiten äro-
     5 Jemand (d. i. Bertha von     nautischen Truppe entgegen [...].«5 Dies werde der herandrohende
     Suttner): Das Maschinen-       »nächste«, der »große«, der »letzte Krieg des zivilisierten Europa«
     alter. Zukunftsvorlesungen     sein. Käme er aber etliche Jahre später, so werde der Missbrauch von
     über unsere Zeit, Zürich       Wissenschaft und Technik zu noch viel schlimmeren, nämlich tota-
     1889, S. 277.
                                    len Vernichtungsmitteln führen: zu weittragenden Schnellfeuerge-
                                    schützen mit »500 Schuss in der Minute«, zu elektrischen Mordma-
                                    schinen, die »mit einem Schlage ein ganzes Heer vertilgen«, zu
                                    »Sprengstoffpillen, die, aus Wolkenhöhen herunterregnend, in ein
     6 Ebenda, S. 275.              paar Minuten eine ganze Stadt zertrümmern«.6
                                       Es war Nobels Primärwissen und unheilvolle Prognose, woraus
                                    diese Aufklärerin eine Folgerung zog, die uns noch heute bewegt.
                                    »Jener Punkt, wo alles, was ist, aufhören muss – der Punkt der Un-
                                    erträglichkeit – , von dem war die Waffenbelastung der Welt nicht
                                    mehr fern. Aller Reichtum, alle Volkskraft, alles Leben nur auf Ein
                                    Ziel – Vernichtung – hingelenkt: ein solches System muss endlich
     7 Ebenda, S. 274.              entweder die Menschheit oder sich selber vernichten.«7
                                       Infolge dieser Erkenntnis schrieb Suttner »Die Waffen nieder!«,
                                    und die Wirksamkeit eben dieses Buches riss die Autorin auf Gedeih
                                    und Verderb in die Öffentlichkeit, in die Praxis der Friedensbewe-
                                    gung. Auf dem dritten Weltfriedenskongress in Rom (1891) sprach
                                    auf dem Kapitol, das traditionell nur Männern und den legendär
                                    altrömischen Gänsen vorbehalten war, eine Frau, die nach eigenen
                                    Worten »weiter keine Verdienste hatte, als ein aufrichtiges Buch ge-
     8 Suttner: Lebenserinne-       schrieben zu haben«8. Doch man wählte sie als Vizepräsidentin des
     rungen, S. 255; Memoiren,      Internationalen Friedensbüros, das in Bern die Aktivitäten vieler
     S. 186.                        nationaler Organisationen abstimmte. Vom Sinn ihrer Arbeit hatte
                                    sie schon im »Epilog« ihres Romans geschrieben: Ein in Waffen
                                    starrender Frieden sei keine Wohltat – statt dessen sollte für Vereini-
                                    gungen gewirkt werden, »deren Zweck es ist, [...] durch den gebie-
UTOPIE 182-D   17.11.2005     8:17 Uhr    Seite 1077

        BOCK Bertha von Suttner                                                                            1077

        terischen Druck des Volkswillens die Regierungen zu bewegen, ihre
        zukünftigen Streitigkeiten einem [...] internationalen Schiedsgericht
        zu übermitteln und so ein für allemal anstelle der rohen Gewalt das
        Recht einzusetzen«.9                                                       9 Dieselbe: Die Waffen
                                                                                   nieder!, Berliner Ausgabe,
        V                                                                          S. 391 f.
        Suttners Friedensarbeit traf den Zentralnerv der rüstenden Staaten
        und ihrer nationalistischen Ideologien, besonders in Deutschland
        und Österreich. »Friedensbertha!« spotteten und kritisierten Politi-
        ker, Militärs, sogar Literaten. »[...] Jener Dame Ausführungen schä-
        digen die Volksseele, denn sie untergraben das Pflichtbewusstsein,
        die Vaterlandsliebe und die heldenhafte Gesinnung.«10 Unter den            10 Felix Dahn, Verfasser
        Zurufen aber, die der Friedensstreiterin dankten und sie ermutigten:       des Buches »Ein Kampf um
        Alfred Nobel. In jeder Sprache der Welt müsse ihr Buch »Die Waf-           Rom« (1876), in: Die Waffen
                                                                                   nieder! Monatsschrift zur
        fen nieder!« gelesen werden. Er wünschte, dass »der Zauber ihres
                                                                                   Förderung der Friedensidee,
        Stils und die Größe ihrer Ideen sehr viel weiter tragen werden als [...]   Jg. 1896, S. 429.
        all die Werkzeuge der Hölle«.11
          Das war nicht wenig gesagt von einem Genie, mit dem der Sünden-          11 Alfred Nobel an Suttner,
        fall moderner Naturwissenschaft und Technologie begonnen hatte.            Paris, 1. April 1890, zit. n.
        Denn es gab einen abgründigen Riss in Nobels Leben und Schaffen.           Suttner: Lebenserinnerun-
        Er hatte dem Ringen des Menschen mit der Natur nützlich sein wol-          gen, S. 219.
        len: Dynamit sollte die Produktion in den Bergwerken, die Arbeiten
        im Straßen-, Kanal- und Eisenbahnbau erleichtern. Aber mit seiner
        Erfindung und zudem mit seinen eigenen Fabriken in Schweden und
        Krümmel bei Hamburg (1865) hatte er eine Entwicklung losgetre-
        ten, die weltweite Sprengstoffindustrien wie einen gleißenden Ko-
        metenschweif nach sich zog. Die unter Nobels Namen patentierte
        Dynamitproduktion stieg von 424 Tonnen im Jahre 1870 auf 66 500
        Tonnen im Jahre 1896.12 In unheilvoller Geschwindigkeit verwob             12 Horst Kant: Dynamit
        sich die gute Absicht, den primitiven Arbeitsbedingungen des Men-          und Friedenspreise. Ambi-
        schen abzuhelfen, mit der Herstellung menschenvernichtender                valenz des wissenschaft-
        Waffen. Nobel hatte inzwischen sogar das Ballistit (1887), ein rauch-      lich-technischen Fort-
                                                                                   schritts, in: Krieg oder
        schwaches Pulver, erfunden, das bei Artilleriegefechten nur schwie-        Frieden im Wandel der
        rig zu rekognoszieren war. Ob er es wollte oder nicht – er hatte sich      Geschichte. Von 1500 bis
        selbst hineinbegeben in die Barbarei der Kriegsmittel- und Waffen-         zur Gegenwart, hrsg. v.
        produktion, der kalkulierten Kriegsgefahren.                               Helmut Bock u. Marianne
          So beschaffen war die Welt, in der Nobel sein Genie entfaltete,          Thoms, Berlin/DDR 1989,
        seine Sprengstofffabriken produzieren ließ, seine Riesengewinne            S. 216; Derselbe: Alfred
        kassierte – und dennoch nicht glücklich war. In Gewissensnöten und         Nobel, 2., erg. Aufl., Leipzig
                                                                                   1986, S. 41 ff.
        peinlichen Selbstbefragungen tastete er nach der massenvernichten-
        den Materie, der ungeheuren Mord- und Friedensmaschine, die den
        Kriegen ein Ende gebieten sollte. Immerhin begegnete ihm das
        Glück eines ebenfalls schöpferischen Alter ego: Das war die Frau,
        die ihm 1875, noch jung und wenig welterfahren, das genannte Ge-
        ständnis entlockt hatte – 1889 aber als gereifte Schriftstellerin ent-
        gegenkam. Bertha von Suttner antwortete auf Nobels Idee, den
        Krieg durch todbringende Abschreckung zu bannen, mit einer ganz
        und gar friedvollen Alternativkonzeption: Statt Frieden durch
        Androhung einer absolut vernichtenden Superwaffe – Frieden durch
        Recht!
          Einig blieben sich beide in dem Ziel, den Krieg unmöglich zu ma-
        chen. Nobel zahlte bedeutende Geldsummen für die Friedensarbeit.
UTOPIE 182-D     17.11.2005        8:17 Uhr   Seite 1078

     1078                                                                          BOCK Bertha von Suttner

                                      Obwohl er in Suttner die Frau verehrte, ihre leidenschaftlichen Ak-
                                      tivitäten guthieß, blieb er aber ein Zweifler – oder richtiger: ein en-
                                      gagierter Skeptiker. Er sah die Ideen des Schiedsgerichts und der
                                      Abrüstung »nur langsam vorankommen«: »Meine Fabriken werden
                                      vielleicht dem Krieg noch früher ein Ende bereiten als Ihre Kon-
     13 Suttner: Lebenserinne-        gresse [...].«13 Am 7. Januar 1893 lautete sein Neujahrsgruß aus
     rungen, S. 302; Memoiren,        Paris: »Liebe Freundin! Möge das neue Jahr für Sie und für den
     S. 233.                          edlen Feldzug, den Sie so kraftvoll gegen die Unwissenheit und
                                      menschliche Verwilderung führen, günstig sein.« Dabei machte er
                                      den Vorschlag für ein kollektives Sicherheitssystem in Europa. Man
                                      müsste und könnte bald zu einem solchen Ergebnis kommen, »wenn
                                      alle Staaten sich verpflichten, sich geschlossen gegen den ersten An-
                                      greifer zu wenden«. »Dann werden die Kriege unmöglich werden.
                                      Und man erreichte, dass selbst der streitsüchtigste Staat sich an ei-
                                      nen Schiedshof wenden oder sich ruhig verhalten muss. Wenn der
                                      Dreibund an Stelle von drei Staaten alle Staaten umfasste, wäre der
     14 Dieselbe: Lebenserin-         Friede für Jahrhunderte gesichert.«14
     nerungen, S. 303. »Drei-            Nobel hatte also der Abschreckung durch die Gewalt der Waffen
     bund« nannte man das             nicht abgeschworen. Dennoch trug er sich jetzt mit dem Gedanken,
     damalige Staatenbündnis          einen Friedenspreis zu stiften. An die Erwägung, den Preis »alle fünf
     zwischen Deutschland,
     Österreich-Ungarn und
                                      Jahre« und im ganzen nur etwa »sechsmal« zu verteilen, knüpfte er
     Italien, das seiner Tendenz      eine sehr zweifelnde Vorausschau in das 20. Jahrhundert: »[...] Wenn
     zufolge gegen Frankreich         es in dreißig Jahren nicht gelungen ist, das gegenwärtige System zu
     gerichtet war.                   reformieren, wird man notgedrungen in die Barbarei zurückfallen.«15
     15 Ebenda.                       VI
                                      Der organisierte Pazifismus und Suttner selbst wollten den Wandel des
                                      Staatensystems durch Reform, nicht Revolution erreichen. Es war
                                      eine zwangsläufige Logik, dass sie immerfort auf einsichtige Fürsten,
                                      Regierungen, Parlamentarier hofften, die mit Hilfe völkerrechtlicher
                                      Institutionen die Staatenbeziehungen befrieden sollten. Jedoch in
                                      Deutschland erzwang die herrschende Politik den stetig steigenden
                                      Militäretat, wodurch das weitere Wettrüsten provoziert wurde. Weil
                                      nun das halbfeudale Russland einer solchen Konkurrenz nicht ge-
                                      wachsen war, erließ der junge Zar Nikolaus II. ein »Friedensmanifest«
                                      (1898), das die Regierungen zu einer internationalen Konferenz rief.
                                        Suttner hegte höchste Erwartungen, betrieb in Österreich und
                                      Deutschland eine Kampagne zugunsten der Zarenbotschaft und reiste
                                      selbst nach Den Haag, um die historische Wende zur Abrüstung
                                      nicht zu versäumen. Jedoch die wochenlangen Verhandlungen von
                                      26 Regierungsvertretern (1899) scheiterten, insbesondere durch das
                                      destruktive Auftreten der deutschen Delegation, die jeden Rüstungs-
                                      stopp ablehnte. Es gab nur Vereinbarungen über die Art und Weise,
                                      wie militärische Auseinandersetzungen zu führen seien – mit diplo-
                                      matischer Heuchelei »Humanisierung des Krieges« genannt. »[...]
                                      Scheiße auf die ganzen Beschlüsse und verlasse mich lieber auf
                                      mein starkes Schwert!« lautet die Randglosse Kaiser Wilhelms II. in
     16 Zit. n. Fritz Böttger:        den Haager Papieren.16 Auch die Engländer erhöhten noch während
     Einleitung, in: Lebens-          der Haager Verhandlungen ihren Militäretat und begannen sodann
     erinnerungen, S. 9.              den Krieg gegen die Buren in Südafrika.
                                        Mit desillusionierten Erfahrungen kehrte Suttner heim. Nicht ge-
                                      nug, dass abermals Häme und Spott aufkamen – auch gegen sie per-
UTOPIE 182-D   17.11.2005    8:17 Uhr    Seite 1079

        BOCK Bertha von Suttner                                                                          1079

        sönlich, wie aus den zeitgenössischen Journalen zu entnehmen ist.
        Habsburgs aggressive Balkanexperten und die Großdeutschen nörd-
        lich der Alpen entblödeten sich nicht, in der streitbaren Humanistin
        die Frau herabzuwürdigen: weil sie sich als »Friedensvettel«, »Frie-
        densfurie« – als Angehörige eines unbefugten Geschlechts – in die
        Politik einmische.

        VII
        Im neuen Jahrhundert bildeten Frankreich und Großbritannien die
        »Entente cordiale«: die Gegenmacht zu den Mittelmächten des
        »Dreibundes« (1904). Die feindlichen Fronten des kommenden
        großen Kriegs wurden konstituiert. In dieser Situation wachsender
        Spannungen – Nobel war seit 1896 tot – wurde Suttner von seinem
        Vermächtnis eingeholt. Das skandinavische Nobel-Komitee verlieh
        ihr im Herbst 1905 den Friedenspreis.
           Vor dem Storthing in Christiania (heute Oslo) vertrat die Preisträ-
        gerin in ihrem Vortrag am 18. April 1906 die inzwischen erweiterten
        Programmpunkte des zeitgenössischen Pazifismus. »1. Schiedsge-
        richtsverträge«. »2. Eine Friedensunion« möglichst aller Staaten, die
        jeden Angriff eines Staats gegen einen anderen mit gemeinsamer
        Kraft zurückweisen sollten (Nobels Idee). »3. Eine Internationale
        Institution« zur Wahrung des Rechts zwischen den Völkern. Die
        Quintessenz der Reformabsichten hieß kurz und knapp: »Abschaf-
        fung der Notwendigkeit, zum Kriege Zuflucht zu nehmen.«17                 17 Suttner: Vortrag vor
           Jedoch der kritische Blick, mit dem die Preisträgerin ihre Ideale     dem Nobel-Comitee des
        am realen Weltzustand messen musste, bilanzierte ganz anderes            Storthing zu Christiania
        als Verständigung und Frieden: Da war die Menschenschlächterei           am 18. April 1906, zit. n.
                                                                                 Memoiren, S. 515 ff.
        des russisch-japanischen Kriegs und in dessen Folge die Revolution
        von 1905, die das Zarenreich erschütterte. In den Staaten Mittel- und
        Westeuropas gewahrte sie Säbelgerassel, Pressehetze und Rüstungen
        überall: »Festungen werden gebaut, Unterseeboote fabriziert, ganze
        Strecken unterminiert,kriegstüchtige Luftschiffe probiert, mit einem
        Eifer, als wäre das demnächstige Losschlagen die sicherste und
        wichtigste Angelegenheit der Staaten.« Auf der gesamten Erde wusste
        sie von Bränden, Raub, Bomben, Hinrichtungen, Massaker – »einer
        Orgie des Dämons Gewalt«. Ihr Urteil über die moderne Staatenwelt
        war vernichtend: »Auf Verleugnung der Friedensmöglichkeit,
        auf Geringschätzung des Lebens, auf den Zwang zum Töten ist
        bisher die ganze militärisch organisierte Gesellschaftsordnung auf-
        gebaut!«
           Diese düstere Umschau muss heute, da wir von der baldigen
        Explosion des politischen Weltkraters wissen, als Spiegelung am
        Vorabend der Katastrophe erscheinen. Es fehlt eigentlich nur der
        Kassandraruf, der den Untergang einiger dieser wettrüstenden, zum
        Krieg treibenden Staaten voraussagte. In Suttners Rede hingegen
        war der Gedankengang anders entwickelt. Sie sprach zuerst von den
        moralischen Pflichten einer gesitteten Menschheit, dann über deren
        Verletzungen durch eine kriegerische Staatenpolitik, schließlich aber
        – in einem gemischten Finale von etwas mehr Dur als Moll – über
        die noch immer bestehenden Chancen des Pazifismus: »die Ära des
        gesicherten Rechtsfriedens« herbeizuführen, »in der die Zivilisation
        zu ungeahnter Blüte sich entfalten« werde.
UTOPIE 182-D    17.11.2005       8:17 Uhr   Seite 1080

     1080                                                                        BOCK Bertha von Suttner

                                    Dieses Reformstreben war perspektivisch auf einen Völkerbund
                                    oder sogar auf Vereinte Nationen gerichtet. Es wollte die Lebensin-
                                    teressen der Menschheit erfüllen. Die Rednerin zählte unter den Per-
                                    sönlichkeiten, auf die der Pazifismus bauen könnte, nicht nur hohe
                                    Repräsentanten der bürgerlichen Demokratien Britanniens, Frank-
                                    reichs und der USA, sondern auch Jean Jaurès, den Sozialisten-
                                    führer und Friedenskämpfer in Paris. Sie tat dies in Anknüpfung an
                                    ihr berühmtes Buch, worin sie den tätigen, aber mitgliederschwachen
                                    Friedensgesellschaften des Bürgertums eine andere, weit größere
                                    Bewegung als möglichen Verbündeten bezeichnet hatte: »die Partei,
                                    deren Anhänger schon nach Millionen zählen, die Partei der Arbei-
                                    ter, des Volkes, auf deren Programm unter den wichtigsten Forde-
     18 Suttner: Die Waffen         rungen der ›Völkerfrieden‹ obenansteht.«18
     nieder!, 5., bearb. Aufl.,        In den folgenden Jahren gewahrte Suttner mehr und mehr die hohe
     Dresden – Leipzig 1892,        Wahrscheinlichkeit des Kriegs. Viele Monate lang reiste die fast
     S. 305. Suttners Text-         Siebzigjährige durch Mitteleuropa und die USA, um die Gefahr
     änderungen von 1889 bis
     1892 sind nachgewiesen in:
                                    bewusst zu machen und den Frieden zu propagieren. Weil sie in
     Berliner Ausgabe, S. 478 ff.   Österreich und Deutschland immer entschiedener auftrat, war die
                                    »Friedensbertha« nun auch als »Rote Bertha« verschrien und von
                                    Redeverboten verfolgt. Als zutiefst ethischer Charakter gab sie ihr
                                    Letztes. Getreu dem Friedensstreiter Tilling, den sie in ihrem wich-
                                    tigsten Buch hatte sagen lassen: »Die Hoffnung, dass ich in Person
                                    das Reifen der Zeit beschleunigen könne oder die ersehnten Früchte
                                    daran sprießen sehe – die muss ich vernünftigerweise wohl aufgeben
                                    ... Was ich beitragen kann, ist gar winzig. Aber von der Stunde an,
                                    wo ich dieses Winzige als meine Pflicht erkannt, ist es mir doch zum
     19 Ebenda, S. 350.             Größten geworden – also harre ich aus.«19
                                       Da wir am Ende sind, stellt sich die Frage: Stirbt es sich leichter,
                                    wenn man die Früchte seiner Lebensarbeit verdorren sieht, aber im-
                                    mer noch Hoffnungen hegt? Suttners Tagebuchnotiz vom 12. Mai
                                    1914 lautet: »[...] Gegen den Übermilitarismus, der jetzt die Atmos-
                                    phäre erfüllt, ist nicht anzukämpfen. Die einzigen – weil sie auch
                                    eine Macht sind –, auf die man hoffen kann, dass sie den Massen-
     20 Aus dem Tagebuch            krieg abwenden, sind die Sozialdemokraten.«20 Kaum mehr als ein
     Bertha von Suttners –          Monat verging, bis diese Hoffnungsträger in Gestalt ihrer Reichs-
     Januar bis Juni 1914, in:      tagsabgeordneten die Kriegskredite bewilligten und zum Komplizen
     Lebenserinnerungen,
     S. 553.
                                    aller Kriegstreiber wurden. Die lange befürchtete, lang auch be-
                                    kämpfte Katastrophe begann: mit Maschinenwaffen und Kampfgas,
                                    Luftkampf und U-Boot-Krieg, nie gekannten Verheerungen unter
                                    Menschen und ihrer Kultur. Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.
                                    Und auch die Frau, die unter den Friedensstreitern im besten Sinne
                                    die Grande Dame gewesen – war tot. Gestorben am 21. Juni 1914.
                                    Nur eine Woche vor den Todesschüssen von Sarajewo. Sie hinterließ
                                    eine Erbschaft, die in dem dauerhaft richtigen Streitruf besteht: »Die
                                    Waffen nieder!«
Sie können auch lesen