Wir halten zusammen- auch mit Abstand Ein Heft zur - gruene BW
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Wir halten zusammen – auch mit Abstand ur Ein Heft z ät Solidarit MITGLIEDERZEITSCHRIFT · II · 2020 · BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN BADEN -WÜRTTEMBERG
02 · GRÜNE BLÄT TER · II · 2020 GRÜNE BLÄTTER · II · 2020 · 03 Zusammenhalten Kleine Geschichte in der Krise der Solidarität Die Coronavirus-Pandemie stellt die Welt auf eine harte Probe. Es ist eine herausfordernde Zeit, die uns allen viel abverlangt – persönlich und gesellschaftlich. Unser Zusammenhalt ist in dieser Krise unser Der Zement, der Gesellschaft größter Trumpf. Deshalb wollen wir gerade in Zeiten des Abstandhaltens zusammenrücken und uns Wer über Solidarität spricht, meint damit meist den für Solidarität und Zusammenhalt stark machen. Zusammenhalt oder das Eintreten für gleiche Interes- Am Anfang war das Geld. sen. Der französische Soziologe Emile Durkheim be- Von Dr. Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand Bzw. fehlendes Geld. Der Ursprung des schreibt Solidarität als Zement, der die Gesellschaft Wortes Solidarität wurzelt nämlich im zusammenhält. Nicht immer geht es dabei um mate- römischen Recht und steht für eine rielle Hilfe, auch ein symbolischer Akt der Verbunden- COVID-19 hat unseren Alltag verändert, er ist geprägt von sozialer Distanz und Dr. Sandra Detzer besondere Form von Schuldenhaf- heit kann Solidarität ausdrücken. Wer sich solidarisch großer Unsicherheit. Arbeitslosigkeit, Existenzängste, erschwerter Zugang zu Bil- tung, die „obligatio in solidum“. Danach zeigt, geht aber auch unterschwellig davon aus, dass dung aber auch Einsamkeit und Überforderung stellen unsere Gesellschaft vor musste jedes Familienmitglied für die ihm im umgekehrten Fall auch geholfen würde. große Herausforderungen. Vor allem in solchen Krisensituationen müssen wir Gesamtheit der Schulden aufkommen – und umgekehrt auch die Gemeinschaft Du sollst deinen Nächsten darauf achten, dass die Spaltung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen für die Schulden des Einzelnen. lieben wie dich selbst. nicht größer wird. Denn diejenigen, die bereits abseits standen, drohen nun noch Die Botschaft der Nächsten- stärker den Kontakt zu Mitmenschen zu verlieren. Wir wollen das soziale Netz liebe ist eine der Säulen des enger knüpfen, damit niemand verloren geht. Und wir wollen zeigen, dass wir als Christentums. Das Gebot Gesellschaft auch mit Abstand zusammenhalten. anderen Menschen in einer Sandra Detzer ist Landesvorsitzende konkreten Notlage aktiv und der Grünen in Baden-Württemberg. uneigennützig zu helfen kennen Eine starke Gesellschaft ist vielfältig Als ehemalige parlamentarische Be- aber auch andere Religionen. raterin für Wirtschaft und Finanzen setzt sich die 40-Jährige besonders für In unserer freien, offenen und vielfältigen Gesellschaft ist Zusammenhalt immer den ökologischen Wandel der Wirt- Liberté, Égalité, Fraternité auch der Zusammenhalt von unterschiedlichen Menschen. Deshalb ist die inklu- schaft, den Schutz unserer natürlichen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod!“ Der sive Gesellschaft unser Leitbild: Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch Lebensgrundlagen, gute Bildung und Beim Hungern und letzte Teil dieser Parole aus der französichen Revolution die gleichberechtigte Teilhabe von beim Essen, vorwärts wurde schnell getilgt, aber die freiwillige Bruderschaft mit seiner Würde und seiner Freiheit. Ein inklusives Wir-Gefühl entsteht, wenn Frauen in der Politik ein. und nie vergessen: ziert noch heute das Motto der Französischen Republik. wir Vielfalt akzeptieren und eine Einheit der Verschiedenen schaffen. Diesen Zu- die Solidarität In der aufkommenden Arbeiterbewegung wurde sie sammenhalt in Vielfalt gilt es vor allem in Krisensituationen zu bewahren und zu Mit der Industrialisierung durch den inklusiveren Begriff der Solidarität abgelöst. stärken. Oliver Hildenbrand wandelte sich auch die Ge- sellschaft. Die Großfamilie, die Dorfgemeinschaft oder Zusammenhalt ist ein Prozess Hoch die internationale Solidarität? die Kirchengemeinde verlo- ren an Bedeutung und mit der Arbeiter- Mit wachsender Globalisierung und Moder- Unsere Politik für den gesellschaftlichen Zusammenhalt setzt deshalb bei der bewegung wurde Solidarität politisch. nisierung ändern sich unsere Ansprüche an Obwohl die meisten Arbeiter*innen sich Solidarität. Die zunehmende Vielfalt der Verbesserung der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebenslage aller nicht kannten, hatten sie doch die glei- Lebensverhältnisse und die immer kom- Menschen in unserem Land an, um so auch gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. plexeren und globaleren Zusammenhänge chen Probleme und Ziele, und kämpf- Denn gesellschaftlicher Zusammenhalt ist kein Zustand, sondern ein politisch- ten gemeinsam für ihre Forderungen: in Wirtschaft und Gesellschaft machen es Oliver Hildenbrand ist Landesvorsit- schwieriger Solidarität zu verwirklichen und zu sozialer Prozess: Es geht um Vertrauen in die Verfassung, in die öffentlichen Ins- „Vorwärts und nicht vergessen, wo- zender der Grünen in Baden-Württem- organisieren. Die Internationale Solidarität wird titutionen und in die soziale Infrastruktur. Es geht um gesellschaftliche Teilhabe, rin unsere Stärke besteht! Beim berg. Er kommt aus dem Main-Tauber- dabei zwar in Festtagsreden beschworen und Hungern und beim Essen, vorwärts um soziale Sicherheit und um gleichwertige Lebensverhältnisse in der Stadt und Kreis und studierte Psychologie in in Sprechören skandiert, aber der Begriff hat und nie vergessen: die Solidarität!“ auf dem Land. Es geht um politische Beteiligung. Es geht um Gemeinsinn und um Bamberg und Bonn. Sein politisches an Strahlkraft verloren und muss immer wieder (Solidaritätslied von Brecht/Eisler) Herz schlägt für Vielfalt und Zusam- verteidigt werden. Aber gerade jetzt ist Inter- Engagement für das Gemeinwohl – auch und vor allem jetzt. menhalt in unserer freien, offenen nationale Solidarität nicht nur eine Frage des und vielfältigen Gesellschaft. Herzens, sondern auch ein Gebot der Vernunft.
04 · GRÜNE BLÄTTER · II · 2020 GRÜNE BLÄTTER · II · 2020 · 05 Vorsicht vor den Aus meiner jahrelangen Tätigkeit als lerweile gemeinsam etwas auf die sich austauschen. Sozial durchmisch- Schöffin weiß ich: Der Geburtsort von Beine, etwa eine Hip-Hop-Kulturwo- te Viertel sind Grundvoraussetzung Vater und Mutter hat wenig Einfluss che. Die mobile Jugendarbeit hat es dafür, dass keine Gruppen entstehen, einfachen Antworten darauf, ob jemand auf die schiefe Bahn geschafft, viel Ärger und Aggressio- die sich abgehängt und nicht wahr- gerät; die entscheidenden Fragen nen zu reduzieren. Durch Angebote, genommen fühlen. Deshalb brauchen waren andere: In welchem sozialen Ansprechparter*innen und Freiräume wir eine Wohnungspolitik, die den Bau Umfeld bewegen sich die Beschul- sind ein Zugehörigkeitsgefühl und ein von Wohnraum für kleine und mittle- Die Krawalle in Stuttgart haben uns alle schockiert und verunsichert. Doch die anschliessende Debatte digten, welche Rolle spielen falsche Gefühl, gesehen zu werden, entstan- re Einkommen attraktiv macht und für drehte sich fast nur um den vermeintlichen Migrationshintergrund der Verdächtigen. Muhterem Aras Freunde, fehlende Strukturen, das Ge- den. Derartige Projekte müssen wir eine soziale Durchmischung unserer meint, das leistet nicht nur gesellschaftlicher Spaltung Vorschub, sondern lässt auch das Wesentliche fühl mangelnder Zugehörigkeit, Alko- stärken und ausbauen – trotz und ge- Städte sorgt – so, wie wir es mit der aus dem Blick: Was können wir tun, um jungen Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu geben? hol oder andere Drogen. rade angesichts der Pandemie. massiv aufgestockten Wohnraumför- derung bereits begonnen haben. Von Muhterem Aras Überwinden wir die einseitige Fo- Ebenso wichtig ist der Bildungsbe- kussierung auf die Herkunft der Täter, reich. Das fängt bei den Ganztagsschu- Muhterem Aras können wir den Blick auf die struktu- len und Kitas an. Denn dort kommen Fassungslosigkeit und Entsetzen über Ins Zentrum rückte die Frage, ob die engagieren, sondern sich eher zurück- rellen Faktoren richten, die bei der Su- Kinder aus ganz unterschiedlichen die durch nichts zu rechtfertigende Verdächtigen einen Migrationshinter- ziehen. So entstehen voneinander che nach einer wirksamen politischen Verhältnissen zum gemeinsamen Ler- Gewalt prägten den Morgen nach der grund haben. Die Antwort: Ja, etliche. abgekapselte Milieus – Gift für den Antwort auf Jugendkriminalität ent- nen zusammen. So lernen sie schon Stuttgarter Krawallnacht. Und eine Nur – was sagt das aus? In Städten Zusammenhalt in der Gesellschaft. scheidend sind. Unser Leitmotiv muss früh, Vielfalt zu schätzen und mit ihr simple Frage, die ich bei meinen Ge- wie Stuttgart oder Nürnberg hat heu- dabei sein, Zusammenhalt zu fördern umzugehen. Davon profitieren alle. sprächen mit den Ladenbesitzer*innen te die Hälfte der Gesellschaft irgend- Es hätte auch ein Schwabe – als Grundlage gegen das Gefühl des Schulen sollten sich zudem stärker in der Innenstadt ebenso gestellt einen anderen Hintergrund. Eltern, sein können Abgehängtseins und daraus resultie- nach außen öffnen: Lehrer*innen wie bekam, wie in den Interviews der Großeltern – irgendwer ist immer rende soziale Verwerfungen und „Wir Schüler*innen brauchen Freiraum, um Muhterem Aras ist Landtagsab- Journalist*innen, die alle wissen woll- irgendwo anders geboren. Ich habe in diesen Wochen oft an gegen die“-Aggressionen. Das heißt: Projekte mit Vereinen oder Kulturein- geordnete für Stuttgart I und die ten: Wie kann das sein, hier, bei uns? den ehemaligen Stuttgarter Ober- Wir brauchen Orte der Begegnung. richtungen zu gestalten. Mit durch- Stimmenkönigin des Landes. Sie ist seit 2016 unsere Landtagspräsidentin. Impressum Herausgeber: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Baden-Württemberg Königstraße 78 · 70173 Stuttgart Telefon: 0711-99 35 90 landesverband@gruene-bw.de www.gruene-bw.de Redaktion: Caroline Blarr, Marcel Emmerich, Isabella Hoyer, Julia Link, Carsten Preiss, Günter Renz, Michaela Schorpp, Anne Thorand Layout: Carsten Preiss Druck: Auf Umweltpapier bei Die- richs Druck+Media GmbH & Co KG, Kassel. Auflage: 15.000 Exemplare. Auf der reflexhaften Suche nach Unterscheidet man zwischen ‚Deut- bürgermeister Manfred Rommel und Dabei geht es zuerst um den öffentli- dachten Konzepten für mehr Teilhabe Bildquellen: 1) © gettyimages.com/South_agency schnellen Antworten entstand in den schen‘ und ‚Deutschen mit Migrati- den Mord auf der Gaisburger Brücke chen Raum. Junge Menschen brauchen eröffnen sich so für Kinder neue Wel- 3) © thenounproject.com folgenden Tagen aus dieser Frage onshintergrund‘, stellt man eine ganze 1989 gedacht. Ich erinnere mich noch Platz – auch jenseits der klassischen ten – und damit bessere Startchancen. 4) © lena-lux.de 6) © annacavazzini.eu eine Debatte, die dem Zusammen- Gruppe unter Generalverdacht und genau an diesen Tag, wir waren vol- Jugendhäuser. Wie das funktionie- Entscheidend ist aber auch eine klu- 7) © gruene.de halt unserer Gesellschaft Schaden einen permanenten Erklärungsdruck. ler Anspannung: Was kommt jetzt für ren kann, zeigen Sozialarbeiter*innen ge Wohnungspolitik. Eine vielfältige 8) © gettyimages.com/Lyubov Ivanova zufügen kann. Ein Schaden, der nicht Wem so vermittelt wird, dass er oder eine Stimmung, was für eine Debatte? in Stuttgart an einem (ehemali- Stadtgesellschaft funktioniert nur, & gruene.de so schnell reparabel ist, wie die sie nicht voll dazugehört, qua Herkunft Und dann sagte Rommel, bezogen auf gen) Brennpunkt, dem Platz vor dem wenn Menschen unterschiedlicher Schaufenster auf der Königsstraße. ein Sicherheitsrisiko sei, der wird sich den Täter – einen Asylbewerber: „Es Shoppingcenter Milaneo. Hier stellen Herkunft, Kaufkraft oder Lebensein- auch nicht als Teil des Gemeinwesens hätte auch ein Schwabe sein können.“ zuvor rivalisierende Gruppen mitt- stellung nebeneinander wohnen und
06 · GRÜNE BLÄT TER · II · 2020 GRÜNE BLÄTTER · II · 2020 · 07 „Diese Krise trifft sinnvoll ist. Zum Beispiel in den Be- Wie könnte das aussehen? Anna Dieser Deal würde nichts ver- reichen Medizin und Landwirtschaft bessern. Er zementiert das unnach- sollte die Europäische Union unab- Anna Es ist sehr wichtig, dass das haltige Wirtschaftssystem und ist ein die Ärmsten der Armen“ hängiger werden. Wir müssen auf Vorsorgeprinzip gilt und Umwelt- Beispiel für ein Freihandelsabkom- sozial-ökologische Transformation und Sozialstandards einklagbar sind. men, das nichts besser macht und der Wirtschaft setzen. Davon profitie- Außerdem darf internationales Han- am Gestern festhält. Das Abkommen ren sowohl die Europäische Union als delsrecht nationales Recht nie unter- würde die furchtbare Politik des bra- Anna Cavazzini kämpft im Europäischen Parlament für Globale Gerechtigkeit. Eine faire Handelspolitik auch Entwicklungsländer. minieren. Ein nationales Klimaschutz- silianischen Präsidenten Jair Bolso- und die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden beschäftigen sie schon lange. Vor ihrer Zeit im Europa- gesetz darf mit internationalem naros adeln und die Zerstörung des parlament hat Anna im Auswärtigen Amt, bei den Vereinten Nationen, bei Campact und Brot für die Welt Du beschäftigst dich im Europäischen Handelsrecht also nicht umgangen Regenwaldes im Amazonas weiter an- gearbeitet. Mit uns spricht sie über internationale Solidarität in Krisenzeiten. Parlament vor allem mit Handels- werden. feuern, weil damit mehr Fleisch und politik. In den letzten Jahren haben mehr Ethanol importiert würden. So Das Gespräch führte Marcel Emmerich Handelsabkommen zugenommen. Ein Freihandelsabkommen, das zur- werden die Bemühungen um die Ein- Was hat sich dadurch verändert? zeit besonders in der Kritik steht, ist dämmung des Klimawandels und das das Abkommen zwischen der EU und Pariser Klimaabkommen untergraben. Der Ruf nach Solidarität wird in Kri- am heftigsten getroffen werden aber Anna Der Welthandel und die dazu den Mercosur-Staaten Argentinien, senzeiten immer lauter, aber macht die Länder des Globalen Südens. gehörigen Strukturen und Regeln Brasilien, Paraguay und Uru- oft an der Grenze halt. Was mach für sind komplexer und unübersichtli- guay. Was ist daran dich internationale Solidarität aus? Und jetzt kam auch noch die Corona- cher geworden. Die Welthandelsorga- problema- Krise. Hat sich die Lage dadurch ver- nisation (WTO) wurde von mächtigen tisch? Anna Zum einen geht es um Gerech- schärft? Industrie ländern und deren Interes- tigkeit bei der Verteilung von Res- sen stark dominiert. Das Regelwerk sourcen. Es kann nicht sein, dass ein Anna Ja, die Krise trifft die Ärmsten der WTO war deswegen lange blind Bruchteil der Menschen die Vortei- der Armen. In Indien sind die Men- gegenüber Themen wie Klima, Nach- le der wirtschaftlichen Entwicklung schen in Scharen in ihre Heimatdör- haltigkeit und Menschenrechten. genießt, während der große Teil der fer zurückgekehrt, wo sie keine Arbeit Wollen wir hier etwas ändern, müssen Weltbevölkerung nicht daran teilha- und wenig zu essen haben. In Bangla- wir an die WTO ran. ben kann. Wir müssen endlich fairen desch leiden die Näher*innen in der Welthandel ermöglichen. Zum an- Textilindustrie stark darunter, dass die Warum war und konnte? Die deren gehört dazu, dass wir unsere Modeunternehmen ihre Lieferungen Welthandelsorganisation gibt planetaren Grenzen endlich berück- nicht mehr wie vereinbart abgenom- es doch noch. sichtigen. Die sichtbaren Folgen der men haben. menschengemachten Umweltverän- Anna Mittlerweile ist die derungen und des globalen Ressour- Brauchen wir jetzt ein Umdenken bei WTO geschwächt. Staaten cenverbrauchs zeigen uns, dass es so der Globalisierung? und Regionen handeln an der nicht weitergehen kann. Wenn wir WTO vorbei bilaterale Frei- jetzt nicht umdenken und handeln, Anna Ja, die Auswirkungen der handelsabkommen aus. Au- brauchen wir mehr als eine Erde. Corona-Pandemie auf die Weltwirt- ßerdem wurde die WTO un- schaft haben uns deutlich vor Augen ter dem US-amerikanischen Was ist so ungerecht an unserem geführt, wie anfällig globale Liefer- Präsidenten Donald Trump Wirtschaftssystem? ketten sind. Wir müssen diese nach- in die Handlungsunfähigkeit haltig ausrichten und regionale Wirt- getrieben. Anna Die Länder des globalen Südens schaftskreisläufe stärken. tragen – auf ganz unterschiedliche Art Also ist der Kampf für globale und Weise – die Last des wirtschaftli- Aber wenn wir wieder mehr selbst Gerechtigkeit schwieriger gewor- chen Wachstums der Industriestaaten. produzieren, leiden dann nicht die den? Noch immer fließen mehr Steuermit- Menschen in den Entwicklungslän- tel aus afrikanischen Ländern heraus dern, die ihre Industrie darauf ausge- Anna Das kommt ganz darauf an. Ge- als Entwicklungshilfe hinein, da dort richtet haben? nerell ist es möglich, in einzelnen Ab- tätige ausländischen Konzerne häufig kommen mehr für Umwelt und Men- Steuervermeidung betreiben. Außer- Anna Da gibt es natürlich ein Span- schenrechte zu erreichen, als es nach dem machen unsere Agrarprodukte nungsfeld. Ich bin nicht der Meinung, den WTO-Regeln bisher der Fall war. deren Märkte in einigen Regionen ka- dass alles relokalisiert werden sollte. Dennoch muss es für uns Grüne ein putt und treiben die Klimakrise weiter Das würde tatsächlich Lohn und Brot klares Ziel sein, die WTO-Strukturen voran. Die Industriestaaten verant- vieler Menschen im globalen Süden zu verbessern und zu stärken. Auch worten die Hauptlast der Klimakrise, zerstören. Wir müssen schauen, was wenn das ein steiniger Weg ist.
GRÜNE BLÄTTER · II · 2020 · 08 Solidarität in Zeiten von Corona Solidarität in Krisenzeiten bedeutet auch Verzicht. Eigene Bedürfnisse müssen hinter das Gemeinwohl gestellt werden – ein Kraftakt für uns alle. Aber wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen, gesellschaftliche Solidarität und persönliche Freiheit gegeneinander auszuspielen, meint Andreas Lob-Hüdepohl. Von Andreas Lob-Hüdepohl Solidarität zeigt sich in der Bereit- Die anstehenden und bereits ergrif- schaft, eigene Interessen zugunsten fenen Lockerungen müssen, ebenso vitaler Bedürfnisse anderer zurückzu- wie die Kompensationsmaßnahmen stellen und sogar schwere Nachteile für die aufgetretenen Schäden, diese in Kauf zu nehmen. Solche Solidari- Grundsätze beachten. Ansonsten wür- tät war während des Lockdowns in de die Solidarbereitschaft erodieren. höchstem Maß gefordert. Die Stra- Dabei dürfen gesellschaftliche Soli- tegie der physischen Distanz hat ei- darität und persönliche Freiheit nicht nen Kollaps des Gesundheitssystems gegeneinander ausgespielt werden. abgewendet. Das war notwendig und Sie bedingen einander. Denn gegen ist hoch erfreulich. Aber sie hat(te) Die erstaunlich hohe Zustimmung zu eine liberalistische Verkürzung be- schwerwiegende Begleitschäden: er- den Pandemie-Maßnahmen belegt: steht das Ideal einer freien Gesell- hebliche Einschränkungen persönli- Die staatlich verordnete Solidarität schaft nicht darin, dass sich deren Mit- cher und politischer Freiheitsrechte; entspricht einer hohen Solidarbe- glieder möglichst aus dem Weg gehen bildungsbezogene, kulturelle und reitschaft in der Bevölkerung – selbst und sich nicht ins individuelle Gehege nicht zuletzt wirtschaftliche Schäden. bei denen, die durch die Maßnahmen kommen. Selbst gesundheitsrelevante Begleit- kaum Vorteile erwarten können, dafür schäden werden in Kauf genommen: aber hohe Lasten zu tragen haben. Freiheit verwirklicht sich erst in ei- aufgeschobene Operationen; nicht Solidarität ruht auf einem Grundver- ner Gesellschaft, in der die Vielfalt wahrgenommene ärztliche Versor- ständnis von Zusammengehörigkeit, der Lebensentwürfe von Gleichen ge- gung; Unterversorgung von Personen, das zum wechselseitigen Beistand meinschaftlich erstritten und erlebt die in für Externe nicht mehr zugäng- verpflichtet. In Zeiten physischer Di- werden kann. Deshalb darf die Rück- lichen Einrichtungen der Alten- und stanz steht sie für soziale Nähe. Sie gewährung individueller Freiheits- Behindertenhilfe leben; Isolation und verkörpert eine Intuition, der zufol- rechte niemals zu Lasten jener gehen, Vereinsamung alleinlebender Perso- ge sich das Wohl aller am Wohl der deren menschenrechtliche Ansprüche nen; Stress induzierte häusliche Ge- schwächsten Glieder einer Gesell- unmittelbar von solidarischen Kraft- walt gegen Kinder und Frauen und schaft bemisst. Sie lebt aber auch von anstrengungen aller abhängen. vieles mehr. der Unterstellung, dass Nutzen und Andreas Lob-Hüdepohl Lasten auf lange Sicht gerecht und fair verteilt sind und nicht ohne Not, also in einem angemessenen und nur wirklich erforderlichen Umfang ein- gefordert wird. Damit verbunden ist die Erwartung, dass die heute Solidar- bereiten im Bedarfs- und Schadens- falle umgekehrt auf die Solidarität anderer setzen können. Solidarität, die grundsätzlich auf etwaige Ge- Andreas Lob-Hüdepohl ist Theologe genleistung verzichtet, ist moralisch und Sozialethiker. Er ist Professor hochherzig; politisch verordnen lässt an der Katholischen Hochschule für sie sich aber nicht. Sozialwesen und Mitglied im Ethikrat.
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