Niederlande: Das Schülererfolgssystem
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Niederlande: Das Schülererfolgssystem Seit etwa zehn Jahren ist man in Holland als das die meisten Waldorfschulen teilweise Lehrer dazu verpflichtet, die Entwicklung der oder ganz nutzen. Kinder nicht nur systematisch zu beobachten, In dem System sind auch die Schulreife-Un- sondern sie auch auszuwerten, um Handlungs- tersuchung, die Zweitklass-Untersuchung, der pläne zu erstellen. Das Ziel dieser Arbeit ist, Eingangstest für die Oberstufe (Siebtklass- die Kinder während ihrer Schulzeit optimal Untersuchung) und die Legasthenie- (Dysle- zu begleiten. Überdies ergibt sich dadurch die xie-)Untersuchung enthalten. Möglichkeit, den Kollegen, den Eltern und – sehr wichtig – den Inspektoren1 Einblicke Was ist ein Schülererfolgssystem? in das »Wie« und »Was« des Unterrichts zu Das Schülererfolgssystem ist ein Hilfsmittel, geben. um die Entwicklung eines Schülers zu verfol- Ferner gibt es Institutionen, die für die ver- gen und zu dokumentieren. Es ist ein Instru- schiedenen Fächer wie Lesen, Schreiben, ment, ein Mittel und nicht eine Zielbeschrei- Rechnen usw. Tests entwerfen. Diese sind bung. darauf ausgerichtet, dass man z.B. nach drei In der Schulpraxis ist es selbstverständlich, oder sechs Monaten die Fortschritte im einem dass jeder Lehrer seine Aufzeichnungen macht. Fachgebiet prüfen kann. So bekommt man Er notiert, wie seine Schüler sich entwickeln, Einsicht in die Entwicklung des Kindes und ihre Leistungen bei Prüfungen, ihre Epochen- man kann sehen, wann die Entwicklung stag- heft-Gestaltung und auch besondere Auffällig- niert. In unserem »Begeleidingsdienst voor keiten, zum Beispiel, wenn ein Mädchen, das Vrije Scholen« (ein Begleitungsdienst für alle immer sehr konzentriert und aufmerksam war, etwa 97 Waldorfschulen in Holland) haben plötzlich unkonzentriert und abgelenkt ist. Er wir die Ansicht vertreten, dass wir immer die fragt sich dann: Was ist mit diesem Mädchen gesamte Entwicklung des Kindes betrachten geschehen? Vielleicht bespricht er sich mit ei- sollten – nicht nur die Lernresultate, sondern nem Kollegen oder mit den Eltern und lässt auch die sozial-emotionelle Entwicklung und sich beraten. Jeder Lehrer hat sein eigenes Sy- den Zusammenhang zwischen diesen Gebie- stem und dokumentiert seine Beobachtungen ten. Also haben wir vor etwa sechs Jahren un- meistens in einem Heft oder Buch, vielleicht ser eigenes Schülererfolgssystem entwickelt, im Computer. Am Ende des Jahres schreibt er das Zeugnis für die Schüler. Jeder macht es auf 1 In Holland gibt es ein staatliches Kontrollsystem, das die Qualität des Unterrichtes überprüft. Von seine eigene Weise. der Anfangsschule bis zur Universität gibt es sog. Der Sinn eines Erfolgssystems ist, dass man Inspektoren, die mit Hilfe von »Standards« die Ar- eine Art Ausgangspunkt beim Wahrnehmen beit in den Schulen beobachten. Diese sogenannten von den Kindern hat. Eine weitere Stufe ist, »objektiven Indikatoren« (oder Standards) sind na- dass man sich austauscht, versucht zu cha- türlich von einer festgeschriebenen Unterrichtsidee aus konstruiert worden. Für die Waldorfschulen rakterisieren, was für ein Bild man sich von ergeben sich daraus gelegentliche Diskrepanzen diesem Kind machen kann, und zum Schluss, zwischen den eigenen Auffassungen und denen welche pädagogischen und didaktischen des Staates. Obwohl es in Holland (Unterrrichts-) Möglichkeiten angewendet werden können. Freiheit gibt, ist der inhaltliche Einfluss des Staates Es ist wichtig, dass man sich darüber einig ziemlich stark. ist, welche Kategorien man bei der Wahrneh- 294
mung der Kinder verwendet, und dass man Quantitative und qualitative diese dann für alle Kinder anwendet, auch Beurteilungen für die gesunden, harmonischen und unpro- Die Fortschritte und Leistungen können wir in blematischen Kinder, weil die Praxis in der verschiedenen Augenblicken »messen«; wir Schule heute oft so ist, dass nur die auffälligen müssen sie dabei immer in Zusammenhang Kinder in der Kinderbesprechung vorgestellt mit der ganzen Entwicklung betrachten, so als werden. ob durch einen Querschnitt alle Schichten auf einmal sichtbar würden. Lern- und Entwicklungsprofile Wie können wir diese zwei Pfeiler, den der Wenn wir über Erfolg sprechen, ist immer Entwicklung und den der Leistungen, syste- ein Zeitaspekt einbezogen. Wir können nur matisch betrachten? sagen, ob ein Kind gewachsen ist oder nicht, 1. Für die Entwicklung des Denkens, wenn wir wissen, dass es zuerst 1,10 Meter Fühlens und Wollens brauchen wir Krite- groß war und nach einem halben Jahr 1,12 rien. Wir haben diese Items in einer Pro- Meter. Wenn wir über Länge oder Gewicht jektgruppe formuliert und in verschiedenen reden und wir Kriterien, Werte wie Meter oder Schulen ausprobiert. Etwa 20 Lehrer haben Kilo dafür haben, ist es nicht schwierig, eine das Schema für ihre Schüler ausgefüllt. Entwicklung aufzuzeigen. Ganz anders ist es, Diese Pilotuntersuchung gab uns das Ver- wenn wir die Gefühlsentwicklung oder die trauen, dass wir brauchbare Kriterien ge- Entwicklung des Wollens und Denkens ver- funden haben. Ein Beispiel eines Teiles des folgen und beschreiben wollen. Entwicklungsprofils findet man am Ende In unserem Schülererfolgssystem, das auf dieses Artikels. der Grundlage der anthroposophischen Men- 2. Wenn wir die Leistungen und Fort- schenkunde entwickelt wurde, operieren wir schritte von Schülern verfolgen wollen, mit zwei Schemata: dem Entwicklungsprofil müssen wir zunächst Klarheit darüber be- und dem Lernprofil. In das Entwicklungsprofil kommen, was eigentlich die Ziele für den wird an Hand von vorgegebenen Kriterien ein- Unterricht sein sollen. Dazu brauchen wir getragen, wie es mit der Denk-, Gefühls- und den Inhalt vom Lehrplan der Waldorfschu- Willensentwicklung steht. In dem Lernprofil len – also die Unterrichtsziele für das Fach werden die Leistungen beim Rechnen, Lesen, von der ersten bis zur zwölften Klasse, für aber auch bei der Eurythmie, beim Formen- das Jahr und für die Epoche. Die Leistun- zeichnen, Malen usw. aufgeführt. Zwei Mal gen der Schüler werden im Lernprofil fest- pro Jahr wird das Schema ausgefüllt: gehalten. – Das erste Mal im Dezember: Wenn die Ent- wicklung Auffälligkeiten zeigt, kann der Für eine Rechen-Epoche in der zweiten Klasse Lehrer sich mit den Eltern und den Kol- z.B. müssen wir uns folgende Fragen stellen: legen besprechen und es gibt noch genug – Wie ist der Zusammenhang des Rechen- Zeit, etwas zu unternehmen. Unterrichts in der zweiten Klasse innerhalb – Das zweite Mal im Sommer als Grundlage des gesamten Mathematik-Lehrplans von für das Zeugnis im Juli. der 1. bis zur 12. Klasse? – Was ist das Thema im Mathematik-Unter- richt der zweiten Klasse? (Die Kinder sol- len sich in einem bestimmten Zahlenraum – bis 100 – mit den vier Grundrechenarten immer freier bewegen können.) 295
– Was ist der Inhalt des Mathematik-Unter- rufen. Woran erinnern sich die Kinder? Wel- richts? (Zahlen bis 100 wiedererkennen und che Fertigkeiten haben sie gewonnen? Was ist aufschreiben; die Grundrechenarten bis 20 völlig in Vergessenheit geraten? werden automatisiert; Memorieren des klei- Im Waldorf-Unterricht ist das ein wichtiges nen Einmaleins; Benutzen von Strategien Moment. Es gibt Lehrer, die diese Erfahrun- beim Kopfrechnen; [Ab]schätzen; Zahlbe- gen systematisch notieren. Diese Erfahrungen griff 20 = 4 x 5 aber auch 20 = 2 x 10 und können ebenfalls einen Platz im Schülerer- 20 = 10+10 usw.) folgssystem bekommen. Die Lernleistungen, also die Resultate der Ein unheimliches System quantitativen Beurteilung werden in dem Dadurch, dass wir den Lehrstoff bewusst auf Lernprofil, die qualitative Beurteilung im die »Essenzials« reduzieren, vollziehen wir Entwicklungsprofil notiert. eine trichterförmige Bewegung. Wir sprechen Es wäre interessant und inspirierend, die in- jetzt nur darüber, was man macht, nicht über haltlichen Unterrichtsziele für alle Fächer das Wie. Das »Wie« gehört zum Gebiet des für eine Klasse im Kollegium zu besprechen Methodisch-Didaktischen. – z.B. den Zusammenhang zwischen Malen, Weiter ist zu fragen: Was ist der Inhalt ei- Eurythmie und Rechnen. ner Epoche? Was ist das Ziel? Was müssen Bei dem Versuch, ein System zu entwerfen, die Kinder am Ende von dieser Epoche ler- mit dem man das wirkliche Leben erfassen nen und beherrschen? In der Waldorfschule will, kann es einem etwas unheimlich sein. ist Lernstoff immer auch Entwicklungsstoff. Wir wissen, dass wir die komplizierte Wirk- Deshalb können wir am Ende einer Epoche lichkeit in wenigen Begriffen nie voll erfassen die Leistungen beim Rechnen auf zweierlei können. Wir analysieren und zerbröckeln das Weise beobachten, quantitativ und qualita- Ganze, um es zu beobachten – und wir be- tiv. Wenn wir uns fragen: Wie schneidet ein kommen etwas Skelettartiges, etwas Schema- Schüler beim (schulinternen) Test ab?, dann tisches. Unsere Aufgabe ist es, dieses Skelett ist das eine quantitative Beurteilung. Wir se- wieder mit Fleisch und Blut zu füllen und da- hen, wie viele Fehler gemacht werden, und raus eine lebendige Gestalt zu formen. Vor- wir machen eine Analyse, von welcher Art aussetzung ist, dass wir darüber im Gespräch diese Fehler sind, damit wir wissen, welcher bleiben. Stoff noch einmal behandelt werden muss und Louise Berkhout welche Unterstützung die Kinder individuell brauchen. Zur Autorin: Louise Berkhout, Jahrgang 1952, Studi- Wenn wir uns fragen: Was bedeutet das für die um der Orthopädagogik an der Universität Amsterdam, Entwicklung dieses Kindes?, dann haben wir Ausbildung Künstlerische Therapie »de Wervel«, Ar- es mit einer qualitativen Beurteilung zu tun beit an der Waldorfschule Amsterdam als Therapeutin und können qualitative Fragen darüber stel- und Beraterin, seit 1985 beim Niederländischen Be- gleitungsdienst für Waldorfschulen, u.a. Autorin des len: War das Kind engagiert? Inwiefern war Schülererfolgssystems. es in den Unterricht einbezogen? Kam es mit eigenen Ideen? Hat es sich gut konzentrieren können? Wie hat es das Epochenheft geführt? Wie hat es sich bei den künstlerischen Tätig- keiten verhalten? Am Anfang einer nächsten Mathematik-Epo- che fängt man immer damit an, sich die Inhalte des vergangenen Unterrichts in Erinnerung zu 296
Beispiele aus dem Entwicklungsprofil 4–6 Jahre Gefühlsgebiet: Sozial-emotionale Entwicklung 5 Jahre 5 1/2 Jahre 6 Jahre 6 1/2 Jahre Selbstständigkeit kann zusammen kann selbstständig kann selbstständig zeigt Mitverantwortung beim Aufräumen mit anderen aufräumen an verschiedenen für das Aufräumen mithelfen Stellen aufräumen Willensgebiet: motorische Entwicklung Gleichgewicht Gehen auf dem 10 mal Hüpfen 10 Sek. Still- 10 Sek. Stillstehen auf finden Rand eines Sand- auf einem Bein, stehen auf einem einem Bein mit kastens ohne zu wechseln Bein geschlossenen Augen Denken: Begriffe Orientierung kann eine sym- hat eine Ahnung kann eine asym- kann koordinierte am Körper metrische Körper- von primären metrische Körper- Bewegungen mit den haltung imitieren Körperteilen haltung imitieren Gliedmaßen machen. und sie (z.B. das Aufwickeln benennen von Wolle usw.) Beispiel aus dem Entwicklungsprofil für 6 bis 12 Jahre Gefühls- entwicklung Kl. 1 Kl. 2 Kl. 3 Kl. 4 Kl. 5 Kl. 6 Erleben beim Kann sich der Kann sich sowohl Kann die Auto- Kann Partei Kann Vorliebe Kann sich Zuhören von Erzählung mit dem Heiligen rität der Haupt- ergreifen, z.B. für eine in eine einer Erzählung hingeben als mit dem person in der gegen Loki, gewisse Kultur- Rolle, (Erzählstoffe) Tunichtgut identi- Erzählung für die Götter epoche zeigen auch in Die Siebtklass-Untersuchung In den niederländischen Waldorfschulen brei- suchungen, die Zweitklass-Untersuchung und tet sich immer stärker eine Testkultur aus, zum eventuell die Siebtklass-Untersuchung, statt. Teil, weil es die Gesetzgebung verlangt, zum Es gibt die Klassenkonferenzen, Gespräche Teil aber auch, weil innerhalb der Schule die zwischen Lehrern und Eltern, Kinderbespre- Frage nach Tests und Klassenarbeiten immer chungen und gelegentliche Gespräche zwi- lauter wird. schen einem therapeutischen Team und dem Schon immer werden auch an der Waldorf- Lehrer. schule die Leistungen der Schüler gemessen: durch Prüfungen, Epochenhefte, tägliche Tests Warum Tests und Arbeiten? und Klassenarbeiten. Dazu kommen die mehr oder weniger strukturierten Wahrnehmungen Der Ruf nach Tests und Arbeiten wird aus drei des Klassenlehrers in der Vor- und Nachbe- Gründen zunehmend lauter. Erstens wird im- reitung. Auch finden sonstige Schülerunter- mer deutlicher, dass sich Schüler unterschied- 297
lich entwickeln, und zwar bereits in jungem man an ihnen noch etwas tun können. Eltern Alter. Der Prozess des Individuell-Werdens und (Oberstufen-)Schüler sprechen einen dar- ist typisch für die moderne Menschheit1 und auf an. Durch die Überprüfungs- und Test- gewinnt immer stärker an Wichtigkeit, ob- möglichkeiten kommen solche Defizite eher wohl das Grundprinzip der Entwicklungspha- ans Licht, so dass man daran arbeiten kann. sen weiterhin Gültigkeit hat. Welches sind die Folgen dieser Entwicklung? Ist der Schüler, Ist das Vertrauen in Testverfahren was Denken und Wahrnehmen betrifft, zu gerechtfertigt? mehr imstande, als wir gemeinhin erwarten? Hat er vielleicht noch ganz andere Möglich- Heute reicht es nicht aus, dass sich der Lehrer keiten zur Verfügung? Welche sind diese? in seiner Beurteilung ausschließlich auf eige- Das Erkennen des Individualisierungsprozes- ne Wahrnehmungen stützt. Vor allem in einem ses führt unter anderem zu der Forderung nach problematischen Fall werden Eltern, soziale gesteigerter Aufmerksamkeit und Betreuung Instanzen und der Schüler selbst (Oberstufe!) des einzelnen Kindes. Wir versuchen, maß- eine Begründung fordern, das heißt eine in geschneiderten Unterricht (adaptiven Unter- standardisierten Begriffen und Zahlen ausge- richt) zu liefern. In vielen Schulen arbeiten drückte Beurteilung. Standards wiegen uns in regelmäßig sog. »remedial teachers«, interne dem Vertrauen, dass alles seine Ordnung hat, Betreuer und therapeutische Teams mit. Wis- weil sie auf festgelegten Prozeduren und Ver- sen wir aber auch genau, auf was wir unsere abredungen beruhen. Aufmerksamkeit lenken sollten? Ist es nicht Wie groß die Bedeutung ist, die manche wichtig, zuerst das Einzigartige eines Kindes Menschen den Ergebnissen von Tests und Ar- zu erfassen? beiten beimessen, zeigt folgendes Beispiel.3 Zweitens ist auffallend, dass wir generell In einem Experiment von Jacobson und Ro- immer weniger über das verfügen, was man senthal bekamen Lehrer eine Liste mit den pädagogische Intuition nennen könnte. Wir IQ- Zahlen einer Klasse, die aber nicht die müssen uns verstärkt auf unser Bewusstsein wirklichen, sondern willkürliche waren. Bald verlassen und haben nur wenige Instrumente zeigte sich, dass die Leistungen der Schüler zur Verfügung. Der Lehrer wird des Öfteren sich immer mehr den erfundenen Zahlen an- mit Verhaltensweisen konfrontiert, auf die er glichen. Die Erwartungen der Lehrer, die sich nicht gefasst ist. Das Bewusstsein sagt ihm, auf die IQ- Zahlen stützten, wurden zur self- dass er dem Alter des Schülers entsprechend fulfilling prophecy. soundso mit ihm umgehen sollte, aber sein Dass man auf das Urteil erfahrener Pädagogen Gefühl rät etwas ganz anderes. Kam früher ebenso gut vertrauen kann wie auf die Ergeb- das Handeln direkt und intuitiv, so sind heute nisse eines Schulfördertests, wurde durch M. viele Lehrer verunsichert. Der Zweifel und Nijsse4 bewiesen. Er verglich die Prognosen die Qual der Wahl wirken lähmend, denn je von Grundschullehrern mit den Ergebnissen nach Standpunkt kommt man zu verschiede- eines Schultests für die weiterführende Schu- nen Handlungsmöglichkeiten. Um das Gefühl le. Zwei Jahre später stellte sich heraus, dass der Sicherheit zu stärken, überprüft der Lehrer die Grundschullehrer in 64 Prozent der Fälle also, ob seine eigenen Beobachtungen stim- recht gehabt hatten und der Schultest nur bei men. 53 Prozent der Schüler. Als dritter Grund kommt ein Schuldbewusst- sein ins Spiel.2 Im Nachhinein könnte sich ja Die Siebtklass-Untersuchung bei einem Schüler herausstellen, dass man bestimmte Defizite übersehen hat. Hätte man Warum hat sich der niederländische Schulbe- diese rechtzeitig wahrgenommen, so hätte gleitungsdienst dann doch dazu entschlossen, 298
einen Test für den Übergang in die siebte Klas- beraten, zum anderen von den Erfahrungen se auszuarbeiten? Einige Schulen forderten von drei »remedial teachers«, außerdem noch einen solchen Test geradezu vor dem Start in von drei Lehrern, die direkt in der Praxis die Oberstufe. In den Niederlanden wechseln stehen, und einem Erziehungswissenschaft- nämlich die Schüler nach der sechsten Klasse ler. Beim Entwurf des Tests gingen wir von zum größten Teil in die regionale Oberstufe. dem Unterschied zwischen »plastischen« und Der Siebtklässler wird mit einem ihm über- »musikalischen« Kräften6 aus – ein wichtiges wiegend unbekannten Lehrerteam konfron- Unterscheidungsmerkmal in der Zeit der Vor- tiert und mit einer Klasse, von der er eine pubertät. Wir untersuchten, ob wir mit diesen (große) Anzahl Mitschüler auch noch nicht zwei Kategorien praktisch arbeiten konnten. gesehen oder erlebt hat. Die Oberstufenlehrer Wie kann man plastische oder musikalische können die bereits vorhandenen Fähigkeiten Veranlagung in Rechen- und Sprachaufgaben auf dem Gebiet der Sprache und Mathematik erfassen? nicht ohne weiteres überblicken. In diesem Fall wird ein Test die nötigen In- Plastischer und musikalischer formationen über den Schüler (oder seine Strom Leistungen) und über seine Klasse als Gan- zes liefern. Zieht man die oben genannten Bei der Ausarbeitung des Tests sind wir von Beschränkungen solcher Tests in Betracht, so den menschenkundlichen Anschauungen wird allerdings deutlich, dass ein Test oder ausgegangen, die der Waldorfpädagogik zu eine Prüfung keineswegs den ganzen Men- Grunde liegen. Betrachtet man das Lernen, so schen erfassen kann. Immerhin sagt uns aber kann man zwei Hauptströmungen unterschei- die Prüfung oder der Test, welche Kenntnisse den. Bei dem einen Schüler verläuft der Lern- und Fähigkeiten sich der Schüler in der Grund- prozess vom Sehen erst einmal nur zum Be- schulzeit bis zur sechsten Klasse bereits ange- greifen. Bei bestimmten Schülern muss sogar eignet hat. Die Siebtklass-Untersuchung zeigt die Wahrnehmung selbst nachdrücklich auf uns, was der Schüler im Bereich der Sprache gewisse Aspekte des zu Lernenden gelenkt und Mathematik leisten kann. werden. Denn erst wenn dieser Typus den Für den Teil des Tests, der die Rechenkennt- Lehrstoff begreift, kann er ihn verarbeiten. nisse überprüft, stützten wir uns auf den Lehr- Die Einbeziehung der Wirkung des Schlafs plan der Klassen 1 bis 6, so wie dieser in un- mit seiner gedächtnisstützenden Funktion7 serem Buch Rekenen in Beweging5 dargestellt sorgt dafür, dass am folgenden Tag (oder nach wird. Für die Sprachkenntnisse richteten wir einigen Tagen) das Verarbeitete so geübt wer- uns nach dem Lehrplan, für den eine ähnliche den kann, dass der Schüler es sich schließlich Schrift vorbereitet wird (Taal in Beeld; einige zu eigen macht. Kapitel sind bereits erschienen). Indem wir Bei anderen Schülern aber verläuft der Lern- uns auf die Bewertungen von Klassenlehrern prozess vom Wahrnehmen direkt zum Tun. stützten, die diesen Test durchgeführt haben, Mancher dieser Schüler scheint einen Vor- einigten wir uns auf zwei Kategorien, nämlich sprung vor seinen Mitschülern zu haben, denn auf genügend und ungenügend. er verfügt bereits über die Fähigkeit, sich auf Die zweite Forderung an uns bezog sich auf dasjenige, worauf es ankommt, unmittelbar zu die Frage, ob es möglich wäre, einen Test konzentrieren und damit zu experimentieren. auszuarbeiten, der die Art und Weise unter- Die Lehrer können dann das Charakterisieren sucht, wie sich ein Schüler bestimmte Kennt- und Erinnern zu Hilfe nehmen, um diesen nisse und Fähigkeiten zu eigen macht. Um Prozess zum Abschluss zu bringen. Am näch- dieser Bitte entgegenzukommen, ließen wir sten Tag wird das Wahrgenommene wiederum uns zum einen von zwei Schulpsychologen erinnert und an das Denken und/oder Urteilen 299
gekoppelt. Durch weiteres Üben macht sich des physischen Leibes. Wir haben es hier mit ein solcher Schüler das Neuerworbene zu modellierenden, bildhauerischen, gestalten- eigen. Diese Methode kann man als Lernen den Kräften zu tun. Das Schulkind benützt sie durch Erfahrung, die vorherige als Begriffs- dann zum Beispiel, um gestaltend zu zeichnen lernen bezeichnen. oder zu malen. Rudolf Steiner bezeichnet sie Im welchem Bereich des Menschen haben als plastische Kräfte. diese zwei Lernprozesse ihre Wurzeln? Ab der Unterstufe aber werden im Menschen In der ersten Lebensphase ist das Kind voll- auch andere Kräfte tätig. Es sind diejenigen kommen auf seine Umgebung ausgerichtet. Kräfte, wie sie zum Beispiel in der Lautstruk- Es lebt mit alledem mit, was es beim ande- tur und im Sprachinhalt zum Vorschein kom- ren Menschen mit seinen Augen sieht und mit men. Alles, was als Musik oder Sprache in seinen Ohren hört. Das kleine Kind ist ganz der kindlichen Seele klingt, wirkt ebenfalls Sinnesorgan. Der physische Organismus wird bis tief in die Leiblichkeit. nach dem gestaltet, was das Kind in seiner Können wir diese beiden Kräfte bei den Kin- Umgebung wahrnimmt. Alles, was das Kind dern wahrnehmen, die wir unterrichten? Wenn wahrnimmt und erlebt, wirkt bis in die Ausge- es möglich wäre, die plastischen und musika- staltung der inneren Organe. Es benutzt dabei lischen Kräfte wahrzunehmen, könnten wir Kräfte, die beim Aufbau des physischen Lei- diese dann nicht auch in den Siebtklasstest bes gebraucht werden. integrieren? Wenn das gelänge, was könnte Betrachtet man aber einen Unterstufenschü- man mit den so gewonnenen Ergebnissen in ler, so wird man sehen, dass nun dieser aus- der Unterrichtspraxis anfangen? geprägte Sinnesorgancharakter bereits ver- An welchen Merkmalen können wir am An- schwunden ist. Zu der Sinneswahrnehmung fang der siebten Klasse, wenn die Vorpubertät hat sich die Vorstellungsfähigkeit und das einsetzt, die Wirksamkeit der plastischen oder Erinnerungsvermögen gesellt. musikalischen Kräfte erkennen? Diese Wirk- Um welche Kräfte geht es hier eigentlich? In samkeit könnte man in folgendem Schema der ersten Lebensphase des Menschen bauen darstellen:8 diese Kräfte ausschließlich an der Gestaltung Plastisch Musikalisch Stimmung: Ehrfurcht Stimmung: Begeisterung Form Bewegung Vergangenheit Zukunft Zeichnen führt zum Schreiben Musik und Sprache: Bewegungsformen werden zu – Struktur Linienformen – Inhalt plastische Gestaltung modellieren mathematisches Rechnen (Al- gebra) sehen hören die Einheit suchen Unterschiede suchen von der Einheit zur Vielfalt von der Vielfalt zur Einheit Harmonie Differenzierung Synthese Analyse vom erlebenden Erfahren zu Fakten von Fakten zu Ideen Denken? Das Denken ist beschäftigt! Wissen? Auf einmal weiß der Schüler es! vorwiegend nach innen gerichtet Hingabe an die Welt/ 300
Jeder dieser Aspekte stellte für die Arbeits- – Vorstellung und Gesetzmäßigkeit gruppe, die die Siebtklass-Untersuchung – Gewohnheit, Übung und Rhythmus entwickelte, eine Möglichkeit dar, die zwei – der Prozess verläuft vom Überblick zu den Lernprozesse zu erfassen. Sind bestimmte Einzelheiten hin und zur Anwendung – also Rechenaufgaben besonders für das plastisch von der Ganzheit oder Synthese zur Diffe- veranlagte Kind geeignet und für das musi- renzierung und Vielheit (aus der Gesamt- kalisch veranlagte Kind möglicherweise ganz heit heraus arbeiten) andere? Kann man Sprachaufgaben ausar- Der musikalische Lernstil verläuft vom Zu- beiten, die den plastisch veranlagten Schüler hören über das Erfahren (tun – einprägen ansprechen? Selbstverständlich war die wich- – charakterisieren) zum Begreifen und Ur- tigste Frage, ob man, was die Veranlagung teilen. Der »musikalisch« veranlagte Schüler des Schülers betrifft, aus den Testergebnissen untersucht, experimentiert, ist tätig, macht Schlüsse ziehen könnte. Wir würden diese sich direkt an die vorgegebene Aufgabe her- Fragen heute mit einem vorsichtigen »Ja« an und kommt erst hinterher zur Reflexion. beantworten. Der Test ist so konzipiert, dass Er versucht, das zu lösende Rechenproblem diese Lernstilunterschiede sichtbar werden. durch Tätigsein zu bewältigen; im Laufe des Prozesses werden Begriffe gebildet und Ein- Unterschiedliche Lernstile sichten entstehen. »Tätigsein« bedeutet nicht immer praktisches Tun, sondern es gibt auch Wir möchten nun unsere Vorgehensweise zur ein Lernen, das darin besteht, Erfahrungen im Unterscheidung der zwei Lernstile anhand Kopf zu machen und durch Experimentieren des Rechentestes deutlich machen. aus der eigenen Erfahrung heraus, also aus Ein plastischer Lernstil beim Rechnen be- Wissen heraus, an die Arbeit zu gehen. deutet, dass der Prozess vom Zuschauen über Bei einem solchen Schüler spricht man von das Begreifen zum Verarbeiten verläuft. Der Lernen durch Erfahren. Er begibt sich in ei- Schüler beobachtet, denkt nach, fasst den nen Prozess, versucht und analysiert, und als Rechenvorgang in Worte und sucht nach Be- Folge davon bilden sich bestimmte Einsich- griffskategorien. Schließlich folgt die gezielte ten. Dieser Lernstil wird von den folgenden Anwendung. Der plastische Lernstil braucht Aspekten gekennzeichnet: also einen Zwischenschritt, in dem das Ge- – Übersicht und Struktur schehene in Worte gefasst wird, denn sonst – Initiative, strategisches und erfinderisches gelingt es dem Schüler nicht, in Tätigkeit zu Vorgehen kommen. Der Lernstoff sollte benannt werden; – von der Vielfalt zur Einheit, von der Analy- die Vorgänge müssen einen Namen bekom- se zur Synthese men, bevor sie erfasst werden können. Dieser Typus Schüler braucht Vorkenntnisse. Bevor Beispiel Mathe-Test er den nächsten Schritt machen kann, muss dieser erklärt werden. In diesem Fall spricht Insgesamt umfasst der Mathematiktest 28 man von Lernen durch Begriffe. Erst wird der Aufgaben. 15 Aufgaben könnte man als plas- Lehrstoff erfasst und dann wird das Gelernte tische Aufgaben bezeichnen. Voraussetzung angewandt. Wenn man einen Vorgang durch- ist, dass der Schüler diese Art Aufgaben be- schaut hat, ihn also erobert hat, wird er ver- reits gelernt hat. (Sie sind dem Buch Reke- innerlicht und kann nun angewandt werden. nen in Beweging entnommen.) Die übrigen Indem der Schüler das zu Lernende angeboten 13 Aufgaben sind »musikalische« Aufgaben, bekommen hat, ist es eigentlich bereits zum das heißt, dass der Schüler sich dabei in einen Wissen geworden. Wichtige Aspekte dieses Prozess begibt, analysiert und zum größten Lernstils sind: Teil selbstständig nach einer Lösung sucht – 301
diese neue Art Aufgaben ist eine Kombination ler zu früh oder genau rechtzeitig? Bleiben von Kenntnissen und Fähigkeiten. manche Jugendliche im Plastischen hängen? Für die Verarbeitung der Ergebnisse steht ein Falls das Kollegium meint, dass irgendetwas Computerprogramm zur Verfügung. mit einem solchen Schüler passieren sollte, Wir haben bereits sechs Jahre Erfahrung mit was kann man dann machen? dieser Untersuchung. Folgendes ist dabei Ed Taylor deutlich geworden: Übersetzung: Agnes Dom-Lauwers – Rechenarbeit und Sprachtest vermitteln ein klares Bild der erworbenen Fähigkeiten des Zum Autor: Ed Taylor, geboren 1951, studierte Nie- derländisch (Vrije Leergangen der Vrije Universiteit, Schülers, und Lücken werden erkannt. Die- Amsterdam) und Erziehungswissenschaft (Open Uni- se deuten manchmal auf Defizite der gan- versiteit, Heerlen). Von 1975 bis 1994 unterrichtete er zen Klasse hin, manchmal auf individuelle an der Oberstufe der Waldorfschule Haarlem (Litera- Probleme. tur, Musik, Korbflechten und Gartenbau). Seit 1994 ar- – Die Testaufgaben erfassen im Großen und beitet er als Berater für die Mittel- und Oberstufe beim Niederländischen Begleitungsdienst für Waldorfschu- Ganzen den Lehrstoff, der an den Nieder- len. E-Mail: ed.taylor@worldonline.nl ländischen Waldorfschulen unterrichtet wird. Anmerkungen: – Die Durchführung der Tests erfordert eine 1 R. Steiner: Soziale und antisoziale Triebe im Men- beträchtliche Anstrengung vom Lehrer. schen. In: Die soziale Grundforderung unserer Zeit – Obwohl die Untersuchung ein deutliches – In geänderter Zeitlage. Vortrag vom 12. Dezember Bild des plastischen oder musikalischen 1918, GA 186, Dornach 31990 Lernstils eines Schülers vermittelt, ist es 2 Diesen Grund hat R. J. Sternberg ausführlich unter- nicht leicht, die Untersuchungsergebnisse sucht. Siehe W. Tomic, H. van der Mohlen: Intelli- gentie en sociale competentie, Swets & Zeitlinger, in der Unterrichtspraxis anzuwenden. Es Lisse 1997 (Originalfassung: R. J. Sternberg: Bey- konnte immerhin einigen Schülern mit in- ond IQ. A triarchic theory of human intelligence. dividuellen Problemen nach der Untersu- Cambridge University Press, Cambridge 1985) chung geholfen werden, weil diese die di- 3 R. Rosenthal und L. Jacobson: Pygmalion in the daktisch einseitige Unterrichtsmethode des Classroom: teacher expectation & pupils intellec- tual development, Crown House Publishing, New Lehrers ans Licht brachte. York 2003 4 In: W. Tomic, H. van der Mohlen (s. o. Anm. 2), S. Was macht man mit den Ergebnissen des 243-255 Tests? Auf jeden Fall ist es wichtig zu wissen, 5 Rekenwerkgroep: Rekenen in Beweging, Uitgeverij dass ein plastisch veranlagtes Kind ganz an- Christofoor, Zeist 2000 6 R. Steiner, Vortrag vom 16. Sept. 1920, in: Erzie- ders lernt als ein musikalisch veranlagtes. Je- hung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, GA der Lehrer sollte bei sich selbst überprüfen, ob 302a, Dornach 41993 er vielleicht eine Vorliebe für einen der beiden 7 R. Steiner, Vortrag vom 14. Juni 1921, in: Men- Lernwege hat und deshalb den anderen Weg schenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung, GA weniger anwendet, wodurch manche Schüler 302, Dornach 51986. Vgl. Stefan Leber: Der Schlaf und seine Bedeutung, Stuttgart 1996, S. 38 ff., 81 zu kurz kommen. ff. Es ist aber auch möglich, aus beiden Blick- 8 Diese Beschreibungen sind zum Teil dem ersten winkeln heraus auf das Kind zu schauen. Mu- und zweiten Vortrag von R. Steiners »Meditativ er- sikalische Kinder stellen nun einmal andere arbeitete Menschenkunde« (in GA 302a, s.o. Anm. Erziehungsfragen als plastische. Außerdem 6) entnommen, zum Teil entstammen sie den eige- nen Arbeitserfahrungen. tritt um die Zeit der Pubertät das musikalische Element verstärkt in den Vordergrund. Ge- schieht dieser Wechsel beim einzelnen Schü- 302
Sie können auch lesen