Wohnungslosenhilfe und Partizipation - SerWisS

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Wohnungslosenhilfe und Partizipation - SerWisS
Sozial Extra 2 2021: 117–121 https://​doi.org/​10.1007/​s12054-​021-​00367-x                                          Online publiziert: 23. Februar 2021
© Der/die Autor(en) 2021
Durchblick: Partizipation in der Wohnungslosenhilfe

                  Wohnungslosenhilfe und
                  Partizipation
                   18 Thesen
                   Im Vergleich zu anderen Arbeitsbereichen Sozialer Arbeit wurde in der Wohnungslosenhilfe bisher recht
                   wenig zur Einbeziehung der Betroffenen in die Planung und Ausgestaltung der hierfür vorgesehenen
                   sozialen Dienste getan. Woran kann das liegen, was müsste getan werden und warum und worauf sollte
                   man dabei achten?

D
        er protestantische Theologe Paul Tillich sagt:                                 ein Teil ist, von der er aber gleichzeitig auch getrennt
        „Partizipation bedeutet gerade dieses: Teil von                                ist und der er handelnd und gestaltend oder leidend
        etwas zu sein, von dem man zugleich getrennt                                   und ertragend gegenübersteht. Das heißt, er kann nur er
ist.“ Die folgenden 18 Thesen greifen diesen Gedan-                                    selbst werden und sich verwirklichen, wenn er erkennt,
ken auf, beleuchten ihn aus unterschiedlichen Blickwin-                                dass er Teil eines größeren Ganzen ist, war und wird:
keln und stellen einen Bezug zur aktuellen Situation der                               Teil des Seins, der Welt, der Zukunft. Existenz ist nach
Wohnungslosenhilfe her.                                                                Tillich ohne Partizipation nicht möglich. Und, wie man
                                                                                       mit Watzlawick zu sagen pflegt, man könne nicht nicht
 Man kann nicht nicht partizipieren                                                    kommunizieren, könnte man auch mit Tillich sagen, ein
  Für Paul Tillich sind die Begriffe „Individuation“                                   Mensch könne nicht nicht partizipieren. Das gilt auch
und Partizipation untrennbar miteinander verbunden.                                    für die Menschen in der Wohnungslosenhilfe (Watzla-
Die Selbstwerdung eines Menschen, sein persönliches                                    wick et al. 1980, S. 50).
Wachstum und seine Selbstbestimmung sind nur mög-
lich, weil er in einer Welt ist und nicht ohne Welt ge-                                 Die Wohnungslosenhilfe ist Teil eines bürgerlichen
dacht werden kann. Das ist eine Welt, von der er selbst                                 Partizipationssystems
                                                                                         Es gehört zur Geschichte der Wohnungslosenhilfe, dass
                      Peter Szynka                                                     sie Teil eines Systems der Hilfe und gesellschaftlichen
                      Hochschule Hannover                                              Umverteilung ist. Das deutsche Sozialmodell mit den
                      Bremen, Deutschland                                              privilegierten Verbänden der freien Wohlfahrtspflege
                      *1954, Dr., Studium der Sozial- und Sozialarbeitswissenschaft.
                      Bis 2018 Referent für Wohnungslosenhilfe beim Diakonischen       hat sich aus der zivilgesellschaftlichen Beteiligung bür-
                      Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen e. V., seit 2020     gerlicher Akteure entwickelt, die Zeuge der Entwurze-
                      Verwalter der Professur für „Sozialarbeitswissenschaft,
                      Gemeinwesenarbeit und Community Organizing“ an der               lung zahlreicher Menschen infolge des Übergangs zur
                      Hochschule Hannover.
                                                                                       Industriegesellschaft geworden sind. Sie konnten diese
                      szynka@uni-bremen.de
                                                                                       massenhafte Entwurzelung des entstehenden Proletari-
                                                                                       ats aus den Familien- und Gemeindeverbanden nicht
 Zusammenfassung Wohnungslose Menschen wurden                                          mit ihren religiösen oder politischen Idealen in Einklang
 systematisch diskreditiert und werden immer noch systematisch                         bringen. Insbesondere die kirchlichen Wohlfahrtsver-
 ausgegrenzt. Die Angebote für wohnungslose Menschen sind
                                                                                       bände und ihre Organisationen haben versucht, diese
 unzureichend und lückenhaft. Die besonderen Erfahrungen und
 Bedürfnisse der Betroffenen müssen besser als bisher berück-                          Not durch den Aufbau von sozialen Einrichtungen zu
 sichtigt werden um bedarfsgerechtere Hilfen und Angebote                              lindern. Diese Einrichtungen haben das soziale System
 zu gestalten. Hierfür ist die Einbeziehungen der Betroffenen                          in Deutschland geprägt.
 in Planung und Ausgestaltung der Angebote systematisch und
 unbefristet zu fördern. Um den Interessen der Betroffenen Gehör
 zu verschaffen sind entsprechende Ressourcen bereitzustellen                           Systematische Ausgrenzung und Diskreditierung
 und Kommunikationswege zu eröffnen.                                                    Den ursprünglichen Absichten der Arbeitsbeschaffung
                                                                                       für Arbeitslose und einer Beheimatung der Heimatlosen
 Schlüsselwörter Wohnungslosigkeit, Partizipation, Mut
 (Ermutigung), Community Organizing                                                    standen nach 1933 in Deutschland massive Tendenzen
                                                                                       konsequenter Ausgrenzung entgegen. In den USA wur-

                                                                                                                                                     117
Wohnungslosenhilfe und Partizipation - SerWisS
Sozial Extra 2 2021
Durchblick: Partizipation in der Wohnungslosenhilfe
                                                           Materielle Verbesserung und/oder
                                                           politische Repräsentation
                                                           In der Bundesrepublik war die konzeptionelle Gestal-
                                                          tung der Wohnungslosenhilfe im Wesentlichen auf die
                                                          Verbesserung der materiellen und rechtlichen Situati-
                                                          on der Betroffenen ausgerichtet. Als Aufgabe der Woh-
                                                          nungslosenhilfe geriet die gesellschaftliche Partizipation
                                                          erst langsam und punktuell ins Blickfeld, obwohl der he-
                                                          rausragende Sozialrechtsexperte Falk Roscher in seinen
                                                          Kommentierungen zu den §§ 72 BSHG und 67 SGB XII
                                                          immer schon darauf hingewiesen hat, dass die „Chan-
                                                          ce zur Verwirklichung bürgerlicher Freiheiten“ und die
                                                          „Chance zur Verwirklichung politischer Rechte“ wich-
                                                          tige Elemente eines „normalen Lebens“ seien, deren
                                                          Realisierung Ziel der Hilfe sei (Roscher 2005).
den die Hobos, die mit ihrer Bereitschaft, Risiken und
Gefahren auf sich zu nehmen, zu einer Art Avantgarde       Partizipation ist nicht alles, aber
der Arbeiterklasse ernannt, die ohne Habe umherzogen       ohne Partizi­pation ist alles nichts
und gleichwohl gegen unwürdige Arbeitsbedingungen          Thomas Specht, der langjährige Geschäftsführer der
kämpften. Dabei sangen sie Lieder der Freiheit, die bis   Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, warf
heute die Basis der amerikanischen Folklore bilden. Ge-   ein, dass Partizipation nicht die Lösung aller Probleme
nau zu dieser Zeit wurden Wohnungslose in Deutsch-        sei. Damit meinte er wohl, dass die politische Reprä-
land zu einem rassisch minderwertigen Menschenschlag      sentation Wohnungsloser, wenn sie denn überhaupt zu-
erklärt, der als nicht besserungsfähig zur Zwangsarbeit   stande kommt, das Problem fehlender Wohnungen nicht
verpflichtet und den Konzentrationslagern zugeführt       lösen würde. Teilnahme an politischen Veranstaltungen
wurde. Das Stigma von Minderwertigkeit und Unglaub-       allein reiche nicht aus. Aber der Begriff Partizipation
würdigkeit wirkte noch Jahre nach. Dabei sind Woh-        bedeutet Teilhabe und dazu gehört eben nicht nur die
nungslose oft, wenn auch oft wider Willen, solidarische   Teilnahme, sondern ebenso auch die Teilgabe, mithin
(Über‑)Lebenskünstler (Anderson 1998).                    die ausstehende gerechtere Verteilung materieller Gü-
                                                          ter, sei es durch angemessene Arbeitslosenhilfe, sozialen
 Partizipation ist eine Kernaufgabe                       Wohnungsbau, höheren Mindestlohn oder sogar durch
 der Wohnungslosenhilfe                                   das bedingungslose Grundeinkommen (Specht 2010).
 Die Zielgruppe der Wohnungslosenhilfe wird in
Deutschland – möglicherweise anders als in anderen         Die Partizipationschancen in der Wohnungslosen-
europäischen Landern – von den Sozialgesetzen her ge-      hilfe sind ungleich verteilt
rade über den Mangel an Teilhabe definiert. Es handelt     In der Wohnungslosenhilfe hat sich bis heute ein weit-
sich um Menschen, bei denen der „Teilnahme in der         gehend bürgerliches und patriarchalisches System er-
Gemeinschaft“ besondere Schwierigkeiten entgegen-         halten, in dem die Gruppen der Beschäftigten und der
stehen. Ziel aller Maßnahmen sei es, den betroffenen      Betroffenen einander gegenüberstehen. Die Beschäftig-
Menschen diese Teilnahme zu sichern und alle beson-       ten partizipieren an der Ausgestaltung des Sozialsystems
deren Schwierigkeiten, die dem entgegenstehen, „zu be-    durch Fachverbände, Landesverbände und Bundesver-
seitigen, zu mildern, abzuwenden oder zu beseitigen“.     bände sowie durch die Arbeitsgemeinschaften und Li-
Dabei wird gleichzeitig festgestellt, dass die Menschen   gen der freien Wohlfahrtspflege. Daneben stehen ihnen
zur Überwindung der bestehenden Schwierigkeit „aus        noch Berufsverbände, Gewerkschaften und Einrichtun-
eigener Kraft“ nicht in der Lage seien. Der gesetzliche   gen der betrieblichen Mitbestimmung zur Verfügung.
Auftrag der Wohnungslosenhilfe heißt daher, die Teil-     Für die Betroffenen gilt das bisher so nicht.
nahme derer zu ermöglichen, die dies aus eigener Kraft
nicht schaffen. Damit ist Partizipation der Kernauftrag    Mangelnde Partizipation durch Betroffene erzeugt
der Wohnungslosenhilfe (Szynka 2010).                      Unglaubwürdigkeit
                                                           Die Betroffenen in der Wohnungslosenhilfe partizipie-
                                                          ren, wenn überhaupt, nur über ihre Betreuer. Erst in
                                                          letzter Zeit wird dieses Für-Andere-Partizipieren und

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die Glaubwürdigkeit dieser Art von Fürsorge und Für-         eines Ganzen zu sein“ Das ist schwierig, aber nicht un-
sprache brüchig. Insbesondere aus dem Bereich der Be-        möglich (Tillich 1991).
hindertenhilfe haben sich starke Selbstorganisationen
gebildet, die mit Slogans wie „Nothing about us wi-           Auch die Professionellen brauchen Mut
thout us!“ in der Öffentlichkeit ein neues Gespür für         Um Partizipation zu fördern müssen die Professionel-
die Authentizität der Darstellung von individuellen oder     len ihre Haltung immer wieder neu überprüfen. Wenn
sozialen Problemlagen erzeugt haben. Nur Betroffene          sie sich auf die Seite der Betroffenen stellen und deren
können diese Authentizität der Darstellung gewähr-           berechtigten Anliegen zu den ihren machen, wechseln
leisten. Die existenzielle Erfahrung der Betroffenen ist     sie die Seiten. Sie spielen dabei „eine fundamentale Rol-
es, die zur Klärung der Problemlage beiträgt und nicht       le und haben sie in der ganzen Geschichte (…) gespielt.
die „Für“-Sprache der Professionellen. Die Betroffenen       Aber während sie aufhören (…) unbeteiligte Zuschauer
müssen als Experten ihrer eigenen Situation ernst ge-        (…) zu sein, (…) bringen sie fast immer die Male ihrer
nommen werden.                                               Herkunft mit sich: ihre Vorurteile und ihre Verbildun-
                                                             gen, zusammen mit dem Mangel an Vertrauen in die
 Die Rollen müssen neu definiert werden                      Fähigkeit (…) [der Wohnungslosen, Anm. PS] denken,
 Manchmal erleben wir eine Betroffenheit bei den Pro-        wollen und wissen zu können.“ (Freire 1973, S. 46).
fessionellen, die mit ihren herkömmlichen Kommuni-
kationsstrategien gescheitert sind. Sie stellen fest, dass    Partizipation kann organisiert werden
asymmetrische Kommunikationsformen, ein patriar-              Dazu braucht man auch politische Erfahrung. Das am
chalisches Herablassen, ein Besserwissen nicht mehr          besten geeigneten Verfahren, eine neue Zusammenarbeit
ausreicht, um dem Sozialabbau zu begegnen oder neue          zwischen Professionellen und Betroffenen anzuregen,
Systeme aufzubauen. Manchmal erfolgt eine Solidarisie-       scheint mir zurzeit die Praxis des Community Orga-
rung der professionell Betroffenen mit den existenziel-      nizing zu sein. Dieses, aus der amerikanischen Bürger-
len Betroffenen, bei der die vorhandenen Unterschiede        rechtsbewegung und der aktivierenden Gemeinwesenar-
übergangen werden. Andererseits erleben wir aber auch        beit stammende Partizipationsverfahren umfasst Phasen
so etwas wie einen Prozess der Professionalisierung der      des intensiven Zuhörens, der gemeinsamen Recherche
Betroffenen. Betroffene benehmen sich wie Profis und         und der gemeinsamen Problemlosung. Dabei stellt sich
umgekehrt. Es nutzt aber nichts, die Rollen zu tauschen.     heraus, dass die oftmals (scheinbar unlösbaren) indi-
Es ist wichtig, sich über die unterschiedlichen Erfahrun-    viduelle Notlagen von mehreren Betroffenen gleicher-
gen, Aufgaben, Ziele und Interessen zu verständigen,         maßen erlebt werden. Sie können daher in gemeinsa-
die Beschäftigte und Betroffene haben. Vielleicht ist es     me bzw. öffentliche Probleme und Aufgaben verwandelt
noch einmal sinnvoll, den Gedanken von Tillich aufzu-        und als solche gelöst werden.
nehmen, dass Partizipation immer auch mit Individua-
tion verbunden ist. Beide, Professionelle und Betroffene,     Dafür gibt es Beispiele
müssen ihre Rollen neu definieren.                            Wir hatten die Gelegenheit, im Rahmen eines von der
                                                             Lotterie Gluckspirale geförderten Projektes zu testen,
 Partizipation ist eine schwierige Aufgabe                   was geschieht, wenn man in Deutschland diese Metho-
  Im Hinblick auf Partizipation besteht professionelle       den mit ehemaligen Wohnungslosen anwendet. Dabei
Hilfe darin, den Betroffenen dabei zu helfen, ihre exis-     unterstützte uns ein in den USA ausgebildeter Commu-
tenziellen Erfahrungen und die daraus resultierenden         nity Organizer. Aus diesem Projekt ist eine Reihe von
Forderungen zur Sprache und in die öffentliche Debatte       Aktionen entstanden, die durchaus ermutigend sind.
einzubringen. Dabei sind oft diejenigen Betroffenen am       Ehemals vertreten Wohnungslose ihre Interessen in So-
erfolgreichsten und am wirkungsvollsten, die einen we-       zialausschüssen, organisieren Freikarten fürs Kino, be-
sentlichen Teil ihrer Schwierigkeiten bereits überwun-       teiligen sich an einem internationalen Theaterprojekt
den haben und die bereit sind, öffentlich darüber zu         und begleiten öffentlichkeitswirksame Aktionen, wie
sprechen. Das sind solche, die ihre schlechten Erfah-        die Übergabe des „verbogenen Paragrafen“, dem Ne-
rungen, ihr Scheitern, ihre Verletzungen, ihre Verletz-      gativ-Wanderpokal des Evangelischen Fachverbandes
lichkeit, ihre Vergangenheit nicht verdrängen, sondern       Existenzsicherung und Teilhabe e. V. (EBET) und die
öffentlich artikulieren. Solche, die erzählen können, wie    Treffen von Menschen mit Armutserfahrung. Dort tref-
es dazu kam und welcher Weg schließlich wieder aus           fen sie auf andere Aktive und Netzwerke und lernen
dieser Lage herausgeführt hat. Dazu braucht man ne-          voneinander. Inzwischen gibt es regelmäßige bundes-
ben rhetorischen Fähigkeiten vor allem den „Mut, Teil        weite Wohnungslosentreffen. Die Bundesbetroffenen-

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Durchblick: Partizipation in der Wohnungslosenhilfe
                                                            messen, welche Art von Beteiligung über welchen Zeit-
                                                            raum erfolgt, stellt meine User-Involvement-Matrix
                                                            dar. Im Beispiel werden ein herkömmlicher Organisa-
                                                            tionsentwicklungs- oder Entscheidungsprozess („top-
                                                            down“) und ein Community Organizing („bottom-up“)
                                                            Prozess gegenübergestellt (Szynka 2010) (siehe Abb. 1).

                                                             Die Qualität von Beteiligungsverfahren
                                                             kann bewertet werden
Abb. 1 User-Involvement-Matrix                               Man kann auch die Qualität von Beteiligungsverfah-
                                                            ren differenzieren und skalieren. Eine seit Jahren viel
initiative (BBI), das Armutsnetzwerk und die Selbstor-      beachtete Typisierung stellt die „Stufenleiter der Parti-
ganisation Wohnungsloser haben Vereinsstatus erlangt        zipation“ van Sherry Arnstein dar. Diese Skala stammt
und werden von Verbänden, Verwaltungen, Politikern,         aus der Stadtplanung und umfasst gebräuchliche Ma-
Forschern, Schriftstellern und Regisseuren immer wie-       nipulationsversuche (Stufe 1) und Veranstaltungen der
der angefragt.                                              Scheinpartizipation ebenso wie Prozesse, in denen Bür-
                                                            ger oder Betroffene ihre Angelegenheiten selbst in die
 Partizipation setzt eine materielle Mindest­               Hand nehmen und gestalten (Stufe 8). Community Or-
 absicherung voraus                                         ganizing scheint das Potenzial zu haben, auf dieser Lei-
  Die Betroffenen brauchen immer noch die Professi-         ter einen hohen Rang einzunehmen (Arnstein 1972)
onellen, um sich und ihre Interessen in die politische      (siehe Abb. 2).
Debatte einzubringen. Eine materielle Mindestabsiche-
rung ist eine Voraussetzung für gelingende Partizipati-      Demokratisch legitimierte Macht unterliegt
on. Hierzu gehören insbesondere auch zusätzliche Rei-        der Kritik und Kontrolle
se‑, Raum- und Kommunikationskosten. Inzwischen              Jede Rede von Macht erzeugt die Befürchtung und
finden nicht nur persönliche Treffen, sondern auch On-      den Hinweis, dass Macht missbraucht werden könne.
line-Konferenzen statt. Einige, aber noch viel zu wenige    Zweck jeder Organisation ist aber die Erzeugung von
Einrichtungen stellen den Wohnungslosen hierfür ihre        Macht. Organisationen scheitern jedoch häufig am fal-
Online-Arbeitsplätze zur Verfügung.                         schen Umgang mit ihrer Macht. Wenn es um (Selbst‑)
                                                            Organisation geht, muss deshalb auch über Macht ge-
 Durch organisierte Partizipation wird Macht                redet werden. Nur ein tiefergehendes Verständnis von
 erzeugt                                                    Macht ermöglicht deren Kritik und Kontrolle. Zu die-
 Durch die gemeinsame Analyse persönlicher Notsitua-        sem Zweck wird beim Community Organizing gern
tionen ergibt sich Möglichkeit zur Selbsthilfe. Es ergibt   auf einen Gedanken von Martin Luther King hinge-
sich aber auch die Möglichkeiten zur politischen Arti-      wiesen. „Macht“, so Martin Luther King, sei „rich-
kulation. Dies geschieht zunächst in kleinen Kreisen, je    tig verstanden, die Möglichkeit etwas zu erreichen. Es
größer allerdings diese Kreise werden, je mehr sie zu-      ist die Stärke, die man braucht, um soziale, politische
sammenarbeiten, um so größere Chancen ergeben sich,         oder wirtschaftliche Veränderungen herbeizufuhren. In
in der Öffentlichkeit und in den politischen Arenen ge-     diesem Sinne ist Macht nicht nur erwünscht, sondern
hört zu werden. Solche Macht entsteht durch die große       auch notwendig, um die Forderung nach Liebe und Ge-
Zahl von Akteuren, die ihre existentielle und praktische    rechtigkeit zu erfüllen. Eines der größten Probleme der
Erfahrung einbringen und die Fähigkeit haben, Gegner        Geschichte ist es, dass die Begriffe Liebe und Macht
von Freunden zu unterscheiden. Macht entsteht auch          gewöhnlich als polare Gegensätze gegenübergestellt
aus Koalitionen, also aus der Fähigkeit, mit Freunden       werden. Liebe wird mit dem Verzicht auf Macht gleich-
zusammenzuarbeiten, um die Gegner zu zwingen, be-           gesetzt und Macht mit der Verneinung von Liebe iden-
gründete Forderungen zu erfüllen.                           tifiziert. (…) Was wir aber brauchen, ist die Erkenntnis,
                                                            dass Macht ohne Liebe rücksichtslos und schimpflich
 Partizipation kann gemessen werden                         ist und dass Liebe ohne Macht sentimental und blutleer
 Wenn man sich mit Partizipation beschäftigt, kom-          ist. Macht im besten Sinne ist Liebe, welche die Forde-
men alle möglichen Verfahren in den Blick. Von „bun-        rung nach Gerechtigkeit erfüllt. Gerechtigkeit im besten
ten Nachmittagen“ bis zu „aktivierenden Befragungen“        Sinne ist Liebe, die alles ändert, was sich der Liebe ent-
in Einrichtungen und Stadtteilen. Eine Möglichkeit zu       gegenstellt“ (King 1968). Diesen Gedanken hat Martin

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Abb. 2 „Ladder of P
                                                                                                                                  ­ artizipation“,
                                                                                                                Sherry Arnstein

Luther King von dem eingangs erwähnten Theologen                        Literatur
Paul Tillich übernommen. Das gibt mir die Gelegenheit,                   Anderson, N. (1998). On hobos and homelessness. Chicago, London:
                                                                        University of Chicago Press.
zum Schluss noch einmal auf den Mann hinzuweisen,
                                                                         Arnstein, S. (1972). Stufen der Bürgerbeteiligung. In L. Lauritzen (Hrsg.),
mit dem ich begonnen habe (King 1968; Tillich 1968,                     Mehr Demokratie im Städtebau. Hannover: Fackelträger.
S. 146).                                          s                     Freire, P. (1973). Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der
                                                                        Freiheit. Hamburg: Rowohlt.
                        ∑                                                King, M. L. (1968). Wohin führt unser Weg? Chaos oder Gemeinschaft.
                                                                        Hamburg: Fischer.

Eingegangen. 29. Januar 2021                                             Roscher (2005). Sozialgesetzbuch XII, Lehr und Praxiskommentar. Ba-
                                                                        den-Baden: Nomos.
Angenommen. 29. Januar 2021                                              Specht, T. (2010). Thesen zu Partizipation, Selbstorganisation und Selbst-
                                                                        hilfe wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen.
Funding. Open Access funding enabled and organized by Projekt           wohnungslos, 52(2), 48–59.
DEAL.
                                                                         Szynka, P. (2010). Partizipation und (Selbst-)Organisation in der Woh-
                                                                        nungslosenhilfe. wohnungslos, 52(2), 41–44.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Na-
mensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die          Tillich, P. (1968). Liebe – Macht – Gerechtigkeit. Berlin, New York: de
                                                                        Gruyter.
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gabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die          Tillich, P. (1991). Der Mut zum Sein. Berlin, New York: de Gruyter.
ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen,            Watzlawick, et al. (1980). Menschliche Kommunikation. Formen, Störun-
einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob         gen, Paradoxien. Bern, Stuttgart, Wien: Huber.
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