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WORKING PAPER-REIHE DER AK WIEN DIE WIRKMÄCHTIGKEIT DES EUROPÄISCHEN SEMESTERS UND IHRE AUSWIRKUNG AUF DIE INTERESSENSVERTRETUNG DURCH ARBEITNEHMER:INNENVERBÄNDE Bernhard Zeilinger 231 978-3-7063-0902-8 MATERIALIEN ZU WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT WPR_231_WirkmächtigkeitEuropäischenSemesters.indd 1 22.11.21 18:21
Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 231 Working Paper-Reihe der AK Wien Herausgegeben von der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien Die Wirkmächtigkeit des Europäischen Semesters und ihre Auswirkung auf die Interessensvertretung durch Arbeitnehmer:innenverbände Bernhard Zeilinger November 2021 Die Working Paper Reihe "Materialien aus Wirtschaft und Gesellschaft" behandelt aktuelle Fragen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und dient als offenes Medium für den Austausch von wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen. Die Reihe wird von der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik betreut. Wie bei Working Paper Serien üblich erfolgt keine formelle Begutachtung.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 978-3-7063-0902-8 Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien A-1041 Wien, Prinz-Eugen-Straße 20-22, Tel: (01) 501 65, DW 12283
Inhalt 1 Einleitung ......................................................................................................................................... 1 2 Die Genese der wirtschaftspolitischen Steuerung seit 1992 .......................................................... 2 3 Wirkmächtigkeit des Europäischen Semesters ............................................................................... 6 3.1 Konzeption von Wirkmächtigkeit im Europäischen Mehrebenensystem ............................... 6 3.2 Wirkmechanismen des Europäischen Semesters.................................................................... 9 3.2.1 Strukturelle Wirkmechanismen..................................................................................... 10 3.2.1.1 Horizontale und vertikale Koordinierung .................................................................. 10 3.2.1.2 Rekonfiguration von Akteurskonstellationen............................................................ 11 3.2.1.3 Herstellung kollektiver Evidenz ................................................................................. 13 3.2.2 Verfahrensbezogene Wirkmechanismen ...................................................................... 14 3.2.2.1 Agenda-Setting und Problem-Framing ...................................................................... 15 3.2.2.2 Zwangs- und Anreizsysteme ...................................................................................... 16 3.3 Schlussfolgerungen: Gelegenheitsstrukturen im Wandel ..................................................... 18 4 Handlungsoptionen für Arbeitnehmer:innenverbände zur Herstellung von Wirkmächtigkeit im Europäischen Semester ............................................................................................................ 20 4.1 Einfluss auf politische Inhalte – Mainstreaming von Arbeitnehmer:inneninteressen .......... 21 4.2 Einfluss auf politische Inhalte – Selektive und transnationale Politisierung ......................... 23 4.3 Einfluss auf politische Ziele – Gegennarrativ aufbauen ........................................................ 23 4.4 Einfluss auf Mechanismen der Politikgestaltung – Sicherstellen demokratischer Verfahren............................................................................................................................... 25 5 Annex 1: List of interviewees ........................................................................................................ 28 6 Literaturverzeichnis ....................................................................................................................... 28
Zusammenfassung Mit der Einführung des Europäischen Semesters 2010 wurden sukzessive neue Instrumente und Verfahren der wirtschaftspolitischen Steuerung etabliert, welche darauf abzielen Einfluss auf die Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten auszuüben. Zum einen wurde die weiche Koordinierung nationaler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in die Verfahrenslogik einer sanktionsbasierten harten Steuerung auf Basis der im Stabilitäts- und Wachstumspakt verankerten Fiskalregeln und den festgelegten makroökonomischen Schwellenwerten integriert. Zum anderen haben exekutive Kräfte auf europäischer Ebene (Kommission) und nationaler Ebene (Regierungen) an Entscheidungshoheit gegenüber den Parlamenten und zivilgesellschaftlichen Akteuren gewonnen. Dieses Working Paper untersucht die Mechanismen, mit denen das Europäische Semester Einfluss auf souveräne Politikgestaltung der Mitgliedstaaten herstellt. Die Erkenntnisse dieser Untersuchung dienen dazu, um mögliche Handlungsoptionen für Arbeitnehmer:innenverbände auszuloten. Diese Empfehlungen sind darauf ausgerichtet, diesen die Möglichkeit zu geben neue Gelegenheitsstrukturen entlang ihrer Machtressourcen zu schaffen, die ihnen ermöglichen Einfluss auf die jeweiligen Stufen der Entscheidungsfindung auszuüben. Die Datengrundlage der empirischen Analyse fußt auf der Auswertung von empirischen Studien und von 14 leitfadengestützte Expert:inneninterviews, die mit leitenden Beamt:innen der Kommission, der Beschäftigungsausschüsse des Rates und beteiligten Sozialpartnerorganisationen zwischen Dezember 2020 und März 2021 durchgeführt wurden. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden im Mai 2021 mit Expert:innen im Forschungsfeld qualifiziert. Executive Summary With the introduction of the European Semester in 2010, new instruments and procedures of economic governance were established, which aim to exert influence on legislation in the member states. On the one hand, the soft coordination of national labour market and social policies was integrated into the procedural logic of sanction-based hard governance based on the fiscal rules anchored in the Stability and Growth Pact and the defined macroeconomic thresholds. Secondly, executive powers have gained decision-making authority over parliaments and civil society actors due to the vertical structure of the semester procedure. This Working Paper examines the mechanisms through which the European Semester establishes influence on sovereign policy-making by member states. The findings of this research are used to explore possible options of action for trade unions. These recommendations are aimed at giving them the opportunity to create new policy windows along their power resources that enable them to exert influence on the respective stages of policy-making. The data basis of the empirical analysis relies on the evaluation of empirical studies and 14 expert interviews conducted with senior officials of the Commission, the Employment Committee of the Council and social partner organisations between December 2020 and March 2021. The findings were qualified with experts in the research field in May 2021.
1 Einleitung Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 wurde die Architektur der wirtschaftspolitischen Governance substantiell neugestaltet und dadurch zum Dreh- und Angelpunkt für Reformdiskussionen in den Bereichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Europa (de la Porte & Heins, 2014). Die politischen Ziele hinter diesen Reformen sind u.a. die Verbesserung der Haushaltsdisziplin; Schaffung effizienterer Mechanismen zur Krisenbewältigung; wirtschaftspolitische Reformen zur Steigerung des Wirtschaftswachstums auf Basis erhöhter Produktivität; Regulierung der Finanzmärkte und Schaffung eines Ausgleichsmechanismus zwischen unterschiedlich wettbewerbsfähigen Staaten (Europäischer Rat 2010). Die institutionelle Antwort auf diese Reformziele manifestiert sich in der Einführung des Europäischen Semester 2010 (Verordnung Nr. 1175/2011), auf Grundlage von sieben Verordnungen und einer Richtlinie im Rahmen der Reformpakete des 'Six Pack' (2011) und des 'Two Pack' (2013). Durch die Umsetzung dieser Reformen wurden sowohl die Überwachungsintensität als auch mögliche Sanktionsmechanismen zur Disziplinierung gestärkt (Degryse et al., 2013; de la Porte und Heins, 2014). Das Semester arbeitet sich in einem wiederkehrenden Zyklus an der Fiskal- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ab, um eine gemeinsame Grundordnung über nationale Souveränitätsrechte hinweg zu etablieren. Diese Grundordnung drückt sich programmatisch in den jährlich übermittelten länderspezifischen Empfehlungen (LsE) aus. Die LsE entfalten unterschiedliche Wirkmächtigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten, abhängig von deren makroökonomischen Ungleichgewichten. Es liegt in der Kompetenz der Kommission, entsprechende LsE auszuarbeiten und dem Rat zur Bestätigung vorzulegen. Dabei orientiert sich die Kommission an den Länderberichten, welche die Entwicklung der Mitgliedstaaten interpretieren und dadurch die Grundlage für die LsE schaffen. Der Länderbericht setzt sich aus den beschäftigungspolitischen Leitlinien, dem Fortschrittsbericht zu den fünf Leitinitiativen der Europa-2020 Strategie und den über 50 Reformvorschlagen des Euro-Plus-Pakts sowie dem Warnmechanismusbericht zusammen. Der Warnmechanismusbericht analysiert die makroökonomische Entwicklung anhand eines Scoreboards von 14 Leitindikatoren (Laffan und Schlosser, 2016). Diese Leitindikatoren sollen makroökonomische Ungleichgewichte identifizieren, welche möglicherweise negative Auswirkung auf den Rest der Eurozone oder die gesamte EU haben könnten. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse dienen der Kommission um politische Reformen einzufordern und gegebenenfalls ein Verfahren im Fall von übermäßigen Ungleichgewichten einzuleiten. Wie von Bekker (2015, 13) und Maricut und Puetter (2018, 205) dargelegt, weisen ca. 50 Prozent der LsE im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einen Konnex zu übermäßigen Ungleichgewichten auf und werden dadurch verbindlich für die betreffenden Mitgliedstaaten. Für Länder, in denen übermäßige Ungleichgewichte identifiziert werden, kann ein korrigierendes Verfahren eingeleitet werden. In den betroffenen Ländern kann die Kommission die Berichtspflichten verschärfen und das Mitgliedstaat auffordern, einen Korrekturplan vorzulegen, um eine makroökonomische Schieflage zu stabilisieren. Dazu muss der Mitgliedstaat eine nicht verzinsliche Einlage hinterlegen, die bei einer mangelhaften Umsetzung des Korrekturplans in eine Geldbuße umgewandelt werden kann. Der Rat benötigt eine qualifizierte Mehrheit um die vorgeschlagenen Maßnahmen der Kommission zur Einleitung eines Verfahrens und zur Verhängung einer Geldbuße zu verhindern. Die Folgen dieser Reformen sind eine Integration der weichen Koordinierung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten in die Logik einer harten Steuerung auf Grundlage von sanktionsbasierten Fiskalregeln und makroökonomischen Leitindikatoren (Bekker, 2020; Kahn‐Nisser, 2015; Armstrong, 2012). Dadurch soll ein Reformdruck auf Politikbereiche erzeugt werden, die rechtlich der souveränen Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten unterliegen. Viele Autoren sehen darin einen Versuch, Zugriff auf Politikbereiche zu bekommen, um Ziele zur Erreichung einer 1
konsolidierten Haushaltspolitik und wettbewerbsstarken Volkswirtschaften effektiver zu realisieren (Bekker, 2015; Bruff, 2017; Crespy & Menz, 2015, S. 199-200; Degryse et al., 2013, S. 70; Hacker, 2019, S. 56; Syrovatka, 2016, S. 33; Wigger, 2015; Coman und Ponjaert, 2016). Dieses Working Papers untersucht die Wirkmächtigkeit des Europäischen Semester entlang der zwei folgenden Fragen: Erstens, wie lässt sich auf Grundlage der Semesterstruktur Einfluss von EU-Ebene auf souveräne Politikgestaltung der Mitgliedstaaten herstellen? Zweitens, welche Auswirkungen hat dies auf Arbeitnehmer:innenorganisationen? Die Datengrundlage der empirischen Analyse fußt auf der Auswertung von Studienergebnissen 1 und von 14 Experteninterviews, die mit hochrangigen Beamten der Kommission, der Ausschüsse des Rates (EMCO) und den beteiligten Sozialpartnern zwischen Dezember 2020 und März 2021 durchgeführt wurden (siehe im Annex 1 die Liste der Interviewpartner). Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse verdichtet, um konkrete Handlungsempfehlungen für die AN zur Anpassung ihrer Interessensarbeit unter dem Europäischen Semester abzuleiten. Diese Erkenntnisse wurden im Mai 2021 mit Experten und Expertinnen 2 im Forschungsfeld diskutiert. 2 Die Genese der wirtschaftspolitischen Steuerung seit 1992 Bereits mit der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) 1992 wurde versucht eine supranationale Wirkmächtigkeit auf nationale Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes und Währungsraumes zu erreichen. Dieser zunächst diffuse Druck, aufgrund von steigenden Wettbewerbsbedingungen und einer supranational gesteuerten Außenhandelspolitik, bekam eine klare ordnungspolitische Komponente mit der Umsetzung des gemeinsamen Binnenmarktes auf Basis der 4 Freiheiten und der WWU auf Basis der fiskalpolitischen Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Insbesondere die Länder, die dem Währungsraum angehören, haben aufgrund ihres geldpolitischen Souveränitätsverlustes erheblich an Handlungsspielraum eingebüßt. Die nationalen Gesetzgeber sahen sich aufgrund des wettbewerbsgetriebenen Anpassungsdrucks gezwungen, politische Maßnahmen zur Erhöhung der Produktivitätsleistung und Sicherung der Preisstabilität zu ergreifen, wie zum Beispiel die interne Abwertung der Beschäftigungs- und Sozialpolitik durch Sozialabbau, Aktivierung von Erwerbslosen Menschen, Deregulierung des Kündigungsschutzes, Senkung der Steuern auf Arbeit, Erhöhung der Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer, Dezentralisierung der Löhne und eine engere Verknüpfung von Lohnerhöhungen und Produktivität (Andor, 2017; Dølvik und Martin, 2017). Die Finanzkrise 2008/09 hat den Druck zur internen Abwertung aufgrund einer angebotsökonomischen Ausrichtung der WWU noch weiter verstärkt (Scharpf, 2002; Hemerijck, 2014, 151). Obwohl sich die Mitgliedstaaten in den 1990er Jahren klar gegen eine supranationale Integration von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ausgesprochen hatten, kamen eine große Vielfalt an sozialstaatlichen Gepflogenheiten, Arbeitsbeziehungen und Beschäftigungs- und Sozialschutzsysteme zusehends unter 1 In die Analyse miteinbezogene Studienergebnisse: INVOTUNES „NATIONAL TRADE UNION INVOLVEMENT IN THE EUROPEAN SEMESTER under the lead of European Social Observatory (OSE) (2018-2019) ERC-Project „Labour Politics and the EU´s New Economic Governance Regime” (Laufzeit 2017-2023) EESDA-Project “Enhancing the Effectiveness of Social Dialogue Articulation in Europe (VS/2017/0434) EUROSEM – Jean Monnet Network under the lead of Prof. Amy Verdun (University of Victoria) studying the economic and political effects of the European Semester 2 Der Autor dankt den wertvollen Kommentaren und Rückmeldungen aus den Gesprächen mit Amy Verdun, Bart Vanhercke, Sebastiano Sabato, Jörg Haas und Felix Syrovatka. 2
Anpassungsdruck aufgrund der Wettbewerbsorientierten Geld- und ordoliberalen Fiskalpolitik (Delteil und Kirov, 2017, 8). Bis zur Einführung des Europäischen Semesters kamen vier Modi zum Einsatz, um Beschäftigungspolitik auf EU-Ebene zu gestalten: die klassische Gemeinschaftsmethode (regulative Politik); die Rechtsetzung durch eine Einigung zwischen den europäischen Sozialpartnerorganisationen (kontraktuelle Politik); finanzielle Anreizsysteme (distributive Politik) und die Offene Methode der Koordinierung (OMK) im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS) (Platzer 2016, 91- 111; Rhodes, 2015; Barnard, 2014). Der erste Modus ermöglicht verbindliche Rechtsvorschriften mit dem Ziel einer Harmonisierung zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen innerhalb des Binnenmarktes zu schaffen. Im Zuge der Binnenmarktregulierung gilt das Prinzip der Mindeststandards, während im Hinblick auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die Gleichstellungspolitik die Gemeinschaftsgesetzgebung konkretere und striktere Formen annimmt. Rechtsakte können nur auf Basis einer vertraglichen Ermächtigung durch die Mitgliedstaaten unter Wahrung des Prinzips der Minderheitsentscheidung beschlossen werden. Als zweiter Modus werden Sozialpartnervereinbarungen im Rahmen des Sozialen Dialogs genannt, welche in der Regel zu einem Ministerratsbeschluss führen. Beispiele dazu sind Vereinbarungen zum Elternurlaub, zur Teilzeitarbeit und zu befristeten Arbeitsverträgen. Als dritter Modus dienen finanzielle Anreize in Gestalt des Europäischen Sozialfond (ESF) zur Unterstützung von Reformen. Der vierte Modus wurde mit dem Ratsgipfel in Essen 1994 als neue Form der weichen, nicht- hierarchischen Steuerung eingeführt, welche eine verbindliche Teilnahme aller Mitgliedstaaten vorsieht, jedoch weitestgehend unter Wahrung der Subsidiarität und der Freiwilligkeit (Artikel 145-50 AEUV). Die Koordinierung fußt auf politischen Willenserklärungen zur Erreichung gemeinsam vereinbarter Ziele, überlässt aber den nationalen Regierungen die Wahl und das Ausmaß der Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Die damals getroffenen Zielvereinbarungen sind später als Kernelemente in die beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU eingeflossen: Aktivierungsmaßnahmen zur Förderung von Beschäftigung, Berufsbildung und Qualifikationsentwicklung, flexible Arbeitsregelungen und anpassungsfähige Arbeitskräfte, Maßnahmen für benachteiligte Gruppen und eine wettbewerbsfähige Lohnpolitik (Goetschy, 1999). Mit dem Gipfel des Europäischen Rates in Luxemburg 1997 haben sich die Mitgliedstaaten auf die Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS) verständigt und als eigenen Titel (Kapitel Beschäftigung) im Vertrag von Amsterdam verankert. Der Vertrag (Artikel 3, Absatz 3, EUV) enthält auch den Grundsatz, dass alle anderen Politikbereiche "auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielen" müssen. Im Rahmen der EBS werden allesamt Bereiche behandelt, die ausschließlich in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegen, wie zum Beispiel Besteuerung des Faktors Arbeit (Sozialversicherungsbeiträge, Einkommensteuer), Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Umfang, Anspruchsberechtigung), Sozialleistungen (Sozialhilfe, Aktivierungsanforderungen), aktivierende arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (Unterstützung und Beratung bei der Arbeitssuche, Aus- und Weiterbildung, direkte Arbeitsbeschaffung, Beschäftigungsbeihilfen, Sonderregelungen für Frauen, Jugendliche, ältere Menschen, Geringqualifizierte, Behinderte), Beschäftigungsschutz (befristete und unbefristete Verträge, Kündigungsschutz), Pensionsregelungen, Festlegung der Löhne (Mindestlohn, Lohnverhandlungen), Arbeitszeitregelung und Mobilität. Die EBS betrachtet die Beschäftigungspolitik auch als Querschnittsthema der Sozial-, Bildungs- und Rentenpolitik, wie zum Beispiel in Bezug auf die Aktivierung von Sozialhilfeempfängern, den Übergang von der Schule in den Beruf, in der Bildungspolitik oder bei der Altersvorsorge (Munta, 2021). Im Jahr 2000 wurde die EBS, zusammen mit Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, in die Lissabon-Strategie integriert. Zwischen 1997 und 2004 hat sich die EBS zu einem eigenständigen Koordinierungsprozess mit ausgeprägten Verfahrensabläufen entwickelt. Das als Offene Methode Koordinierung (OMK) benannte 3
Verfahren, zielt auf eine freiwillige Konvergenz der nationalen Politikgestaltung auf Basis kollektiv definierter Ziele (Benchmarking) (Europäischer Rat, 2000). Die OMK impliziert einen intensiven und regulären Austausch über erprobte Politikoptionen und Expertise zur "Stärkung der Problemlösungseffektivität der nationalen Politik" (Kohler-Koch und Rittberger, 2006, 28, 31). Dieser iterativ gestaltete Prozess sieht regelmäßige Peer-Reviews vor, um die Reformfortschritte der Mitgliedstaaten an ihren getroffenen Zielvereinbarungen zu messen. Der alljährliche Zyklus beginnt mit dem Gemeinsamen Beschäftigungsbericht, der dem Europäischen Rat zur Zustimmung vorgelegt wird. Der Bericht bewertet die Fortschritte der Mitgliedstaaten und bildet die Grundlage für den jährlichen Vorschlag der beschäftigungspolitischen Leitlinien. Die Mitgliedstaaten berichten über politische Reformen und Absichten in den eingereichten Nationalen Aktionsplänen (NAP), die im beratenden Beschäftigungsausschuß (EMCO) bewertet werden. Die Wirklogik dieser weichen Steuerung beruht auf Reformbereitschaft aufgrund von Überzeugung und Lernen von best-practice Beispielen in anderen Mitgliedstaaten, aber auch vom „an-den-Pranger-stellen“ bei einem deutlichen Verfehlen der selbstgesteckten Ziele (Naming & Shaming) (Borrás, 2009; de la Porte, 2011, 499). Der Vorteil dieser weichen Steuerungsform erklärt sich in der Miteinbeziehung von Gebieten, in denen die EU keine Kompetenzen besitzt, welche jedoch im Zusammenhang mit Zielen der EU stehen. Nichtsdestotrotz ist die OMK eine weitreichende Harmonisierung der oben genannten Bereiche schuldig geblieben (Heidenreich und Zeitlin, 2009; Barcevičius et al., 2014). Vielfach sind stärkere Durchgriffsrechte eingefordert worden, um Einfluss auf nationale Politikgestaltung zu erlangen (Rhodes, 2015; Copeland und ter Haar, 2015). Andererseits wird die Fähigkeit der OMK, um politisches Lernen und Sozialisationseffekte zu erzielen, als maßgeblich erachtet, um den institutionellen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten gerecht zu werden (de la Porte, 2017; Saurugger und Terpan, 2016). Die Halbzeitprüfung der Europäischen Kommission der für zehn Jahre ausgelegten Lissabon Strategie hat 2005 deutlich gemacht, dass die weiche Steuerung der OMK sich nicht als wirksam genug herausgestellt hat, um als Katalysator für innenpolitische Reformen zu dienen (Watt, 2004). Als Folge wurde eine inhaltliche Neuausrichtung vorgenommen, in dem die EBS in Wachstums- und Beschäftigungsstrategie (WBS) umbenannt wurde (Borrás, 2009). Die beschäftigungspolitischen Leitlinien wurden mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik zu einer Reihe von 24 integrierten Leitlinien – zehn mikroökonomische Leitlinien, acht beschäftigungspolitische und sechs makroökonomische Leitlinien – zusammengefasst. Die einst rein beschäftigungsbezogenen Nationalen Aktionsplänen (NAP) wurden in breiter angelegte Nationale Reformprogramme (NRP) umgewandelt, und die zentrale Rolle der Gemeinsamen Beschäftigungsberichte in der Berichterstattung über die Fortschritte der Mitgliedstaaten ging dabei verloren (Armstrong et al., 2008, 444). 2010 wurde die Lissabon Strategie durch die Europa 2020 Strategie 3 abgelöst. Die Europa 2020 Strategie beinhaltet fünf messbare Leitziele und sieben Flagship-Initiativen, die in unterschiedlicher Weise von den Mitgliedstaaten innert 10 Jahren durch nationale Maßnahmen zugearbeitet werden soll. Die Schwerpunkte der Strategie liegen auf der Förderung von Forschung und Entwicklung; Erhöhung der Qualifizierung im Rahmen der Hochschulbildung; Steigerung der Beschäftigung zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums, Armutsbekämpfung im Rahmen einer besseren gesellschaftlichen Integration sowie Maßnahmen zur klimaschonenden Lebensweise und Förderung umweltfreundlicher Technologien. 2011 verpflichteten sich die 19 Mitgliedstaaten der Eurozone und drei Nicht Euro- Länder mit dem Euro-Plus Pakt ihre nationalen Wirtschaftspolitiken wirkungsvoller entlang konkreter 3 Beschlossen durch den Europäischen Rat vom 17. Juni 2010, anknüpfend an die Mitteilung der Europäischen Kommission vom 3. März 2010 (KOM(2010) 2020 endgültig: „EUROPA 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“) http://eur- lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2010:2020:FIN:EN:PDF 4
Maßnahmen zu koordinieren. Dazu zählen Maßnahmen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung sowie Schaffung einer tragfähigen Haushaltspolitik. Unter dem Eindruck der makroökonomischen Schieflagen durch die Finanzkrise 2008/09 setzte sich der Wunsch nach einer effektiveren wirtschaftspolitischen Steuerung durch. Dies wurde durch die Eingliederung in einen gemeinsamen Prozess mit der fiskalpolitischen und makroökonomischen Überwachung zwischen 2010/11 umgesetzt. Folglich wurden die eingegangenen Verpflichtungen des Euro-Plus Pakts und der Europa 2020 Strategie im Rahmen des Semesterverfahren überwacht. Die Kommission nimmt darin eine zentrale Rolle ein, indem sie für die Überprüfung makroökonomischer Ungleichgewichte, dem Monitoring von Reformfortschritten der Mitgliedstaaten und der Formulierung von länderspezifischen Empfehlungen (LsE) zuständig ist (Saurugger und Terpan, 2020, 4). Allerdings ist die Kommission bei allen Entscheidungen auf die politische Mehrheit im Rat angewiesen und somit bemüht, ihre Reformempfehlungen evidenzbasiert zu argumentieren. Die Wirkmächtigkeit der LsE leitet sich, in erster Linie, vom Druck der Peer-Group im Rat sowie von den rechtlichen Zwangsmitteln im Fall von übermäßigen makroökonomischen Ungleichgewichten ab. Im Fall der Einleitung eines Ungleichgewichtsverfahren müssen die betroffenen Mitgliedstaaten vereinbarte Reformen innerhalb von 12-18 Monaten umsetzen, um finanziellen Geldbußen abzuwenden. Wie eine Studie von Bekker (2015, 13) und Maricut und Puetter (2018, 205) gezeigt hat, weisen mindestens 50 Prozent der LsE im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einen rechtlichen Kontext auf und sind daher verbindlich umzusetzen. Nichtsdestotrotz ist der Umsetzungsgrad mit 51,5 Prozent im Zeitraum 2012-2019 unter den Erwartungen (Europäische Kommission, 2020a/b; Europäischer Rechnungshof, 2020). Auffallend ist vor allem der starke Rückgang von anfänglich 71 Prozent in 2012 auf 39,8 Prozent in 2019 (ibid.). In der Literatur wird dieser massive Rückgang mit der wirtschaftlichen Erholung seit 2013 in Verbindung gebracht. Dies lässt den Schluss zu, dass die Wirkmächtigkeit der LsE hauptsächlich aufgrund von Androhung rechtlicher Sanktionsmechanismen im Zuge des Verfahrens bei übermäßigen Ungleichgewichten gegeben ist und darüber hinaus kaum Anreize zur Konvergenz bestehen (Darvas und Leandro, 2015; Alcidi und Gros, 2017; Efstathiou und Wolff, 2018; Maricut & Puetter, 2018, 195; de la Porte, 2017, 142). Nach Ablauf der ersten Legislaturperiode, in der das Europäischen Semester angewandt wurde, kam es ab 2015 unter dem neuen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu einer Reihe an Initiativen um soziale und beschäftigungspolitische Ziele stärker in der wirtschaftspolitischen Steuerung zu verankern sowie um die Wirkmächtigkeit des Europäischen Semester zu erhöhen (Vanhercke und Zeitlin, 2015). Begünstigt wird deren Wirkmächtigkeit, indem das Verfahren an Legitimität gewinnt, aber auch Politisierung erfährt. Beides führt wiederum zu einer Erhöhung des politischen Drucks und erhöht die Effektivität von Anreizen oder Zwang. Es geht auch darum, durch eine Politisierung der wirtschaftspolitischen Koordinierung auf europäischer wie nationaler Ebene, politische Mitverantwortung zu sichern und die politischen Kosten einer Nicht-Erfüllung dieser LsE zu erhöhen. Die gewählten Mittel sind, zum einen, eine Straffung des Verfahrens, indem die länderspezifischen Empfehlungen (LsE) auf zwei bis maximal fünf pro Land reduziert wurden, um den Druck auf die vorrangigsten LsE zu erhöhen (Vanhercke et al., 2015). Zudem ging man von Seiten der Kommission dazu über, die vormals eher allgemein und unspezifisch formulierten LsE zu präzisieren (Baeten und Vanhercke, 2016). Dafür wurde der Dialog mit den Regierungen, nationalen Verwaltungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren im Vorfeld der Formulierung dieser LsE intensiviert. Dazu wurde der Semesterzyklus von sechs Monaten auf ein Jahr ausgeweitet und mit dem Länderbericht ein neues Arbeitsdokument eingeführt, welches im Februar veröffentlicht wird und als Grundlage für den Dialog über LsE dient. Eine wichtige Innovation zur Herstellung eines intensiveren Austausches zwischen der Kommission und den nationalen Verwaltungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren ist die Einrichtung 5
von Verbindungsbüros (European Semester Officer) in den nationalen Vertretungen der Kommission. Diese Verbindungsbüros wurden 2013 eingeführt und sind beauftragt "die Fähigkeit der Kommission zur Durchführung von Überwachungsmaßnahmen, Politiken zu bewerten, länderspezifische Informationen zu sammeln und die Einhaltung von Initiativen des Europäischen Semesters zu verbessern" (Munta, 2021, 6). Die Verbindungsbüros organisieren Konsultationen und Vor-Ort Bestandsaufnahmen (Fact-Finding-Missions) durch Vertreter:innen der jeweiligen Kommissionsdienststellen mit nationalen politischen Entscheidungsträger:innen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Dabei werden makroökonomische Entwicklungen in Bezug auf nationale Besonderheiten reflektiert. Die gewonnenen Erkenntnisse fließen in die Erstellung der Länderberichte und LsE mit ein (Vanhercke et al., 2015; Alcidi und Gros, 2017). Eine Intensivierung der Konsultationen mit nationalen Gesetzgebern und zivilgesellschaftlichen Akteuren ist ein wesentlicher Punkt, um eine profunde Datenlage und fach- und länderspezifische Expertise als Grundlage effektiver LsE zu ermöglichen. Die Wirkmächtigkeit der LsE soll durch die intensiven Konsultationen gesteigert werden, da diese für eine höhere Legitimation und Eigenverantwortung (national ownership) sorgen (Eihmanis, 2017; Coman und Ponjaert, 2016, 48). Mit der Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure versucht die Kommission zudem die LsE stärker in die nationalen Reformdebatten zu verankern und die politischen Kosten für die Entscheidungsträger auf nationaler Ebene im Falle einer mangelnden Umsetzung der LsE zu erhöhen (Munta, 2021; Ferrera, 2017). 3 Wirkmächtigkeit des Europäischen Semesters Die wirtschaftspolitische Steuerung unter dem Dach des Europäischen Semester ist von großem Interesse für die Europäische Integrationsforschung, da es eine neue Art der Europäisierung und ergo Harmonisierung nationaler Politikgestaltung darstellt. Bei den angesprochenen Politikbereichen handelt sich um nationale Zuständigkeit, das heißt, die Wirkmächtigkeit europäischer Interventionen hängt hochgradig von der Rezeption auf der nationalen politischen Bühne ab. Es benötigt daher das Zutun der jeweiligen nationalen Regierungen, ob LsE in die Nationalen Reformprogramme übernommen werden und in welcher Qualität diese Reformen schlussendlich umgesetzt werden. Die vormals weiche Steuerung auf Grundlage der Prinzipien der Offenen Methode Koordinierung (OMK) hat durch die Integration in die Logik einer harten Steuerung durch sanktionsbasierte Fiskalregeln und makroökonomische Leitindikatoren an Wirkmächtigkeit gewonnen. Das vorliegende Kapitel bietet Einblick in die Mechanismen und Akteure, welche die Wirkmächtigkeit des Europäischen Semester bedingen, mit dem Hintergrund, in den Folgekapiteln, Rückschlüsse für die Arbeitsweise und strategische Neuausrichtung der Arbeitnehmerorganisationen abzuleiten. 3.1 Konzeption von Wirkmächtigkeit im Europäischen Mehrebenensystem Um die Herausforderungen aber auch Möglichkeiten, die das Europäische Semester für AN bedeuten, herauszuarbeiten, ist es in einem ersten Schritt nötig, dessen Wirkmächtigkeit zu identifizieren. Wirkmächtigkeit in der Politikgestaltung wird keinesfalls als ein singuläres Ereignis verstanden, sondern drückt sich mannigfaltig aus und beschreibt den ursächlichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung durch den Gesetzgeber. Als analytischer Ordnungsrahmen zur Darstellung dessen dient der Politik-Zyklus, bestehend aus: (1) Politik-Evaluierung; (2) Problem-identifizierung und -interpretation; (3) Politikformulierung und -verhandlung; und (4) Politikumsetzung. Alle diese Ebenen üben unterschiedlich Einfluss auf die Entscheidungsfindung aus. Die Zuteilung von 6
Entscheidungsmacht in den jeweiligen Ebenen wird durch formelle Prozesse und informelle Netzwerke erbracht. Dieser analytische Ansatz muss wiederum in die Mehrebenen-Logik des politischen Systems der EU übersetzt werden, um Rückschlüsse auf den spezifischen Charakter des Europäischen Semester ziehen zu können. Um Einfluss auf Politikgestaltung nehmen zu können, gilt es Wirkmächtigkeit in allen vier Phasen des Politik-Zyklus zu entwickeln. Zunächst bestimmen staatliche Regeln, Abläufe und Verfahren über das Ausmaß von Mitwirkungsmöglichkeiten von Akteuren im Entscheidungsfindungsprozess (Gunn, 2017; (Mayntz & Scharpf, 1995). Das Modell „Multiple Streams Framework (MSF)“ von John W. Kingdon (1984) bietet die nötige Differenzierung unterschiedlicher Prozesse, die allesamt die Entscheidungsfindung beeinflussen. Das MSF-Modell wurde in erster Linie als ein in sich geschlossener und konfliktbeladener Kreislauf aufgefasst, der auf formalen Regeln aufbaut, unterschiedliche Kanäle zur Teilhabe bereithält und aufgrund der Verfahren den Blick auf bestimmte Sachverhalte lenkt. Das MSF-Modell baut auf den theoretischen Grundlagen des sogenannten Carbage-Can Modells (Cohen et al. 1972) auf. Dieses Modell differenziert politisches Entscheidungsverhalten anhand von drei Faktoren: Erstens, wird betont, dass Akteure ihre Präferenzen erst im Laufe des Prozesses festlegen und/oder auch mehrmals wechseln. Das heißt, die Interpretation und Identifikation von ursächlichen Problemen sowie deren Lösungsoptionen sind Veränderungen unterworfen, auf Basis von Verhandlungen, Überzeugungen und Lernen. Etablierte Bewertungsmaßstäbe und –verfahren können die Herausbildung dieser Präferenzen entsprechend vorgegebener Möglichkeitsfenster bereits einengen („Channeling“). Zweitens, sind selbst die formalen und informellen Entscheidungsfindungsprozesse ebenfalls laufend Änderungen unterworfen und nicht allen Akteuren deutlich verständlich. Dadurch ergeben sich asymmetrische Zugänge zu den Entscheidungsebenen. Das Modell geht davon aus, dass die Akteure erst durch Ausprobieren erfolgreiche Wege und Mittel identifizieren um Einfluss auszuüben. Drittens, kommt es im Laufe der Zeit zu einem wiederholten Wechsel der Zusammensetzung der Mitglieder in den Entscheidungsgremien, z.B. durch Regierungswechsel. Zudem wechselt das Engagement der beteiligten Akteure, abhängig von Ressourcen, Agenda und sich bietenden Gelegenheitsstrukturen. Das heißt, die wiederholende Behandlung von Themen, kann im Zeitverlauf zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Kingdon (1984) entwickelte dieses Modell insofern weiter, als dass er die prozesshafte Dynamik innerhalb und in Wechselwirkung zwischen diesen Ebenen stärker betont. Prozesse unterliegen Regeln, Strukturen und Wertvorstellungen, welche laufend Veränderungen unterworfen sind. So werden z.B.: Zuständigkeiten immer wieder neu definiert und verteilt. Dadurch kann sich die Zusammensetzung von handelnden Akteuren und deren Rolle im Entscheidungsfindungsprozess im Laufe der Zeit ändern. Das führt zu dem Schluss, dass die Entscheidungsfindung einer Logik der Unbestimmtheit unterworfen ist, d.h. es existieren gleichzeitig unterschiedliche Ansichten und Deutungen bestimmter Probleme und ihrer Lösungen, die ihrerseits Konflikte befeuern und je nach politischer Teilhabe zur Entscheidungsbildung beitragen (Kingdon 1984, 350-351). Dadurch kann auch das Hervorbringen von Lösungen erklärt werden, die nicht die spezifische Antwort auf ein Problem darstellen, sondern bereits existieren und die Problemwahrnehmung dahingehend beeinflussen, indem Sie einem anderen Interesse dienen. Diese Ambiguität belegt, dass es eine Vielzahl an Möglichkeiten gibt, Sachverhalte zu deuten und entsprechende Antworten dahingehend abzuleiten. Eine wahrhafte und damit unumstößliche Objektivität hingegen gibt es nicht. Entscheidungsträger operieren unter den Bedingungen der Ambiguität und in Wechselwirkung mit Interessen unterschiedlicher Akteure (Gellner/Hammer, 2010, 133-135). Kingdon spricht dabei von „organisierter Anarchie“, die sich vor allem durch Unbeständigkeit und Flüchtigkeit auszeichnet. Akteure aber auch Rahmenbedingungen ändern sich von Zeit zu Zeit, geplant oder abrupt, und ändern somit Präferenzen sowie die Wirkmächtigkeit von Akteuren (Gellner/Hammer 2010, 133). Kingdon bedient sich in seinem 7
MSF-Modell der Analogie der Ströme, um zu symbolisieren, dass diese Entscheidungsfindungsprozesse und Ebenen ständig in Bewegung und Veränderungen unterworfen sind und damit unterschiedlichen Akteure sich wechselnde Einflussmöglichkeiten bieten (Ackrill et al., 2013). Das MSF-Modell unterscheidet zwischen drei Strömen, in denen es zu einer Auseinandersetzung um Wirkmächtigkeit kommt: Problem-Strom, Politics-Strom und der Policy-Strom: Der Problem-Strom umfasst die Identifizierung und Bewertung bzw. Einordnung von politisch relevanten Problemen. In dieser Phase komm es zu einer konkurrierenden Wahrnehmung von Sachverhalten als Problem und dessen Dringlichkeit zur Behandlung. Um einen Sachverhalt als Problem zu bewerten, muss dieser in Konflikt mit bestehenden Werten und Überzeugungen stehen. Die Dringlichkeit zum Handeln ergibt sich wiederum aus dem Vergleich zwischen aktuellen mit vergangenen Zuständen sowie mit Referenzländern. Um einen Sachverhalt prioritär zu behandeln und diesen somit auf die Agenda zu setzen, braucht es Akteure des Regierungssystems, welche dieses in den formalen Prozess der Politikgestaltung einbetten (Knaggård, 2015). Der Problem-Strom konzentriert sich auf Faktoren, die einen Einfluss auf die Identifizierung und Interpretation eines politischen Problems haben und eine günstige Gelegenheitsstruktur für politische Entscheidungen schaffen. Im Fokus stehen dabei die Akteure der Exekutive und Legislative. Es gilt zwischen den Interessenslagen einer Gesellschaft zu moderieren und tragfähige Übereinstimmungen zu ermöglichen. Die vermittelnden Akteure haben dabei selbst ein Interesse und interpretieren Sachverhalte in erster Linie entsprechend ihrer eigenen Agenda. Es spielt daher eine wesentliche Rolle, ob diese selbst ein Interesse an einer Lösung des Problems haben oder sich ablehnend dazu verhalten. Dies hängt im Wesentlichen von folgen Kriterien ab: wie verbindlich eine mögliche Entscheidung sein wird; welche politischen Kosten mit einer Lösung oder nicht-Behandlung verbunden sind und auf wenn sich diese Kosten verteilen; zudem spielt auch der Umsetzungshorizont eine Rolle. Probleme oder Sachverhalte, die als solche wahrgenommen werden, kommen in der Regel also von außen auf die Politik zu. Wie erfolgreich Akteure bei der Aufmerksamkeitslenkung sind, hängt zum einen von ihrer Organisations-inhärenten politischen Stärke ab, aber eben auch von den strukturellen Gegebenheiten, die den jeweiligen Einfluss sicherstellen bzw. begünstigen. Eine nicht zu unterschätzende Frage im Detail ist nun, wie man auf solche Probleme aufmerksam werden kann? In Anlehnung an Rüb (2009, 354) lassen sich folgende drei Faktoren identifizieren, welche die Deutung eines Sachverhaltes als Problem maßgeblich bedingen: (1) Regelmäßige Erhebungen und Überwachung von politischen Entwicklungen auf Basis von vordefinierten Bewertungsrichtlinien und Meßindikatoren; (2) nicht vorhersehbare Ereignisse, welche die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf einen Sachverhalt richtet und diesen in ein neues Licht rücken lässt (Issue Salience); (3) Politische Rezeption und Interpretation auf Basis einer Evaluation vorangegangener Entscheidungen, um deren Wechselwirkung zu analysieren. Aus dieser Analyse ergeben sich entsprechend abgeleitete Handlungsempfehlungen. Alle drei Faktoren bedingen die Identifizierung von Sachverhalten als Problem. Um diese jedoch auf die Agenda zu setzen, müssen sie von relevanten politischen Akteuren („policy entrepreneur“) als solche zum Problem erklärt werden. Ein als Problem identifizierter Sachverhalt kann jederzeit wieder von der politischen Agenda verschwinden, sobald politische Akteure ein anderes Problem als bedeutsamer erachten oder das Momentum nützen, um ein unliebsames Thema von der Agenda zu verdrängen, indem ein anderes Thema vorgereiht wird. Dies ergibt sich vor allem aufgrund von sich ändernden Akteurskonstellationen durch Regierungswechsel oder strukturelle Änderungen im Policy-Zyklus. Der Politics-Strom repräsentiert die strukturelle Dimension eines Entscheidungsfindungsprozesses, welche über die formelle Macht- und Kompetenzverteilung zwischen organisierten Interessen der Legislative und Exekutive, von politischen Parteien und Interessensverbänden verfügt. Er gibt somit den Rahmen an Möglichkeiten vor, Wirkmächtigkeit zu erlangen und die Entscheidungsfindung zu 8
beeinflussen. Wirkmächtigkeit hängt hierbei wesentlich vom Zugang zur Entscheidungsebene und zu Informationen ab, wie wohl auch von dem zeitlichen Rahmen, der einem Akteur gegeben ist, um Informationen ausreichend zu verarbeiten und eigene Positionen akkurat aufzubereiten und den Entscheidungsträgern zu übermitteln. Der Policy-Strom besteht sodann aus einem Wettlauf von möglichen Lösungsansätzen, bei denen es um die technische Durchführbarkeit und die normative Akzeptanz geht. Diese Lösungsansätze werden von Policy-Spezialisten im Rahmen ihrer Interessen und in Netzwerken entwickelt (z. B. durch Bürokraten, Interessenvertreter, Wissenschaft und Think-Tanks). Vieler diese Ideen sind langehegte Politikforderungen, die sich entsprechend einer Problemerkennung erst als Lösung präsentieren können. Die eigentliche Wirkmächtigkeit ergibt sich dann durch eine günstige Gelegenheitsstruktur, die zu einer entsprechenden Politik-Entscheidung führt. Diese Gelegenheitsstruktur setzt sich aus dem Zusammenspiel aller drei Ströme zusammen, indem diese ein Handlungsfenster (Policy-Window) öffnen (Petridou, 2014, 20). Dieses Handlungsfenster stellt ein zeitlich begrenztes Momentum dar, dass es Akteuren ermöglicht, Einfluss auf eine Entscheidung auszuüben. Ein günstiges Momentum ergibt sich zum Beispiel durch die Verschiebung der Wahrnehmung auf Grundlage externer Schocks wie Wirtschaftskrisen, Initiativen politisch namhafter Organisationen (z.B. OECD) oder einen Regierungswechsel. Dazu muss ein Akteur mit ausreichend persönlichen, netzwerkbezogenen und institutionellen Ressourcen ausgestattet sein, um dieses Handlungsfenster rechtzeitig zu erkennen und eine günstige Gelegenheitsstruktur zu schaffen, die es ermöglicht Deutungshoheit sowie den Rahmen an Möglichkeiten so einzuengen, dass die eigenen Lösungsvorschläge anderen Entscheidungsalternativen am geeignetsten erscheinen. Das Europäische Semester hat formale und informelle Entscheidungsstrukturen substantiell verändert und dadurch zu einer Verschiebung der Machtbeziehungen zwischen den Akteuren entlang des Mehrebenensystems wirtschaftspolitischer Steuerung und innerhalb der Ebenen geführt. In den Folgekapiteln werden die Wirkmechanismen des Europäischen Semesters entlang dieser drei Ströme analysiert, um die asymmetrisch verteilte Gelegenheitsstruktur unterschiedlicher Akteure darin offenzulegen. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen dazu, um Potentiale für strategische Akteure davon abzuleiten, die ihnen die Möglichkeit gibt, mögliche Handlungsfenster zu schaffen, um Einfluss auf Politikgestaltung auszuüben. 3.2 Wirkmechanismen des Europäischen Semesters Dieses Kapitel widmet sich der Analyse von Mechanismen, die als Transmissionsriemen für den Einfluss des Europäischen Semesters auf nationale Gesetzgebung im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dienen. In dieser Studie wird die Wirkmächtigkeit in erster Linie als die erfolgreiche Übersetzung der länderspezifischen Empfehlungen (LsE) in nationale Reformen verstanden. Das Europäische Semester handelt dabei problemzentriert und identifiziert mit den LsE unter anderem Lösungsansätze zur Bewältigung akuter oder drohender makroökonomischer Schieflagen. Dabei kommen unterschiedliche Mechanismen zur Anwendung, die allesamt eine Intervention entgegen staatlichen Souveränitätsbestrebens darstellen. Das Analysemodell stellt zwei Zugänge zur Erklärung der Wirkmächtigkeit des Europäischen Semesters dar: strukturelle und verfahrensbezogene Faktoren (Weishaupt, 2014, 204; Zeitlin 2019; Copeland und ter Haar, 2013). Die strukturellen Faktoren umfassen die Ausgestaltung des institutionellen Rahmens vertikaler und horizontaler Entscheidungsfindungs- und Koordinierungsprozesse; die Art der Beteiligung von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und deren Rolle; sowie den gemeinsamen Aufbau von Ressourcen und Strukturen, um kollektive Evidenz herzustellen (Munta, 2021; Jacobsson und Viffel, 2007). 9
Verfahrensbezogene Faktoren betonen den Einfluss von Akteuren und institutioneller Strukturen auf politische Inhalte, Ziele und wiederum auf die Mechanismen der Politikentscheidung. Dadurch wird eine Architektur geschaffen die entsprechenden Gelegenheitsstrukturen bietet, um zum Beispiel Deutungshoheit beim Agenda-setting und Problem-Framing und Formulierung der Politikoptionen herzustellen sowie Anpassungsdruck auf Basis von Zwangs und/oder Anreizsystemen aufzubauen, die eine Änderung der Politik notwendig machen oder begünstigen. Tabelle 1: Wirkmechanismen im Europäischen Semester Strukturelle Wirkmechanismen Verfahrensbezogene Wirkmechanismen Horizontale Koordinierung Agenda-setting Vertikale Koordinierung Problem-framing Rollenverteilung zwischen Akteuren Zwang (negative Konditionalität) Kollektive Evidenz Anreiz (positive Konditionalität) Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Munta (2021); Zeitlin (2009); Copeland und ter Haar (2013); Weißhaupt (2014) Die Wirkmächtigkeit erzeugt sich aus dem Zusammenspiel dieser acht Faktoren. Je nach Zusammensetzung und in Anbetracht von Umwelteinflüssen, können diese zu Änderungen in der Politikgestaltung führen. 3.2.1 Strukturelle Wirkmechanismen Mit den „Six-Pack“ (2011) und Two-Pack (2013) Reformpaketen, kam es zu einer substantiellen Veränderung der institutionellen Architektur der wirtschaftspolitischen Steuerung, welche zu wesentlichen Verschiebungen hinsichtlich der Zuständigkeiten und Einflussmöglichkeiten zwischen den beteiligten Akteuren auf EU und nationaler Ebene führten (Saurugger & Terpan, 2016). Die Veränderungen betreffen: (1) die Integration der weichen Koordinierungsmodi in die Verfahrenslogik einer harten sanktionsbasierten Steuerung; (2) Übertragung wesentlicher Kompetenzen auf die EU- Ebene zur Herstellung eines Reformdrucks; (3) Institutionalisierung einer Machtasymmetrie zu Gunsten der Exekutive auf EU-Ebene und nationaler Ebene; und (4) Etablierung technokratischer Prozesse zur Objektivierung evidenzbasierter Entscheidungsgrundlagen. 3.2.1.1 Horizontale und vertikale Koordinierung Die Problemidentifizierung und Politikformulierung im Europäischen Semester werden zwischen der Kommission und dem Rat horizontal verhandelt. Die Umsetzung hingegen ist stark vertikal ausgerichtet und wird zwischen der supranationalen Ebene und den Regierungen auf nationalen Ebene koordiniert. Auf beiden Ebenen haben sich die Gelegenheitsstrukturen zu Gunsten der Kommission verschoben. Dies ist auf die Integration weicher Koordinierungsmodi in die Verfahrenslogik einer sanktionsbasierten harten Steuerung auf Basis der im Stabilitäts- und Wachstumspakt verankerten Fiskalregeln und den festgelegten makroökonomischen Schwellenwerten zurückzuführen. Somit wurde es der Kommission ermöglicht, LsE auf Grundlage dieser Regeln und Schwellenwerten zu legitimieren sowie unter Androhung von Zwang auch entgegen innenpolitischen Widerstand deren Umsetzung zu erzwingen (Featherstone, 2014, 297; Chang & Monar, 2013; Ferrera, 2017). Bei der Erstellung dieser LsE kann die Kommission auf weitreichende Kompetenzen zurückgreifen und muss nicht auf nationale Prioritäten oder das Ergebnis zwischenstaatlicher Verhandlungen im Rat Rücksicht nehmen, wie dies vor der Einführung des Europäischen Semesters der Fall war (Hartlapp, 10
2009, 6; Copeland und ter Haar, 2013, 32). Auch wenn diese LsE durch den Rat bestätigt werden müssen, können diese nur mit einer doppelten Mehrheit abgelehnt werden, was nur bei ca. 9-11 LsE pro Jahr der Fall ist (Vanhercke et al., 2015, 16). Die Entscheidung im Rat wird von dem beratenden Beschäftigungsausschuss (EMCO) vorbereitet, welcher in engem Austausch mit der Kommission steht und großteils die Entscheidungen der Kommission mitträgt. Die vertikale Ausrichtung des Europäischen Semesters hat dazu geführt, dass die exekutiven Kräfte, repräsentiert durch die Europäische Kommission, den Ministerrat und den nationalen Regierungen, in der politischen Auseinandersetzung mit den Parlamenten und zivilgesellschaftlichen Akteuren bevorzugt an Entscheidungsmacht gewonnen haben, da sich die Informations- und Deutungshoheit, das Agenda-Setting und die Vollstreckungsgewalt peu á peu von der Legislative zur Exekutive verlagert hat (Kreilinger, 2018; Hallerberg et al., 2018; Vanheuverzwijn und Crespy, 2018). Jordan et al. (2020, 3) charakterisieren diese vertikale Koordinierung als interventionistische Steuerung entlang nationaler und nicht transnationaler Arbeitsbeziehungen. Mitgliedstaaten werden bewusst zueinander in Wettbewerb gesetzt und anhand vorgegebener Indikatoren und möglichen Strafverfahren diszipliniert. Diese Logik spiegelt die Asymmetrie zwischen den Ländern mit einer ordoliberalen Wirtschaftspolitik (z.B.: Deutschland, Niederlande) und den Ländern einer traditionell nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik (Frankreich, Italien, Spanien). Diese zwei Gruppen stehen sich auch als Gläubiger- und Schuldnerstaaten gegenüber. Das Momentum der Finanzkrise 2008/09 eröffnete den Gläubigerstaaten die Möglichkeit, weitgehend die Regeln einer neuen wirtschaftspolitischen Governance zu diktieren (Gräbner et al., 2018). Entlang dieser Linien, ist auch die Wirkmächtigkeit des Europäischen Semester zu ziehen, die sich asymmetrisch über diese Mitgliedstaaten erstreckt. Vor allem die Kommission hat maßgeblich an Einfluss gewonnen, da ihr eine zentrale Rolle bei der Überwachung und Bewertung der makroökonomischen Situation eines Mitgliedsstaates zukommt sowie auf Basis dieser Erkenntnisse Reformen einfordern und bei übermäßigen Ungleichgewichten sogar erzwingen kann (Alcidi und Gros, 2017; Bauer und Becker, 2014; Hodson, 2017; Degryse et al., 2013; de la Porte und Heins, 2014; Goetschy, 2014; Dehousse, 2016; Martínez-Yáñez, 2016). In der Literatur wird der Kompetenzgewinn der Kommission als Versuch der exportorientierten Mitgliedstaaten angesehen, um diese zu ermächtigen, Druck auf binnenmarktorientierte Mitgliedstaaten auszuüben und Reformen, die im Einklang mit den Zielen einer angebotsökonomischen und ordoliberalen Wirtschaftspolitik stehen, zu unterwerfen (Erne, 2018, S. 237; Laffan & Schlosser, 2016; Scharpf, 2014; Barcevičius et al., 2014, S. 34-35; Copeland & Daly, 2015; Crespy & Menz, 2015; de la Porte und Heins, 2014, Ryner, 2015). 3.2.1.2 Rekonfiguration von Akteurskonstellationen Das Europäische Semesterverfahren verschiebt die formale und informelle Verhandlungsmacht zu Gunsten der Exekutive auf supranationaler Ebene (Kommission) und nationaler Ebene (Regierung). Diese Asymmetrie spiegelt sich, zum einen, in der Auseinandersetzung zwischen den Akteuren der Kommission und des Rates auf EU-Ebene und mit den nationalen Gesetzgebern, sowie, zum anderen, von Akteuren innerhalb dieser Institutionen. Machtasymmetrien innerhalb der Institutionen ergeben sich in erster Linie aus den verfahrensbezogenen Zuständigen dieser Akteure sowie aus deren Portfolios. Auf EU-Ebene haben in der Kommission die Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen (GD ECFIN) sowie dem Generalsekretariat (SECGEN), der beratende Ausschuss für Wirtschaftspolitik (ECFIN) und der Rat für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) relativ an Einfluss gegenüber der Generaldirektion für Beschäftigung 11
(GD EMPL), Beschäftigungs- und Sozialausschuss im Rat (EMCO/SPC) und dem Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz (EPSCO) gewonnen (Degryse et al., 2013, 31). Diese anfängliche Machtverschiebung zu Gunsten der fiskalpolitischen Akteure resultierte aus der starken Fokussierung auf die Wiederherstellung einer Haushaltskonsolidierung in den Mitgliedstaaten nach der Finanzkrise 2008, dem in der ersten Phase alle anderen politischen Ziele untergeordnet waren (Maricut & Puetter, 2018; Schön-Quinlivan & Scipioni, 2017; Bauer und Becker, 2014; Dehousse, 2016; Laffan und Schlosser, 2016; Copeland und Daly, 2015, 2018). Dazu wurde die traditionell weiche Koordinierung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in die Logik des harten fiskalpolitischen Überwachungsregimes eingegliedert (Bekker, 2017, 255; de la Porte und Heins, 2014; de la Porte, 2017). Dies drückt sich durch klare Überwachungsindikatoren und korrigierende Druck- und Anreizsysteme aus. Darüber steht das Übermäßige Ungleichgewichtsverfahren, welches einen zeitlichen Rahmen festsetzt, innerhalb dessen die betroffenen Mitgliedstaaten vereinbarte Reformen umsetzen müssen. Bei mangelnder Umsetzung können finanzielle Strafen über den Mitgliedstaat ausgesprochen werden. Bauer und Becker (2014, 223) sehen darin eine nicht legitimierte „Selbstermächtigung“ der Kommission. Borrás und Radaelli (2014) betonen, dass durch die verstärkten Zwangsmechanismen die vormals etablierte Logik der OMK des Policy-lernens in der Semesterarchitektur kaum noch effektiv angewandt wurde. Erst mit den Jahren der wirtschaftlichen Erholung konnte sich die GD EMPL stärker in der Auseinandersetzung innerhalb der Kommission mit der GD ECFIN und gegenüber dem EPSCO-Rat behaupten. Die GD EMPL profitiert dabei vor allem aus ihren Erfahrungen und der gewonnenen Expertise bei der Koordinierung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unter der Lissabon Strategie und dem Europa-2020-Prozess. Eine große Stärke bezieht sich vor allem auf die Fähigkeit Konsens innerhalb des Rates herzustellen und Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einzufordern. Eine wichtige Ressource stellen die vielfältigen Konsultationen der GD EMPL mit nationalen Verwaltungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren dar. Dies ermöglicht es der GD EMPL länder- und fachspezifische Expertise einzuholen, die es ihr ermöglicht die priorisierten LsE gegenüber der GD ECFIN und SECGEN sowie dem Rat durchzusetzen. Die Aufwertung der GD EMPL spiegelt sich darin, dass diese nun für 50 Prozent der LsE verantwortlich sind und ein eigenes Sozial- und Beschäftigungskapitel in den Länderbericht ab 2015 eingegliedert wurde (Vanhercke et al., 2015; Copeland und Daly, 2018). Diese Veränderungen laufen nicht auf eine eindeutige Abkehr von einer markt- und wachstumsorientierten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik hinaus. Sie sind vielmehr Ausdruck einer schrittweisen und bewussten Neuorientierung und Anpassung an die wirtschaftspolitische Steuerung im Rahmen des Europäischen Semesters. Das Generalsekretariat SECGEN übernimmt die politische Steuerung und hat das letzte Wort innerhalb der Kommission. Die Dominanz der SECGEN hingegen als Letztentscheidungsinstanz in der Kommission bleibt bestehen und wurde mit der Eingliederung der Task Force Aufbau und Resilienz (Recover) 2020 nochmals gestärkt (Coman und Ponjaert, 2016, 48; Interview DG EMPL#1). In der Auseinandersetzung mit dem Rat hat sich der beratende Ausschuss EMCO als wichtige Ressource für die GD EMPL herausgestellt, da dieser die Schlussfolgerungen zum Jahreswachstumsbericht (einschließlich dem Gemeinsamen Beschäftigungsbericht) und zu den LsE im Beschäftigungsbereich im EPSCO vorbereitet. EMCO verfügt über entscheidende Konsensfähigkeit und bezieht seine Stärke aus der engen und regelmäßigen Zusammenarbeit zwischen hochrangigen Experten aus den Ministerien der Mitgliedstaaten und der GD EMPL (Interview GD EMPL #1 und SECGEN #6). Sie wird von zwei Untergruppen unterstützt: der Gruppe für politische Analyse und einer Gruppe zur Beratung über die Verwendung von Indikatoren zur Überwachung der Umsetzung der Beschäftigungsstrategie der EU. Auch wenn die Kommission mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet ist, um LsE im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf Schiene zu bringen, ist sie hinsichtlich deren Umsetzung großteils 12
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