Zentrum für Medizinische Ethik - MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN DIE NEUERE STANDESETHISCHE UND MEDIZINRECHTLICHE - Ruhr-Uni-Bochum

Die Seite wird erstellt Sarah Schrader
 
WEITER LESEN
Zentrum für Medizinische Ethik

          MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN

                          Heft 154

   DIE NEUERE STANDESETHISCHE UND MEDIZINRECHTLICHE
ENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND – WANDEL DES MENSCHENBILDES?

                       Ulrich Lohmann

                    3. Auflage Januar 2007
Ulrich Lohmann, Dr. iur. et phil., MPH, Professor für Sozialverwaltung an der Alice
Salomon-Fachhochschule Berlin, Mitglied der Ethik-Kommission der Charité -
Universitätsmedizin Berlin - Campus Benjamin Franklin.

Herausgeber:
Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann
Prof. Dr. med. Michael Zenz

Zentrum für Medizinische Ethik Bochum
Ruhr-Universität
Gebäude GA 3/53
44780 Bochum

TEL (0234) 32-22749/50
FAX +49 234 3214-598

Email: Med.Ethics@ruhr-uni-bochum.de
Internet: http://www.medizinethik-bochum.de

Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des
ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren
verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor.

© Ulrich Lohmann
1. Auflage Mai 2004; 3. Auflage Januar 2007

Schutzgebühr:         € 6,00
Bankverbindung:       Sparkasse Bochum
                      Kto.Nr. 133 189 035
                      BLZ: 430 500 01

ISBN: 3-931993-33-7
DIE NEUERE STANDESETHISCHE UND MEDIZINRECHTLICHE
    ENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND – WANDEL DES MENSCHENBILDES?
                                        Ulrich Lohmann, Berlin

DIE       KLASSISCHE               STANDESETHIK,                DAS        RECHT           UND          DIE
'KOPERNIKANISCHE' WENDE 1988
        Seit sich die europäische Medizin von der holistischen religiösen bzw.
philosophischen Betrachtungsweise 1 emanzipiert hat 2 , bedurfte sie einer eigenständigen
normativen Fundierung, denn nicht alles praktisch-technisch Machbare war und ist auch
zugleich ein Erwünschtes und Gesolltes. Diese (nicht ‚wenn/dann‘-, sondern) ‚ob‘-Regeln
ergehen sich in den Formen einer von ärztlicher Autorität formulierten Standesethik und/oder
staatlich gesetzten Rechtsvorschriften einschließlich deren verbindlicher Interpretationen
durch die Gerichte. Nach dem überkommenen „Eid des Hippokrates“ 3 und der 1948
verfassten „Deklaration von Genf“ 4 schreibt nunmehr die Bundesärztekammer 5 die
Standesregeln in der (Muster-)„Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte“ 6 sowie
in nachgeordneten Richtlinien und Empfehlungen fort.
        In Fortsetzung der hippokratischen Tradition hieß es lange Jahre in dem der
Berufsordnung als Präambel vorangestellten und für jeden Arzt geltenden Gelöbnis: „die
Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines
Handelns sein“(a.a.O.). Auch nach § 1 der Berufsordnung dient der Arzt der individuellen und
kollektiven Gesundheit und seine Aufgabe besteht darin, „das Leben zu erhalten, die
Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen ...“(a.a.O.). Das kann als deutsche Version
der lateinischen Kurzfassung des hippokratischen Eides „salus aegroti suprema lex [das Wohl
des Patienten ist oberstes Gebot]“ gelesen und verstanden werden, wobei dieses ‚Wohl‘
klassischerweise im medizinisch definierten Leben und der entsprechenden Gesundheit
gesehen wird. Hiernach wird der Mensch vorrangig in seiner physischen Existenz

1
  Vgl. U. Lohmann: Gesellschaftliche Grundwerte und Rechtsnormen in der Medizin. Berliner Medizinethische
Schriften 6. Dortmund 1996, S. 3 ff.
2
  Das geschah in Europa zuerst durch Hippokrates aus Kos (460 - 377). Vgl. H. Schipperges: Antike und
Mittelalter. in: Ders. et al. (Hrsg.): Krankheit, Heilkunst, Heilung. Freiburg/München 1978, S. 229 ff.
3
  S. Text und Darstellung bei Ch. Lichtenthaeler: Der Eid des Hippokrates. Ursprung und Bedeutung. Köln 1984.
4
  Abgedr. bei H. Siefert: Ärztliche Gelöbnisse. In: A. Eser et al. (Hrsg.): Lexikon Medizin, Ethik, Recht.
Freiburg 1989 Sp. 113 ff.
5
  Die Bundesärztekammer selbst hat keine normative Kompetenz; sie ist eine zivilrechtliche Vereinigung der
öffentlich-rechtlichen Landes-Ärztekammern.
6
  Bekanntmachung i. d. F. der Beschlüsse des 100. Deutschen Ärztetages in Eisenach. Deutsches Ärzteblatt
1997, S. B-1920 ff.
                                                     1
wahrgenommen. Andere Dimensionen des Menschseins wurden damit zwar nicht in Abrede
gestellt, aber wenn in Konfliktfällen Prioritäten zu setzen waren, hieß ‚Leben retten‘, die
körperlich-biologischen Funktionen aufrecht zu erhalten. 7
        Demgegenüber hatte die bürgerliche Philosophie und nachfolgend die Rechtsprechung
um die vorvorige Jahrhundertwende die geistig-sittliche Existenz des Menschen als
spezifischen und ausschlaggebenden Aspekt seines Seins herausgearbeitet und auch in
kritischen Entscheidungssituationen als obersten Maßstab etabliert. Entscheidungsfreiheit,
Autonomie und Selbstverantwortlichkeit, zusammen gedacht in der Kantianischen
Subjekthaftigkeit oder moderner mit dem Grundgesetz als ‚Würde‘ bezeichnet 8 , wurden zum
höchsten Wert der Sozial- und Rechtsordnung.
        Das fand Eingang in die standesethische Diskussion, ob statt ‘salus ...‘ nunmehr
‚voluntas aegroti [der Wille des Kranken]‘ oberstes Gebot sein sollte, auch wenn sich die
Entscheidung des Patienten nicht mit dem aus ärztlicher Sicht Angezeigten deckte.
Angesichts der Pluralisierung der Lebensstile und –ziele, nicht zuletzt auch in den eigenen
Reihen, wurde die Überzeugungskraft eines objektiven Wohls auch in der verfassten
Ärzteschaft     zunehmend       brüchig.    Im    Nachvollzug      der    ständigen     und    gefestigten
Rechtsprechung beschloss daher der 91. Deutsche Ärztetag 1988 einen Zusatzparagraphen 1a
zur (Muster-)Berufsordnung, wonach „der Arzt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu
achten (hat)“ 9 . Damit wurde die alte Position der hippokratischen Ethik in Form des
patriarchalischen Paternalismus bzw. benevolenten Patriarchalismus aufgegeben und der
Mensch nicht länger als primär körperliches, sondern nunmehr als geistig-sittliches Wesen
wahr-, auf- und angenommen. In der 1997 überarbeiteten (Muster-)Berufsordnung hat der
Wechsel von salus zu voluntas aegroti, vom Wohl zum Willen des Patienten, der in seinen
Auswirkungen für das System mit der Ersetzung des geo- durch das heliozentrische Weltbild
durch Kopernikus vergleichbar ist, unter Einbeziehung aller einschlägigen Begriffe in der sehr
ausführlichen Form Eingang gefunden: „Jede medizinische Behandlung hat unter Wahrung
der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte des
Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen“ 10 .

7
  Vgl. die klassische Problemstellung durch die Zeugen Jehovas bei W. Weißauer/G. Hirsch: Verweigerung der
Bluttransfusion aus religiösen Motiven. Anästhesiologie und Intensivmedizin 1979, S. 273.
8
  Vgl. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23.05.1949. BGBl. I S. 1.
9
  Deutsches Ärzteblatt 1988, S. B-1089.
10
   § 7 (Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln) Abs. 1 A. a. O.
                                                     2
ÄNDERUNGEN IN TEILBEREICHEN
Aufklärung und Einwilligung
        Das Selbstbestimmungsrecht wird durch Einwilligung nach Aufklärung (informed
consent) verwirklicht. In diesem Themenbereich hat die Bundesärztekammer 1990
Empfehlungen beschlossen 11 , die gegenüber der hippokratischen Tradition zwar einen
Fortschritt darstellen, hinter dem selbstpostulierten Autonomie-Prinzip sowie den juristischen
Anforderungen aber zurückbleiben. Bei Hippokrates war die Aufklärung ganz in den Dienst
des therapeutischen Zieles gestellt und durch dieses limitiert. Jegliche Information, die
geeignet war, beim Kranken Widerstand gegen die ärztliche Behandlungsstrategie
hervorzurufen, konnte und sollte unterbleiben, genannt ‚barmherzige Lüge‘.
        Als Ziel der Aufklärung wird in dieser Tradition immer noch benannt, dass der Patient
„eine auch aus ärztlicher Sicht vernünftige Entscheidung“ (Ziff. 4.) trifft, wenn auch nunmehr
akzeptiert wird, dass der Arzt an eine Ablehnung, „auch wenn dies aus ärztlicher Sicht
unvernünftig oder sogar unvertretbar ist ... grundsätzlich gebunden (ist)“ (a.a.O.). Auch beim
Inhalt und Umfang der Aufklärung muss der Arzt nach den Empfehlungen „das körperliche
und seelische Befinden seines Patienten bei der Erteilung seiner Auskünfte berücksichtigen“
(Ziff. 6.). Das hatte die Rechtsprechung früher dann und nur dann für gerechtfertigt gehalten,
wenn „die mit der Aufklärung verbundene Eröffnung der Natur des Leidens zu einer
ernsthaften und nicht behebbaren Gesundheitsschädigung des Patienten führen würde“ 12 .
Nach einem Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz der Bundesländer von 1999 hat der
Arzt über seine Informationspflicht hinaus auf Fragen des Patienten „wahrheitsgemäß,
vollständig und verständlich zu antworten“ 13 , was in einem Nachfolgepapier nun auch von
der Bundesärztekammer mit unterschrieben ist.
        Auch für einen anderen kontrovers diskutierten Bereich, den Grad der Verbindlichkeit
von Patientenverfügungen für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit wegen Bewusstlosigkeit,
hatte sich die Bundesärztekammer 1990 nur zu einem halben Schritt auf dem Weg zur
Akzeptanz der Patientenautonomie durchringen können: schriftlich vom Patienten
abgegebene Erklärungen wurden (nur) als „Indiz für seinen mutmaßlichen Willen“ (Ziff. 11.)
eingestuft, neben dem andere, z.B. klassische vitalistische Erwägungen Platz finden konnten.

11
   Vgl. „Empfehlungen zur Patientenaufklärung“. Deutsches Ärzteblatt 1990, S. B-940.
12
   Vgl. Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen. Bd. 19, S. 176 ff. (Hervorhebung von mir,
U. L.)
13
   So gleichlautend in: Patientenrechte in Deutschland heute. Bremen 1999, S. 10; Patientenrechte in
Deutschland. Leitfaden für Patienten und Ärzte. Berlin 2003, S. 12.
                                                      3
In diesem Punkt hat die verfasste Ärzteschaft ihre Position seit 1999 grundlegend geändert.
„Das heute allgemein anerkannte Recht auf Selbstbestimmung“ 14 sowie die Akzeptanz von
Patientenverfügungen als einem wichtigen Instrument zur Wahrung derselben führten zu einer
Aufwertung      der    vorsorglichen      Willensbekundungen          „als   wesentliche      Hilfe      für
Entscheidungen des Arztes“ (a.a.O.).
        Nunmehr       heißt   es    hinsichtlich    ihrer   Verbindlichkeit,      dass    „der   in      der
Patientenverfügung geäußerte Wille des Patienten (grundsätzlich gilt), es sei denn, es liegen
konkrete Anhaltspunkte vor, die auf eine Veränderung seines Willens schließen lassen“ 15 . Mit
dieser Umkehr der Beweislast für eine Wandlung des zu berücksichtigenden mutmaßlichen
Willens wird im Zweifelsfalle – und das Leben ist voll von ihnen – zugunsten der geäußerten
Kultur statt einer vermuteten Natur des Menschen optiert. Zumindest wird damit auch von
medizinischer Seite die Debatte beendet, ob sich der Arzt, standesethisch gerechtfertigt, bei
Bewusstlosigkeit oder Dauerkoma des Patienten an solche voraussehbar lebensverkürzenden
Bitten und Anweisungen über Behandlungseinschränkungen oder -verzichte z.B. in Bezug auf
künstliche Beatmung oder Ernährung halten darf, wenn es denn nach wie vor in Deutschland
keine gesetzliche Pflicht zur Befolgung gibt. 16

Fertilisationsmedizin
        Die – je nach Ausblendung oder Hervorhebung des artifiziellen Anteils – medizinisch
assistierte Befruchtung, Fortpflanzungs-, Fertilisations- oder Reproduktionsmedizin genannte
‚Medizin am Beginn des Lebens‘ nimmt seit der erstmals 1978 gelungenen In-vitro-
fertilisation mit nachfolgendem Embryotransfer in die Gebärmutter (ivf/et) eine stürmische
Entwicklung. Neben dem eigentlichen und ursprünglich therapeutisch allein ausgewiesenen
Zweck der Herbeiführung einer Schwangerschaft nach ungewollter und mit anderen Mitteln
nicht behebbarer Sterilität 17 können mittels bzw. anlässlich der extrakorporalen Befruchtung
infolge der Inspektions- und Manipulationsmöglichkeiten in vitro andere therapeutische,
gestalterische oder Forschungsziele in‘s Auge gefasst werden wie

14
   Patientenverfügungen. Handreichungen für Ärzte. Deutsches Ärzteblatt 1999, S. B-2177.
15
   Handreichungen für Ärzte zum Umgang mit Patientenverfügungen. Deutsches Ärzteblatt 1999, S. B-2195
(2196).
16
   Auch die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ kommt noch nicht zu einer
eindeutigen Empfehlung; Vgl. Schlussbericht E (Desiderate) 1.3.2.3 (Patientenverfügungen). Bundestags-
Drucksache 14/9020.
17
   Vgl. Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und Embryotransfer (ET) als
Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität. Deutsches Ärzteblatt 1985, S. 1691.
                                                    4
1. Aufspaltung der Mutterschaft (genetisch vs. Schwangerschaft/Geburt)
2. Keimbahntherapie
3. Klonen
4. Geschlechtswahl des zu schaffenden Kindes
5. Verwendung von ‚verwaisten‘ bzw. Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken
einschließlich später der Erzeugung von embryonalen Stammzellen sowie
6. gleichfalls später die Präimplantationsdiagnostik (PID).
        Dieser     Erweiterung      medizinischer       Handlungsfelder         um   mehr     oder    minder
erstrebenswerte Eingriffsmöglichkeiten stehen jedoch teils unterschiedliche Werte und
Prinzipien entgegen, über deren Abwägung und Präferierung im Fortgang der Diskussion sich
im Einzelnen Folgendes ergab:
        Die gespaltene Mutterschaft sowohl in der Form der Eizellspende vs. Schwangerschaft
und sozialer Mutter als auch genetischer und sozialer Mutter vs. fremder Schwangerschaft
wurde und wird von allen Seiten aus Gründen möglicher Störungen der Selbstfindung und
Identität des Kindes abgelehnt. Ein Kind ist nicht in erster Linie ein Wesen, über dessen
körperliches Dasein man sich freut, sondern ein Mensch mit Geist und Seele, der zu sich
selbst kommen soll.
        Die Keimbahntherapie und das Klonen sind gänzlich, die Geschlechtsbestimmung
prinzipiell    verboten. 18    Letztere     darf    ausnahmsweise         zur    Ausschaltung        schwerer
geschlechtsgebundener Erbkrankheiten (z.B. Muskeldystrophie vom Typ Duchenne)
praktiziert werden. Bei diesen drei möglichen Weiterungen der ivf/et geht es darum, ob der
Mensch – ganz basal formuliert – ein Gewordener oder ein Gemachter ist. Die Gewordenheit
der Menschen ist die Basis für ihre Würde in Freiheit und Gleichheit 19 , bei einem
menschlichen Schöpfer wäre Produkthaftigkeit, Untergebenheit und minderer Status die
tendenzielle Folge. 20
        Einen Wandel der Anschauungen gab es hinsichtlich der Frage der Verwendung
überzähliger bzw. der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken. Während die
Bundesärztekammer 1985 (nur) ein grundsätzliches Verbot der Erzeugung aussprach sowie
die Forschungsverwendung überzähliger Embryonen für ethisch vertretbar hielt 21 , sah der

18
   Vgl. §§ 5, 6 und 3 des Gesetzes zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz). BGBl. I, S. 2746.
19
   Das ist die Trias der Wertordnung des Grundgesetzes; vgl. Art. 1, 2 und 3 GG.
20
   Vgl. die literarische Fassung einer solchen Zukunftsvision bei Aldous Huxley: Brave new world. Zuerst 1932.
21
   Vgl. die Richtlinien zur Forschung und frühen menschlichen Embryonen, Ziff. 3.2 sowie den „Kommentar“
dazu. Deutsches Ärzteblatt 1985, S. 3757 (3758, 3760 f.).
                                                      5
einschlägige Diskussionsentwurf des Bundesjustizministeriums 1986 ein absolutes Verbot der
Erzeugung und ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt der Verwendung vor 22 , bis dann im
Fortgang der restriktiver werdenden Diskussion das Embryonenschutzgesetz 1990 beide ohne
Wenn und Aber untersagte und unter Strafe stellte. 23
        Als dahinterstehende Frage kann skizziert werden, ob der Mensch eher als Teil der
biologischen Welt ausnahmsweise auch Mittel zum Zweck und damit Objekt sein darf und
entsprechend einer utilitaristischen Ethik für das ‚größte Glück der größten Zahl‘ einige
Individuen geopfert werden dürfen, oder ob der Mensch nach der Kantianischen Philosophie
ausnahmslos in seiner Subjekthaftigkeit sowie in seinem Selbstzweck und als Eigenwert zu
respektieren ist.
        Aufgrund weltweiter neuerer medizinischer Entwicklungen flammte die Diskussion
einige Jahre später noch einmal auf. Forschungen an embryonalen Stammzellen sowie die
Präimplantationsdiagnostik waren die Streitpunkte, bei denen es wieder einen erwarteten
medizinischen Fortschritt gegen die Unverfügbarkeit jeglichen menschlichen Lebens
abzuwägen galt. Diesmal war auch die Ärzteschaft von sich aus zurückhaltender. Der 104.
Deutsche Ärztetag „erteilt(e) der Herstellung, dem Import und der Verwendung von
embryonalen Stammzellen eine klare Absage. Einschränkend wurde allerdings das Wort
‚derzeit‘ angefügt“ 24 . Bei der PID konnte sich der Ärztetag bei der ersten Befassung mit der
Problematik auf keine eindeutige Position einigen und überließ dem Gesetzgeber die
Initiative; ein Jahr später setzte sich der Vorstand der Bundesärztekammer für ein Verbot der
PID ein. 25
        Aufgrund der Vorarbeiten der Enquetekommission ‚Recht und Ethik der modernen
Medizin‘ votierte der Deutsche Bundestag unter den drei Entschließungsanträgen mit den
programmatischen Titeln
-    „Schutz der Menschenwürde angesichts der biomedizinischen Möglichkeiten – kein
     Import embryonaler Stammzellen“ 26 ,
-    „Keine verbrauchende Embryonenforschung: Import humaner embryonaler Stammzellen
     grundsätzlich verbieten und nur unter engen Voraussetzungen zulassen“ 27 bzw.

22
   Vgl. § 2 (Missbräuchliche Anwendung der extrakorporalen Befruchtung) des Diskussionsentwurfs eines
Embryonenschutzgesetzes. Bundesjustizministerium 1986.
23
   Vgl. § 51 (Missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken) Abs. 1 Ziff. 2. und 2 (Missbräuchliche
Verwendung menschlicher Embryonen) des Embryonenschutzgesetzes v. 13.12.1990.
24
   G. Klinkhammer: Die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens. Deutsches Ärzteblatt 2001, S. B-1224.
25
   Vgl. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer. Deutsches Ärzteblatt 2002, S. B-1399.
26
   Bundestags-Drucksache 14/8101 v. 29.01.2002.
                                                     6
-    „Verantwortungsbewusste Forschung an embryonalen Stammzellen für eine ethisch
     hochwertige Medizin“ 28
letztlich mehrheitlich für die mittlere Variante, nachdem die forschungsfreundliche Vorlage
bei der ersten Abstimmung mit der niedrigsten Stimmzahl ausgeschieden war. Das heißt als
Prinzip inhaltlich, dass auch für „die Heilungschancen für zukünftige Generationen“ 29 keine
Embryonen getötet werden sollen, die deutsche Forschung aber pragmatisch auf ausländische
bestehende Stammzelllinien zurückgreifen darf. 30
        Hinsichtlich der Präimplementationsdiagnostik hat die Enquetekommission dem
Gesetzgeber empfohlen, diese aus Gründen des Schutzes menschlicher Embryonen „in
Deutschland nicht zuzulassen und das bestehende Verbot der In-vitro-Fertilisation zu
diagnostischen Zwecken ausdrücklich im Hinblick auf die PID zu präzisieren“ 31 .
        Sowohl der Deutsche Bundestag als auch der Deutsche Ärztetag fordern ein
internationales Verbot des (reproduktiven wie therapeutischen) Klonens. 32

Schwangerschaftsabbruch
        Klassischerweise galt in Europa (nach der Christianisierung) ein Verbot der
Abtreibung 33 mit der alleinigen Ausnahme der medizinischen Indikation. Die Leibesfrucht
konnte bis zur Vollendung der Geburt abgetötet werden, wenn das Leben der werdenden
Mutter durch die Fortsetzung der Schwangerschaft ernsthaft auf dem Spiele stand. Das ergab
und ergibt sich aus der Heranziehung der Rechtsfigur des Übergesetzlichen Notstandes 34 ,
wonach die Strafandrohung zurückgenommen wird, wenn in einem ansonsten unauflöslichen
Konfliktfalle auf beiden Seiten das gleiche bzw. gleichwertige Rechtsgüter involviert sind und
man in einem echten Dilemma ein so großes Rechtsgut denknotwendig verletzen muss wie
hier das Leben, sei es das des Fötus' oder das der Mutter. Daraus folgt, dass (auch) bei
Schwangerschaftskonflikten die Frau in ihrer körperlichen Existenz gesehen wurde – nur

27
   Bundestags-Drucksache 14/8102 v. 29.01.2002.
28
   Bundestags-Drucksache 14/18103 v. 29.01.2002.
29
   So die Argumentation des forschungsfreundlichen Antrages 14/18103.
30
   Der Kompromiss bleibt moralisch problematisch, weil hehlen und stehlen gleich verwerflich sind.
31
   Bundestags-Drucksache 14/9020, S. 111.
32
   Vgl. Bundestags-Drucksache 15/463 v. 18.02.2003 „Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens
menschlicher Embryonen starten“ sowie „Konsequente Haltung gegen das Klonen von Menschen“. Deutsches
Ärzteblatt 2003, S. B-1272.
33
   Nach der Gründung des Deutschen Reiches ist dies die Geschichte des § 218 des Strafgesetzbuches (StGB) v.
15.05.1871 (RGBl. S. 127).
34
   Vgl. §§ 34 f. Strafgesetzbuch.
                                                      7
diese konnte in die Waagschale zur Rechtfertigung der Lebensbeendigung des Fötus'
geworfen werden.
         Nach einem vom Bundesverfassungsgericht verworfenen 35 Versuch der Einführung
der    Fristenlösung       (auch 36 )   in    Westdeutschland         schaffte      der   Gesetzgeber      eine
Indikationsregelung 37 , die die zugelassenen Rechtfertigungsgründe für eine Abtreibung auf
weitere Notlagen ausweitete. So konnte die Schwangerschaft wegen übergroßer psychischer
Belastung auch aus eugenischer/embryopathischer (bei Fehlbildungen des Fötus), aus
ethischer/kriminologischer (nach Vergewaltigung) oder aus sozialer Indikation abgebrochen
werden. Die Schwangere wurde damit neben ihrer körperlichen-biologischen auch in ihrer
psycho-sozialen Existenz wahrgenommen.
         Mit dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz ließ der Einigungsvertrag die
überkommene ost- und westdeutsche Regelung auf dem jeweiligen Gebiet erst einmal weiter
in Kraft und stellte dem neuen gesamtdeutschen Gesetzgeber die „Aufgabe ... eine Regelung
zu treffen, die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme
Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen“ 38 besser als in den beiden
vorhergehenden        Rechtsordnungen          gewährleisten       sollte.    Das     erste     Ergebnis    des
fraktionsübergreifenden Beratungs- und Entscheidungsprozesses im Deutschen Bundestag
war der Gesetzesbeschluss von 1992 39 , der vom Bundesverfassungsgericht ein Jahr später 40
prinzipiell mit einigen Modifikationsauflagen als mit dem Grundgesetz vereinbar akzeptiert
wurde.
         Nachdem       die    geforderten      Änderungen       von     der    gleichen       interfraktionellen
Parlamentsmehrheit 1995 vorgenommen wurden, gilt seitdem in ganz Deutschland ein neues
einheitliches Abtreibungsrecht auf der Grundlage des vom Bundesverfassungsgericht so
genannten „Beratungskonzepts“ 41 . Hinsichtlich der hier in Frage stehenden Elemente der zu
berücksichtigenden Rechtsgüter auf Seiten der Schwangeren führt das höchste deutsche
Gericht in seinen Leitsätzen (Ziff. 5) deren Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und das
ihr nach Art. 2 Abs. 1 GG zustehende Persönlichkeitsrecht an, dem gegenüber aber das
(potenzielle) Leben des Embryos einen eigenständigen Wert habe. Dementsprechend ist die

35
   Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Bd. 39 (1975), S. 1.
36
   Vgl. Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft v. 09.03.1972. GBl. DDR I, S. 89.
37
   Vgl. das 15. Strafrechtsänderungsgesetz v. 18.05.1976. BGBl. I, S. 1213.
38
   Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands. BGBl. II 1990, S. 885, Art. 31 Abs. 4.
39
   Vgl. Schwangeren- und Familienhilfegesetz v. 27.07.1992. BGBl. I, S. 1398.
40
   Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Bd. 88, S. 203.
41
   Vgl. Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz v. 21.08.1995. BGBl. I, S. 1050.
                                                       8
Notlagenberatung nach § 219 Strafgesetzbuch auf die Fortsetzung der Schwangerschaft
gerichtet; letztlich bestimmend ist jedoch die von der werdenden Mutter zu treffende
Entscheidung, die „verantwortlich und gewissenhaft“ (a.a.O.) sein soll.
        Ausgeschlossen hat das Bundesverfassungsgericht in einem solchen Konfliktfalle
jedoch die weitergehende Inanspruchnahme „einer grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 GG
geschützten Rechtsposition“ 42 ; das ist allgemein die Glaubens- und Gewissensfreiheit, hier
wohl als völlig ungebundene Autonomie zu konkretisieren (‚mein Bauch gehört mir‘). Eine
solche mit der vereinzelt geforderten ersatzlosen Streichung des § 218 Strafgesetzbuch
einhergehende Reduzierung der Menschen auf ihre geistig-sittliche Existenz erlaubt die
Rechtsordnung nicht.

Organtransplantation
        Der Austausch (statt des Versuchs der Heilung) funktionsunfähig gewordener Organe
ist ein qualitativ neuer und stark expandierender Zweig der Medizin. Transplantierte Organe
können bei geeigneten Patientengruppen Leben retten bzw. die Gesundheit von
Schwerkranken wiederherstellen. Wenn Menschen nur oder hauptsächlich als körperlich-
biologische Wesen aufgefasst werden, dann gebietet sich die völlige Freigabe der
Explantation bei Verstorbenen nach der Devise ‚Die Toten helfen den Lebenden‘, weil die im
Konflikt stehenden Werte: hier bestenfalls Pietät und Wahrung der Totenruhe gegenüber
andererseits einer Lebensrettung, eine Entscheidung leicht machen. Ein bisschen klingt diese
Logik in dem als Selbstverpflichtung der medizinischen Protagonisten von der
Arbeitsgemeinschaft            der        Transplantationszentren             1987         verabschiedeten
„Transplantationskodex“ 43 an, wenn es dort heißt, dass „eine Organentnahme ohne
Einwilligung unter den Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes in Betracht
kommen (kann), wenn hierin die einzige Möglichkeit zur Abwendung einer akuten
Lebensgefahr eines anderen Menschen besteht ...“ (Ziff. 2.).
        Die transplantationsfreundlichsten Regelungen im staatlichen Rechtsetzungsprozess
stellten die DDR-„Verordnung über die Durchführung der Organtransplantation“ 44 von 1975,
der     (nicht     Gesetz      gewordene)        Entwurf       der     Bundesregierung         zu     einem

42
   Leitsätze des Bundesverfassungsgerichtsurteils v. 28.05.1993, Ziff. 5.
43
   Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren in der Bundesrepublik Deutschland einschl. Berlin-West e.V.
Transplantationskodex v. 13.11.1987.Typoskript.
44
   V. 04.07.1975. GBl. DDR I, S. 59.
                                                      9
Transplantationsgesetz 45 von 1979 sowie das (vor Veröffentlichung im Gesetzblatt
widerrufene) Transplantationsgesetz für das Land Rheinland-Pfalz 46 von 1994 dar, denen als
Gemeinsamkeit die sogenannte Widerspruchslösung zugrunde lag, d.h., dass nicht explantiert
werden durfte, wenn ein entgegenstehender Wille des Verstorbenen bekannt war. Damit
wurde eine postmortale Selbstbestimmung, eine weiter andauernde Beachtung der geistig-
sittlichen Existenz auch nach dem Tode sichergestellt.
        Die nächste Stufe stellte ein im Bundesrat behandelter Gesetzentwurf von 1994 47 dar,
der die sogenannte Informationslösung präferierte. Wenn der Verstorbene sich zu Lebzeiten
nicht geäußert hat, sollten die Angehörigen über die beabsichtigte Organentnahme informiert
werden und konnten ihr mit bindender Wirkung widersprechen. Der Unterschied zu den
vorangegangenen Modellen war der, dass – wenn schon nicht der Verstorbene selber – dann
wenigstens seine Angehörigen von der Explantation mindestens Kenntnis haben mussten;
Menschen also nicht einfach als biologische Objekte, sondern – notfalls in Stellvertretung –
als geistige Wesen mit einem Bewusstsein respektiert wurden. Doch auch dieser Entwurf
wurde nicht Gesetz und je länger die Diskussion andauerte, desto restriktiver wurde die
öffentliche Meinung.
        Zuletzt standen sich im Bundestag eine Erweiterte und eine Enge Zustimmungslösung
gegenüber; gemeinsam ist ihnen, dass eine Person der Organgewinnung zustimmen, also als
sittliches Subjekt agieren muss, der Unterschied besteht darin, dass der Kreis der zur
Zustimmung Befugten bei der ersten Variante beim Fehlen eines explizierten Willens des
Verstorbenen auf die Angehörigen erweitert wird, während im anderen Falle nur der
Betroffene selbst zu Lebzeiten sein Einverständnis erklärt haben musste. Da nur ca. 12% der
Organexplantationen auf einer in einem Organspenderausweis 48 dokumentierten persönlichen
Zustimmung basieren, wäre die Transplantationsmedizin bei Gesetzwerdung dieser maximal
autonomiefreundlichen Regelung zum Erliegen gekommen. Wohl deswegen votierte der
Bundestag – nach sehr heftiger Debatte und ohne Fraktionsvorgaben – im Sinne einer
„tragfähigen Regelung für die Praxis der Organtransplantation“ 49 für die Zulassung der
Angehörigen als stellvertretende Entscheider, die sich dabei allerdings nicht an ihren eigenen

45
   Vgl. Bundestags-Drucksache 8/2681.
46
   V. 12.07.1994.
47
   Vgl. Bundesrats-Drucksache 682/94 v. 30.06.1994.
48
   Vgl. „Mehr Organspenden nötig“. Deutsches Ärzteblatt 2002, S. B-1402.
49
   Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“. Bundestags-Drucksache
14/9020, S. 201.
                                                  10
Wertmaßstäben, sondern an dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen zu orientieren haben
(vgl. § 4 Abs. 1). Verstärkt wurde im Gesetzgebungsverfahren auch die Anforderung an die
Form der Zustimmung: während im Gesetzesentwurf der Arzt noch mit den Angehörigen
vereinbaren konnte, dass ihre „Zustimmung als erteilt gilt, wenn der Angehörige innerhalb
einer vereinbarten Erklärungsfrist der Entnahme nicht widersprochen hat“ 50 , so bedarf es nach
der verabschiedeten Fassung einer ausdrücklichen Zustimmung des Angehörigen. Nunmehr
kann eine Frist für einen Widerruf vorgesehen werden, wohl um das explizite ‚Ja‘ zu
erleichtern; ein solches muss aber in Wahrnehmung einer sittlichen Verantwortung
gesprochen worden sein.
        Bei zwei eng mit der Transplantation verbundenen perspektivischen Forschungsfragen
stellte die Bundesärztekammer anthropologische Überlegungen an. So fragte ihre Zentrale
Ethikkommission hinsichtlich der „Übertragung von Nervenzellen in das Gehirn von
Menschen“ 51 zur Therapie der Parkinson- oder der Alzheimer-Erkrankung nach einer
möglichen „Wirkung auf die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen ... der Übertragung eines
fremden Selbst oder einer fremden Identität“ 52 . Gleichfalls geriet die „Identität des
Transplantationsempfängers, also die Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst“ 53 , bei
der   Stellungnahme       des    Wissenschaftlichen       Beirates    der    Bundesärztekammer         zur
Xenotransplantation in den problematisierenden Blick, da Identität des Menschen „nicht allein
durch seine Leiblichkeit bestimmt (wird), sondern wesentlich durch seine ... Selbstauffassung
und durch die Fremdwahrnehmung durch andere“(a.a.O.), mit anderen Worten: durch seine
geistige und normativ-soziale oder moralische Existenz. Bei der Diskussion der
Transplantationsmedizin kommen also nun nicht mehr allein die somatischen Krankheiten in
den Blick, sondern auch psychische und soziale Elemente.

Lebenserhalt / Sterbehilfe
        Seit Alters her hatten die Ärzte nach Standesethik wie staatlichem Recht jegliches
menschliche Leben zu erhalten und zu bewahren. In Grenzbereichen konnten sie jedoch
wenig genug tun, so dass diese Regel jahrhundertelang Missbrauch ärztlicher Kunst

50
   Vgl. Bundesministerium für Gesundheit: Entwurf eines Gesetzes über die Entnahme und Übertragung von
Organen v. 17.03.1995, § 4 Abs. 1.
51
   Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-1517.
52
   A. a. O., S. B-1518.
53
   Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur Xenotransplantation. Deutsches
Ärzteblatt 1999, S. B-1541 (1545).
                                                    11
verhinderte, positiv aber wenig Auswirkungen hatte. Das änderte sich mit den Fortschritten
insbesondere der Intensivmedizin; zunehmend konnte durch Aufrechterhaltung oder
Substitution der Vitalfunktionen nicht eigentlich das Leben verlängert, jedoch der Tod
hinausgeschoben werden. Vor diesem Hintergrund wurde 1979 – im Nachvollzug der
Richtlinien für die Sterbehilfe der (historisch unbelasteten) Schweizerischen Akademie der
Wissenschaften aus dem Jahre 1977 – der Arzt bei Sterbenden oder dem Tode Nahen mit
infauster Prognose und irreversiblem Krankheitsverlauf, die auch kein bewusstes und
umweltbezogenes Leben mit eigener Persönlichkeitsgestaltung mehr würden führen können,
von der Verpflichtung freigestellt, „alle der Lebensverlängerung dienenden therapeutischen
Möglichkeiten einzusetzen“ bzw. ihm ein Verzicht „auf weitere technisch eventuell noch
mögliche Maßnahmen“ 54 eingeräumt.
        Dieser passiven Sterbehilfe durch Abbruch oder Unterlassen lebenserhaltender
ärztlicher Eingriffe wie Medikation, Beatmung, Transfusionen oder künstliche Ernährung
folgte noch im gleichen Jahr der nächste Schritt der Akzeptanz der indirekten Sterbehilfe in
einer Resolution der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zur Behandlung Todkranker und
Sterbender: „Bei manchen zum Tode führenden Erkrankungen steht die notwendige
Leidensminderung so stark im Vordergrund, dass die Möglichkeit einer Lebensverkürzung als
Nebenwirkung in Kauf genommen werden darf“ 55 . Von den Juristen wurden diese Positionen
im Ergebnis, trotz größter dogmatischer Probleme, übernommen 56 , auch wenn der
„Alternativentwurf Sterbehilfe“ 57 , der diese Gedanken in das Strafgesetzbuch inkorporieren
wollte, nicht Gesetz geworden ist. Begründet wird die indirekte Sterbehilfe mit einer
ansonsten drohenden Beeinträchtigung der Würde des Menschen bzw. der Ermöglichung
eines „menschenwürdigen Todes“ 58 , also ethisch-personalen Werten.
        Nachdem sich die Bundesärztekammer das Votum der Chirurgischen Gesellschaft
1993 auch formell in ihren neuen „Richtlinien für die ärztliche Sterbebegleitung“ 59 zu eigen
gemacht hatte, eröffnete sie mit ihrem „Entwurf der Richtlinien zur ärztlichen
Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung“ 60 von 1997 eine neue Runde. Er

54
   Richtlinien für die Sterbehilfe. Deutsches Ärzteblatt 1979, S. 957.
55
   Veröffentlicht als: Beilage zu Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Heft 3/1979.
56
   Vgl. H. Schöck: Menschenwürdiges Sterben und Strafrecht. Zeitschrift für Rechtspolitik 1986, S. 236.
57
   Vgl. J. Baumann et al.: Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe. 1986, S. 11.
58
   Bundesärztekammer (Hrsg.): Weißbuch. Anfang und Ende menschlichen Lebens – medizinischer Fortschritt
und ärztliche Ethik. Köln 1988, S. 155.
59
   Deutsches Ärzteblatt 1993, S. B-1791.
60
   Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1064.
                                                   12
sah vor, dass bei Patienten mit infauster Prognose und raschem Fortschreiten des
Krankheitsprozesses, auch wenn sie sich noch nicht im Sterbeprozess befinden, über eine
Basishilfe hinausgehende Maßnahmen mit eher belastendem denn hilfreichem Charakter
unterbleiben könnten; bei Patienten mit chronisch-vegetativen Zuständen (apallisches
Syndrom, sogenanntes Wachkoma) sei ein Behandlungsabbruch nur dann – aber eben auch
dann, wäre sinngemäß hinzuzufügen – zulässig, wenn ein solcher dem erklärten oder
mutmaßlichen Patientenwillen entspreche. Nach heftigen Diskussionen fiel die verabschiedete
Fassung mit dem verkürzten Titel „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen
Sterbebegleitung“ 61 konservativer aus: hinsichtlich der ersten Gruppe wurde nun zur
Voraussetzung, dass „eine lebenserhaltende Behandlung nur Leiden verlängert“ (II.), das
geänderte     Behandlungsziel       wurde     mit    „palliativ-medizinischen      und     pflegerischen
Maßnahmen“ (a.a.O.) aufgewertet. Bei den Komatösen „kann der unwiderrufliche Ausfall
weiterer vitaler Organfunktionen die Entscheidung rechtfertigen, auf den Ersatz technischer
Hilfsmittel zu verzichten“ (III.).
        Die Rechtsprechung hat hinsichtlich der Apalliker die Gedanken des Entwurfs wieder
aufgegriffen. In Übereinstimmung mit dem früher dokumentierten oder sonstwie ermittelten
mutmaßlichen Willen eines Patienten, der bei einem natürlichen Verlauf seiner Krankheit
ohne künstliche ärztliche Hilfsmittel sterben würde, sind die lebensverlängernden
Maßnahmen einschließlich etwa der künstlichen Ernährung nach vormundschaftsgerichtlicher
formaler Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen einzustellen. 62 Nicht erst die Frage des
‚menschenwürdigen Sterbens‘, sondern schon die nach einem ‚menschenwürdigen Leben‘
bildet hier das Kriterium für die Erweiterung von der Hilfe beim Sterben hin zur Hilfe zum
Sterben. Die an der Entscheidung beteiligte Vorsitzende Richterin explizierte ihr
dahinterstehendes Menschenbild in einem Interview: „Zum Menschsein gehört mehr als die
Aufrechterhaltung der vegetativen Lebensfunktionen, mehr als der bloße Stoffwechsel. Geist
und Seele machen den Menschen aus“ 63 .
        Hinsichtlich der anderen Neuerung, der Relativierung allein kurativ ausgerichteter
Therapien zugunsten der Palliativ-Medizin sind die Mediziner selbst aktiv geworden. Der
106. Deutsche Ärztetag verabschiedete einen umfangreichen Forderungskatalog zur

61
   Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-2022.
62
   Vgl. den Beschluss des Bundesgerichtshofs v. 17.03.2003, Medizinrecht 2003, S. 512.
63
   „Ein Gespräch mit der Vorsitzenden Richterin am Bundesgerichtshof Meo-Micaela Hahne“. Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 18.07.2003.
                                                    13
„palliativ-medizinischen Versorgung in Deutschland“ 64 , wo zur Begründung ausgeführt wird:
Der Umgang mit Patienten ohne Heilungschancen bringt neben großen physischen auch
„psychische, soziale und seelische Belastungen für die Patienten selbst, aber auch für ... die
Pflegekräfte und Ärzte mit sich“ (Präambel). Nicht nur die Patienten, auch die Ärzte selber
werden hier, soweit ersichtlich das erste Mal, jenseits ihrer naturwissenschaftlich-rationalen
Berufsexistenz wahrgenommen.
        Nachdrücklich und auch ausnahmslos abgelehnt wird von der verfassten Ärzteschaft
die ärztliche Beihilfe zum (straffreien) Suizid. „Die Mitwirkung des Arztes bei der
Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos“ 65 heißt es apodiktisch; es gibt keine
Erwägungen darüber, dass der Arzt sachverständiger Partner des Patienten bei dessen Lebens-
oder eben auch Todesgestaltung sein könnte. Auch dort war die Rechtsprechung punktuell
autonomiefreundlicher. Das Oberlandesgericht München billigte die Bereitstellung eines
tödlichen Mittels für eine Patientin mit inkurabler Krebserkrankung einschließlich nicht
beherrschbarer      Schmerzen,        weil    sie    „auf     Grund       der   vorliegenden       extremen
Ausnahmesituation ... über ihr Leben verfügen“ 66 und den Arzt wirksam aus seiner
Garantenstellung entlassen konnte.
        Die aktive Sterbehilfe bzw. die Tötung auf Verlangen werden von der Standesethik
wie von der Rechtsordnung in gleicher Weise untersagt.

Todeskriterium
        Das Sterben des Menschen als einem komplexen System kann von verschiedenen
Organ(-grupp-)en, etwa vom Herz, der Lunge oder dem Gehirn ausgehen und hat dann in
früheren Zeiten schnell und unwiderruflich auch die jeweils anderen Bereiche in
Mitleidenschaft gezogen, zum Erlöschen aller Funktionen und damit zum vollständigen Tod
des ganzen Menschen geführt. Als Erkennungszeichen des Ablebens konnte und hatte man
daher markante sicht- und fühlbare körperlich-biologische Veränderungen, nämlich Atem-
und Kreislaufstillstand, gefolgt von Totenflecken und -starre herangezogen.
        Anfang der sechziger Jahre gelang es der Medizin, den Zusammenbruch der
energetischen      Versorgungsprozesse         vom      Ausfall     der    steuernden      und     regelnden

64
   Deutsches Ärzteblatt 2003, S. B-1262.
65
   Vgl. die „Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung. Präambel“ sowie „Palliativmedizinische Versorgung in
Deutschland. Palliativmedizin“. Deutsches Ärzteblatt 2003, S. B-1262.
66
   Vgl. den Beschluss des Oberlandesgerichts München im Fall Hackethal/Hermy E. Medizinrecht 1988, S. 150
sowie J. Hackethal: Humanes Sterben. Mitleidstötung als Patientenrecht und Arztpflicht. München 1988.
                                                     14
Hirnfunktionen durch künstliche Beatmung und dadurch aufrechterhaltenen Blutkreislauf
abzukoppeln. In den Kliniken kamen Unfallopfer an, die körperlich lebten, aber geistig tot
waren. Angesichts dieser neuen Problemkonstellation setzte sowohl in Deutschland wie auch
in den USA ein Umdenkungsprozess hinsichtlich der Definition des Todes ein 67 , der 1982 - in
Abkehr vom klinischen als einem Ganzköpertod - zur Festlegung auf den Hirntod als den Tod
des Menschen durch den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer führte.
        Nach drei Fortschreibungen 1986, 1991 und 1997 aufgrund differenzierterer und
verbesserter Diagnosemethoden ergingen die „Kriterien des Hirntodes“ 68 dann 1998 nach In-
Kraft-Treten des Transplantationsgesetzes als von diesem geforderte „Richtlinien zur
Feststellung des Hirntodes“ 69 . Der Präsident der Bundesärztekammer hat jedoch
„ausdrücklich darauf hingewiesen“ 70 , dass die Transplantationsmedizin nicht der Grund für
den Wechsel zum Hirntod-Konzept darstellte. Eine Erklärung der Zentralen Ethik-
Kommission bei der Bundesärztekammer zeigt jedoch, dass der Wandel notwendige
Voraussetzung für die neuartigen kurativen Eingriffsmöglichkeiten ist, weil „den Hirntod
nicht als Todeskriterium zu akzeptieren und gleichwohl Organentnahmen nach diesem
Zeitpunkt durchzuführen, grundlegend der Ethik ärztlichen Handelns (widerspricht)“ 71 . Im
Gegensatz zu anderen Ländern wird sogar die hilfsweise Rückkehr zum Herz- und
Kreislaufstillstand als Todeskriterium vehement ausgeschlossen und die „Nierenentnahme bei
diesen ‚Non heart-beating donors‘“ 72 als in Deutschland für rechtlich und ethisch unzulässig
angesehen.
        An dem Hirntod als dem Tod des Menschen wird trotz der Möglichkeit festgehalten,
dass bei bestehender Gravidität einer Frau (auf der Basis künstlicher Beatmung und
Ernährung) die Leibesfrucht weiter zu einem neuen Menschen heranwächst, weil nach der
konsequenten       Interpretation     „das    Fortbestehen      einer    Schwangerschaft        nicht    dem
eingetretenen Hirntod der Mutter (widerspricht)“ 73 ; oder auch trotz der Mitwirkung von

67
   Vgl. F. Linder et al.: Todeszeichen und Todeszeitbestimmung. Der Chirurg 1968, S. 196; H.K. Beecher et al.:
A definition of irreversible coma. Journal Am. Med. Ass. 1968, p. 337.
68
   Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes. Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1032.
69
   Dritte Fortschreibung 1997 mit Ergänzungen gemäß Transplantationsgesetz. Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-
1509.
70
   K. Vilmar: Vorwort. Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1032.
71
   Erklärung der „Zentralen Ethikkommission“ bei der Bundesärztekammer: „Tötung durch Organentnahme
widerspricht ärztlicher Ethik“. Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1584.
72
   Mitteilungen der Bundesärztekammer „Organentnahme nach Herzstillstand“. Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-
2511.
73
   Anmerkungen zu den „Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes“. Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-1511
(1512).
                                                     15
Anästhesisten bei der Organentnahme, weil dies nicht zur Schmerzverhütung nötig ist,
sondern „ausschließlich der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der zu entnehmenden Organe“74
durch Ruhigstellung der Muskulatur dient.
        Der Mensch als „leiblich-seelisches Lebewesen“ 75 , wie er jetzt aus philosophisch-
anthropologischer Perspektive wahrgenommen wird, wird nicht primär durch ‚Fleisch und
Blut‘, sondern durch sein Gehirn als – neben anderem – „die unersetzliche physische
Voraussetzung seines Gefühls- und Geisteslebens“ 76 konstituiert, lässt sich als die
zugrundeliegende Logik erschließen.
        Allerdings bleibt die Ärzteschaft mit ihrer Definition des Hirntodes als „Zustand der
irreversibel    erloschenen      Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des
Hirnstamms“ 77 bei einer mittleren Position. Dagegen „wurden Stimmen laut, die die
Gleichsetzung des personalen Todes mit dem irreversiblen Verlauf der Funktionen aller
Hirnteile inklusive des Stammhirns als zu strikt kritisieren [... und ...] das Kriterium eines
irreversiblen Funktionsausfalls des Großhirns für ausreichend (halten)“ 78 . Damit würde das
Menschsein noch enger mit Intellekt und Vernunft assoziiert und die körperlich-biologischen
Leistungen, die zum vegetativen Status führen und diesen aufrecht erhalten, in ihrer
Bedeutung als nicht relevant herabgestuft. Aber auch aus rein pragmatischen Gründen des
„Festhaltens an einer ‚Sicherheitszone‘“ 79 kann man und wird vielleicht die Ärzteschaft nach
den Erfahrungen der irreführenderweise ‚Euthanasie‘ genannten „Vernichtung unwerten
Lebens“ 80 im Dritten Reich das Kriterium des Ganzhirn-Todes bevorzugen.

MENSCHENBILDER UND MEDIZIN
        Der Blick auf einige Bereiche von Standesethik und Medizinrecht hat im Laufe der
Zeit eine Fülle von Veränderungen aufgezeigt. Das ist nicht verwunderlich, denn – wie auch
der Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer schreibt – „die Frage, was eine
gesellschaftsverträgliche Gesundheitsversorgung bzw. Gesundheitsforschung ausmacht, ist in

74
   Bekanntmachungen der Bundesärztekammer „Erklärung zum Hirntod“. Deutsches Ärzteblatt 2001, S. B-1203.
75
   D. Birnbacher et al.: Der vollständige und endgültige Ausfall der Hirntätigkeit als Todeszeichen des Menschen
– Anthropologischer Hintergrund. Deutsches Ärzteblatt 1993, S. B-2170 (2171).
76
   Der endgültige Ausfall der gesamten Hirnfunktion („Hirntod“) als sicheres Todeszeichen. Deutsches
Ärzteblatt 1993, S. B-2177 (2178).
77
   Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes. Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-1509.
78
   H.-M. Sass: Hirntod und Hirnleben. In: Ders. (Hrsg.): Medizin und Ethik. Stuttgart 1989, S. 161 (165).
79
   G. Wolfslast: Grenzen der Organgewinnung – Zur Frage der Änderung des Hirntodkriteriums. Medizinrecht
1989, S. 163 (168).
80
   Vgl. E. Klee: Euthanasie im NS-Staat. Die „Vernichtung unwerten Lebens“. 3. Aufl. Frankfurt/Main 1989.
                                                      16
hohem Maße kulturabhängig“ 81 oder – wie es in einem Beschluss des 103. Deutschen
Ärztetages heißt – „moderne Möglichkeiten medizinischer Forschung und Klinik (berühren)
immer mehr die Frage nach Menschenbild und Menschenwürde“ 82 . Für die Zukunft fordert
der Ärztetag, dass „ein streng an der Menschenwürde orientiertes Menschenbild führender
Leitgedanke sein (muss)“ (a.a.O.). Schon vorher hatte der 99. Deutsche Ärztetag im
Nachdenken über „Das Wertebild der Ärzteschaft 50 Jahre nach dem Nürnberger
Ärzteprozess“ 83 zu den „ethischen Grundnormen unseres Berufes ... Die Achtung vor der
Würde des Menschen. Die Achtung vor dem Lebensrecht des Menschen“ (a.a.O.) gezählt, und
zwar in dieser früher nicht vertretenden Reihenfolge.
        Es bleibt als andauernde Ausgangssituation, dass Menschen als komplexe Lebewesen
verschiedenen Seins-Dimensionen zugehörig sind, mindestens einer körperlich-biologischen
und einer geistig-sittlichen. Je nachdem, ob man nur eine für die Relevante hält oder beide,
und wenn letzteres, dann bei Konflikt-Konstellationen in welcher Reihenfolge, ergeben sich
normative Grundmodelle medizinischer Interventionsmuster (vgl. Anlage). Eine einseitige
körperfixierte Sichtweise, basierend auf einer betont naturwissenschaftlichen Auffassung der
Medizin, sieht im Patienten zuerst das leibliche Wesen. Bleibt man dabei stehen, sind als
Konsequenz die Rettung des Lebens und die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der
Gesundheit      absolute     Zielwerte.     Das    würde      für   die    Kommunikationsbeziehung
(Aufklärung/Einwilligung) deren völlige Instrumentalisierung zur Erreichung des somatisch-
medizinisch Indizierten bedeuten, hinsichtlich der Fertilisationsmedizin die Schaffung von
genetisch optimiertem Leben mittels der Eugenik, beim Schwangerschaftsabbruch höchstens
die Akzeptanz der medizinischen Indikation, in Bezug auf Organverpflanzungen die
unbeschränkte Verfügbarkeit von Organen Verstorbener sowie im terminalen Bereich einen
unbedingten Lebensschutz bzw. das (Ganz-)Körper-Todeskriterium.
        Die frühere mehrheitliche ärztliche Position war einen Schritt zugegangen auf die
Berücksichtigung der Würde und die Autonomie des Patienten und hat dessen Entscheidung
respektiert – außer in vital indizierten Fällen. Da die geistige an die körperliche Existenz
gekoppelt sei, könne sie nicht höher stehen und müsse im extremen Konflikt, wenn es eben
um Leben oder Tod gehe, zurücktreten. Die Auswirkung dieser Haltung im kommunikativen
Bereich war die prinzipielle Einhaltung des Gebots des informed consent bei ausnahmsweiser

81
   St. Winter/Ch. Fuchs: Von Menschenbild und Menschenwürde. Deutsches Ärzteblatt 2000, S. B-261.
82
   Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer. Ethische Fragen. Deutsches Ärzteblatt 2000, S. B-1182.
83
   Lehren der Vergangenheit. Verantwortung für die Zukunft. Deutsches Ärzteblatt 1996, S. B-1336.
                                                    17
Inanspruchnahme     eines    ‚therapeutischen        Privilegs‘   zur   Todesabwehr.   In   der
Fortpflanzungsmedizin musste eine Verwendung genetischen Materials ohne Wissen und
Zustimmung der Herkunftspersonen ausscheiden, beim Schwangerschaftsabbruch führte sie
zu einer weiten Indikationsregelung und bei der Organverpflanzung zur Beachtung eines
Explantationsverbots, d.h. zur Widerspruchs- oder Informationslösung. Auf dem Gebiet der
Sterbehilfe waren deren passive und indirekte Formen zur Ermöglichung eines
menschenwürdigen Todes bei Beachtung des Verbots der Schadenszufügung möglich.
Obwohl in der Geschichte so nicht diskutiert, würde an dieser Stelle das ‚Non heart-beating‘-
Todeskriterium gehören, weil der Versterbende nicht mehr reanimierbar ist, aber die
biologische Struktur der Organe noch erhalten (und damit eine Transplantation möglich) ist.
       Die sich nunmehr herausbildende Grundposition geht auch von einer Koppelung der
körperlichen und geistigen Existenzformen aus, kehrt deren Priorität aber zu Gunsten der
mental-sittlichen Ebene um. Daraus folgt, dass alle Maßnahmen zur somatischen Erhaltung
und Verbesserung zu unterlassen sind, bei denen die individuelle Autonomie und personale
Würde des Betroffenen vor seinem biologischen Tod Schaden nimmt oder gar ‚stirbt‘. Das
wäre etwa der Fall, wenn dem Kranken im kommunikativen Bereich trotz nachhaltigen
Interesses Informationen vorenthalten würden oder wenn er ohne bzw. gar gegen seinen
Willen behandelt würde. Von daher wandelt sich das von Ärzten in Anspruch genommene
‚therapeutische Privileg‘ im Konfliktfalle zum ‚Autonomie-Privileg‘ des betroffenen
Patienten. Bei der Fertilisationsmedizin kommt der Wahrung der Würde aller Beteiligten,
insbesondere auch des zu schaffenden Kindes, Vorrang vor dem Fortpflanzungsinteresse der
Wunscheltern und der genetischen Verbesserung ihres Nachwuchses zu. Hinsichtlich der
Abtreibungsfrage führt die Position zur Selbstbestimmungskompetenz der Schwangeren unter
Berücksichtigung von embryonalen Lebensaspekten durch Frist und/oder Beratung. In Bezug
auf Transplantationen ist die Zustimmungsregelung einschlägig, d.h. keine Organentnahme
ohne zumindest eine im Sinne des Verstorbenen geäußerte Einwilligung. Im terminalen
Stadium würde schließlich bei der Gefahr eines menschenunwürdigen Todes die Hilfe zum
Sterben nicht prinzipiell verweigert. Das Kriterium des Ganz-Hirn-Todes stellt darauf ab, dass
der Geist unwiderruflich erloschen ist und Körperfunktionen nicht selbstständig ablaufen.
       Würde man die kombinierte Sichtweise vom Menschen verlassen und ihn allein als
geistig-sittliches Wesen auffassen, so müsste die körperlich-biologische Existenzdimension
ganz in den Hintergrund treten und bewusstmachende Aufklärung angesichts des Todes auch

                                                18
aufgedrängt werden. Auf genetische Verbesserungen würde zu Gunsten von Erziehung
verzichtet und Infertilität nicht therapiert, sondern das Wunschelternpaar auf Adoption
verwiesen. Die ungebundene Autonomie der Frau könnte eine Schwangerschaft aus jedem
Anlass, mindestens bis zur eigenen Lebensfähigkeit des Fötus oder bis zur Geburt beenden.
Organexplantation wäre nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Betroffenen möglich; die
Tötung auf Verlangen oder gar eine Euthanasie nach objektiver Werteabwägung wäre
zuzulassen und – last but not least – würde der Kortikaltod ausreichen, weil bei irreversibel
erloschenem Geist auch die Spontanatmung und der sonstige vegetative Status keine Relevanz
mehr hätten.
       Normen    der   Medizin stehen     also    in   einem Abhängigkeitsverhältnis    vom
Menschenbild: ein Wandel von Medizinethik und -recht deutet auf ein gewandeltes
Menschenbild hin wie andererseits die Präferierung eines bestimmten Menschenbildes zu
Folgen für die Ge- und Verbote beim ärztlichen Handeln führt.

                                             19
Sie können auch lesen