Zentrum für Medizinische Ethik - MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN DIE NEUERE STANDESETHISCHE UND MEDIZINRECHTLICHE - Ruhr-Uni-Bochum
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Zentrum für Medizinische Ethik MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN Heft 154 DIE NEUERE STANDESETHISCHE UND MEDIZINRECHTLICHE ENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND – WANDEL DES MENSCHENBILDES? Ulrich Lohmann 3. Auflage Januar 2007
Ulrich Lohmann, Dr. iur. et phil., MPH, Professor für Sozialverwaltung an der Alice Salomon-Fachhochschule Berlin, Mitglied der Ethik-Kommission der Charité - Universitätsmedizin Berlin - Campus Benjamin Franklin. Herausgeber: Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Prof. Dr. med. Michael Zenz Zentrum für Medizinische Ethik Bochum Ruhr-Universität Gebäude GA 3/53 44780 Bochum TEL (0234) 32-22749/50 FAX +49 234 3214-598 Email: Med.Ethics@ruhr-uni-bochum.de Internet: http://www.medizinethik-bochum.de Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor. © Ulrich Lohmann 1. Auflage Mai 2004; 3. Auflage Januar 2007 Schutzgebühr: € 6,00 Bankverbindung: Sparkasse Bochum Kto.Nr. 133 189 035 BLZ: 430 500 01 ISBN: 3-931993-33-7
DIE NEUERE STANDESETHISCHE UND MEDIZINRECHTLICHE ENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND – WANDEL DES MENSCHENBILDES? Ulrich Lohmann, Berlin DIE KLASSISCHE STANDESETHIK, DAS RECHT UND DIE 'KOPERNIKANISCHE' WENDE 1988 Seit sich die europäische Medizin von der holistischen religiösen bzw. philosophischen Betrachtungsweise 1 emanzipiert hat 2 , bedurfte sie einer eigenständigen normativen Fundierung, denn nicht alles praktisch-technisch Machbare war und ist auch zugleich ein Erwünschtes und Gesolltes. Diese (nicht ‚wenn/dann‘-, sondern) ‚ob‘-Regeln ergehen sich in den Formen einer von ärztlicher Autorität formulierten Standesethik und/oder staatlich gesetzten Rechtsvorschriften einschließlich deren verbindlicher Interpretationen durch die Gerichte. Nach dem überkommenen „Eid des Hippokrates“ 3 und der 1948 verfassten „Deklaration von Genf“ 4 schreibt nunmehr die Bundesärztekammer 5 die Standesregeln in der (Muster-)„Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte“ 6 sowie in nachgeordneten Richtlinien und Empfehlungen fort. In Fortsetzung der hippokratischen Tradition hieß es lange Jahre in dem der Berufsordnung als Präambel vorangestellten und für jeden Arzt geltenden Gelöbnis: „die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein“(a.a.O.). Auch nach § 1 der Berufsordnung dient der Arzt der individuellen und kollektiven Gesundheit und seine Aufgabe besteht darin, „das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen ...“(a.a.O.). Das kann als deutsche Version der lateinischen Kurzfassung des hippokratischen Eides „salus aegroti suprema lex [das Wohl des Patienten ist oberstes Gebot]“ gelesen und verstanden werden, wobei dieses ‚Wohl‘ klassischerweise im medizinisch definierten Leben und der entsprechenden Gesundheit gesehen wird. Hiernach wird der Mensch vorrangig in seiner physischen Existenz 1 Vgl. U. Lohmann: Gesellschaftliche Grundwerte und Rechtsnormen in der Medizin. Berliner Medizinethische Schriften 6. Dortmund 1996, S. 3 ff. 2 Das geschah in Europa zuerst durch Hippokrates aus Kos (460 - 377). Vgl. H. Schipperges: Antike und Mittelalter. in: Ders. et al. (Hrsg.): Krankheit, Heilkunst, Heilung. Freiburg/München 1978, S. 229 ff. 3 S. Text und Darstellung bei Ch. Lichtenthaeler: Der Eid des Hippokrates. Ursprung und Bedeutung. Köln 1984. 4 Abgedr. bei H. Siefert: Ärztliche Gelöbnisse. In: A. Eser et al. (Hrsg.): Lexikon Medizin, Ethik, Recht. Freiburg 1989 Sp. 113 ff. 5 Die Bundesärztekammer selbst hat keine normative Kompetenz; sie ist eine zivilrechtliche Vereinigung der öffentlich-rechtlichen Landes-Ärztekammern. 6 Bekanntmachung i. d. F. der Beschlüsse des 100. Deutschen Ärztetages in Eisenach. Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1920 ff. 1
wahrgenommen. Andere Dimensionen des Menschseins wurden damit zwar nicht in Abrede gestellt, aber wenn in Konfliktfällen Prioritäten zu setzen waren, hieß ‚Leben retten‘, die körperlich-biologischen Funktionen aufrecht zu erhalten. 7 Demgegenüber hatte die bürgerliche Philosophie und nachfolgend die Rechtsprechung um die vorvorige Jahrhundertwende die geistig-sittliche Existenz des Menschen als spezifischen und ausschlaggebenden Aspekt seines Seins herausgearbeitet und auch in kritischen Entscheidungssituationen als obersten Maßstab etabliert. Entscheidungsfreiheit, Autonomie und Selbstverantwortlichkeit, zusammen gedacht in der Kantianischen Subjekthaftigkeit oder moderner mit dem Grundgesetz als ‚Würde‘ bezeichnet 8 , wurden zum höchsten Wert der Sozial- und Rechtsordnung. Das fand Eingang in die standesethische Diskussion, ob statt ‘salus ...‘ nunmehr ‚voluntas aegroti [der Wille des Kranken]‘ oberstes Gebot sein sollte, auch wenn sich die Entscheidung des Patienten nicht mit dem aus ärztlicher Sicht Angezeigten deckte. Angesichts der Pluralisierung der Lebensstile und –ziele, nicht zuletzt auch in den eigenen Reihen, wurde die Überzeugungskraft eines objektiven Wohls auch in der verfassten Ärzteschaft zunehmend brüchig. Im Nachvollzug der ständigen und gefestigten Rechtsprechung beschloss daher der 91. Deutsche Ärztetag 1988 einen Zusatzparagraphen 1a zur (Muster-)Berufsordnung, wonach „der Arzt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten (hat)“ 9 . Damit wurde die alte Position der hippokratischen Ethik in Form des patriarchalischen Paternalismus bzw. benevolenten Patriarchalismus aufgegeben und der Mensch nicht länger als primär körperliches, sondern nunmehr als geistig-sittliches Wesen wahr-, auf- und angenommen. In der 1997 überarbeiteten (Muster-)Berufsordnung hat der Wechsel von salus zu voluntas aegroti, vom Wohl zum Willen des Patienten, der in seinen Auswirkungen für das System mit der Ersetzung des geo- durch das heliozentrische Weltbild durch Kopernikus vergleichbar ist, unter Einbeziehung aller einschlägigen Begriffe in der sehr ausführlichen Form Eingang gefunden: „Jede medizinische Behandlung hat unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte des Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen“ 10 . 7 Vgl. die klassische Problemstellung durch die Zeugen Jehovas bei W. Weißauer/G. Hirsch: Verweigerung der Bluttransfusion aus religiösen Motiven. Anästhesiologie und Intensivmedizin 1979, S. 273. 8 Vgl. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23.05.1949. BGBl. I S. 1. 9 Deutsches Ärzteblatt 1988, S. B-1089. 10 § 7 (Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln) Abs. 1 A. a. O. 2
ÄNDERUNGEN IN TEILBEREICHEN Aufklärung und Einwilligung Das Selbstbestimmungsrecht wird durch Einwilligung nach Aufklärung (informed consent) verwirklicht. In diesem Themenbereich hat die Bundesärztekammer 1990 Empfehlungen beschlossen 11 , die gegenüber der hippokratischen Tradition zwar einen Fortschritt darstellen, hinter dem selbstpostulierten Autonomie-Prinzip sowie den juristischen Anforderungen aber zurückbleiben. Bei Hippokrates war die Aufklärung ganz in den Dienst des therapeutischen Zieles gestellt und durch dieses limitiert. Jegliche Information, die geeignet war, beim Kranken Widerstand gegen die ärztliche Behandlungsstrategie hervorzurufen, konnte und sollte unterbleiben, genannt ‚barmherzige Lüge‘. Als Ziel der Aufklärung wird in dieser Tradition immer noch benannt, dass der Patient „eine auch aus ärztlicher Sicht vernünftige Entscheidung“ (Ziff. 4.) trifft, wenn auch nunmehr akzeptiert wird, dass der Arzt an eine Ablehnung, „auch wenn dies aus ärztlicher Sicht unvernünftig oder sogar unvertretbar ist ... grundsätzlich gebunden (ist)“ (a.a.O.). Auch beim Inhalt und Umfang der Aufklärung muss der Arzt nach den Empfehlungen „das körperliche und seelische Befinden seines Patienten bei der Erteilung seiner Auskünfte berücksichtigen“ (Ziff. 6.). Das hatte die Rechtsprechung früher dann und nur dann für gerechtfertigt gehalten, wenn „die mit der Aufklärung verbundene Eröffnung der Natur des Leidens zu einer ernsthaften und nicht behebbaren Gesundheitsschädigung des Patienten führen würde“ 12 . Nach einem Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz der Bundesländer von 1999 hat der Arzt über seine Informationspflicht hinaus auf Fragen des Patienten „wahrheitsgemäß, vollständig und verständlich zu antworten“ 13 , was in einem Nachfolgepapier nun auch von der Bundesärztekammer mit unterschrieben ist. Auch für einen anderen kontrovers diskutierten Bereich, den Grad der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit wegen Bewusstlosigkeit, hatte sich die Bundesärztekammer 1990 nur zu einem halben Schritt auf dem Weg zur Akzeptanz der Patientenautonomie durchringen können: schriftlich vom Patienten abgegebene Erklärungen wurden (nur) als „Indiz für seinen mutmaßlichen Willen“ (Ziff. 11.) eingestuft, neben dem andere, z.B. klassische vitalistische Erwägungen Platz finden konnten. 11 Vgl. „Empfehlungen zur Patientenaufklärung“. Deutsches Ärzteblatt 1990, S. B-940. 12 Vgl. Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen. Bd. 19, S. 176 ff. (Hervorhebung von mir, U. L.) 13 So gleichlautend in: Patientenrechte in Deutschland heute. Bremen 1999, S. 10; Patientenrechte in Deutschland. Leitfaden für Patienten und Ärzte. Berlin 2003, S. 12. 3
In diesem Punkt hat die verfasste Ärzteschaft ihre Position seit 1999 grundlegend geändert. „Das heute allgemein anerkannte Recht auf Selbstbestimmung“ 14 sowie die Akzeptanz von Patientenverfügungen als einem wichtigen Instrument zur Wahrung derselben führten zu einer Aufwertung der vorsorglichen Willensbekundungen „als wesentliche Hilfe für Entscheidungen des Arztes“ (a.a.O.). Nunmehr heißt es hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit, dass „der in der Patientenverfügung geäußerte Wille des Patienten (grundsätzlich gilt), es sei denn, es liegen konkrete Anhaltspunkte vor, die auf eine Veränderung seines Willens schließen lassen“ 15 . Mit dieser Umkehr der Beweislast für eine Wandlung des zu berücksichtigenden mutmaßlichen Willens wird im Zweifelsfalle – und das Leben ist voll von ihnen – zugunsten der geäußerten Kultur statt einer vermuteten Natur des Menschen optiert. Zumindest wird damit auch von medizinischer Seite die Debatte beendet, ob sich der Arzt, standesethisch gerechtfertigt, bei Bewusstlosigkeit oder Dauerkoma des Patienten an solche voraussehbar lebensverkürzenden Bitten und Anweisungen über Behandlungseinschränkungen oder -verzichte z.B. in Bezug auf künstliche Beatmung oder Ernährung halten darf, wenn es denn nach wie vor in Deutschland keine gesetzliche Pflicht zur Befolgung gibt. 16 Fertilisationsmedizin Die – je nach Ausblendung oder Hervorhebung des artifiziellen Anteils – medizinisch assistierte Befruchtung, Fortpflanzungs-, Fertilisations- oder Reproduktionsmedizin genannte ‚Medizin am Beginn des Lebens‘ nimmt seit der erstmals 1978 gelungenen In-vitro- fertilisation mit nachfolgendem Embryotransfer in die Gebärmutter (ivf/et) eine stürmische Entwicklung. Neben dem eigentlichen und ursprünglich therapeutisch allein ausgewiesenen Zweck der Herbeiführung einer Schwangerschaft nach ungewollter und mit anderen Mitteln nicht behebbarer Sterilität 17 können mittels bzw. anlässlich der extrakorporalen Befruchtung infolge der Inspektions- und Manipulationsmöglichkeiten in vitro andere therapeutische, gestalterische oder Forschungsziele in‘s Auge gefasst werden wie 14 Patientenverfügungen. Handreichungen für Ärzte. Deutsches Ärzteblatt 1999, S. B-2177. 15 Handreichungen für Ärzte zum Umgang mit Patientenverfügungen. Deutsches Ärzteblatt 1999, S. B-2195 (2196). 16 Auch die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ kommt noch nicht zu einer eindeutigen Empfehlung; Vgl. Schlussbericht E (Desiderate) 1.3.2.3 (Patientenverfügungen). Bundestags- Drucksache 14/9020. 17 Vgl. Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und Embryotransfer (ET) als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität. Deutsches Ärzteblatt 1985, S. 1691. 4
1. Aufspaltung der Mutterschaft (genetisch vs. Schwangerschaft/Geburt) 2. Keimbahntherapie 3. Klonen 4. Geschlechtswahl des zu schaffenden Kindes 5. Verwendung von ‚verwaisten‘ bzw. Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken einschließlich später der Erzeugung von embryonalen Stammzellen sowie 6. gleichfalls später die Präimplantationsdiagnostik (PID). Dieser Erweiterung medizinischer Handlungsfelder um mehr oder minder erstrebenswerte Eingriffsmöglichkeiten stehen jedoch teils unterschiedliche Werte und Prinzipien entgegen, über deren Abwägung und Präferierung im Fortgang der Diskussion sich im Einzelnen Folgendes ergab: Die gespaltene Mutterschaft sowohl in der Form der Eizellspende vs. Schwangerschaft und sozialer Mutter als auch genetischer und sozialer Mutter vs. fremder Schwangerschaft wurde und wird von allen Seiten aus Gründen möglicher Störungen der Selbstfindung und Identität des Kindes abgelehnt. Ein Kind ist nicht in erster Linie ein Wesen, über dessen körperliches Dasein man sich freut, sondern ein Mensch mit Geist und Seele, der zu sich selbst kommen soll. Die Keimbahntherapie und das Klonen sind gänzlich, die Geschlechtsbestimmung prinzipiell verboten. 18 Letztere darf ausnahmsweise zur Ausschaltung schwerer geschlechtsgebundener Erbkrankheiten (z.B. Muskeldystrophie vom Typ Duchenne) praktiziert werden. Bei diesen drei möglichen Weiterungen der ivf/et geht es darum, ob der Mensch – ganz basal formuliert – ein Gewordener oder ein Gemachter ist. Die Gewordenheit der Menschen ist die Basis für ihre Würde in Freiheit und Gleichheit 19 , bei einem menschlichen Schöpfer wäre Produkthaftigkeit, Untergebenheit und minderer Status die tendenzielle Folge. 20 Einen Wandel der Anschauungen gab es hinsichtlich der Frage der Verwendung überzähliger bzw. der Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken. Während die Bundesärztekammer 1985 (nur) ein grundsätzliches Verbot der Erzeugung aussprach sowie die Forschungsverwendung überzähliger Embryonen für ethisch vertretbar hielt 21 , sah der 18 Vgl. §§ 5, 6 und 3 des Gesetzes zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz). BGBl. I, S. 2746. 19 Das ist die Trias der Wertordnung des Grundgesetzes; vgl. Art. 1, 2 und 3 GG. 20 Vgl. die literarische Fassung einer solchen Zukunftsvision bei Aldous Huxley: Brave new world. Zuerst 1932. 21 Vgl. die Richtlinien zur Forschung und frühen menschlichen Embryonen, Ziff. 3.2 sowie den „Kommentar“ dazu. Deutsches Ärzteblatt 1985, S. 3757 (3758, 3760 f.). 5
einschlägige Diskussionsentwurf des Bundesjustizministeriums 1986 ein absolutes Verbot der Erzeugung und ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt der Verwendung vor 22 , bis dann im Fortgang der restriktiver werdenden Diskussion das Embryonenschutzgesetz 1990 beide ohne Wenn und Aber untersagte und unter Strafe stellte. 23 Als dahinterstehende Frage kann skizziert werden, ob der Mensch eher als Teil der biologischen Welt ausnahmsweise auch Mittel zum Zweck und damit Objekt sein darf und entsprechend einer utilitaristischen Ethik für das ‚größte Glück der größten Zahl‘ einige Individuen geopfert werden dürfen, oder ob der Mensch nach der Kantianischen Philosophie ausnahmslos in seiner Subjekthaftigkeit sowie in seinem Selbstzweck und als Eigenwert zu respektieren ist. Aufgrund weltweiter neuerer medizinischer Entwicklungen flammte die Diskussion einige Jahre später noch einmal auf. Forschungen an embryonalen Stammzellen sowie die Präimplantationsdiagnostik waren die Streitpunkte, bei denen es wieder einen erwarteten medizinischen Fortschritt gegen die Unverfügbarkeit jeglichen menschlichen Lebens abzuwägen galt. Diesmal war auch die Ärzteschaft von sich aus zurückhaltender. Der 104. Deutsche Ärztetag „erteilt(e) der Herstellung, dem Import und der Verwendung von embryonalen Stammzellen eine klare Absage. Einschränkend wurde allerdings das Wort ‚derzeit‘ angefügt“ 24 . Bei der PID konnte sich der Ärztetag bei der ersten Befassung mit der Problematik auf keine eindeutige Position einigen und überließ dem Gesetzgeber die Initiative; ein Jahr später setzte sich der Vorstand der Bundesärztekammer für ein Verbot der PID ein. 25 Aufgrund der Vorarbeiten der Enquetekommission ‚Recht und Ethik der modernen Medizin‘ votierte der Deutsche Bundestag unter den drei Entschließungsanträgen mit den programmatischen Titeln - „Schutz der Menschenwürde angesichts der biomedizinischen Möglichkeiten – kein Import embryonaler Stammzellen“ 26 , - „Keine verbrauchende Embryonenforschung: Import humaner embryonaler Stammzellen grundsätzlich verbieten und nur unter engen Voraussetzungen zulassen“ 27 bzw. 22 Vgl. § 2 (Missbräuchliche Anwendung der extrakorporalen Befruchtung) des Diskussionsentwurfs eines Embryonenschutzgesetzes. Bundesjustizministerium 1986. 23 Vgl. § 51 (Missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken) Abs. 1 Ziff. 2. und 2 (Missbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen) des Embryonenschutzgesetzes v. 13.12.1990. 24 G. Klinkhammer: Die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens. Deutsches Ärzteblatt 2001, S. B-1224. 25 Vgl. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer. Deutsches Ärzteblatt 2002, S. B-1399. 26 Bundestags-Drucksache 14/8101 v. 29.01.2002. 6
- „Verantwortungsbewusste Forschung an embryonalen Stammzellen für eine ethisch hochwertige Medizin“ 28 letztlich mehrheitlich für die mittlere Variante, nachdem die forschungsfreundliche Vorlage bei der ersten Abstimmung mit der niedrigsten Stimmzahl ausgeschieden war. Das heißt als Prinzip inhaltlich, dass auch für „die Heilungschancen für zukünftige Generationen“ 29 keine Embryonen getötet werden sollen, die deutsche Forschung aber pragmatisch auf ausländische bestehende Stammzelllinien zurückgreifen darf. 30 Hinsichtlich der Präimplementationsdiagnostik hat die Enquetekommission dem Gesetzgeber empfohlen, diese aus Gründen des Schutzes menschlicher Embryonen „in Deutschland nicht zuzulassen und das bestehende Verbot der In-vitro-Fertilisation zu diagnostischen Zwecken ausdrücklich im Hinblick auf die PID zu präzisieren“ 31 . Sowohl der Deutsche Bundestag als auch der Deutsche Ärztetag fordern ein internationales Verbot des (reproduktiven wie therapeutischen) Klonens. 32 Schwangerschaftsabbruch Klassischerweise galt in Europa (nach der Christianisierung) ein Verbot der Abtreibung 33 mit der alleinigen Ausnahme der medizinischen Indikation. Die Leibesfrucht konnte bis zur Vollendung der Geburt abgetötet werden, wenn das Leben der werdenden Mutter durch die Fortsetzung der Schwangerschaft ernsthaft auf dem Spiele stand. Das ergab und ergibt sich aus der Heranziehung der Rechtsfigur des Übergesetzlichen Notstandes 34 , wonach die Strafandrohung zurückgenommen wird, wenn in einem ansonsten unauflöslichen Konfliktfalle auf beiden Seiten das gleiche bzw. gleichwertige Rechtsgüter involviert sind und man in einem echten Dilemma ein so großes Rechtsgut denknotwendig verletzen muss wie hier das Leben, sei es das des Fötus' oder das der Mutter. Daraus folgt, dass (auch) bei Schwangerschaftskonflikten die Frau in ihrer körperlichen Existenz gesehen wurde – nur 27 Bundestags-Drucksache 14/8102 v. 29.01.2002. 28 Bundestags-Drucksache 14/18103 v. 29.01.2002. 29 So die Argumentation des forschungsfreundlichen Antrages 14/18103. 30 Der Kompromiss bleibt moralisch problematisch, weil hehlen und stehlen gleich verwerflich sind. 31 Bundestags-Drucksache 14/9020, S. 111. 32 Vgl. Bundestags-Drucksache 15/463 v. 18.02.2003 „Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen starten“ sowie „Konsequente Haltung gegen das Klonen von Menschen“. Deutsches Ärzteblatt 2003, S. B-1272. 33 Nach der Gründung des Deutschen Reiches ist dies die Geschichte des § 218 des Strafgesetzbuches (StGB) v. 15.05.1871 (RGBl. S. 127). 34 Vgl. §§ 34 f. Strafgesetzbuch. 7
diese konnte in die Waagschale zur Rechtfertigung der Lebensbeendigung des Fötus' geworfen werden. Nach einem vom Bundesverfassungsgericht verworfenen 35 Versuch der Einführung der Fristenlösung (auch 36 ) in Westdeutschland schaffte der Gesetzgeber eine Indikationsregelung 37 , die die zugelassenen Rechtfertigungsgründe für eine Abtreibung auf weitere Notlagen ausweitete. So konnte die Schwangerschaft wegen übergroßer psychischer Belastung auch aus eugenischer/embryopathischer (bei Fehlbildungen des Fötus), aus ethischer/kriminologischer (nach Vergewaltigung) oder aus sozialer Indikation abgebrochen werden. Die Schwangere wurde damit neben ihrer körperlichen-biologischen auch in ihrer psycho-sozialen Existenz wahrgenommen. Mit dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz ließ der Einigungsvertrag die überkommene ost- und westdeutsche Regelung auf dem jeweiligen Gebiet erst einmal weiter in Kraft und stellte dem neuen gesamtdeutschen Gesetzgeber die „Aufgabe ... eine Regelung zu treffen, die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen“ 38 besser als in den beiden vorhergehenden Rechtsordnungen gewährleisten sollte. Das erste Ergebnis des fraktionsübergreifenden Beratungs- und Entscheidungsprozesses im Deutschen Bundestag war der Gesetzesbeschluss von 1992 39 , der vom Bundesverfassungsgericht ein Jahr später 40 prinzipiell mit einigen Modifikationsauflagen als mit dem Grundgesetz vereinbar akzeptiert wurde. Nachdem die geforderten Änderungen von der gleichen interfraktionellen Parlamentsmehrheit 1995 vorgenommen wurden, gilt seitdem in ganz Deutschland ein neues einheitliches Abtreibungsrecht auf der Grundlage des vom Bundesverfassungsgericht so genannten „Beratungskonzepts“ 41 . Hinsichtlich der hier in Frage stehenden Elemente der zu berücksichtigenden Rechtsgüter auf Seiten der Schwangeren führt das höchste deutsche Gericht in seinen Leitsätzen (Ziff. 5) deren Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und das ihr nach Art. 2 Abs. 1 GG zustehende Persönlichkeitsrecht an, dem gegenüber aber das (potenzielle) Leben des Embryos einen eigenständigen Wert habe. Dementsprechend ist die 35 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Bd. 39 (1975), S. 1. 36 Vgl. Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft v. 09.03.1972. GBl. DDR I, S. 89. 37 Vgl. das 15. Strafrechtsänderungsgesetz v. 18.05.1976. BGBl. I, S. 1213. 38 Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands. BGBl. II 1990, S. 885, Art. 31 Abs. 4. 39 Vgl. Schwangeren- und Familienhilfegesetz v. 27.07.1992. BGBl. I, S. 1398. 40 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Bd. 88, S. 203. 41 Vgl. Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz v. 21.08.1995. BGBl. I, S. 1050. 8
Notlagenberatung nach § 219 Strafgesetzbuch auf die Fortsetzung der Schwangerschaft gerichtet; letztlich bestimmend ist jedoch die von der werdenden Mutter zu treffende Entscheidung, die „verantwortlich und gewissenhaft“ (a.a.O.) sein soll. Ausgeschlossen hat das Bundesverfassungsgericht in einem solchen Konfliktfalle jedoch die weitergehende Inanspruchnahme „einer grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition“ 42 ; das ist allgemein die Glaubens- und Gewissensfreiheit, hier wohl als völlig ungebundene Autonomie zu konkretisieren (‚mein Bauch gehört mir‘). Eine solche mit der vereinzelt geforderten ersatzlosen Streichung des § 218 Strafgesetzbuch einhergehende Reduzierung der Menschen auf ihre geistig-sittliche Existenz erlaubt die Rechtsordnung nicht. Organtransplantation Der Austausch (statt des Versuchs der Heilung) funktionsunfähig gewordener Organe ist ein qualitativ neuer und stark expandierender Zweig der Medizin. Transplantierte Organe können bei geeigneten Patientengruppen Leben retten bzw. die Gesundheit von Schwerkranken wiederherstellen. Wenn Menschen nur oder hauptsächlich als körperlich- biologische Wesen aufgefasst werden, dann gebietet sich die völlige Freigabe der Explantation bei Verstorbenen nach der Devise ‚Die Toten helfen den Lebenden‘, weil die im Konflikt stehenden Werte: hier bestenfalls Pietät und Wahrung der Totenruhe gegenüber andererseits einer Lebensrettung, eine Entscheidung leicht machen. Ein bisschen klingt diese Logik in dem als Selbstverpflichtung der medizinischen Protagonisten von der Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren 1987 verabschiedeten „Transplantationskodex“ 43 an, wenn es dort heißt, dass „eine Organentnahme ohne Einwilligung unter den Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes in Betracht kommen (kann), wenn hierin die einzige Möglichkeit zur Abwendung einer akuten Lebensgefahr eines anderen Menschen besteht ...“ (Ziff. 2.). Die transplantationsfreundlichsten Regelungen im staatlichen Rechtsetzungsprozess stellten die DDR-„Verordnung über die Durchführung der Organtransplantation“ 44 von 1975, der (nicht Gesetz gewordene) Entwurf der Bundesregierung zu einem 42 Leitsätze des Bundesverfassungsgerichtsurteils v. 28.05.1993, Ziff. 5. 43 Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren in der Bundesrepublik Deutschland einschl. Berlin-West e.V. Transplantationskodex v. 13.11.1987.Typoskript. 44 V. 04.07.1975. GBl. DDR I, S. 59. 9
Transplantationsgesetz 45 von 1979 sowie das (vor Veröffentlichung im Gesetzblatt widerrufene) Transplantationsgesetz für das Land Rheinland-Pfalz 46 von 1994 dar, denen als Gemeinsamkeit die sogenannte Widerspruchslösung zugrunde lag, d.h., dass nicht explantiert werden durfte, wenn ein entgegenstehender Wille des Verstorbenen bekannt war. Damit wurde eine postmortale Selbstbestimmung, eine weiter andauernde Beachtung der geistig- sittlichen Existenz auch nach dem Tode sichergestellt. Die nächste Stufe stellte ein im Bundesrat behandelter Gesetzentwurf von 1994 47 dar, der die sogenannte Informationslösung präferierte. Wenn der Verstorbene sich zu Lebzeiten nicht geäußert hat, sollten die Angehörigen über die beabsichtigte Organentnahme informiert werden und konnten ihr mit bindender Wirkung widersprechen. Der Unterschied zu den vorangegangenen Modellen war der, dass – wenn schon nicht der Verstorbene selber – dann wenigstens seine Angehörigen von der Explantation mindestens Kenntnis haben mussten; Menschen also nicht einfach als biologische Objekte, sondern – notfalls in Stellvertretung – als geistige Wesen mit einem Bewusstsein respektiert wurden. Doch auch dieser Entwurf wurde nicht Gesetz und je länger die Diskussion andauerte, desto restriktiver wurde die öffentliche Meinung. Zuletzt standen sich im Bundestag eine Erweiterte und eine Enge Zustimmungslösung gegenüber; gemeinsam ist ihnen, dass eine Person der Organgewinnung zustimmen, also als sittliches Subjekt agieren muss, der Unterschied besteht darin, dass der Kreis der zur Zustimmung Befugten bei der ersten Variante beim Fehlen eines explizierten Willens des Verstorbenen auf die Angehörigen erweitert wird, während im anderen Falle nur der Betroffene selbst zu Lebzeiten sein Einverständnis erklärt haben musste. Da nur ca. 12% der Organexplantationen auf einer in einem Organspenderausweis 48 dokumentierten persönlichen Zustimmung basieren, wäre die Transplantationsmedizin bei Gesetzwerdung dieser maximal autonomiefreundlichen Regelung zum Erliegen gekommen. Wohl deswegen votierte der Bundestag – nach sehr heftiger Debatte und ohne Fraktionsvorgaben – im Sinne einer „tragfähigen Regelung für die Praxis der Organtransplantation“ 49 für die Zulassung der Angehörigen als stellvertretende Entscheider, die sich dabei allerdings nicht an ihren eigenen 45 Vgl. Bundestags-Drucksache 8/2681. 46 V. 12.07.1994. 47 Vgl. Bundesrats-Drucksache 682/94 v. 30.06.1994. 48 Vgl. „Mehr Organspenden nötig“. Deutsches Ärzteblatt 2002, S. B-1402. 49 Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“. Bundestags-Drucksache 14/9020, S. 201. 10
Wertmaßstäben, sondern an dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen zu orientieren haben (vgl. § 4 Abs. 1). Verstärkt wurde im Gesetzgebungsverfahren auch die Anforderung an die Form der Zustimmung: während im Gesetzesentwurf der Arzt noch mit den Angehörigen vereinbaren konnte, dass ihre „Zustimmung als erteilt gilt, wenn der Angehörige innerhalb einer vereinbarten Erklärungsfrist der Entnahme nicht widersprochen hat“ 50 , so bedarf es nach der verabschiedeten Fassung einer ausdrücklichen Zustimmung des Angehörigen. Nunmehr kann eine Frist für einen Widerruf vorgesehen werden, wohl um das explizite ‚Ja‘ zu erleichtern; ein solches muss aber in Wahrnehmung einer sittlichen Verantwortung gesprochen worden sein. Bei zwei eng mit der Transplantation verbundenen perspektivischen Forschungsfragen stellte die Bundesärztekammer anthropologische Überlegungen an. So fragte ihre Zentrale Ethikkommission hinsichtlich der „Übertragung von Nervenzellen in das Gehirn von Menschen“ 51 zur Therapie der Parkinson- oder der Alzheimer-Erkrankung nach einer möglichen „Wirkung auf die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen ... der Übertragung eines fremden Selbst oder einer fremden Identität“ 52 . Gleichfalls geriet die „Identität des Transplantationsempfängers, also die Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst“ 53 , bei der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur Xenotransplantation in den problematisierenden Blick, da Identität des Menschen „nicht allein durch seine Leiblichkeit bestimmt (wird), sondern wesentlich durch seine ... Selbstauffassung und durch die Fremdwahrnehmung durch andere“(a.a.O.), mit anderen Worten: durch seine geistige und normativ-soziale oder moralische Existenz. Bei der Diskussion der Transplantationsmedizin kommen also nun nicht mehr allein die somatischen Krankheiten in den Blick, sondern auch psychische und soziale Elemente. Lebenserhalt / Sterbehilfe Seit Alters her hatten die Ärzte nach Standesethik wie staatlichem Recht jegliches menschliche Leben zu erhalten und zu bewahren. In Grenzbereichen konnten sie jedoch wenig genug tun, so dass diese Regel jahrhundertelang Missbrauch ärztlicher Kunst 50 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit: Entwurf eines Gesetzes über die Entnahme und Übertragung von Organen v. 17.03.1995, § 4 Abs. 1. 51 Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-1517. 52 A. a. O., S. B-1518. 53 Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur Xenotransplantation. Deutsches Ärzteblatt 1999, S. B-1541 (1545). 11
verhinderte, positiv aber wenig Auswirkungen hatte. Das änderte sich mit den Fortschritten insbesondere der Intensivmedizin; zunehmend konnte durch Aufrechterhaltung oder Substitution der Vitalfunktionen nicht eigentlich das Leben verlängert, jedoch der Tod hinausgeschoben werden. Vor diesem Hintergrund wurde 1979 – im Nachvollzug der Richtlinien für die Sterbehilfe der (historisch unbelasteten) Schweizerischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1977 – der Arzt bei Sterbenden oder dem Tode Nahen mit infauster Prognose und irreversiblem Krankheitsverlauf, die auch kein bewusstes und umweltbezogenes Leben mit eigener Persönlichkeitsgestaltung mehr würden führen können, von der Verpflichtung freigestellt, „alle der Lebensverlängerung dienenden therapeutischen Möglichkeiten einzusetzen“ bzw. ihm ein Verzicht „auf weitere technisch eventuell noch mögliche Maßnahmen“ 54 eingeräumt. Dieser passiven Sterbehilfe durch Abbruch oder Unterlassen lebenserhaltender ärztlicher Eingriffe wie Medikation, Beatmung, Transfusionen oder künstliche Ernährung folgte noch im gleichen Jahr der nächste Schritt der Akzeptanz der indirekten Sterbehilfe in einer Resolution der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zur Behandlung Todkranker und Sterbender: „Bei manchen zum Tode führenden Erkrankungen steht die notwendige Leidensminderung so stark im Vordergrund, dass die Möglichkeit einer Lebensverkürzung als Nebenwirkung in Kauf genommen werden darf“ 55 . Von den Juristen wurden diese Positionen im Ergebnis, trotz größter dogmatischer Probleme, übernommen 56 , auch wenn der „Alternativentwurf Sterbehilfe“ 57 , der diese Gedanken in das Strafgesetzbuch inkorporieren wollte, nicht Gesetz geworden ist. Begründet wird die indirekte Sterbehilfe mit einer ansonsten drohenden Beeinträchtigung der Würde des Menschen bzw. der Ermöglichung eines „menschenwürdigen Todes“ 58 , also ethisch-personalen Werten. Nachdem sich die Bundesärztekammer das Votum der Chirurgischen Gesellschaft 1993 auch formell in ihren neuen „Richtlinien für die ärztliche Sterbebegleitung“ 59 zu eigen gemacht hatte, eröffnete sie mit ihrem „Entwurf der Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung“ 60 von 1997 eine neue Runde. Er 54 Richtlinien für die Sterbehilfe. Deutsches Ärzteblatt 1979, S. 957. 55 Veröffentlicht als: Beilage zu Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Heft 3/1979. 56 Vgl. H. Schöck: Menschenwürdiges Sterben und Strafrecht. Zeitschrift für Rechtspolitik 1986, S. 236. 57 Vgl. J. Baumann et al.: Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe. 1986, S. 11. 58 Bundesärztekammer (Hrsg.): Weißbuch. Anfang und Ende menschlichen Lebens – medizinischer Fortschritt und ärztliche Ethik. Köln 1988, S. 155. 59 Deutsches Ärzteblatt 1993, S. B-1791. 60 Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1064. 12
sah vor, dass bei Patienten mit infauster Prognose und raschem Fortschreiten des Krankheitsprozesses, auch wenn sie sich noch nicht im Sterbeprozess befinden, über eine Basishilfe hinausgehende Maßnahmen mit eher belastendem denn hilfreichem Charakter unterbleiben könnten; bei Patienten mit chronisch-vegetativen Zuständen (apallisches Syndrom, sogenanntes Wachkoma) sei ein Behandlungsabbruch nur dann – aber eben auch dann, wäre sinngemäß hinzuzufügen – zulässig, wenn ein solcher dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen entspreche. Nach heftigen Diskussionen fiel die verabschiedete Fassung mit dem verkürzten Titel „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ 61 konservativer aus: hinsichtlich der ersten Gruppe wurde nun zur Voraussetzung, dass „eine lebenserhaltende Behandlung nur Leiden verlängert“ (II.), das geänderte Behandlungsziel wurde mit „palliativ-medizinischen und pflegerischen Maßnahmen“ (a.a.O.) aufgewertet. Bei den Komatösen „kann der unwiderrufliche Ausfall weiterer vitaler Organfunktionen die Entscheidung rechtfertigen, auf den Ersatz technischer Hilfsmittel zu verzichten“ (III.). Die Rechtsprechung hat hinsichtlich der Apalliker die Gedanken des Entwurfs wieder aufgegriffen. In Übereinstimmung mit dem früher dokumentierten oder sonstwie ermittelten mutmaßlichen Willen eines Patienten, der bei einem natürlichen Verlauf seiner Krankheit ohne künstliche ärztliche Hilfsmittel sterben würde, sind die lebensverlängernden Maßnahmen einschließlich etwa der künstlichen Ernährung nach vormundschaftsgerichtlicher formaler Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen einzustellen. 62 Nicht erst die Frage des ‚menschenwürdigen Sterbens‘, sondern schon die nach einem ‚menschenwürdigen Leben‘ bildet hier das Kriterium für die Erweiterung von der Hilfe beim Sterben hin zur Hilfe zum Sterben. Die an der Entscheidung beteiligte Vorsitzende Richterin explizierte ihr dahinterstehendes Menschenbild in einem Interview: „Zum Menschsein gehört mehr als die Aufrechterhaltung der vegetativen Lebensfunktionen, mehr als der bloße Stoffwechsel. Geist und Seele machen den Menschen aus“ 63 . Hinsichtlich der anderen Neuerung, der Relativierung allein kurativ ausgerichteter Therapien zugunsten der Palliativ-Medizin sind die Mediziner selbst aktiv geworden. Der 106. Deutsche Ärztetag verabschiedete einen umfangreichen Forderungskatalog zur 61 Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-2022. 62 Vgl. den Beschluss des Bundesgerichtshofs v. 17.03.2003, Medizinrecht 2003, S. 512. 63 „Ein Gespräch mit der Vorsitzenden Richterin am Bundesgerichtshof Meo-Micaela Hahne“. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.07.2003. 13
„palliativ-medizinischen Versorgung in Deutschland“ 64 , wo zur Begründung ausgeführt wird: Der Umgang mit Patienten ohne Heilungschancen bringt neben großen physischen auch „psychische, soziale und seelische Belastungen für die Patienten selbst, aber auch für ... die Pflegekräfte und Ärzte mit sich“ (Präambel). Nicht nur die Patienten, auch die Ärzte selber werden hier, soweit ersichtlich das erste Mal, jenseits ihrer naturwissenschaftlich-rationalen Berufsexistenz wahrgenommen. Nachdrücklich und auch ausnahmslos abgelehnt wird von der verfassten Ärzteschaft die ärztliche Beihilfe zum (straffreien) Suizid. „Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos“ 65 heißt es apodiktisch; es gibt keine Erwägungen darüber, dass der Arzt sachverständiger Partner des Patienten bei dessen Lebens- oder eben auch Todesgestaltung sein könnte. Auch dort war die Rechtsprechung punktuell autonomiefreundlicher. Das Oberlandesgericht München billigte die Bereitstellung eines tödlichen Mittels für eine Patientin mit inkurabler Krebserkrankung einschließlich nicht beherrschbarer Schmerzen, weil sie „auf Grund der vorliegenden extremen Ausnahmesituation ... über ihr Leben verfügen“ 66 und den Arzt wirksam aus seiner Garantenstellung entlassen konnte. Die aktive Sterbehilfe bzw. die Tötung auf Verlangen werden von der Standesethik wie von der Rechtsordnung in gleicher Weise untersagt. Todeskriterium Das Sterben des Menschen als einem komplexen System kann von verschiedenen Organ(-grupp-)en, etwa vom Herz, der Lunge oder dem Gehirn ausgehen und hat dann in früheren Zeiten schnell und unwiderruflich auch die jeweils anderen Bereiche in Mitleidenschaft gezogen, zum Erlöschen aller Funktionen und damit zum vollständigen Tod des ganzen Menschen geführt. Als Erkennungszeichen des Ablebens konnte und hatte man daher markante sicht- und fühlbare körperlich-biologische Veränderungen, nämlich Atem- und Kreislaufstillstand, gefolgt von Totenflecken und -starre herangezogen. Anfang der sechziger Jahre gelang es der Medizin, den Zusammenbruch der energetischen Versorgungsprozesse vom Ausfall der steuernden und regelnden 64 Deutsches Ärzteblatt 2003, S. B-1262. 65 Vgl. die „Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung. Präambel“ sowie „Palliativmedizinische Versorgung in Deutschland. Palliativmedizin“. Deutsches Ärzteblatt 2003, S. B-1262. 66 Vgl. den Beschluss des Oberlandesgerichts München im Fall Hackethal/Hermy E. Medizinrecht 1988, S. 150 sowie J. Hackethal: Humanes Sterben. Mitleidstötung als Patientenrecht und Arztpflicht. München 1988. 14
Hirnfunktionen durch künstliche Beatmung und dadurch aufrechterhaltenen Blutkreislauf abzukoppeln. In den Kliniken kamen Unfallopfer an, die körperlich lebten, aber geistig tot waren. Angesichts dieser neuen Problemkonstellation setzte sowohl in Deutschland wie auch in den USA ein Umdenkungsprozess hinsichtlich der Definition des Todes ein 67 , der 1982 - in Abkehr vom klinischen als einem Ganzköpertod - zur Festlegung auf den Hirntod als den Tod des Menschen durch den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer führte. Nach drei Fortschreibungen 1986, 1991 und 1997 aufgrund differenzierterer und verbesserter Diagnosemethoden ergingen die „Kriterien des Hirntodes“ 68 dann 1998 nach In- Kraft-Treten des Transplantationsgesetzes als von diesem geforderte „Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes“ 69 . Der Präsident der Bundesärztekammer hat jedoch „ausdrücklich darauf hingewiesen“ 70 , dass die Transplantationsmedizin nicht der Grund für den Wechsel zum Hirntod-Konzept darstellte. Eine Erklärung der Zentralen Ethik- Kommission bei der Bundesärztekammer zeigt jedoch, dass der Wandel notwendige Voraussetzung für die neuartigen kurativen Eingriffsmöglichkeiten ist, weil „den Hirntod nicht als Todeskriterium zu akzeptieren und gleichwohl Organentnahmen nach diesem Zeitpunkt durchzuführen, grundlegend der Ethik ärztlichen Handelns (widerspricht)“ 71 . Im Gegensatz zu anderen Ländern wird sogar die hilfsweise Rückkehr zum Herz- und Kreislaufstillstand als Todeskriterium vehement ausgeschlossen und die „Nierenentnahme bei diesen ‚Non heart-beating donors‘“ 72 als in Deutschland für rechtlich und ethisch unzulässig angesehen. An dem Hirntod als dem Tod des Menschen wird trotz der Möglichkeit festgehalten, dass bei bestehender Gravidität einer Frau (auf der Basis künstlicher Beatmung und Ernährung) die Leibesfrucht weiter zu einem neuen Menschen heranwächst, weil nach der konsequenten Interpretation „das Fortbestehen einer Schwangerschaft nicht dem eingetretenen Hirntod der Mutter (widerspricht)“ 73 ; oder auch trotz der Mitwirkung von 67 Vgl. F. Linder et al.: Todeszeichen und Todeszeitbestimmung. Der Chirurg 1968, S. 196; H.K. Beecher et al.: A definition of irreversible coma. Journal Am. Med. Ass. 1968, p. 337. 68 Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes. Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1032. 69 Dritte Fortschreibung 1997 mit Ergänzungen gemäß Transplantationsgesetz. Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B- 1509. 70 K. Vilmar: Vorwort. Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1032. 71 Erklärung der „Zentralen Ethikkommission“ bei der Bundesärztekammer: „Tötung durch Organentnahme widerspricht ärztlicher Ethik“. Deutsches Ärzteblatt 1997, S. B-1584. 72 Mitteilungen der Bundesärztekammer „Organentnahme nach Herzstillstand“. Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B- 2511. 73 Anmerkungen zu den „Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes“. Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-1511 (1512). 15
Anästhesisten bei der Organentnahme, weil dies nicht zur Schmerzverhütung nötig ist, sondern „ausschließlich der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der zu entnehmenden Organe“74 durch Ruhigstellung der Muskulatur dient. Der Mensch als „leiblich-seelisches Lebewesen“ 75 , wie er jetzt aus philosophisch- anthropologischer Perspektive wahrgenommen wird, wird nicht primär durch ‚Fleisch und Blut‘, sondern durch sein Gehirn als – neben anderem – „die unersetzliche physische Voraussetzung seines Gefühls- und Geisteslebens“ 76 konstituiert, lässt sich als die zugrundeliegende Logik erschließen. Allerdings bleibt die Ärzteschaft mit ihrer Definition des Hirntodes als „Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ 77 bei einer mittleren Position. Dagegen „wurden Stimmen laut, die die Gleichsetzung des personalen Todes mit dem irreversiblen Verlauf der Funktionen aller Hirnteile inklusive des Stammhirns als zu strikt kritisieren [... und ...] das Kriterium eines irreversiblen Funktionsausfalls des Großhirns für ausreichend (halten)“ 78 . Damit würde das Menschsein noch enger mit Intellekt und Vernunft assoziiert und die körperlich-biologischen Leistungen, die zum vegetativen Status führen und diesen aufrecht erhalten, in ihrer Bedeutung als nicht relevant herabgestuft. Aber auch aus rein pragmatischen Gründen des „Festhaltens an einer ‚Sicherheitszone‘“ 79 kann man und wird vielleicht die Ärzteschaft nach den Erfahrungen der irreführenderweise ‚Euthanasie‘ genannten „Vernichtung unwerten Lebens“ 80 im Dritten Reich das Kriterium des Ganzhirn-Todes bevorzugen. MENSCHENBILDER UND MEDIZIN Der Blick auf einige Bereiche von Standesethik und Medizinrecht hat im Laufe der Zeit eine Fülle von Veränderungen aufgezeigt. Das ist nicht verwunderlich, denn – wie auch der Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer schreibt – „die Frage, was eine gesellschaftsverträgliche Gesundheitsversorgung bzw. Gesundheitsforschung ausmacht, ist in 74 Bekanntmachungen der Bundesärztekammer „Erklärung zum Hirntod“. Deutsches Ärzteblatt 2001, S. B-1203. 75 D. Birnbacher et al.: Der vollständige und endgültige Ausfall der Hirntätigkeit als Todeszeichen des Menschen – Anthropologischer Hintergrund. Deutsches Ärzteblatt 1993, S. B-2170 (2171). 76 Der endgültige Ausfall der gesamten Hirnfunktion („Hirntod“) als sicheres Todeszeichen. Deutsches Ärzteblatt 1993, S. B-2177 (2178). 77 Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes. Deutsches Ärzteblatt 1998, S. B-1509. 78 H.-M. Sass: Hirntod und Hirnleben. In: Ders. (Hrsg.): Medizin und Ethik. Stuttgart 1989, S. 161 (165). 79 G. Wolfslast: Grenzen der Organgewinnung – Zur Frage der Änderung des Hirntodkriteriums. Medizinrecht 1989, S. 163 (168). 80 Vgl. E. Klee: Euthanasie im NS-Staat. Die „Vernichtung unwerten Lebens“. 3. Aufl. Frankfurt/Main 1989. 16
hohem Maße kulturabhängig“ 81 oder – wie es in einem Beschluss des 103. Deutschen Ärztetages heißt – „moderne Möglichkeiten medizinischer Forschung und Klinik (berühren) immer mehr die Frage nach Menschenbild und Menschenwürde“ 82 . Für die Zukunft fordert der Ärztetag, dass „ein streng an der Menschenwürde orientiertes Menschenbild führender Leitgedanke sein (muss)“ (a.a.O.). Schon vorher hatte der 99. Deutsche Ärztetag im Nachdenken über „Das Wertebild der Ärzteschaft 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess“ 83 zu den „ethischen Grundnormen unseres Berufes ... Die Achtung vor der Würde des Menschen. Die Achtung vor dem Lebensrecht des Menschen“ (a.a.O.) gezählt, und zwar in dieser früher nicht vertretenden Reihenfolge. Es bleibt als andauernde Ausgangssituation, dass Menschen als komplexe Lebewesen verschiedenen Seins-Dimensionen zugehörig sind, mindestens einer körperlich-biologischen und einer geistig-sittlichen. Je nachdem, ob man nur eine für die Relevante hält oder beide, und wenn letzteres, dann bei Konflikt-Konstellationen in welcher Reihenfolge, ergeben sich normative Grundmodelle medizinischer Interventionsmuster (vgl. Anlage). Eine einseitige körperfixierte Sichtweise, basierend auf einer betont naturwissenschaftlichen Auffassung der Medizin, sieht im Patienten zuerst das leibliche Wesen. Bleibt man dabei stehen, sind als Konsequenz die Rettung des Lebens und die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit absolute Zielwerte. Das würde für die Kommunikationsbeziehung (Aufklärung/Einwilligung) deren völlige Instrumentalisierung zur Erreichung des somatisch- medizinisch Indizierten bedeuten, hinsichtlich der Fertilisationsmedizin die Schaffung von genetisch optimiertem Leben mittels der Eugenik, beim Schwangerschaftsabbruch höchstens die Akzeptanz der medizinischen Indikation, in Bezug auf Organverpflanzungen die unbeschränkte Verfügbarkeit von Organen Verstorbener sowie im terminalen Bereich einen unbedingten Lebensschutz bzw. das (Ganz-)Körper-Todeskriterium. Die frühere mehrheitliche ärztliche Position war einen Schritt zugegangen auf die Berücksichtigung der Würde und die Autonomie des Patienten und hat dessen Entscheidung respektiert – außer in vital indizierten Fällen. Da die geistige an die körperliche Existenz gekoppelt sei, könne sie nicht höher stehen und müsse im extremen Konflikt, wenn es eben um Leben oder Tod gehe, zurücktreten. Die Auswirkung dieser Haltung im kommunikativen Bereich war die prinzipielle Einhaltung des Gebots des informed consent bei ausnahmsweiser 81 St. Winter/Ch. Fuchs: Von Menschenbild und Menschenwürde. Deutsches Ärzteblatt 2000, S. B-261. 82 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer. Ethische Fragen. Deutsches Ärzteblatt 2000, S. B-1182. 83 Lehren der Vergangenheit. Verantwortung für die Zukunft. Deutsches Ärzteblatt 1996, S. B-1336. 17
Inanspruchnahme eines ‚therapeutischen Privilegs‘ zur Todesabwehr. In der Fortpflanzungsmedizin musste eine Verwendung genetischen Materials ohne Wissen und Zustimmung der Herkunftspersonen ausscheiden, beim Schwangerschaftsabbruch führte sie zu einer weiten Indikationsregelung und bei der Organverpflanzung zur Beachtung eines Explantationsverbots, d.h. zur Widerspruchs- oder Informationslösung. Auf dem Gebiet der Sterbehilfe waren deren passive und indirekte Formen zur Ermöglichung eines menschenwürdigen Todes bei Beachtung des Verbots der Schadenszufügung möglich. Obwohl in der Geschichte so nicht diskutiert, würde an dieser Stelle das ‚Non heart-beating‘- Todeskriterium gehören, weil der Versterbende nicht mehr reanimierbar ist, aber die biologische Struktur der Organe noch erhalten (und damit eine Transplantation möglich) ist. Die sich nunmehr herausbildende Grundposition geht auch von einer Koppelung der körperlichen und geistigen Existenzformen aus, kehrt deren Priorität aber zu Gunsten der mental-sittlichen Ebene um. Daraus folgt, dass alle Maßnahmen zur somatischen Erhaltung und Verbesserung zu unterlassen sind, bei denen die individuelle Autonomie und personale Würde des Betroffenen vor seinem biologischen Tod Schaden nimmt oder gar ‚stirbt‘. Das wäre etwa der Fall, wenn dem Kranken im kommunikativen Bereich trotz nachhaltigen Interesses Informationen vorenthalten würden oder wenn er ohne bzw. gar gegen seinen Willen behandelt würde. Von daher wandelt sich das von Ärzten in Anspruch genommene ‚therapeutische Privileg‘ im Konfliktfalle zum ‚Autonomie-Privileg‘ des betroffenen Patienten. Bei der Fertilisationsmedizin kommt der Wahrung der Würde aller Beteiligten, insbesondere auch des zu schaffenden Kindes, Vorrang vor dem Fortpflanzungsinteresse der Wunscheltern und der genetischen Verbesserung ihres Nachwuchses zu. Hinsichtlich der Abtreibungsfrage führt die Position zur Selbstbestimmungskompetenz der Schwangeren unter Berücksichtigung von embryonalen Lebensaspekten durch Frist und/oder Beratung. In Bezug auf Transplantationen ist die Zustimmungsregelung einschlägig, d.h. keine Organentnahme ohne zumindest eine im Sinne des Verstorbenen geäußerte Einwilligung. Im terminalen Stadium würde schließlich bei der Gefahr eines menschenunwürdigen Todes die Hilfe zum Sterben nicht prinzipiell verweigert. Das Kriterium des Ganz-Hirn-Todes stellt darauf ab, dass der Geist unwiderruflich erloschen ist und Körperfunktionen nicht selbstständig ablaufen. Würde man die kombinierte Sichtweise vom Menschen verlassen und ihn allein als geistig-sittliches Wesen auffassen, so müsste die körperlich-biologische Existenzdimension ganz in den Hintergrund treten und bewusstmachende Aufklärung angesichts des Todes auch 18
aufgedrängt werden. Auf genetische Verbesserungen würde zu Gunsten von Erziehung verzichtet und Infertilität nicht therapiert, sondern das Wunschelternpaar auf Adoption verwiesen. Die ungebundene Autonomie der Frau könnte eine Schwangerschaft aus jedem Anlass, mindestens bis zur eigenen Lebensfähigkeit des Fötus oder bis zur Geburt beenden. Organexplantation wäre nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Betroffenen möglich; die Tötung auf Verlangen oder gar eine Euthanasie nach objektiver Werteabwägung wäre zuzulassen und – last but not least – würde der Kortikaltod ausreichen, weil bei irreversibel erloschenem Geist auch die Spontanatmung und der sonstige vegetative Status keine Relevanz mehr hätten. Normen der Medizin stehen also in einem Abhängigkeitsverhältnis vom Menschenbild: ein Wandel von Medizinethik und -recht deutet auf ein gewandeltes Menschenbild hin wie andererseits die Präferierung eines bestimmten Menschenbildes zu Folgen für die Ge- und Verbote beim ärztlichen Handeln führt. 19
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