ZFAZeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine - Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin
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ZFA 5 I 2020 96. JAHRGANG Zeitschrift für Allgemeinmedizin / German Journal of Family Medicine Antikörpertests gegen SARS-CoV-2: sinnvoll oder nicht? SEITE 230 ZFA 5/2020 96. JAHRGANG Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum SEITE 198 Assessment of Burden of COPD SEITE 205 Ambulantes PJ-Quartal: was würden Studierende wählen? SEITE 220 This journal is regularly listed in EMBASE/Excerpta Medica, Scopus and CCMED/LIVIVO.
HERAUSGEBENDE GESELLSCHAFTEN / PUBLISHING INSTITUTIONS ZFA Organ der/des ... / Official journal of the ... Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) German College of General Practitioners and Family Physicians Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA) Society of Professors and University Lecturers of Family Medicine Niederösterreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (NÖGAM) Lower Austrian Society of Family Medicine Österreichischen Instituts für Allgemeinmedizin (ÖIfAM) Austrian Institute of Family Medicine Salzburger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (SAGAM) Salzburg Society of Family Medicine Steierischen Akademie für Allgemeinmedizin (STAFAM) Styrian College of Family Medicine Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SüGAM) Southern Tyrolean Society of Family Medicine Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (TGAM) Tyrolean Society of Family Medicine Vorarlberger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (VGAM) Vorarlberg Society of Family Medicine Titelbildhinweis: picture alliance/AP Photo © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
EDITORIAL / EDITORIAL 193 Nackter Protest Nacktheit als Zeichen des Protests und um Aufmerksamkeit für politische Ziele zu erregen, begegnet uns häufig. In den letzten Jahren waren es vielfach die FEMEN-Aktivistinnen, die sich mit Nacktaktionen für Gleichberechtigung und gegen sexuelle Gewalt einsetzten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte mindestens einmal mit nack- ten Frauen zu tun, als im April 2019 zwei FEMEN-Aktivistinnen eine Veranstal- tung in Dithmarschen in Schleswig-Holstein störten, um gegen die Neurege- lung des §219 zu protestieren. Sie sangen ein Lied („Das ist Wahnsinn“) und be- warfen ihn mit Papierschnipseln, auf denen Vorschläge zu lesen waren, was man mit fünf Millionen Euro bezahlen könnte. Diese Summe hatte Spahn zu- vor für eine Studie über die seelischen Folgen von Abtreibungen bewilligt. Er konterte gelassen: „Bei mir kommt ihr mit Ausziehen nicht so weit. Das tut mir leid.“ Ein Jahr später hat er es erneut mit Nackten zu tun, und zwar mit Hausärz- tinnen und Hausärzten. Unter dem Stichwort „blankebedenken“ machen sie nackt in und vor ihren Praxen auf den massiven Mangel an Schutzausrüstung aufmerksam. In einer Petition an die Gesundheitsminister/innen der Länder fordern sie neben einer suffizienten Ausstattung mit Schutzausrüstung den Einbezug von Hausärztinnen und Hausärzten in die Entscheidungen zur Siche- rung der Versorgung. Zu oft sind in letzter Zeit Beschlüsse gefasst worden, wel- che die hausärztliche Versorgung eher gefährden als unterstützen. Man denke nur an den Stopp der Telefon-AU oder Zwangsverpflichtungen von Hausärz- tinnen und Hausärzten, die die Systematik der Versorgung durcheinander- bringen und die Kontinuität des Arzt-Patienten-Verhältnisses gefährden. Unter www.blankebedenken.org können Sie die Petition einsehen. Verglichen mit den kurzen, radikalen Protestaktionen der FEMEN-Aktivistin- nen wahrt der nackte Protest der Hausärztinnen und Hausärzte den professio- nellen Rahmen; Patientinnen und Patienten sollen nicht beschämt werden. Auch im Protest zeigen sich die Hausärztinnen und Hausärzte „als hingebungs- und vertrauensvolle Primärversorger, die die Gesundheit ihrer Patientinnen und Patienten an die erste Stelle setzten und bereit sind, dafür notfalls auch Widrig- keiten in Kauf zu nehmen.“ Dieses Zitat stammt aus dem Aufsatz von Wangler und Jansky in diesem Heft zum „Hausärztemangel im Spiegel der Medien“ – er passt sehr gut zu der Nackt-Aktion. Dass Diskussion wichtig ist, zeigen in diesem Heft gleich zwei Original- arbeiten, die gemeinsam mit direkten Kommentaren veröffentlicht werden. Es sind die Studien von Berghöfer et al. zu „Innovativen Modellen zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum“ und von Klosterhalfen et al. zum „Assessment of Burden of COPD (ABC) Tool“ in der hausärztlichen Praxis. Blankenfeld et al. diskutieren in der Arbeit „Antikörpertests gegen SARS-CoV-2: Warum ein guter Test nicht immer gute Ergebnisse produziert“ über den Sinn und Unsinn dieser Tests in der aktuellen Situation. Die zugrunde gelegten Sensitivi- täten und Spezifitäten werden in den nächsten Tagen und Wochen sicher ak- tualisiert werden, auch die Prävalenz von Menschen mit durchgemachter Infek- tion wird sich verändern. Welche Folgen diese Aktualisierungen für den positi- ven und negativen prädiktiven Wert des Testergebnisses haben werden …das auszurechnen überlassen wir Ihren Rechenkünsten. Die Anleitung finden Sie in den Abbildungen der o.g. Übersichtsarbeit. Ich wünsche Ihnen gutes Rechnen und Diskutieren, viel Erfolg und Freude weiterhin bei der Versorgung Ihrer Patientinnen und Patienten – und Gesund- heit! Ihre Hanna Kaduszkiewicz © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
194 INHALTSANGABE / TABLE OF CONTENTS EDITORIAL / EDITORIAL Hanna Kaduszkiewicz 193 Nackter Protest DEGAM-BENEFITS / DEGAM BENEFITS Michael M. Kochen 195 Die ZFA – Zeitschrift für Allgemeinmedizin braucht, wie alle Zeitschriften mit einem Peer-Review-System, laufend neue Gutachter/innen 195 Wirksamkeit von kurzen Interventionen bei Alkoholkranken in der hausärztlichen Praxis Efficacy of Short Interventions for Patients with Alcoholism in Primary Care 196 Der primäre Hyperaldosteronismus ist die häufigste Ursache der sekundären Hypertonie Primary Hyperaldosteronism: the Most Frequent Underlying Condition for Secondary Hypertension 197 Schusswaffenepidemie in den USA Firearm Epidemic in the US 197 Verschreibungskosten für Antidepressiva: Was bekommen wir für 266 Millionen britische Pfund pro Jahr? NHS Antidepressant Prescribing: What do We Get for £266m a Year? ORIGINALARBEIT / ORIGINAL ARTICLE Anne Berghöfer, Carolin Auschra, Jana Deisner, Jörg Sydow 198 Innovative Modelle zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Innovative Models for Securing Health Care in Rural Areas KOMMENTAR/MEINUNG / COMMENTARY/OPINION Uwe Kurzke 203 Innovativ? Kommentar zu Berghöfer A et al., Innovative Modelle zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Innovative? Commentary to Berghöfer A et al., Innovative Models for Securing Health Care in Rural Areas ORIGINALARBEIT / ORIGINAL ARTICLE Stephanie Klosterhalfen, Christian Funke, Antonius Schneider, Daniel Kotz 205 Das „Assessment of Burden of COPD (ABC) Tool“ in der hausärztlichen Praxis Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie The „Assessment of Burden of COPD (ABC) Tool“ in Family Medicine: Results of a Feasibility Study KOMMENTAR/MEINUNG / COMMENTARY/OPINION Thomas Hausen 211 Die Betreuung von COPD-Patienten in Deutschland: Problematik einer individuellen Therapie Caring for COPD Patients in Germany – Problems of Individualized Treatment ORIGINALARBEIT / ORIGINAL ARTICLE Julian Wangler, Michael Jansky 214 Hausärztemangel im Spiegel der Medien. Eine inhaltsanalytische Studie zu Darstellungsmustern in der Nachrichtenberichterstattung Family Physician Shortage from the Perspective of the Media A Content-analytic Study on Presentation Patterns in News Reporting Inga Petruschke, Sven Schulz, Michelle Kaufmann, Miriam Hesse, Jutta Bleidorn 220 Ambulantes Quartal im Praktischen Jahr: Welches Fach würden Medizinstudierende wählen? Practical Year Training in Outpatient Care: Which Subject Would Medical Students Choose? Andreas Fichtner 225 Krankheitsspektrum und Konsultationsgründe von Gästen und Angestellten in der gehobenen internationalen Resort-Hotellerie einer zentralafrikanischen Safaridestination Disease Spectrum and Reasons for Medical Consultation among Guests and Staff in a High Level Remote Safari Hotel Setting in Central Africa ÜBERSICHTSARBEITARBEIT / REVIEW ARTICLE Hannes Blankenfeld, Eva Grill, Hanna Kaduszkiewicz, Josef Pömsl, Michael M. Kochen 230 Antikörpertests gegen SARS-CoV-2: Warum ein guter Test nicht immer gute Ergebnisse produziert Antibody Assays Against SARS-CoV-2: Why a Good Test Does not Always Produce Proper Results 234 LESERBRIEFE / LETTERS TO THE EDITOR 236 DEGAM-NACHRICHTEN / DEGAM NEWS 238 DESAM-NACHRICHTEN / DESAM NEWS 239 DEUTSCHER HAUSÄRZTEVERBAND / GERMAN ASSOCIATION OF FAMILY PHYSICIANS 240 IMPRESSUM / IMPRINT © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
DEGAM-BENEFITS / DEGAM BENEFITS 195 DEGAM-Benefits DEGAM Benefits Ausgewählt und verfasst von Prof. Dr. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP, Freiburg Die ZFA – Zeitschrift für Allgemeinmedizin braucht, wie alle Zeitschriften mit einem Peer-Review-System, laufend neue Gutachter/innen Wenn Sie sich eine solche gelegentli- 10700 plus Ihre 5-stellige DEGAM- che – ehrenamtliche – Tätigkeit vor- Mitgliedsnummer, z.B. 1070025022), stellen können (detaillierte Informa- die Sie auf dem Adresslabel der ZFA tionen unter www.online-zfa.de/file finden (die Zahlen zwischen den Rau- admin/user_upload/media/Informati ten). Mitglieder anderer Fachgesell- onen_fuer_Gutachter.pdf), melden Sie schaften haben eine andere „Vor- sich bitte bei mir mit kurzen Angaben spann“-Nummer, die Sie im Verlag er- über Ihren Werdegang und ggf. spe- fragen können. zielle Interessen: mkochen@gwdg.de. Mit Hilfe der ZFA, die Sie vielleicht Übrigens: Die volle Nutzung der gerade in der Hand halten, können neugestalteten Webseiten der ZFA ist Sie diese einmalige Registrierung nur dann möglich, wenn Sie sich ein- gleich vornehmen. Danach sind die malig registrieren unter www.online- Seiten auch auf peripheren Geräten zfa.de/registrierung/ – und das erfordert wie Tablet oder Smartphone ohne Ihre DEGAM-Mitgliedsnummer (bzw. Einschränkung nutzbar. Wirksamkeit von kurzen Interventionen bei Alkoholkranken in der hausärztlichen Praxis Efficacy of Short Interventions for Patients with Alcoholism in Primary Care Ein gerade veröffentlichter Cochrane Nach einem Jahr tranken die- Review beschäftigt sich mit der Wirk- jenigen, bei denen interveniert samkeit von kurzen Interventionen wurde, pro Woche rund einen hal- bei Alkoholkranken in der hausärztli- ben Liter Bier bzw. 250 ml Wein we- chen Praxis (z.T. auch in Notfallambu- niger. lanzen). Die Autoren schlossen 69 Studien Den Abstract des Reviews finden Sie un- (33.642 Patienten) ein, die kurze In- ter http://onlinelibrary.wiley.com/doi/ Foto: Tobias/stock.adobe.com terventionen mit keinen oder nur mi- 10.1002/14651858.CD004148.pub4/ab nimalen „Eingriffen“ verglichen. In stract;jsessionid=1449A6513182D57 F512EC8BD4594F0D0.f03t04, 87 % der Untersuchungen wurde die den Volltext wie immer über DEGAM Finanzierungsquelle angegeben; bis intern unter http://onlinelibrary.wiley. auf zwei Studien waren keine kom- com/doi/10.1002/14651858. merziellen Sponsoren beteiligt. CD004148.pub4/full © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
196 DEGAM-BENEFITS / DEGAM BENEFITS Der primäre Hyperaldosteronismus ist die häufigste Ursache der sekundären Hypertonie Primary Hyperaldosteronism: the Most Frequent Underlying Condition for Secondary Hypertension Vor wenigen Jahren hat die US-ame- aufwiesen. Nach Aus- rikanische Endocrine Society in der füh- schluss von 3457 Patien- renden endokrinologischen Zeit- ten (u.a. wegen Alters < 18 schrift (Journal of Clinical Endocrinolo- Jahren, vorbestehendem gy and Metabolism) eine Leitlinie zur Hochdruck, Einnahme von Anti- Diagnostik und Behandlung des pri- hypertensiva oder Komorbidität wie mären Hyperaldosteronismus publi- Diabetes, Nieren- oder Herzinsuffi- ziert. Wie Sie gleich sehen werden, ist zienz) verblieben 3748 Personen. nicht nur der Inhalt der Leitlinie, son- Da die hausärztliche Leitlinie dern auch die herausgebende Fachge- „Bluthochdruck“ der holländischen sellschaft ... sagen wir, be- Kolleginnen und Kollegen – im Ge- merkenswert. gensatz zur Endocrine Society – emp- • Die Endocrine Society sagt fiehlt, nur diejenigen Patienten einer von sich in eindrucksvoller Aldosteron- bzw. Reninbestimmung Bescheidenheit: „We are … energized terweise für eine erheblich größere zu unterziehen, die Hypertonie und by the promise of unravelling the mys- Anzahl von Patienten, nämlich u.a. gleichzeitige Hyperkaliämie oder eine teries of hormone disorders to care for solchen Therapieresistenz aufweisen, wurden patients and cure disease“. • mit anhaltendem Blutdruck > 150/ die 361 Personen (9,6 % von 3748) • We are devoted to … excellence in the 100; untersucht, welche diese Kriterien er- clinical practice of endocrinology … • mit einem Blutdruck > 140/90 trotz füllten. Simply put: we unite, lead, and grow Gabe von drei Antihypertensiva the endocrine community to accelerate (inkl. einem Diuretikum); Ergebnisse scientific breakthroughs and improve • mit einem Blutdruck < 140/90, der • 92 der 361 untersuchten Patienten health worldwide“. Wow! mit mindestens vier Arzneimitteln waren positiv und wurden einem kontrolliert ist; SIT unterzogen. Als ob diese marketingorientierte Dar- • mit Hypertonie und spontaner • Von diesen 92 Verdachtsfällen wie- stellung nicht genug wäre. Hinzu oder diuretikainduzierter Hypoka- sen ganze neun (n = 9) einen positi- kommen die finanziellen Verflech- liämie; ven SIT auf, bei weiteren sechs war tungen etlicher Autoren mit der phar- • mit Hypertonie und Schlaf-Apnoe. das Testergebnis unklar und 59 wa- mazeutischen Industrie, die man am ren testnegativ. Ende der Veröffentlichung auf sich Angesichts dieser Daten, welche die • Die Prävalenz eines gesicherten, pri- wirken lassen kann ... Autoren fälschlicherweise als evi- mären Hyperaldosteronismus in Die initiale Diagnostik des primä- denzbasiert erachten, kommt – genau diesem hausärztlichen Patienten- ren Hyperaldosteronismus besteht zum richtigen Zeitpunkt – eine Wider- kollektiv von annähernd 4000 Pa- aus der Bestimmung von Aldosteron legung aus der universitären All- tienten betrug also ... 0,24 %! und Renin im Plasma. Alle Patienten gemeinmedizin: Wissenschaftler von mit einer erhöhten Aldosteron/Re- der Radboud-Universität im holländi- Funder JW, Carey RM, Mantero F, et al. nin-Ratio werden dann zur Diagnose- schen Nijmegen haben im British Jour- The management of primary aldostero- bestätigung einem Kochsalzinfusi- nal of General Practice eine Quer- nism: case detection, diagnosis, and onstest (SIT) unterzogen. Nur falls schnittsstudie zur Prävalenz des pri- treatment. An Endocrine Society Clinical Practice Guideline. J Clin Endocrinol dieser Test positiv ausfällt, steht die mären Hyperaldosteronismus in der Metab 2016; 101: 1889–1916. Abbildung: molekuul.be/stock.adobe.com Diagnose eines primären Hyperaldos- Primärmedizin publiziert. https://academic.oup.com/jcem/ teronismus fest. article-pdf/101/5/1889/20287850/ Während hausärztliche Empfeh- Methoden jcem1889.pdf lungen aus gutem Grunde nur rela- Eingeschlossen waren 55 hausärzt- tiv wenige Hypertoniker für die- liche Gemeinschaftspraxen mit nicht Käyser SC, Deinum J, de Grauw WJC, et al. Prevalence of primary aldosteronism se Laboruntersuchungen vorsehen weniger als 7205 Patienten, die eine in primary care: a cross-sectional study. (s.u.), empfiehlt die Leitlinie der En- neu entdeckte, noch nicht behandel- Br J Gen Pract 2018; 68: e114-e122. docrine Society [Funder et al. 2016] te Hypertonie nach den Kriterien der http://bjgp.org/content/early/2018/ die Untersuchung bemerkenswer- Europäischen Hochdruckgesellschaft 01/15/bjgp18X694589/tab-pdf © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
DEGAM-BENEFITS / DEGAM BENEFITS 197 Schusswaffenepidemie in den USA Firearm Epidemic in the US „Eine Epidemie“, heißt es in Wikipe- dia, „ist die zeitliche und örtliche Häu- fung einer Krankheit innerhalb einer menschlichen Population“. Betroffen von einer Epidemie sind nicht nur deren Todesopfer, sondern auch diejenigen, welche die Über- lebenden (mit z.T. lebenslangen kör- perlichen und seelischen Folgen) ver- sorgen müssen, in erster Linie Ärztin- nen und Ärzte. Und: Bei Epidemien geht es keineswegs immer nur um In- fekte; auch andere Krankheiten und „Ereignisse“ (z.B. Verkehrsunfälle) in der Süddeutschen Zeitung unter desstaaten und den Einfluss der Waf- Abbildung: PT88/stock.adobe.com können sich epidemisch ausbreiten. www.sueddeutsche.de/panorama/usa- fenlobby National Rifle Association Sie ahnen schon, was jetzt kommt ... ein-land-unter-waffen-in-sieben-grafi- (NRA). In den USA gab es 2017 325,7 Mil- ken-1.3694023. Nach einem der letzten Massaker lionen Einwohner und 300 Millionen Eine detaillierte, auch sozialwis- mit einem Sturmgewehr an der Marjo- Schusswaffen (92 Waffen pro 100 Per- senschaftliche, Analyse des Problems ry Stoneman Douglas High School in sonen; Deutschland: 32, Österreich: zeigt das Pew Research Center in Wa- Florida aber haben sich Schüler im 30). 43 % aller Amerikaner leben in ei- shington, D.C. unter http://assets. ganzen Land zu einem lauten und of- nem Haushalt mit mindestens einer pewresearch.org/wp-content/uploads/ fenbar nachhaltigen Protest zusam- Schusswaffe. sites/3/2017/06/06151541/Guns-Re- mengeschlossen. Und ... die Stim- Im Jahre 2017 gab es durch port-FOR-WEBSITE-PDF-6-21.pdf. mung scheint sich zu drehen. Schusswaffen 15.590 Tote (25 % da- Nach Massenschießereien gibt es Die New York Times berichtete von Kinder und Jugendliche) und in den USA meist die üblichen Trau- über einen von Schülern verfassten 31.181 Verletzte. erbekundungen sowie kurzfristige Aufruf, der den Nagel auf den Kopf Einige anschauliche Grafiken zu und erfolglose Proteste gegen die la- trifft: „Dear National Rifle Association: diesen erschreckenden Zahlen gibt es xen Waffengesetze der meisten Bun- We Won’t Let You Win.“ Verschreibungskosten für Antidepressiva: Was bekommen wir für 266 Millionen britische Pfund pro Jahr? NHS Antidepressant Prescribing: What do We Get for £266m a Year? Derek Summerfield ist ein in Südafri- • „Das Royal College of Psychiatrists • Kann irgendjemand ernsthaft ar- ka geborener Psychiater, der am Lon- und die Medien behaupten routi- gumentieren, dass die britische doner Institute of Psychiatry, Psychology nemäßig, dass es eine „Epidemie“ Bevölkerung als Ergebnis unserer and Neuroscience arbeitet. Bekannt ist mentaler Erkrankungen gebe, Epidemie von Antidepressiva-Ver- er nicht nur für seine internationale dass im UK jeder Vierte betrof- ordnungen gesünder und glück- Tätigkeit, sondern auch ... für seine fen sei und drei von vier Pa- licher ist – 64,7 Millionen Rezepte kritischen Einschätzungen des eige- tienten nicht die Behandlung er- im Jahre 2016, ein „Aufstieg“ von nen Fachgebiets. hielten, die sie bräuchten. Die- den rund neun Millionen Ver- In einem Kommentar für das British se „Krankheitsvermarktungs-Be- ordnungen in den Neunziger Jah- Medical Journal fragt er provokativ, was hauptungen“ (disease-mongering ren?“ denn das Ergebnis der im National assertions) würden so oft wieder- Health System für Antidepressiva aus- holt, dass sie als ungeprüfte gesell- Summerfield D. NHS antidepressant pres- gegebenen 310 Millionen Euro sei. schaftliche Binsenweisheiten gel- cribing: what do we get for £266m a year? Wörtlich schreibt er u.a.: ten“. BMJ 2018; 360: k1019 © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
198 ORIGINALARBEIT / ORIGINAL ARTICLE Innovative Modelle zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Innovative Models for Securing Health Care in Rural Areas Anne Berghöfer1, Carolin Auschra2, Jana Deisner3, Jörg Sydow2 Hintergrund Background Die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung in ländli- Securing health care in rural areas is becoming increasingly dif- chen Regionen gestaltet sich zunehmend schwieriger. Inzwi- ficult. In the meantime, a variety of models and measures has schen wurde eine Vielfalt von Modellen und Maßnahmen ent- been developed to ensure the long-term provision of health wickelt, die eine langfristige Sicherstellung der gesundheitli- care in rural areas beyond the scope of traditional planning by chen Versorgung im ländlichen Raum jenseits der klassischen the association of statutory health insurance physicians. Bedarfsplanung ermöglichen sollen. Methods Methoden Using systematic research in different databases and selected Mittels einer systematischen Recherche in verschiedenen Da- medical journals, innovative models for health care in rural tenbanken und ausgewählten Zeitschriften wurden innovative areas in Germany were identified and systematised from an or- Modelle für die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum in ganisational point of view. In 33 interviews with 35 selected Deutschland identifiziert und unter organisationalen Gesichts- experts, barriers and facilitators for the development and im- punkten systematisiert. In 33 Interviews mit 35 ausgewählten plementation of the models were explored and potentials for Experten wurden Barrieren und förderliche Aspekte für die Ent- their use were identified. The interviews were qualitatively ana- wicklung und Implementierung der Modelle exploriert sowie lysed and the results triangulated with literature and docu- Potenziale ihres Einsatzes identifiziert. Die Interviews wurden ments. qualitativ inhaltsanalytisch ausgewertet und die Ergebnisse mit Results Literatur und Dokumenten validiert. 90 models in the outpatient or inpatient sector, cross-sectoral, Ergebnisse or context measures were identified. The largest part used clas- 90 Modelle im ambulanten oder stationären Sektor, sektor- sical or newer (medical care centre) practice organisation übergreifend, oder Kontextmaßnahmen wurden identifiziert. forms and combined these with design elements such as dele- Der größte Teil bediente sich klassischer oder neuerer (MVZ) gation, telemedicine, mobility, networking or supporting con- Praxisorganisationsformen und kombinierte diese mit Gestal- text measures. Implementation experiences and perceived tungselementen wie Delegation, Telemedizin, Mobilität, Netz- barriers arose at the level of the model, in the local environ- werkarbeit oder unterstützenden Kontextmaßnahmen. Imple- ment and at the level of the health system. mentierungserfahrungen und wahrgenommene Barrieren Conclusions entstanden auf der Ebene der Modelle, in der lokalen Umwelt None of the models can yet be regarded as a blueprint for solv- sowie auf der Ebene des Gesundheitssystems. ing health care problems in rural areas. Changed forms of ac- Schlussfolgerungen tivity in the medical profession (part-time work, employment Keines der Modelle kann bislang als Blaupause für die Lösung contracts, networking), distance-bridging solutions (telemedi- von Versorgungsproblemen im ländlichen Raum angesehen cine) and inter-professional cooperation (networking, dele- werden. Veränderte Tätigkeitsformen in der Ärzteschaft (Teil- gation) have potential. The expansion of management com- zeit, Angestelltenverhältnis, Vernetzung), distanzüberbrücken- petencies for work with and within complex models and the de Lösungen (Telemedizin) und interprofessionelle Zusam- prospect of transfer to standard care when the effectiveness of menarbeit (Vernetzung, Delegation) besitzen Potenzial. Der innovative models has been scientifically proved is necessary. Ausbau von Managementkompetenzen für die Arbeit mit und Keywords in komplexen Modellen sowie die Aussicht auf Überführung in health care model; rural area; organisational form; context die Regelversorgung bei positiver wissenschaftlicher Evaluati- design on der Wirksamkeit innovativer Modelle ist erforderlich. Schlüsselwörter Versorgungsmodell; ländlicher Raum; Organisationsform; Kontextgestaltung 1Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin Berlin 2Management-Department, Freie Universität Berlin 3Graduiertenkolleg „Innovationsgesellschaft heute“, Institut für Soziologie, Technische Universität Berlin Peer reviewed article eingereicht: 16.12.2019, akzeptiert 30.01.2020 DOI 10.3238/zfa.2020.0198–0202 © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
Berghöfer et al.: Innovative Modelle zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Innovative Models for Securing Health Care in Rural Areas 199 Hintergrund lang in vergleichbaren Untersuchun- die geförderte Innovationsfondspro- Die Sicherstellung der gesundheitli- gen zu kurz gekommen sind [6]. Da- jekte im Bereich „Neue Versorgungs- chen Versorgung in ländlichen Regio- rüber hinaus wurden Barrieren und formen“ darstellt, beim Bundesminis- nen gestaltet sich zunehmend förderliche Aspekte für die Entwick- terium für Bildung und Forschung im schwieriger. Für eine drohende oder lung und Implementierung innovati- Bereich Gesundheitsforschung, in der bereits wahrgenommene Unterver- ver Versorgungsmodelle exploriert so- MSD-Gesundheitspreis-Datenbank sorgung werden demografischer wie Potenziale des Einsatzes der un- und im Deutschen Ärzteblatt. Wandel, Abwanderung jüngerer Men- terschiedlichen Modelle identifiziert. In einem zweiten Schritt wurden schen in strukturstärkere Regionen Nicht im Fokus der Studie stand die die identifizierten Modelle hinsicht- sowie eine infrastrukturelle Benach- Frage nach der Wirksamkeit der iden- lich ihrer organisationalen Merkmale, teiligung ländlicher Regionen als ur- tifizierten Modelle auf die Verbes- der beteiligten Akteure und ihrer sächlich angesehen. Damit verbun- serung der Versorgungssituation. Kontextfaktoren systematisiert. den ist ein zunehmender Fachkräfte- Schließlich wurden unter Verwen- mangel, der alle für die Versorgung Methodik dung eines semistrukturierten Inter- kritischen Professionen betrifft. So Die Studie erfolgte aus einer in den viewleitfadens mit ausgewählten Re- auch Ärzte und Pflegekräfte, die sich Sozialwissenschaften verankerten or- präsentanten der identifizierten Mo- zunehmend in städtischen Räumen ganisationstheoretischen Perspektive delle Expertengespräche geführt zu konzentrieren [1]. Die Verteilung der und verwendete eine qualitative For- Aspekten der Entwicklung des jeweili- Leistungserbringer im Gesundheits- schungsmethodik. Ergebnisse der In- gen Modells sowie zu Barrieren und wesen wird jedoch nicht in ausrei- terviews wurden mithilfe von Sekun- förderlichen Einflüssen auf Imple- chend flexiblem Maße angepasst [2]. därdokumenten und wissenschaftli- mentierung und Verstetigung. Zwi- Die Bedarfsplanung der ambulan- chen Publikationen validiert. schen Juni 2018 und Dezember 2019 ten vertragsärztlichen Versorgung Mittels einer Literaturrecherche fanden 33 Interviews mit 35 Experten wurde mehrfach an die o.g. veränder- wurden in deutschsprachigen Daten- statt. Nach informierter Einwilligung ten Bedingungen adjustiert, zuletzt banken und Fachzeitschriften bis durch die Interviewpartner wurden auch unter Berücksichtigung der Er- März 2018 Publikationen zu Gesund- die Interviews aufgezeichnet, pseudo- reichbarkeit von Leistungserbringern heitsversorgungsmodellen identifi- nymisiert transkribiert und qualitativ [3], ermöglicht jedoch kaum effektive ziert. Folgende Einschlusskriterien inhaltsanalytisch ausgewertet. Maßnahmen für eine flexible und mussten vollständig erfüllt sein: kurzfristige Anpassung von fehlver- • Region nach eigenen Angaben von Ergebnisse teilten Ressourcen [2]. Die Bedarfspla- Unterversorgung bedroht oder be- nung der stationären Versorgung er- troffen Identifikation und folgt vielmehr völlig unabhängig da- • Laufende oder abgeschlossene Mo- Systematisierung innovativer von durch die Bundesländer. Die Bet- delle mit Schwerpunkt auf ärzt- Versorgungsmodelle tenanzahl in Deutschland ist im in- licher Akut- und Langzeitversor- Insgesamt wurden 90 relevante Mo- ternationalen Vergleich weit über- gung delle und Maßnahmen identifiziert, durchschnittlich, bestehende Fehl- • Erprobung der Modelle in Deutsch- die der Verbesserung der Gesund- verteilung im stationären Sektor wird land heitsversorgung im ländlichen Raum jedoch bislang nicht wirksam adres- • Einsatz zur Abwendung drohender dienen und bestehende oder drohen- siert [4]. oder bestehender Unterversorgung de Unterversorgung abwenden soll- Der Sachverständigenrat zur Be- • Einsatz zur Gesundheitsversorgung ten (eTab. – online). Die Modelle lie- gutachtung der Entwicklung im Ge- im ländlichen Raum [7] (u.a. nied- ßen sich hinsichtlich der Kontext- sundheitswesen erkannte bereits rigere Bevölkerungsdichte, land- gestaltung, der grundlegenden Orga- 2014 die Notwendigkeit und die wirtschaftliche Prägung, Klein- und nisationsform, der Verwendung spe- Möglichkeiten der Anpassung der Mittelstädte) zifischer Gestaltungselemente und Versorgung an veränderte demogra- der beteiligten Akteure systematisie- fische und epidemiologische Bedin- Ausgeschlossen wurden dementspre- ren (Abb. 1). gungen durch innovative Versor- chend Modelle mit Einsatz im städti- Am weitaus häufigsten fanden gungsformen [5]. Inzwischen wurde schen Raum oder in Metropolregio- sich innovative Versorgungsmodelle, eine Vielfalt von Modellen und Maß- nen, Modelle zur Sicherstellung des die unter Verwendung verschiedener nahmen entwickelt, die eine langfris- Rettungsdienstes, Versorgung im Gestaltungselemente nur im ambu- tige Sicherstellung der gesundheitli- Rahmen der gesetzlichen Pflegever- lanten Sektor implementiert wurden. chen Versorgung jenseits der klassi- sicherung, Rehabilitation und Arznei- Hierbei dominierte der Einsatz neuer schen Bedarfsplanung ermöglichen mittelversorgung. Praxisorganisationsformen, der at- sollen. Diese innovativen Modelle Die Recherche erfolgte in der Da- traktivere Arbeitsbedingungen für sollten im Rahmen unserer Studie tenbank „Innovative Gesundheits- Ärzte schaffen und dem Fachkräfte- identifiziert und systematisiert wer- modelle“ des Instituts für Allgemein- und Nachwuchsmangel im ländli- den. Hierbei sollte der Schwerpunkt medizin der Johann-Wolfgang-Goe- chen Raum begegnen soll. Weniger auf organisationale Aspekte der Mo- the-Universität, in der Datenbank des häufig wurde die Bildung von Ärzte- delle gelegt werden, weil diese bis- Gemeinsamen Bundesausschusses, netzen in ländlichen Regionen iden- © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
Berghöfer et al.: Innovative Modelle zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum 200 Innovative Models for Securing Health Care in Rural Areas Abbildung 1 Systematisierung der Organisationsformen, Gestaltungselemente und Kontextmaßnahmen bei Modellen zur gesund- heitlichen Versorgung der Bevölkerung in ländlichen Regionen, eigene Darstellung nach [8] tifiziert. In einigen Regionen sind modelle begegnete einer Vielzahl von werden musste. Schließlich ge- auch Delegationsmodelle verbreitet Barrieren auf der Modellebene, im Be- lingt ein Modell – bei aller Bereit- [9, 10]. Treiber der Innovation sind reich der lokalen Umwelt und auf der schaft der Akteure zur Kooperati- neben regionalen kassenärztlichen Ebene des Gesamtsystems. on – nur, wenn die oft wider- Vereinigungen auch Akteure auf 1. Die Implementierung eines kom- sprüchlichen und heterogenen Kommunalebene sowie einzelne Ver- plexen Modells führte die beteilig- Ziele miteinander vereinbart wer- tragsärzte. Weniger häufig fanden ten Akteure häufig an die Gren- den können. Wichtig ist, hierfür sich Modelle, die ausgehend von der zen ihres jeweiligen Kompetenz- alle potenziell interessierten Stake- traditionellen Organisationsform des bereichs, weil den Beteiligten der holder im Vorfeld zu identifizie- Krankenhauses mit einer innovativen Überblick über die vielfältigen Ab- ren und insbesondere zentrale Ak- Versorgungsform vorrangig den Fach- hängigkeiten im Gesundheitssys- teure unbedingt in einen Entwick- arztmangel in der Region adressieren tem fehlte, insbesondere, wenn lungsprozess zu integrieren, da sie und dabei Telemedizin oder die Ko- Sektorengrenzen oder Landes- ansonsten das Potenzial hätten, operation von Krankenhäusern [11] grenzen mit unterschiedlichen eine Innovation zu blockieren. integrieren. Nur selten fanden sich Abrechnungsbedingungen oder 2. Im lokalen Umfeld bedarf es der sektorenübergreifend arbeitende Mo- rechtlichen Rahmenbedingungen Herstellung der Legitimität des delle, die sich z.B. aus dem Kranken- berührt sind. Der erhöhte Auf- Modells als Lösung für ein Versor- haus durch Öffnung in die ambulan- wand für ein Management der Zu- gungsproblem, ansonsten kann es te Versorgung [12] entwickelten, um sammenarbeit der verschiedenen zu Misstrauen gegenüber dem fachärztliche Versorgung in der Regi- Akteure wird jedoch in der Regel Modell oder zur Boykottierung on zu erhalten und eine Alternative nicht vergütet. Für die Zusam- des Modells kommen. Das ist ins- zur Krankenhausschließung zu bie- menarbeit bedarf es zudem einer besondere der Fall, wenn durch ten. einheitlichen Kommunikations- die Innovation eine drohende form zwischen den zumeist sehr Konkurrenz oder ein Positionsver- Implementierungserfahrungen unterschiedlichen Akteuren, die lust befürchtet wird. Herausforde- Die Entwicklung und Implementie- sowohl hinsichtlich der Struktur rungen ganz anderer Art sind eine rung der innovativen Versorgungs- als auch der Kultur erst etabliert unzulängliche Infrastruktur, wie © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
Berghöfer et al.: Innovative Modelle zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Innovative Models for Securing Health Care in Rural Areas 201 z.B. fehlender öffentlicher Per- [13]. Von großer Relevanz wären also tig bedeutet dies aber häufig auch, sonennahverkehr oder notwendi- zunächst Messungen von Zielparame- dass eine bisherige Arztstelle nicht ge andere Versorgungsstrukturen tern, die über Patientenzufriedenheit mehr durch eine einzelne Person aus- für die Bevölkerung. mit Erreichbarkeit und Versorgungs- gefüllt werden kann und intensive 3. Herausforderungen auf der Ge- dichte hinaus auch medizinische Ver- Nachwuchsförderung nötig wird. samtsystemebene wurden zumeist sorgungsqualität abbilden, wie z.B. Distanzüberbrückende Versor- im Bereich der Finanzierung und Morbiditäts- oder Mortalitätsdaten gungslösungen, seien sie auf ver- der rechtlichen Rahmenbedin- auf Ebene der regionalen Bevölke- änderter Mobilität oder auf Einsatz gungen identifiziert. Notwendige rung. Auch erwiesen sich bisherige von Telemedizin basierend, scheinen Anschub-Investitionen sind durch Ansätze zur Messbarkeit von objekti- ebenfalls großes Potenzial zu haben, die Regelvergütungssysteme nicht ver Unterversorgung als unzurei- als elementar verstandene Bestandtei- abbildbar. Da nur wenigen Initia- chend. le primärärztlicher Versorgung kön- toren Eigenmittel zur Verfügung nen sie jedoch vermutlich so nicht stehen, bedarf es zunächst der Ge- abgedeckt werden. Eine mobile Praxis winnung der notwendigen Res- ist bisher mit einem ineffizienten sourcen im Zusammenspiel der Einsatz der knappen Ressource Arzt unterschiedlichen Stakeholder, verbunden, da Fahrzeiten und orga- was jedoch häufig durch eine Ver- nisatorische Tätigkeiten im Praxisbus antwortungsdiffusion zwischen die effektiven Patientenkontaktzeiten den Akteuren erschwert wird. deutlich reduzieren. Auch Patienten- Analog kann auch das Fehlen busse konnten sich nicht nachhaltig rechtlicher Rahmenbedingungen als Modelle durchsetzen. Die Delega- eine Barriere sein, weil geltendes tion von Versorgungsanteilen an qua- Recht nur die Regelversorgung lifiziertes Fachpersonal hingegen, PD Dr. med. Anne Berghöfer … umfasst und innovative Versor- idealerweise unter Verwendung tele- … ist wissenschaftliche Mitarbeiterin gungsmodelle dann vorläufig in medizinischer Komponenten, fand und Lehrkoordinatorin im Projekt- einem rechtlichen Vakuum ope- bereich Gesundheitsökonomie und rege Anwendung und hat das Poten- rieren müssen (z.B. telemedizi- Gesundheitssystemforschung am zial, sich langfristig zu etablieren. nische Gestaltungselemente, Fern- Institut für Sozialmedizin, Epidemio- behandlung, Datenschutz). logie und Gesundheitsökonomie der Limitationen Charité – Universitätsmedizin Berlin. Schließlich wurde die im ländli- Die Studie besitzt einige Limitatio- Sie hat Medizin studiert und sich chen Raum teilweise unzurei- nach langjähriger klinischer Tätig- nen, die bei der Verallgemeinerung chende digitale Infrastruktur (z.B. keit in der Psychiatrie im Fach Sozial- der Ergebnisse zu berücksichtigen schlechte Mobilfunknetzabde- medizin und Epidemiologie habili- sind. Zunächst kann nicht aus- ckung, mangelnde Interoperabili- tiert. Ihr Forschungsschwerpunkt geschlossen werden, dass Modelle liegt in der psychiatrischen Versor- tät bestehender IT-Systeme) als er- nicht erhoben wurden, weil sie nicht gungsforschung und Evaluation hebliche Barriere angesehen. innovativer Versorgungsformen publiziert oder beworben wurden, im Gesundheitswesen. oder infolge unzureichender Infor- Diskussion Foto: Foto Kirsch, Berlin mationen unscharf abgrenzbar wa- Die Studie konnte 90 ambulant, sta- ren. Zudem war es erforderlich, Mo- tionär und sektorenübergreifend ope- delle auszuschließen, die nicht pri- rierende Modelle und Maßnahmen mär mit der Versorgungssicherung im zur Verbesserung der Gesundheitsver- Vor dem Hintergrund einer zu- ländlichen Raum verbunden waren, sorgung im ländlichen Raum identifi- nehmenden Anzahl von Ärzten im dort aber durchaus auch angewendet zieren. Experteninterviews mit Ver- Angestelltenverhältnis [14] zeigen die werden, wie z.B. Regionalbudgets tretern diverser Stakeholdergruppen Modelle sowie die Erfahrungen der (Modellvorhaben Psychiatrie § 64b offenbarten Implementierungserfah- Experten das Potenzial, attraktivere SGB V [15], „Gesundes Kinzigtal“ rungen, die durch Barrieren auf der Tätigkeiten im ländlichen Raum an- [16]). Weiterhin musste ein Schnitt Modellebene, der lokalen Umgebung bieten zu können. Insbesondere gesetzt werden zu Modellen der Arz- und dem Gesamtsystem gezeichnet neuere Praxisorganisationsformen in neimittelversorgung, des Rettungswe- waren. Kombination mit Vernetzung und sens oder der psychosozialen Versor- Unterstützung durch Delegation und gung, um den Rahmen der Studie Identifikation von Potenzialen Telemedizin ermöglichen flexible Ar- nicht zu sprengen. Die identifizierten Modelle und Maß- beitszeiten, Verantwortungsteilung, Experteninterviews wurden nur nahmen werden, abgesehen von kollegialen Austausch und interdis- exemplarisch geführt, wobei auch die Innovationsfondsprojekten, bislang ziplinäre Zusammenarbeit sowie ein Frage der inhaltlichen Sättigung bei nicht regelhaft wissenschaftlich hin- verringertes wirtschaftliches Risiko. der Anzahl der Interviewpartner be- sichtlich ihrer Wirksamkeit auf die Zudem kommen sie damit den ver- rücksichtigt wurde. Daher ist hier Gesundheitsversorgung der Bevölke- änderten Ansprüchen einer jüngeren von einer guten Repräsentativität der rung im ländlichen Raum untersucht Ärztegeneration entgegen. Gleichzei- Interviewergebnisse auszugehen. © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
Berghöfer et al.: Innovative Modelle zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum 202 Innovative Models for Securing Health Care in Rural Areas Schließlich waren im Verlauf der • Erfolgreiche, wissenschaftlich posi- gründe zum Leben und Arbeiten in Studie sehr unterschiedliche Ver- tiv evaluierte Versorgungsmodelle ländlichen Regionen. Berlin, 2016 ständnisse und Wahrnehmungen müssen die Aussicht auf Überfüh- 8. Auschra C, Deisner J, Berghöfer A, Sy- von Unterversorgung oder drohender rung in die Regelversorgung haben, dow J. Sicherstellung der Gesund- heitsversorgung in ländlich gepräg- Unterversorgung im ländlichen nicht zuletzt um Anreize für weitere ten Regionen: Neue Organisations- Raum identifizierbar. Zukünftige Eva- Innovation zu schaffen. modelle und Maßnahmen. Berlin: luationen bedürfen einer präziseren Stiftung Münch, 2018 Definition und Operationalisierung Zusatzmaterial im Internet 9. Mergenthal K, Leifermann M, Beyer des Begriffs der Unterversorgung, (www.online-zfa.de) M, Gerlach FM, Güthlin C. Delegati- auch auf der Basis objektiver quanti- eTabelle Im Rahmen einer system- on hausärztlicher Tätigkeiten an qua- tativer Messparameter. atischen Recherche 2018 identifizierte in- lifiziertes medizinisches Fachpersonal novative Modelle zur Sicherung der Ge- in Deutschland – eine Übersicht. Ge- sundheitsversorgung im ländlichen Raum sundheitswesen 2016; 78: e62–8 Schlussfolgerungen 10. Schmiedhofer MH, Brandner S, Kuhl- Die identifizierten innovativen Mo- mey A. Delegation ärztlicher Leistun- delle zur Gesundheitsversorgung im Interessenkonflikte: gen an nichtärztliche Fachkräfte: Der ländlichen Raum variieren stark hin- Carolin Auschra und Jörg Sydow erhiel- Versorgungsansatz agneszwei in sichtlich ihrer Ausgestaltung und auf- ten für das Projekt im Jahr 2018 eine För- Brandenburg – eine qualitative Ak- derung durch die Stiftung Münch. Die zeptanzanalyse. Gesundheitswesen grund ihres regionalen Bezuges und Autoren danken der Stiftung für die 2017; 79: 453–60 spezifischer Erfordernisse und eignen finanzielle Unterstützung. Die weiteren 11. van den Berg N, Schmidt S, Stentzel sich vermutlich eher nicht als verall- Autoren haben keine Interessenkonflikte U, Mühlan H, Hoffmann W. Telemedi- gemeinerbare Blaupause für die Lö- angegeben. zinische Versorgungskonzepte in der sung von Versorgungsproblemen im regionalen Versorgung ländlicher Ge- ländlichen Raum. Ausgehend von Literatur biete: Möglichkeiten, Einschränkun- gen, Perspektiven. Bundesgesund- den in der qualitativen Auswertung 1. Knieps F, Amelung VE, Wolf S. Die heitsblatt, Gesundheitsforschung, der Experteninterviews gewonnenen Gesundheitsversorgung in schwer zu Gesundheitsschutz 2015; 58: 367–73 Perspektiven können aber für die zu- versorgenden Regionen – Grund- 12. Schmid A, Hacker J, Rinsche F, Distler künftige Diskussion und Forschung lagen, Definitionen, Problemanalyse. F. Intersektorale Gesundheitszentren. folgende Thesen abgeleitet werden: Gesundheits- und Sozialpolitik 2012; Bayreuth: Epub, 2018 66: 8–19 • Die Tätigkeit von Ärzten in Teilzeit- 13. Amelung VE, Eble S, Hildebrandt H, und Angestelltenpositionen mit 2. Klose J, Rehbein I. Ärzteatlas 2017: et al. (Hrsg). Innovationsfonds: Im- Daten zur Versorgungsdichte von pulse für das deutsche Gesundheits- größerer Flexibilität, kollegialem Vertragsärzten. Berlin: Wissenschaftli- system. Berlin: Medizinisch Wissen- Austausch, interdisziplinärer Zu- ches Institut der AOK, 2017 schaftliche Verlagsgesellschaft, 2017 sammenarbeit und Ermöglichung 3. Gemeinsamer Bundesausschuss. Be- 14. Kassenärztliche Bundesvereinigung. von Work-Life-Balance wird zuneh- schluss des Gemeinsamen Bundes- 4. MVZ Survey der KBV. Medizinische mend stärker nachgefragt werden. ausschusses über eine Änderung der Versorgungszentren in Deutschland. • Distanzüberbrückende telemedizi- Bedarfsplanungs-Richtlinie: Änderun- Berlin: Kassenärztliche Bundesvereini- nische Versorgungslösungen incl. gen zur Weiterentwicklung der Be- gung, 2016 darfsplanungs-Richtlinie. Bundes- Patientenmonitoring und primär- 15. Deister A, Wilms B. Regionale Verant- anzeiger Amtlicher Teil. Berlin: Bun- ärztlich-fachärztliche Telekonsile wortung übernehmen. Modellprojek- desministerium für Gesundheit, 2019 werden weiter an Bedeutung gewin- te in Psychiatrie und Psychotherapie 4. Neubauer G. Die ökonomische Zu- nach § 64b SGB V. Köln: Psychiatrie nen. Verlag, 2014 kunft der Krankenhäuser in Deutsch- • Krankenhäuser im ländlichen Raum land. Gesundh ökon Qual manag 16. Hildebrandt H, Pimperl A, Schulte T, könnten eine stärkere ambulant- 2014; 19: 26–35 et al. Triple Aim – Evaluation in der fachärztliche Versorgerrolle über- 5. Sachverständigenrat zur Begutach- Integrierten Versorgung Gesundes nehmen. tung der Entwicklung im Gesund- Kinzigtal – Gesundheitszustand, Ver- • Managementkompetenzen für die heitswesen. Bedarfsgerechte Versor- sorgungserleben und Wirtschaftlich- gung: Perspektiven für ländliche Re- keit. Bundesgesundheitsblatt, Ge- Organisation und Kommunikation gionen und ausgewählte Leistungs- sundheitsforschung, Gesundheits- in komplexen Modellen müssen in schutz 2015; 58: 383–92 bereiche. Bern: Huber, 2014 Zukunft in den leistungserbringen- 6. Müller BS, Leiferman M, Wilke D, den Professionen ausgebaut und Gerlach FM, Erler A. Innovative Ver- Korrespondenzadresse mitfinanziert werden. sorgungsmodelle in Deutschland – • Ein weiteres Experimentieren mit PD Dr. med. Anne Berghöfer Erfolgsfaktoren, Barrieren und Über- Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie innovativen Organisationsmodel- tragbarkeit. Z Evid Fortbild Qual Ge- und Gesundheitsökonomie, Charité – len zur Bewältigung der Unter- bzw. sundhwes 2016; 115–116: 49–55 Universitätsmedizin Berlin Fehlversorgung auf dem Lande soll- 7. Bundesministerium für Ernährung Luisenstr. 57, 10117 Berlin te weiter öffentlich gefördert wer- und Landwirtschaft. Ländliche Regio- Tel.: 030 450529034 den. nen verstehen: Fakten und Hinter- anne.berghoefer@charite.de © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
KOMMENTAR/MEINUNG / COMMENTARY/OPINION 203 Innovativ? Kommentar zu Berghöfer A et al., Innovative Modelle zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Innovative? Commentary to Berghöfer A et al., Innovative Models for Securing Health Care in Rural Areas Uwe Kurzke Der ländliche Raum ist „in“, mal als „Ländliche Regionen verstehen“ [3] ben der KBV [7] waren 2018 knapp Sehnsuchtsort mit Zeitschriften wie selbst erklärt, dass es eine allgemein 35 % aller Allgemeinärzt*innen älter Landlust, LandLeben oder LandIDEE, anerkannte Definition des Begriffs als 60 Jahre. Wenn von den 40.776 zunehmend aber auch als Gegen- ländlicher Raum nicht gibt. Dort be- ambulant tätigen Allgemeinärzt*in- stand der allgemeinmedizinischen schränkt man sich eher auf eine Be- nen innerhalb der nächsten fünf Jah- Versorgungsforschung. Eine nur ori- schreibung dessen, was ländlicher re gut ein Drittel ausscheiden sollte entierende Suche bei Google Scho- Raum sei, ohne klare Kriterien zu und von diesem Drittel nur 30 % lar mit den Suchbegriffen „Länd- benennen. Eindeutiger, mit klar de- durch Allgemeinärzt*innen ersetzt licher Raum“ und „Medizinische finierten Kriterien, ist die Definition werden sollte, ergäbe sich ein zusätz- Versorgung“ zeigt mehr als 100 des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- licher Bedarf von gut 18.000 Haus- deutschsprachige Veröffentlichun- und Raumforschung (BBSR) [4]. Bes- ärzt*innen. Wie dies trotz ansteigen- gen in den zurückliegenden 5 Jah- ser für die Fragestellung, wie es um der Facharztanerkennungen im Be- ren. So haben sich die Autoren der die medizinische Versorgung im reich Allgemeinmedizin durch inten- vorliegenden Arbeit [1] auch die ländlichen Raum gestellt ist, wäre sive Nachwuchsförderung gelingen Mühe gemacht, nach „innovativen allerdings die von Steinhäuser et al. soll, bleibt schleierhaft. Modellen“ zur medizinischen Ver- für Deutschland adaptierte neusee- Die These der Autoren, „Kranken- sorgung im ländlichen Raum zu su- ländische Rural Ranking Scale [5] häuser im ländlichen Raum könnten chen. sinnvoller, die konkret auf die (haus- eine stärkere ambulant-fachärztliche Auch wenn gegenwärtig, aus wel- ärztliche) medizinische Versorgung Versorgerrolle übernehmen“ blendet chen Gründen auch immer, der eingeht. Die eTabelle (Online-Mate- aus, dass Krankenhausschließungen „ländliche Raum“ als vorrangiges rial) wirft zudem Fragen auf. Soweit vorwiegend den ländlichen Raum be- Notstandsgebiet der hausärztlichen bei der KBV Daten zum hausärzt- treffen und in einem Großteil der be- Versorgung beschrieben wird, gibt es lichen Versorgungsgrad [6] zu erfah- sonders ländlich geprägten Regionen auch in verdichteten Gebieten und ren sind, liegen lediglich 5 der 90 bereits heute Fahrzeiten von mehr als Großstädten erhebliche Versorgungs- untersuchten Modelle in Gebieten 25 Minuten bis zum nächsten Kran- mängel. So liegt der Versorgungsgrad mit einem Versorgungsgrad < 90 % kenhaus in Kauf genommen werden mit Allgemeinärzt*innen im Mittel- [7]. Gleichzeitig finden sich in der müssen [8]. bereich Bremerhaven bei 73,6 %, Tabelle eine ganze Reihe von Model- Inwieweit telemedizinische Ver- selbst für das Kreisgebiet der Stadt len, bei denen eine ausschließliche sorgungslösungen entstehende Lü- Aachen wird seitens der KBV ein Ver- Zuordnung zum ländlichen Raum cken füllen können, ist umstritten. sorgungsgrad von lediglich 67 % an- nicht immer nachvollziehbar ist Gerade für die als Grundlage der all- gegeben. Das Hamburger Abendblatt (z.B. Landkreis „Bundesweit“ bzw. gemeinmedizinischen Betreuung er- [2] berichtet von 20 Hamburger Zuordnung zu einem gesamten Bun- achteten Aspekte wie Beziehung, er- Stadtteilen ohne Hausärzt*in und das desland). lebte Anamnese und kontinuierliche in einer Millionenstadt, die als „über- Aus Sicht der Autoren haben die Betreuung eines Patienten werden versorgt“ gilt. gefundenen Modelle u.a. das Potenzi- rein telemedizinische Lösungen al- Die Autoren haben als Grund- al, „den veränderten Ansprüchen ei- lenfalls in Ausnahmefällen einen lage ihrer Recherche eine Definition ner jüngeren Ärztegeneration“ ent- sinnvollen Ersatz bieten [9]. Zudem des Bundesministeriums für Ernäh- gegen zu kommen. Da eine bisherige wird mit Blick auf die zunehmende rung und Landwirtschaft zugrunde Arztstelle „nicht mehr durch eine Alterung gerade der Bevölkerung in gelegt, wobei das Bundesministeri- einzelne Person ausgefüllt werden ländlich geprägten Regionen eine um für Ernährung und Landwirt- kann“, würde eine intensive Nach- derart technische Lösung nicht uner- schaft (BMEL) in seiner Broschüre wuchsförderung nötig. Nach Anga- hebliche Probleme in der Anwen- Arzt für Allgemeinmedizin, Pellworm und St. Jakob in Defereggen DOI 10.3238/zfa.2020.0203–0204 © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
Kurzke: Innovativ? Kommentar zu Berghöfer A et al. 204 Innovative? Commentary to Berghöfer A et al. dung in der Arzt-Patientenkom- 3. www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/ munikation bereiten. Broschueren/LR-verstehen.pdf?__ blob=publicationFile S. 8 (letzter Zu- Es mag für die Autoren sicherlich griff am 02.02.2020) schwierig sein, diese komplexen Zu- 4. www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raum sammenhänge im Rahmen der vor- beobachtung/Raumabgrenzungen/ gegebenen Limitierungen für einen deutschland/gemeinden/Raum- ZFA-Artikel aufzubereiten, dennoch typen2010_vbg/raumtypen2010_no- darf eine kritische Kommentierung de.html (letzter Zugriff am 10.02.2020) nicht fehlen. Die eigentliche Frage ist nämlich, Dr. med. Uwe Kurzke ... 5. Steinhäuser J, Otto P, Götz K, Her- mann K, Szecsenyi J, Jobs S. Rural wie „innovativ“ die vorgestellten ... Arzt für Allgemeinmedizin, Not- Ranking Scala-Germany – ein Instru- Modelle und die aus ihnen ermittel- fallmedizin, Sportmedizin. Rund 30 ment zur Identifikation von ländli- ten Potenziale tatsächlich sind. Es Jahre als alleiniger Arzt auf der chem Raum aus medizinischer Per- Nordseeinsel Pellworm tätig, arbei- spektive. Z Allg Med 2012: 88: sind „Innovationen“, ohne dass das tet jetzt seit einigen Jahren in einer S1-V1.4 [Abstract] zugrundeliegende System verändert Teampraxis in den Osttiroler Bergen. 6. https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/ oder gar erneuert würde, Nischenlö- html/17016.php (letzter Zugriff am sungen und Flicken auf einem Ver- 02.02.2020) sorgungssystem, das offensichtlich 7. https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/ auf mittlere Sicht nicht in der Lage html/16397.php (letzter Zugriff sein wird, bisherige Versorgungs- mindest des hausärztlichen Bereichs 02.02.2020 strukturen aufrecht zu erhalten und aussehen könnte, hat die DEGAM in 8. https://de.statista.com/statistik/daten/ eine gut erreichbare flächendeckende einem Positionspapier dargelegt studie/216583/umfrage/durch- hausärztliche Versorgung zu sichern. [10]. Insgesamt sind aber innovative schnittliche-fahrtzeit-zu-krankenhaeu- sern-in-deutschland/ (letzter Zugriff Auch wenn gegenwärtig, aus wel- Lösungen gefragt, die den Blick auf am 02.02.2020) chen Gründen auch immer, der das große Ganze, die allgemeine 9. Leserbrief Dr. Günther Egidi zu Sche- „ländliche Raum“ als vorrangiges Versorgungssituation und nicht nur rer M, Szecsenyi J, Gerlach FM. Digi- Notstandsgebiet der hausärztlichen auf den hausärztlichen Bereich rich- talisierung in der Medizin – wer Versorgung beschrieben wird, gibt es ten. schreitet voran, wer schaut hinter- her? Ein Plädoyer für eine DEGAM-Di- auch in verdichteten Gebieten und gitalstrategie. Z Allg Med 2019; 95: Großstädten erhebliche Versorgungs- Interessenkonflikte: 165–168. Z Allg Med 2019; 95: 283 mängel. Gleichzeitig betrifft der Keine angegeben. 10. Popert UW. Wir brauchen ein Primär- Mangel nicht nur den hausärztlichen arztsystem DEGAM-Positionspapier. Bereich, sondern in ähnlichem Um- Literatur Z Allg Med 2018; 94: 248–249 fang den Rettungsdienst, die ambu- 1. Berghöfer A, Auschra C, Deisner J, lanten Pflegedienste und stationäre Sydow J. Innovative Modelle zur Si- cherung der Gesundheitsversorgung Korrespondenzadresse Pflegeeinrichtungen. im ländlichen Raum. Z Allg Med Dr. Uwe Kurzke Modelle, die lediglich Löcher Arzt für Allgemeinmedizin 2020; 96: 198–202 stopfen und woanders neue aufrei- Notfallmedizin – Sportmedizin – 2. www.abendblatt.de/hamburg/arti Balneologie ßen, sind nur schwerlich als innova- cle227599837/Hausarzt-Kinderarzt- Schulstraße 5, 25849 Pellworm; tiv zu bezeichnen. Wie eine Innova- Hamburg-medizinische-Versor- Unterrotte 105, tion mit der Option auf eine deutli- gung.html (letzter Zugriff am A 9963 St. Jakob in Defereggen che Besserung der Verhältnisse zu- 02.02.2020) praxis@akkupellworm.de Ständig aktualisierte Veranstaltungstermine von den „Tagen der Allgemeinmedizin“ finden Sie unter www.tag-der-allgemeinmedizin.de © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2020; 96 (5)
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