Ziele verfehlt: Eine Analyse der neuen Grundrente** - ifo Institut

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

                     Axel Börsch-Supan* und Nicolas Goll±

                     Ziele verfehlt: Eine Analyse der neuen
                     Grundrente**

IN KÜRZE                                                                                      zwar viele Jahre in die Gesetzliche Rentenversi­
                                                                                              cherung (GRV) eingezahlt haben, aber nur über ein
                                                                                              »niedriges Einkommen« verfügen (Bundesministe-
Die Grundrente ist zum 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Sie                                  rium für Arbeit und Soziales 2021). Die Grundrente
wurde mit dem Anspruch beworben, Altersarmut zu vermei-                                       zielt auf diejenigen ab, deren Renteneinkommen
den und durch ihr kompliziertes Design besonders zielgenau                                    oberhalb der Anspruchsgrenze für Sozialhilfe, aber
                                                                                              unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle liegt. Das
zu sein. Wir untersuchen mit Hilfe der SHARE-RV-Daten, ob
                                                                                              Konzept der Grundrente hat eine Reihe von Vorläu­
die Grundrente diesen Anspruch auch tatsächlich erfüllt. Dies                                 fern, die am Ende wegen mangelnder Zielgenauigkeit
ist nicht der Fall. Die Zielgenauigkeit der Grundrente ist in                                 nicht umgesetzt wurden. Das nun in Kraft getretene
beiden sozialpolitisch relevanten Richtungen schwach: Einer-                                  Gesetz beinhaltet komplexe Anspruchsvoraussetzun­
seits haben 75,9% der Rentner*innen, die im Sinne des neuen                                   gen, um zielgenau zu sein. Dieser Artikel untersucht
Gesetzes als arm gelten, keinen Anspruch auf Grundrente.                                      die Frage, ob das neue Gesetz diesem Anspruch ge­
                                                                                              recht wird.
Auf der anderen Seite gehören 21% der Anspruchsberech-
                                                                                                   Die Zielgenauigkeit von Maßnahmen ist ein wich­
tigten zur vermögensreicheren Hälfte der deutschen Rent-                                      tiges Anliegen der Sozialpolitik. Da Steuergelder eine
ner*innen. Unser Fazit ist daher, dass die Grundrente doppelt                                 knappe Ressource sind, sollten Sozialausgaben nur
ungerecht ist: Das neue Gesetz erreicht zu wenige der Perso-                                  die als bedürftig definierten Personen erreichen.
nen, die tatsächlich Unterstützung benötigen, und gewährt                                     Sozialpolitik kann hierbei in zwei Richtungen Feh­
zu vielen Personen Leistungen, die keine Hilfe brauchen.                                      ler machen: einerseits, indem sie denjenigen, die
                                                                                              tatsächlich Hilfe brauchen, zu wenig Unterstützung
                                                                                              gibt, und andererseits denjenigen, die keine Hilfe
                                                                                              benötigen, Leistungen gewährt. Wir definieren Ziel­
                     Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen Jahr                           genauigkeit als das Erreichen derjenigen Ziele, die
                     die umstrittene Grundrente beschlossen, die zum                          sich die politischen Entscheidungsträger gesetzt ha­
                     1. Januar 2021 in Kraft getreten ist (siehe Deutscher                    ben. Wir legen also keine allgemeinen Wohlfahrts­
                     Bundestag 2020). Die Grundrente sieht einen Ren­                         kriterien zugrunde, sondern vergleichen die Ergeb­
                     tenzuschlag für diejenigen Rentner*innen vor, die                        nisse unserer Analyse mit den von der Politik defi­
                     *
                         Prof. Dr. h.c. Axel Börsch-Supan, Ph.D., ist Direktor des Munich
                                                                                              nierten Zielen.
                     Center for the Economics of Aging (MEA) am Max-Planck-Institut für            Für unsere Untersuchung verwenden wir Daten
                     Sozialrecht und Sozialpolitik, München, Professor an der Fakultät für
                     Wirtschaftswissenschaften, Technische Universität München (TUM)
                                                                                              der deutschen Teilstichprobe des Survey of Health,
                     und Research Associate beim National Bureau of Economic Research         Ageing and Retirement in Europe (SHARE), die mit den
                     (NBER), Cambridge, Mass.
                     ±
                         Dr. Nicolas Goll ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Munich Cen­
                                                                                              Verwaltungsdaten der GRV über die rentenrechtlich
                     ter for the Economics of Aging (MEA) am Max-Planck-Institut für So­      relevanten Versicherungszeiten der Befragten und
                     zialrecht und Sozialpolitik, München.
                     **
                         Dieser Artikel aktualisiert die englischsprachige Studie von
                                                                                              über ihre Rentenanwartschaften verknüpft wurden
                     A. Börsch-Supan, T. Bucher-Koenen, N. Goll und F. Hanemann (2021),       (SHARE-RV). Wir stellen fest, dass die für den neuen
                     »Targets Missed: Three Case Studies Exploiting the Linked SHARE-RV
                     Data«, die im Journal of Pension Economics and Finance erschienen
                                                                                              Grundrentenzuschlag anspruchsberechtigten Rent­
                     ist.                                                                     ner*innen im Durchschnitt tatsächlich ein niedrigeres
                     Danksagung: Dieses Papier verwendet Daten der SHARE-Wellen 5, 6
                     und 7 (DOIs: 10.6103/SHARE.w5.700 bis 10.6103/SHARE.w7.700). Die
                                                                                              Haushaltseinkommen und weniger Vermögen haben
                     SHARE-Studie wurde hauptsächlich von der Europäischen Kommissi­          als nicht anspruchsberechtigte Rentner*innen. Al­
                     on durch FP5 (QLK6-CT-2001-00360), FP6 (SHARE-I3: RII-
                     CT-2006-062193, COMPARE: CIT5-CT-2005-028857, SHARELIFE: CIT4-
                                                                                              lerdings führt die erforderliche Anzahl an Grundren­
                     CT-2006-028812) und FP7 (SHARE-PREP: N°211909, SHARE-LEAP:               tenjahren dazu, dass zahlreiche Rentner*innen mit
                     °227822, SHARE M4: N°261982) und Horizon 2020 (SHARE-DEV3:
                     GA N°676536, SERISS: GA N°654221) finanziert sowie ebenso durch
                                                                                              geringen Einkommen nicht anspruchsberechtigt sind;
                     die Generaldirektion »Beschäftigung, Soziales und Inklusion« der         im Gegenzug haben viele anspruchsberechtigte Rent­
                     Europäischen Kommission. Zusätzlicher Förderung durch das Bun­
                     desministerium für Bildung und Forschung, die Max-Planck-Gesell­
                                                                                              ner*innen ein beträchtliches Vermögen. Das Haupt­
                     schaft zur Förderung der Wissenschaften, das U.S. National Institute     ergebnis unserer Untersuchung ist im Titel des Arti­
                     on Aging (U01_AG09740-13S2, P01_AG005842, P01_AG08291, P30_
                     AG12815, R21_AG025169, Y1-AG-4553-01, IAG_BSR06-11, OGHA_04-
                                                                                              kels daher schon angedeutet: Die Zielgenauigkeit der
                     064, HHSN271201300071C) und von verschiedenen nationalen För­            Grundrente ist auf beiden sozialpolitisch relevanten
                     derstellen wird gedankt (siehe www.share-project.org). Wir bedan-
                     ken uns bei Jana Meiser für die Unterstützung bei der Erstellung die­
                                                                                              Seiten gering: Das neue Gesetz erreicht zu wenige
                     ses Artikels.                                                            Personen, die tatsächlich Unterstützung benötigen,

               34    ifo Schnelldienst   6 / 2021   74. Jahrgang   16. Juni 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE

und gewährt zu vielen einen Zuschlag, obwohl sie         destens 33 Grundrentenjahren, zu denen neben
nicht bedürftig sind.                                    Zeiten mit sozialversicherungspflichtiger Beschäf­
                                                         tigung zum Beispiel auch Zeiten der Kindererziehung,
DIE GRUNDRENTE IM ALTERSSICHERUNGSSYSTEM                 Pflegezeiten oder Ausbildungszeiten gehören.1 Der
                                                         Grundrentenzuschlag wird als Zuschlag zu den in­
Die Leistungen der Gesetzlichen Rentenversiche­          dividuell akkumulierten Entgeltpunkten umgesetzt.
rung in Deutschland sind über die Entgeltpunk-           Entgeltpunkte werden im Laufe des Erwerbslebens
te pr­o portional zu den eingezahlten Beiträgen          durch Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung
(»Äqui­valenzprinzip«). Daneben garantiert das deut­     angesammelt. Die Rentenversicherungsbeiträge des
sche Sozialhilfesystem ein Mindesteinkommen, um          Durchschnittsverdieners in einem Jahr ergeben dabei
Altersarmut zu verhindern. Die Grundrente ändert         einen Entgeltpunkt. Einem Arbeitnehmer mit 80%
die Proportionalität zwischen Beiträgen und Leistun­     des Durchschnittsverdienstes werden aufgrund der
gen im Bereich »niedriger Einkommen« und durch­          Proportionalität zwischen Beiträgen und Leistun-
bricht dadurch das Äquivalenzprinzip. Sie ergänzt        gen 0,8 Entgeltpunkte gutgeschrieben. Das Grund­
das zweistufige System um eine dritte Stufe zwischen     rentengesetz führt nun zu einer Abweichung von
So­zialhilfe und normalen gesetzlichen Rentenleis-       dieser proportionalen Beziehung. Jährliche Ent­
tungen.                                                  geltpunkte zwischen 0,3 und 0,8 in bis zu 35
     In der öffentlichen Diskussion wurde die Grund­     Grundrentenjahren werden bis zur Obergrenze von
rente als Instrument zur Armutsvermeidung be­            0,8 Entgeltpunkten verdoppelt.2 Die untere Schwelle
worben. Die Definition, was »niedriges Einkommen«        von 0,3 schließt Teilzeit- und geringfügige Be­
ist, wird allerdings nicht einheitlich verwendet. Zwar   schäftigung (Minijobs) aus; die obere Schwelle von
gibt es in Deutschland keine offizielle »Armutsgrenze«   0,8 kann als ein Teil dessen interpretiert werden,
wie in den USA, aber die durchschnittliche Sozial­       was der Ge­s etzgeber unter »niedrigen Einkom­
hilfe einschließlich Wohngeld beträgt für eine allein­   men« versteht. Darüber hinaus enthält das Gesetz
stehende Person etwa 850 Euro. Die OECD definiert        eine einfache Einkommensprüfung. Alleinstehende
Armut als den Zustand über ein Einkommen von we­         anspruchsberechtigte Rentner*innen erhalten nur
niger als 60% des Medianeinkommens zu verfügen.          dann volle Grundrentenleistungen, wenn ihr monatli-
Das entspricht in etwa 990 Euro für eine Einzelperson    ches Haushaltseinkommen 1 250 Euro nicht über­
und liegt in etwa am Übergang vom ersten zum zwei­       steigt. Für Paarhaushalte liegt diese Grenze bei
ten Terzil der Einkommensverteilung. In Deutschland      1 950 Euro. Bei Haushaltseinkommen von Einperso­
wird diese Grenze als »Armutsge­fährdungsschwelle«       nenhaushalten zwischen 1 250 Euro und 1 600 Euro
bezeichnet und oft als Richtwert herangezogen. Das       (für Paarhaushalte: 1 950–2 300 Euro) werden 60%
neue Grundrentengesetz ist noch großzügiger und          angerechnet.
gewährt z.B. Alleinstehenden einen vollen Grund­              Diese Ausgestaltung hat zwei gravierende
rentenzuschlag, deren Einkommen 1 250 Euro nicht         Schwächen. Erstens werden durch die erforderli­
übersteigt (Näheres siehe unten).                        chen 33 Grundrentenjahre und die Untergrenze von
     In der Vergangenheit wurden bereits ähnliche        0,3 Entgeltpunkten Rentner*innen mit geringen Le­
Reformversuche unternommen, die den Bereich zwi­         benseinkommen nicht berücksichtigt, weil sie ent­
schen Sozialhilfe und gesetzlicher Rente betreffen.      weder nicht genug Jahre beschäftigt waren und/
In fast allen Fällen wurden sie aufgrund schlechter      oder in diesen Jahren nicht genug verdient haben.
Zielgenauigkeit jedoch wieder aufgegeben. Ye (2018)      Das widerspricht dem häufig angeführten Ziel einer
liefert eine Analyse einer früheren Reform, die 1992     »Reduzierung von Altersarmut«. Gleichzeitig gibt es
zusätzliche Rentenleistungen in Deutschland ein­         auch Rentner*innen, die in den maßgeblichen Grund­
führte. Ye zeigt, dass 100 Euro zusätzliche Renten­      rentenjahren mehr als die Obergrenze von 0,8 Ent­
leistungen pro Monat die Empfängerinnen dazu ver­        geltpunkten verdient haben, aber dennoch über ein
anlassten, die Rentenleistungen etwa zehn Monate         Haushaltseinkommen verfügen, das unterhalb der
früher in Anspruch zu nehmen. Viele dieser Frauen        Einkommensgrenzen liegt.3 Zweitens ist die Durch­
lebten jedoch in Haushalten mit Haushaltseinkom­         führung der einfachen Haushaltseinkommensprü­
men, die oberhalb der genannten Definitionen von         fung mit hohem Verwaltungsaufwand verbunden,
niedrigen Haushaltseinkommen lagen.                      weil der Rentenversicherung die nötigen Informa­
                                                         tionen über das Haushaltseinkommen nicht vorlie­
ANSPRUCHSVORAUSSETZUNGEN FÜR DIE GRUND-                  gen. Dennoch lässt diese aufwändige Prüfung das
RENTE UND BERECHNUNG DES ZUSCHLAGS                       den Haushalten zusätzlich zur Verfügung stehende
                                                         1
                                                            Für die anrechenbaren Grundrentenzeiten siehe §76g des Grund­
Das neue Grundrentengesetz sieht komplexe An­            rentengesetzes (vom 12. August 2020) bzw. Tabelle 6 in Börsch-
                                                         Supan et al. (2021) für eine Übersicht.
spruchsvoraussetzungen für den Erhalt und für die        2
                                                            Für Rentner*innen mit 33 und 34 Grundrentenjahren sieht das
Berechnung des Zuschlags vor, um die Grundrente          Gesetz deutlich geringere Obergrenzen vor.
                                                         3
                                                            Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn Rentner*innen einzelne
zielgenau auszugestalten. Ein Anspruch auf Grund­        Monate mit sehr hohen Einkommen hatten. Auf diesen Umstand
rente erfordert eine Versicherungshistorie mit min­      weist auch Ruland (2021) hin.

                                                                          ifo Schnelldienst   6 / 2021   74. Jahrgang   16. Juni 2021   35
FORSCHUNGSERGEBNISSE

                             Vermögen unberücksichtigt.4 Die Zielgenauigkeit der                               Informationen über die individuellen Versicherten­
                             Grundrente kann also auf beiden Seiten misslingen:                                historien vom 14. bis zum 65. Lebensjahr, mit
                             Sie erreicht zu wenige Personen, die tatsächlich Un­                              Hilfe derer wir die Anspruchsberechtigung für die
                             terstützung benötigen, gewährt aber zu vielen Per­                                Grundrente bestimmen können. Die Daten aus den
                             sonen einen Anspruch auf den Zuschlag, die nicht                                  SHARE-Befragungen liefern Informationen zum Haus­
                             bedürftig sind. Die folgende Analyse hat daher zwei                               haltskontext, vor allem zum Haushaltseinkommen
                             Fragen im Fokus: Erstens, wie viele Rentner*innen                                 und zu den Vermögenswerten, die den Befragten zur
                             sind einkommensschwach, haben aber dennoch kei­                                   Verfügung stehen. Die Reform zielt auf Rentner*in­
                             nen Anspruch auf die Grundrente? Zweitens, wie viele                              nen zu dem Zeitpunkt ab, an dem sie zum ersten
                             Rentner*innen sind anspruchsberechtigt, obwohl sie                                Mal Rentenleistungen in Anspruch nehmen. Unsere
                             vermögend sind?                                                                   Analysestichprobe von 2 337 Personen umfasst da­
                                                                                                               her nur Rentner*innen, und wir beschränken die
                             DATEN                                                                             Stichprobe auf Personen, die mindestens 55 Jahre
                                                                                                               alt sind. Das Durchschnittsalter der Männer in unse­
                             Für die Analyse verwenden wir die Daten der deut­                                 rer Stichprobe liegt bei 72,2 Jahren, das der Frauen
                             schen Teilstichproben aus den SHARE-Wellen 5, 6                                   bei 71,9 Jahren; 51% der Personen sind weiblich;
                             und 7. SHARE ist eine interdisziplinäre und länder­                               75% leben mit einem/einer Partner*in im selben
                             übergreifende Befragung, die in regelmäßigen Ab­                                  Haushalt.
                             ständen Daten zum Leben von Personen über 50
                             erhebt und untersucht, wie Menschen altern. Die                                   WER SIND DIE GRUNDRENTENBERECHTIGTEN?
                             Befragung erfasst Informationen aus verschiedenen
                             Bereichen, wie z.B. über den sozioökonomischen Sta­                               In einem ersten Schritt evaluieren wir, wer anspruchs­
                             tus der Befragten, die Gesundheit oder soziale und fa­                            berechtigt für den Grundrentenzuschlag ist. Wir stellen
                             miliäre Netzwerke (siehe Börsch-Supan et al. 2013 für                             fest, dass 7,1% der Personen in unserer Stichprobe
                             methodische Details). Für unsere Zwecke verknüpfen                                anspruchsberechtigt sind. Dies ist etwas höher als
                             wir die SHARE-Daten mit administrativen Informatio­                               die Schätzung der Bundesregierung von 6,1% (Bun­
                             nen der Gesetz­lichen Rentenversicherung, vor allem                               desministerium für Arbeit und Soziales 2021). 81% der
                             die rentenrechtlich relevanten Versicherungszeiten                                anspruchsberechtigten Rentner*innen sind Frauen.
                             der Befragten und ihre Rentenanwartschaften. Diese                                Etwa zwei Drittel leben mit einem/einer Partner*in
                             können mit Hilfe der Sozialversicherungsnummer den                                in einem gemeinsamen Haushalt.
                             SHARE-Befragten nach ihrer Zustimmung eindeutig                                        In einem zweiten Schritt analysieren wir getrennt
                             zugeordnet werden und sind in einem eigenen Daten­                                für die Gruppen mit und ohne Anspruch auf Grund­
                             satz (SHARE-RV) veröffentlicht (siehe Börsch-Supan                                rente, wie sich die Grundrentenzeiten zusammenset­
                             et al. 2018).                                                                     zen (vgl. Abb. 1). Es zeigt sich, dass Zeiten mit so­
                                  Aus den administrativen Daten der Gesetzlichen                               zialversicherungspflichtiger Beschäftigung nur einen
                             Rentenversicherung erhalten wir genaue monatliche                                 Teil der gesamten Grundrentenzeiten ausmachen:
                                                                                                               Für Männer sind es 33,2 von 52,8 Jahren (63%); bei
                             4
                                Die Regelung, dass Vermögen nicht berücksichtigt wird und den­                 Frauen 24,8 von 47,2 Jahren (53%). Bei Frauen sind
                             noch ein enormer Verwaltungsaufwand entsteht, bemängelt auch                      daneben Kindererziehungszeiten (16%) und Pfle­
                             Ruland (2021). Er führt daneben noch weitere Unzulänglichkeiten des
                             Grundrentengesetzes an, die z.B. im Rahmen der Einkommensan­                      gezeiten (7%) wichtige Bausteine zur Erlangung der
                             rechnung und der Ermittlung von Kapitalerträgen entstehen können.                 Anspruchsberechtigung. Gleichzeitig können aber
                                                                                                               nur Frauen mit einem vergleichsweise hohen Anteil
Abb. 1
Zusammensetzung der Grundrentenjahre                                                                           an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in
                                      Krankheit/Rehabilitation              Pflege                             der Versicherungshistorie vom Grundrentenzuschlag
                                      Kindererziehung                       Soz.vers.pfl. Beschäftigung        profitieren: 57,5% aller Grundrentenzeiten sind bei
                                      Selbständig                           Geringfügige Beschäftigung
                                      Wehr-/Zivildienst                     Ausbildung                         den anspruchsberechtigten Frauen auf sozialver­
Männer                                              Frauen                                                     sicherungspflichtige Beschäftigung zurückzuführen.
             52,8     53,4            52,7                       47,2            51,2         46,9             Im Vergleich dazu sind es lediglich 51,8% bei den
         %                                                  %                              Jahre gesamt
100                                                 100                                                        Frauen ohne Anspruch auf Grundrente. Umfangrei­
                                                                                                               che Zeiten in Beschäftigung leisten also sowohl für
 80                                                   80                                                       Frauen als auch für Männer einen entscheidenden
 60                                  33,3             60                                                       Beitrag zur Erlangung der Anspruchsberechtigung
             33,2
                      31,0                                       24,8            29,4         24,3             auf Grundrente.
 40                                                   40
                                                                                                                    Die Gruppe der anspruchsberechtigten Rent­
 20                                                   20                                                       ner*innen hat durchschnittlich 21,6 Entgeltpunkte
                                                                                                               angesammelt. Innerhalb der Gruppe der Nicht-An­
  0                                                    0
             Alle   Anspruch        Kein                         Alle         Anspruch        Kein
                                                                                                               spruchsberechtigten ist diese Zahl deutlich höher
                                  Anspruch                                                  Anspruch           (vgl. Tab. 1). Allerdings ist die Standardabweichung
Quelle: SHARE-RV.                                                                             © ifo Institut   (StdAbw.) in der Gruppe der Nicht-Anspruchsberech­

                    36       ifo Schnelldienst   6 / 2021   74. Jahrgang   16. Juni 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE

 Tab. 1
 Entgeltpunkte und Haushaltsnettoeinkommen der anspruchsberechtigten und nicht-anspruchsberechtigten Rentner*innen
                                                                                                Mittelwert                     StdAbw.
 Entgeltpunkte ohne Zuschlag                          Anspruchsberechtigt                           21,6                             7,2
                     mit Zuschlag                     Anspruchsberechtigt                           25,7                             7,0
 Entgeltpunkte                                        Nicht-Anspruchsberechtigt                    32,8                          19,2
 Mittleres Haushaltsnettoeinkommen (Euro) pro Monat   Anspruchsberechtigt                          1 289                         406
                                                      Nicht-Anspruchsberechtigt                    2 701                        1 983
 Median-Haushaltsnettoeinkommen (Euro) pro Monat      Anspruchsberechtigt                          1 286
                                                      Nicht-Anspruchsberechtigt                    2 276
 Quelle: SHARE-RV.

tigten auch merklich höher, was darauf hindeutet,                 Zusammensetzung nach Anspruchsberechtigung
dass die Entgeltpunkte über einen größeren Bereich                (vgl. Abb. 2). 5 Aufgrund der Einkommensprüfung
mit vergleichsweise mehr Ausreißern nach oben                     haben die anspruchsberechtigten Rentner*innen
und unten verteilt sind. Darüber hinaus berechnen                 ein Haushalts­einkommen von höchstens 1 250 Euro.
wir den hypothetischen Zuschlag, den anspruchs­                   Das führt zu einer guten Zielgenauigkeit in die eine
berechtigte Rentner*innen nach dem neuen Gesetz                   Richtung, weil Rentner*innen aus einkommensstar­
erhalten würden. Der hypothetische Zuschlag beträgt               ken Haushalten nicht anspruchsberechtigt sind. Ab­
im Durchschnitt 4,1 Entgeltpunkte. Wir multiplizie­               bildung 2 zeigt jedoch, dass die Zielgenauigkeit in
ren diesen Wert mit dem zu erwartenden aktuellen                  die andere Richtung misslingt: Einerseits sind 23,9%
Rentenwert 2021 (34,09 Euro in Westdeutschland, in                der nicht-anspruchsberechtigten Rentner*innen nach
Ostdeutschland etwas darunter), um den Zuschlag in                der Definition des neuen Gesetzes einkommensarm.
Euro auszudrücken. Es ergibt sich ein durchschnittli­             Andererseits haben 75,9% der Rentner*innen, deren
cher monatlicher Zuschlag von ca. 139 Euro bzw. eine              Haushaltseinkommen unterhalb der im Rahmen der
Rentenerhöhung von etwa 19% für die Anspruchsbe­                  Einkommens­prüfung festgelegten Grenzen liegt, kei­
rechtigten. Der Zuschlag wird für Rentner*innen mit               nen Anspruch auf den Grundrentenzuschlag, weil
einem Haushaltseinkommen, das die oben genann­                    sie die erfor­d erlichen Grundrentenzeiten nicht er­
ten Einkommensgrenzen überschreitet, allerdings ge­               füllen und/oder die Voraussetzungen an die jähr­
kürzt. Trägt man dieser Regelung Rechnung, beträgt                lichen Entgeltpunkte nicht erfüllen. Einerseits ha­
der voraussichtliche Zuschlag im Durchschnitt rund                ben 11% dieser Menschen im Mittel über die Grund­
106 Euro pro Monat, was einer Rentenerhöhung von                  rentenzeiten weniger als 0,3 Entgeltpunkte erworben.
etwa 14% entspricht.                                              Andererseits konnten 48% dieser Menschen in den
                                                                  maßgeblichen Zeiten mehr als 0,8 Entgeltpunkte
EINKOMMENSSITUATION DER RENTNER*INNEN                             erwerben, haben aber zur Zeit der Einkommens­
MIT UND OHNE ANSPRUCH AUF GRUNDRENTE                              prüfung ein Haushaltseinkommen, das unter der
                                                                  Höchstgrenze lag (vgl. Fußnote 3). Schließlich ha­
Neben der gesetzlichen Rente können Rentner*innen
weitere Einkommensquellen in ihrem Haushalt zur                   5
                                                                     Die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ergeben eine
Verfügung haben. Tabelle 1 zeigt das monatliche Haus­             fast deckungsgleiche Verteilung der Haushaltseinkommen. Die Ein­
                                                                  kommen von Single- und Paarhaushalten werden durch ein den ge­
haltsnettoeinkommen von anspruchsberechtigten und                 setzlichen Höchstgrenzen entsprechendes äquivalisiertes Haus­
nicht-anspruchsberechtigten Rentner*innen. Das mitt­              haltseinkommen vergleichbar gemacht.
lere monatliche Haushaltseinkommen der anspruchs­
berechtigten Rentner*innen ist um etwa 1 400 Euro                 Abb. 2
niedriger als das der nicht-anspruchsberechtigten                 Verteilung der Haushaltseinkommen
Rentner*innen (Median: rund 1 000 Euro weniger).                  (inkl. Zusammensetzung nach Anspruchsberechtigung)

Diese Unterschiede sind statistisch signifikant und                        Anzahl                                                          Nicht-anspruchsberechtigt oberhalb
                                                                  500
                                                                                                                                           der Einkommensobergrenze
substanziell. Dennoch liegen sowohl der Mittelwert                                    1250 Euro                                            Nicht-anspruchsberechtigt unterhalb
als auch der Median des Haushaltseinkommens der                   400
                                                                                                                                           der Einkommensobergrenze
anspruchsberechtigten Rentner*innen deutlich über                                                                                          Anspruchsberechtigt
                                                                  300
der Armutsgefährdungsschwelle nach der OECD-De­
                                                                  200
finition (etwa 990 Euro). Ob man dies als einen Mangel
an Zielgenauigkeit interpretieren möchte, lassen wir              100
dahingestellt, da die Entscheidung, was ein »niedriges
                                                                      0
Einkommen« bedeutet, von der deutschen Politik so
                                                                                0

                                                                        51 50
                                                                        50 00

                                                                        01 00

                                                                        01 00

                                                                        01 00

                                                                        01 50

                                                                        51 50

                                                                        51 50
                                                                        01 00
                                                                        51 50
                                                                        01 00

                                                                        01 00
                                                                        25 50

                                                                        51 50

                                                                        01 50

                                                                        01 00

                                                                        51 50

                                                                        51 0

                                                                                0
                                                                       75 75

                                                                      47 475

                                                                             00

getroffen wurde.
                                                                      12 12
                                                                              5

                                                                      10 –10

                                                                      15 –15

                                                                      20 –20

                                                                      25 22

                                                                      27 27

                                                                      32 –32
                                                                      35 –35
                                                                      37 –37
                                                                      40 –40

                                                                      45 –45
                                                                             2

                                                                      17 17

                                                                      20 –22

                                                                      30 30

                                                                      42 42
                                                                           1–
                                                                           1–
                                                                          0–

                                                                          –5
                                                                           –

                                                                           –
                                                                           –
                                                                          –

                                                                          –

                                                                          –

                                                                          –
                                                                         1

      Im nächsten Schritt betrachten wir die Ver­
                                                                                                           Monatliches Haushaltsnettoeinkommen in Euro (äquivalisiert)
teilung der Haushaltsnettoeinkommen und ihrer                     Quelle: SHARE-RV.                                                                                 © ifo Institut

                                                                                      ifo Schnelldienst    6 / 2021   74. Jahrgang     16. Juni 2021   37
FORSCHUNGSERGEBNISSE

                                   Tab. 2
                                   Vermögenssituation der anspruchsberechtigten und nicht-anspruchsberechtigten Rentner*innen
                                                                                                                                             Mittelwert               StdAbw.
                                   Mittleres Nettofinanzvermögen der Haushalte (Euro)             Anspruchsberechtigt                           20 982                  64 977
                                                                                                  Nicht-Anspruchsberechtigt                     51 226                 101 059
                                   Median-Nettofinanzvermögen der Haushalte (Euro)                Anspruchsberechtigt                            4 760
                                                                                                  Nicht-Anspruchsberechtigt                     21 771
                                   Mittleres Nettogesamtvermögen der Haushalte (Euro)             Anspruchsberechtigt                          102 943                 179 349
                                                                                                  Nicht-Anspruchsberechtigt                    251 224                 361 983
                                   Median-Nettogesamtvermögen der Haushalte (Euro)                Anspruchsberechtigt                           40 575
                                                                                                  Nicht-Anspruchsberechtigt                    151 850
                                   Quelle: SHARE-RV.

Abb. 3                                                                                                                 Daher verbreitern wir in einem weiteren Schritt
Verteilung des Haushaltsnettovermögens                                                                            den Blick auf die Zielgenauigkeit der Grundrente, in­
von anspruchsberechtigten und nicht-anspruchsberechtigten Rentner*innen
                                                                                                                  dem wir die Vermögenssituation von anspruchsbe­
     %                                                              Nicht-anspruchsberechtigt                     rechtigten und nicht-anspruchsberechtigten Rent­
60
                                                                    Anspruchsberechtigt unter 140 Tsd. Euro
                    Median 140 Tsd. Euro                            Haushaltsnettovermögen
                                                                                                                  ner*innen vergleichen (vgl. Tab. 2 und Abb. 3). Zur
                                                                    Anspruchsberechtigt über 140 Tsd. Euro        Abbildung des Vermögens verwenden wir zwei Vari-
40
                                                                    Haushaltsnettovermögen                        ablen: das Nettogesamtvermögen und das Netto­
                                                                                                                  finanzvermögen der Haushalte. Das Nettogesamt­
20                                                                                                                vermögen der Haushalte ist die Summe aus Netto­
                                                                                                                  finanz- und Sachvermögen. Letzteres erfasst dabei
 0                                                                                                                neben dem Wert der eigenen Immobilie und der
                                                                                                                  eigenen Unternehmung auch den Wert von Autos,
   30 00

   50 500
   55 550

   80 800

          00
   20 200
   25 250

   35 50
   40 400
   45 450

   60 600
   65 50
   70 700
   75 750

   85 50
   90 900
  95 950
   15 50
    51 50
   10 00

         3

       10
        3

        6

        8
        1
       0–
      –1

                                                                                                                  Zweitwohnungen, Ferienhäusern u.ä., abzüglich Hypo­
      1–

      1–
      1–

      1–
     1–
     1–

     1–
     1–
     1–

     1–
     1–
     1–
     1–

     1–
     1–
     1–
     1–

    1–

                                                                       Haushaltsnettovermögen in Tsd. Euro        theken und Krediten auf eigenes Sachvermögen. Das
Quelle: SHARE-RV.                                                                                © ifo Institut   Nettofinanzvermögen der Haushalte ist wiederum de­
                                                                                                                  finiert als die Geldsumme auf Bankkonten, Anleihen,
                               ben 52% dieser Menschen nicht die nötige Anzahl                                    Aktien, Fonds u.ä., wiederum abzüglich finanzieller
                               von Grundrentenzeiten.6                                                            Verbindlichkeiten. Durch die beiden Vermögensvari­
                                                                                                                  ablen bilden wir das den Haushalten zur Verfügung
                               VERMÖGENSSITUATION DER RENTNER*INNEN MIT                                           stehende Vermögen breit ab.
                               UND OHNE ANSPRUCH AUF GRUNDRENTE                                                        Das Haushaltsnettogesamtvermögen und das
                                                                                                                  Haushaltsnettofinanzvermögen der anspruchsberech­
                               Einer der größten Streitpunkte beim Design der                                     tigten Rentner*innen ist im Vergleich zu den nicht-an­
                               Grundrente war die Frage, ob es eine Bedürftigkeits­                               spruchsberechtigten Rentner*innen wesentlich niedri­
                               prüfung für den Grundrentenbezug geben und, wenn                                   ger. Das Nettogesamtvermögen der anspruchsberech­
                               ja, was diese beinhalten soll. Die Politik hat sich auf                            tigten Rentner*innen beläuft sich im Durchschnitt auf
                               die beschriebene Einkommensprüfung beschränkt                                      fast 103 000 Euro, der Median liegt bei 40 575 Euro,
                               und auf eine Vermögensprüfung verzichtet, wie sie                                  während der Medianwert über beide Gruppen hinweg
                               bei der Sozialhilfe stattfindet, nicht zuletzt mit der                             139 800 Euro, in der gesamten deutschen Teilstich­
                               Argumentation, dass Einkünfte aus Vermögen wie Zin­                                probe von SHARE 152 000 Euro und bei den nicht-an­
                               sen und Mieten durch die Einkommensprüfung er­                                     spruchsberechtigten Rentner*innen etwa 251 000 Euro
                               fasst werden. Dies gilt allerdings nicht für die beiden                            beträgt.8 Dennoch ist das Nettogesamtvermögen der
                               in Deutschland derzeit wichtigsten Vermögensformen,                                8
                                                                                                                     Um die Vermögensindikatoren einzuordnen, vergleichen wir die
                               nämlich das eigengenutzte Wohneigentum und Kapi­                                   Vermögenszahlen in unserer Analysestichprobe mit der gesamten
                                                                                                                  deutschen Teilstichprobe von SHARE. Die deutsche SHARE-Teilstich­
                               tallebensversicherungen. Einige Rentner*innen haben                                probe umfasst nicht nur Rentner*innen so wie unsere Analysestich­
                               möglicherweise nur ein geringes laufendes Einkom­                                  probe, sondern auch abhängig oder selbständig Beschäftigte (ein­
                                                                                                                  schließlich Arbeit im Familienbetrieb), Arbeitslose, dauerhaft Er-
                               men, verfügen aber über andere Vermögenswerte wie                                  werbsunfähige wegen Krankheit oder Behinderung, Hausmänner/
                               etwa Wohneigentum.7 Vor allem das eigengenutzte                                    Hausfrauen, und eine kleine gemischte Gruppe an Sonstigen, die
                                                                                                                  mindestens 55 Jahre alt sind. In der deutschen Teilstichprobe aus
                               Wohneigentum hat insofern Einkommenscharakter,                                     den SHARE-Wellen 5, 6 und 7 beträgt das durchschnittliche Haus­
                               als es die laufende Miete erspart.                                                 haltsnettovermögen 254 303 Euro (Median: 152 000 Euro). Das durch­
                                                                                                                  schnittliche Nettofinanzvermögen liegt in dieser Vergleichsstichpro­
                                                                                                                  be bei 55 709 Euro (Median: 24 175 Euro). Allerdings hat SHARE Per-
                               6
                                 Da mehr als ein Gegengrund vorliegen kann, summieren sich die                    sonen über 50 im Fokus und ermöglicht daher keine Erkenntnisse
                               Anteile zu mehr als 100%.                                                          über die Gesamtbevölkerung in Deutschland. Wir vergleichen unsere
                               7
                                 Siehe z.B. Angelini et al. (2014), die einkommensarme Rentner*in­                Zahlen daher zusätzlich noch mit Ergebnissen aus dem »Panel on
                               nen und Rentner*innen mit Wohneigentum untersuchen.                                Household Finances« (PHF) der Deutschen Bundesbank. Die Deut­

                         38     ifo Schnelldienst      6 / 2021   74. Jahrgang   16. Juni 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE

anspruchsberechtigten Rentner*innen immer noch be­                    hende Vermögen unberücksichtigt. Daher misslingt
trächtlich. Abbildung 3 zeigt, dass es viele anspruchs­               die Zielgenauigkeit des neuen Grundrentenzuschlags
berechtigte Rentner*innen gibt, insgesamt 21%, die                    in beide sozialpolitisch relevanten Richtungen: Auf
ein Nettovermögen haben, das über dem Medianwert                      der einen Seite sind knapp 24% der nicht-anspruchs­
aller Rentner*innen liegt, die also zur reicheren Hälfte              berechtigten Rentner*innen arm im Sinne des neuen
der Rentner*innen Deutschlands zählen.                                Gesetzes, was bedeutet, dass 75,9% derjenigen Rent­
      Für eine Vermögensprüfung mag das Median-                       ner*innen, die als arm gelten, keinen Anspruch auf
Nettovermögen ein willkürlicher Schwellenwert sein,                   Grundrente haben. Auf der anderen Seite haben 21%
wenngleich bei Zugehörigkeit zur oberen Hälfte der                    der Anspruchsberechtigten ein Vermögen, das sie in
Vermögensverteilung es zumindest diskussions-                         die reichere Hälfte der deutschen Rentner*innen ein­
würdig ist, ob diese Haushalte staatliche Unterstüt­                  ordnet. Würden bei der Einkommensprüfung die an­
zung erhalten sollen. Wenn wir stattdessen aber das                   nuisierten Vermögenswerte, wie z.B. Wohneigentum
Doppelte des Median-Nettovermögens als Schwel­                        oder Kapitallebensversicherungen, mitberücksichtigt,
lenwert verwenden, so liegen immer noch 9,4% der                      wären lediglich 2,2% aller Rentner*innen anspruchs­
anspruchsberechtigten Rentner*innen darüber.                          berechtigt. Das heißt, 69% der anspruchsberechtigten
      Als alternativen Prüfwert annuisieren wir nähe­                 Rentner*innen müssten konsequenterweise wegen
rungsweise das Nettovermögen der Haushalte, rech­                     ihres relativ hohen Vermögens über die im Gesetz de­
nen also die vorhandenen Vermögenswerte nähe­                         finierten Einkommensschwellen gehoben werden. Die
rungsweise in ein jährliches Einkommen um, indem                      Grundrente ist daher inkonsequent, erfüllt nicht die
wir 3% des Nettovermögens als Kapitaleinkommen                        im Gesetzgebungsverfahren angeführten sozialpo­
zum Haushaltseinkommen addieren. Dabei gehen                          litischen Ziele und ist doppelt ungerecht: Das neue
wir davon aus, dass der größte Teil des Vermögens                     Gesetz erreicht zu wenige Personen, die tatsächlich
aus Quellen stammt, die im neuen Gesetz nicht be­                     Unterstützung benötigen, und gewährt zu vielen Per­
reits als Haushaltseinkommen berücksichtigt werden                    sonen Leistungen, die keine Hilfe brauchen.
und bei der Einkommensprüfung daher keine Anwen­
dung finden. Das sind z.B. Wohneigentum oder Ka­                      LITERATUR
pitallebensversicherungen, die, wie bereits betont,                   Angelini, V., A. Brugiavini und G. Weber (2014), »The Dynamics of Home­
in Deutschland die mit Abstand wichtigsten Vermö­                     ownership among the 50+ in Europe«, Journal of Population Economics
                                                                      27(3), 797–823.
genswerte darstellen. Wenn wir dieses modifizierte
                                                                      Börsch-Supan, A., M. Brandt, C. Hunkler, T. Kneip, J. Korbmacher,
Haushaltseinkommen zugrunde legen, wären lediglich                    F. Malter, B. Schaan, B., Stuck und S. Zuber (2013), »Data Resource Pro­
2,2% statt 7,1% der Rentner*innen anspruchsberech­                    file: The Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE)«,
                                                                      International Journal of Epidemiology 42(4), 1–10.
tigt für den Grundrentenzuschlag. Dies bedeutet, dass
                                                                      Börsch-Supan, A., C. Czaplicki, S. Friedel, I. Herold, J. Korbmacher und
69% der anspruchsberechtigten Rentner*innen durch                     T. Mika (2018), »SHARE-RV: Linked Data to Study Aging in Germany«,
ihre Vermögenswerte über die im Gesetz definierte                     Journal of Economics and Statistics (4), 47–52.

Einkommensschwelle gehoben würden.                                    Börsch-Supan, A., T. Bucher-Koenen, N. Goll und F. Hanemann (2021),
                                                                      »Targets Missed: Three Case Studies Exploiting the Linked SHARE-RV
                                                                      Data«, Journal of Pension Economics and Finance, verfügbar unter:
FAZIT: DOPPELT UNGERECHT                                              doi:10.1017/S1474747220000359, aufgerufen am 19. März 2021.
                                                                      Bundesministerium für Arbeit und Soziales – BMAS (2021), »Soziales,
                                                                      Rente und Altersvorsorge, Grundrente, Fragen und Antworten zum
Die zum 1. Januar 2021 eingeführte Grundrente ist                     Thema Grundrente«, 12. Januar, verfügbar unter: https://www.bmas.de/
nicht zielgenau. Ihre Konstruktion hat gravierende                    DE/Soziales/Rente-und-Altersvorsorge/Grundrente/Fragen-und-Antwor­
                                                                      ten-Grundrente/fragen-und-antworten-grundrente-art.html, aufgerufen
Schwächen: Zum einen werden durch die Anspruchs­                      am 19. März 2021.
voraussetzungen Rentner*innen mit geringen Le­                        Deutsche Bundesbank (2019), »Household Wealth and Finances in Ger­
benseinkommen nicht berücksichtigt. Das wider­                        many: Results of the 2017 Survey«, Deutsche Bundesbank Monthly Re-
                                                                      port 71(4), 13–42.
spricht dem häufig angeführten Ziel »Reduzierung
                                                                      Deutscher Bundestag (2020), Gesetz zur Einführung der Grundrente für
von Altersarmut«. Zweitens ist die Durchführung der                   langjährige Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung mit un-
Haushaltseinkommensprüfung mit einem sehr hohen                       terdurchschnittlichem Einkommen und für weitere Maßnahmen zur Erhö-
                                                                      hung der Alterseinkommen (Grundrentengesetz). Bundesgesetzblatt Teil I
Verwaltungsaufwand verbunden, lässt aber dennoch                      Nr. 38, 1879-1886.
das den Haushalten zusätzlich zur Verfügung ste­                      Ruland, F. (2021), »Die Grundrente – Voraussetzungen, Berechnung, Ver­
                                                                      fahren und Versorgungsausgleich«, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 30(4),
sche Bundesbank (2019) zeigt, dass Haushalte in Deutschland im        241–280.
Jahr 2017 ein durchschnittliches Nettovermögen von 232 800 Euro
hatten (Median: 70 800 Euro). Die Definition des Haushaltsnettover­   Ye, H. (2018), »The Effect of Pension Subsidies on Retirement Timing of
mögens der Deutschen Bundesbank (2019) ist vergleichbar mit der       Older Women: Evidence from a Regression Kink Design«, IZA Discussion
von uns verwendeten SHARE-Variable.                                   Paper No. 11831, IZA – Institut zur Zukunft der Arbeit, Bonn.

                                                                                         ifo Schnelldienst   6 / 2021   74. Jahrgang   16. Juni 2021   39
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