Zum 200. Geburtstag von Fedor Dostoevskij

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Zum 200. Geburtstag von Fedor Dostoevskij
Fedor Dostoevskij

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                                                                                                                                          THE BROTHERS KARAMAZOV
                    Fedor Michailovič Dostoevskij (1821–1881) ist nicht       ersetzt Petersburg (»die künstlichste aller Städte«)
                    nur einer der bedeutendsten Romanautoren der Welt-        durch eine zeitgenössische italienische, jedoch in irrea-
                    literatur, sondern gehört auch zu den russischen Auto-    lem Licht schimmernde Stadt voller kleiner Brücken.
                    ren, die im Ausland viel beachtet, gelesen – und von      Bresson verlegt Dostoevskijs Sujets in ein Pariser Mili-
                    Meisterregisseuren verfilmt wurden. In der Retrospekti-   eu, als wäre nichts Petersburgisches an den »Weißen
                    ve sind Verfilmungen aus allen Perioden seines Schaf-     Nächten« – obwohl doch die hellen Nächte ein Spezifi-
                    fens vertreten, von »Weiße Nächte« (1848) über »Schuld    kum des Nordens sind und dort im Sommer für eine
                    und Sühne« (1866) bis zu »Die Brüder Karamazov«           unwirkliche Atmosphäre sorgen. Während Visconti noch
                    (1879/80), laut Sigmund Freud der »großartigste Ro-       mit studiogeneriertem Chiaroscuro arbeitet, verzichtet
                    man, der je geschrieben wurde«. Besonders reizvoll ist    Bresson darauf, den Titel wörtlich zu nehmen und inter-
                    der Vergleich verschiedener Adaptationen derselben        pretiert das Oxymoron der ›weißen Nacht‹ als Möglich-
                    Vorlage: etwa Luchino Viscontis LE NOTTI BIANCHE mit      keit einer ungeahnten, nur kurz aufscheinenden Klar-
                    Robert Bressons QUATRE NUITS D’UN RÊVEUR, oder            heit der Erkenntnis und des Fühlens. Die Pariser Weißen
                    der völlig unterschiedlichen Verfilmungen von »Der Idi-   Nächte werden zu einer Ausnahmezeit, in der die bisher
                    ot« und »Die Brüder Karamazov«.                           unklaren Wünsche ans Licht kommen dürfen. Die Pari-
                         Wie wurde Dostoevskij bisher überhaupt verfilmt?     ser Brücken bieten sich – 20 Jahre vor Leos Carax’ DIE
                    Man kann grob zwei Ausrichtungen unterscheiden. Die       LIEBENDEN VON PONT-NEUF (1991) – als Kulisse für
                    meisten Filme belassen die Handlung in der zweiten        zarte Anbahnungen und emotionale Ergüsse an; diese
                    Hälfte des 19. Jahrhunderts und rekonstruieren »Origi-    großen Brücken sind Orte der Grenzüberschreitung und
                    nalschauplätze« der Romane, also Petersburg, das rus-     des neuen Sehens, die für den Sehnsüchtigen Zeichen
                    sische Provinzstädtchen oder Wiesbaden (Čardynin,         bereithalten (so trägt der vorbeifahrende Kahn den Na-
                    Wiene, Ozep, Brooks, Pyr’ev, Kulidžanov, Wajda). Die      men der Geliebten).
                    zweite Gruppe von Filmen versetzt das Sujet in eine           Doch bereits in Vorkriegsverfilmungen von Dosto-
                    andere Zeit oder an einen anderen Ort (Visconti, Bres-    evskij abstrahierte man zuweilen vom russischen Mi-
                    son, Kaurismäki, Zelenka, Vecchiali).                     lieu. Die Vertreter des »Russenfilms« wie Carl Froelich
                         Es scheint, dass besonders der westeuropäische       (IRRENDE SEELEN / SKLAVEN DER SINNE, 1921, nach
                    Film der 1950er bis 1970er Jahre in den literarischen     »Der Idiot«) und Friedrich Zelnik (ERNIEDRIGTE UND
                    Vorlagen Dostoevskijs universelle Sujets erkennt, die     BELEIDIGTE, 1922) kombinierten in der Ausstatung vi-
                    auch anderswo verortet werden können. Visconti etwa       suelle Trends der westlichen Roaring Twenties mit rus-
sischen Versatzstücken – und das alles auf dem Rü-                Überzeugender ist da Yul Brynners schillernde Erotik
cken der literarischen Vorlagen, von denen wenig übrig       in der amerikanischen Verfilmung aus den 1950er Jah-
blieb. Jerzy Toeplitz schreibt über Wienes expressionis-     ren. In Brooks’ Film bilden ähnlich wie bei Ozep die
tischen RASKOLNIKOW: »Es war kein Zufall, dass der           Söhne Dmitrij und Smerdjakov zum Vater ein Dreieck
Regisseur Robert Wiene, der Schöpfer von DAS CABI-           der Spannung. Im Gegensatz jedoch zum hilflosen
NET DES DR. CALIGARI, den Roman ›Schuld und Süh-             Greis von 1931 ist Fedor Karamazov (Lee J. Cobb) bei

                                                                                                                          Fedor Dostoevskij
ne‹ verfilmte und Raskolnikow in einem stilisierten De-      Brooks ein echter Rivale seines Sohnes. Stärker her-
kor sich bewegen und handeln ließ, das eher an die           ausgearbeitet sind hier Dmitrijs potentielle kriminelle
deutsche Kleinstadt von Mayer und Janowitz erinnerte         Energien, die dem kühlen Intellekt seines Bruders Ivan
als an das Petersburg des 19. Jahrhunderts.« Man             gegenüberstehen, dessen Mitschuld darin besteht,
könnte einwenden, dass die expressionistische Stadt-         dem Vater nicht zu Hilfe gekommen zu sein. Smerdja-
architektur insgesamt geografisch nicht festgelegt ist,      kov wiederum bezeichnet sich selbst als das Werkzeug
vielmehr die dunklen und unsicheren Seiten der Urba-         des ödipalen Wunsches der beiden anderen. Der Bezug               7
nität hervorkehrt: Raskol’nikov (der groß und kräftig        zur Freudschen Auslegung des Textes vom verhassten
wirkende Grigorij Chmara) betritt seine schiefwändige        Vater der Urhorde ist deutlich – deshalb wirkt die Figur
Wohnung wie eine Erdhöhle, ein »Kellerloch«. Die ex-         des gottesfürchtigen Bruders Aljoša etwas deplatziert
pressionistischen Filmbauten scheinen die Menschen           (1931 fehlte sie im Drehbuch von Ozep/Frank/Trivas
dazwischen zu erdrücken, sie geradezu zum Verbre-            ganz).
chen zu treiben – hier erweist sich die Kombination von           Als Maßstab der Qualität einer Literaturverfilmung
caligaresker Kulisse und den ruhig-natürlich agieren-        wird meist der Grad der Werktreue angesehen. Doch
den Schauspielern des Moskauer Künstlertheaters als          was bedeutet Werktreue oder Nähe zum Original, wenn
wohltuend. Chmaras Augen tragen zwar den expressio-          ein Text in ein multimediales Raum-Zeit-Medium über-
nistischen Lidstrich, seine Bewegungen und Mimik sind        führt wird? Geht es um die Handlung, die religiöse,
aber nicht überzeichnet, sondern psychologisch fun-          geistige oder politische Ausrichtung oder aber um eine
diert – eben der Stanislavskij-Tradition verpflichtet.       bestimmte Atmosphäre – etwa die des typischen
Wienes Film gehört streng genommen also nicht zur            Dostoevskijschen Skandals und der sich überschlagen-
oben beschriebenen »Russenwelle«, bei der der Russe          den Hysterie (russ. »nadryv«), die oft mit der Idiotie des
immer das Andere, das Abnormale, das Gesetzlose,             Gottesnarren gepaart wird?
bestenfalls das unberechenbar Maßlose verkörpern                  Die hysterische Atmosphäre des »nadryv«, ein Wort,
musste: sei es Ivan der Schreckliche oder ein Karama-        das man auch mit Überreizung wiedergeben kann, ent-
zov.                                                         lädt sich in Dostoevskijs Texten meist in einer Skandal-
    Weitere Früchte deutsch-russischer Zusammenar-           szene (Geldbündel werden in den Kamin geworfen) oder
beit waren zwei in Deutschland produzierte Karama-           einem Anfall. Dostoevskijs Werk ist voll von »nadryv«-
zov-Verfilmungen: Froelich ließ sich 1920 für seine          Personen; zumeist leiden sie an derselben Krankheit
Adaptation des russischen Romans von Dimitri Bucho-          wie ihr Autor, an der Epilepsie. Es sind dies zum einen
wetzki beraten, und der russische Emigrant Fedor Ozep        die helle Figur des Fürsten Myškin und zum anderen
wählte deutsche Charakterdarsteller für seinen Tonfilm       eine der abscheulichsten Kreaturen, die Dostoevskij
aus dem Jahre 1930/31. Oksana Bulgakowa verzeich-            ersonnen hat: Smerdjakov, der illegitime Sohn und Mör-
net in diesen beiden (vor allem für ein deutsches Publi-     der des Urvaters Fedor Karamazov. Während in den
kum produzierten) Filmen die Reduktion der psycholo-         literarischen Texten das Hassenswerte dieser Figur nur
gisch-philosophisch-religiösen Vatermordgeschichte           indirekt aufscheint, muss sie im Film mit einem konkre-
auf einen moralisierenden Krimi: Im Film von Ozep            ten Schauspieler besetzt werden. Ozep wählt den sub-
mordet eine Nebenfigur aus Berechnung, der Held er-          alternen Widerling Fritz Rasp, Brooks den aalglatten,
liegt einem Justizirrtum, und die Dirne wird ehrbar. Fritz   doch zugleich psychotisch wirkenden Albert Salmi. Bei-
Kortner, der bereits bei Froelich den Dmitrij gegeben        de wirken in gewisser Weise debil. Der des Schwach-
hatte, zeigt ein Jahrzehnt später mehr als »eine Spur        sinns geziehene Fürst Myškin aus dem Roman »Der
zuviel Raisonnement« (so Siegfried Kracauer in der           Idiot« dagegen wird von dem durchgeistigten und edlen
Frankfurter Zeitung, 13.2.1931) und seine kreuzbrave         Gérard Philipe (bei Lampin, 1946) dargeboten, bzw. bei
Darstellung sinnlicher Leidenschaft in den Zigeuner-         Kurosawa (HAKUCHI, 1951) von dem feinsinnigen Mori.
szenen erinnert in manchem eher an Heinrich Manns            Hier fällt auf, dass auch das »Idiotische« kulturell ver-
»Untertan« als an Dostoevskij.                               schieden ausfällt.
Die politische Dimension von Dostoevskijs Schriften   greise Großmutter am Roulette nur ein schrulliger loser,
                                       hatte in der UdSSR dazu geführt, dass der Autor jahr-     bei Dostoevskij jedoch die Figur, die durch ihr beständi-
                                       zehntelang praktisch zu den Verfemten gehörte; damit      ges Setzen auf die Zahl Null das intrikate Nullsummen-
                                       hängt auch der relativ späte Anfang der Geschichte        spiel des Textes bedingt). Bereits der Titel vom »Großen
                                       sowjetischer Dostoevskij-Adaptationen zusammen, die       Sünder« lässt vermuten, dass der Film das Schicksal
                                       zunächst nur linientreuen Regisseuren (wie dem Stali-     des russischen Spielers aus der moralischen Perspek-
Fedor Dostoevskij

                                       nisten Ivan Pyr’ev in den 1950ern oder später dem         tive hehrer Ideen beleuchtet – ein Moment, das im oft
                                       Ersten Sekretär des Filmverbands, Lev Kulidžanov)         zynisch daherkommenden Originaltext weitgehend
                                       überantwortet wurden. Es ist der polnische Regisseur      fehlt. Diese Reduktion des echten Dostoevskij, der über
                                       Andzrej Wajda, der in seinen LES POSSÉDÉS der Ver-        »Verbrechen« und »Strafe« schrieb, auf die moralisch
                                       nachlässigung der ideologischen Problematik in den        gefärbte Rede von »Schuld« und »Sühne« ist freilich ein
                                       filmischen Dostoevskij-Bearbeitungen ein Ende macht       Übel, das bereits in der Rezeption seiner Romane ange-
  8                                    und sich an »Die Dämonen« wagt. Wajda gelingt es hier,    legt ist. »Die Überschätzung des ›ideellen Überbaus‹
                                       den politischen Weitblick des Autors zu würdigen und      der Werke Dostojewskis gehört zu den bewährtesten
                                       mit Hilfe von hervorragenden Schauspielern der Ge-        Fallen, die dieser Autor seinen Kritikern und Lesern
                                       schichte der lokalen Revolution von Stavrogin/Vercho-     stellt.« (Aage Hansen-Löve)
                                       venskij eine tragische Note zu geben.                         Und doch fängt Siodmaks Film ein zentrales
                                           Was bewirken einschneidende Eingriffe in die von      Dostoevskij-Thema ein – das der (Spiel-)Leidenschaft,
                                       Dostoevskij vorgegebene Handlung? Robert Siodmaks         die alle menschlichen Regungen, ja, sogar den Eros
                                       THE GREAT SINNER (1948) vernachlässigt nicht nur die      (hier Ava Gardners) zunichte macht. Der süchtige Spie-
                                       Namen der Personen (aus dem Hauslehrer wird               ler unterwirft sich bedingungslos der Magie der Zahlen
                                       Dostoevskij selbst), sondern lässt Randfiguren wie Ma-    und der Mechanik der Roulettescheibe. Vor allem in den
                                       demoiselle Blanche beiseite oder verändert ihre Bedeu-    Hollywood-Produktionen sind die wahren Bezüge zu
                                       tung für die Idee der Geschichte (bei Siodmak ist die     Dostoevskij nicht gerade vordergründig: Es ist das psy-
                    THE GREAT SINNER
chologische, um nicht zu sagen, psychoanalytische           de, wirklich ein Fabrikarbeiter, oder ist er vom Festival
Ausloten der Figurenkonstellationen und das auch in         eingeschleust und das tragische Ereignis nur eine In-
Dostoevskijs Kriminalgeschichten prominente Moment          szenierung, für die die Theatergruppe das Publikum
des suspense, durch das die amerikanischen Verfil-          abgibt? Ständig werden wir daran erinnert, dass wir ein
mungen brillieren.           Natascha Drubek-Meyer          Stück nach einem Roman in einem Film sehen, doch
                                                            anstatt dass die Handlungsebenen konstrastierten, ver-

                                                                                                                         Fedor Dostoevskij
The Brothers Karamazov (Die Brüder Karamasow)               schmelzen sie.
| USA 1958 | R+B: Richard Brooks, nach dem Roman             Samstag, 20. November 2021, 17.00 Uhr
von Fedor Dostoevskij | K: John Alton | M: Bronislau
Kaper | D: Yul Brynner, Maria Schell, Claire Bloom, Lee     Die Brüder Karamasoff | Deutschland 1920 | R: Carl
J. Cobb, Albert Salmi, Richard Basehart, William Shat-      Froelich | B: Carl Froelich, Dimitri Buchowetzki,.Ronald
ner | 145 min | OF | »Richard Brooks' Konzentration         von Boschitzko, nach dem Roman von Fedor Dostoevskij
liegt auf der Beziehung des Zynikers Dimitri Karamasow      | K: Otto Tober | D: Fritz Kortner, Bernhard Goetzke, Emil        9
und seinem Vater, eine Hass-Liebe, die dadurch ihren        Jannings, Hermann Thimig, Alina Griffycz-Milewska,
Höhepunkt erreicht, dass sich beide in dieselbe Frau        Rudolf Lettinger, Hanna Ralph, Werner Krauß | 105 min
verlieben. Der Sündenfall tritt ein, Vatermord, der Ver-    | »Das, was der Film bietet, ist natürlich ein zusammen-
such eines Neuanfanges scheitert, die Moral versagt,        gedrängter Extrakt des Buchdramas, der aber doch in
und Gerechtigkeit ist eine Illusion. Aus den Trümmern       der Filmbearbeitung nichts Unwesentliches fortlässt,
der gescheiterten Ideale von Loyalität, Freundschaft        sondern das Fortschreiten des Geschehnisse in logi-
und Liebe steigt zu guter Letzt ausgerechnet dem Athe-      scher Aufeinanderfolge in sehr guten Szenen festhält.
isten unter den Brüdern die Erkenntnis empor: Wir alle      Carl Froelichs äußerst sorgfältige Regie zeigt Bilder
sind Werkzeuge des Teufels. Brooks’ Inszenierung ist        echt russischer Färbung und operiert mit Darstellern,
solide, was insbesondere in der Kameraarbeit stre-          die sich in den Charakter ihrer Rollen mit größter Hinge-
ckenweise zwar nur Routine bedeutet, dafür wird durch       bung eingelebt zu haben scheinen. Es wird ein wahr-
geschickte Farb- und Lichtkomposition der außerweltli-      haftiger Einblick in die Kultur der Handlungsumgebung
che Bezug geschaffen, der dem Werk die manipulative         des Stückes geboten, eine Bildschilderung der Sitten
Aura verleiht, die auch traditionelle Kirchengemälde        und Gebräuche, wie sie auch Dostoevskijs gewandte
zum Kultobjekt stilisierte – letztlich ein entscheidendes   Feder nicht anschaulicher bieten konnte. Einen ausge-
Merkmal des Classical Hollywood Style.« (Matthias           zeichneten Typ hatte Werner Krauß mit seinem epilepti-
Grimm)                                                      schen Koch Smerdjakoff geschaffen. Eine Kabinettleis-
 Freitag, 19. November 2021, 19.00 Uhr                     tung für sich. Der alte Karamasoff fand in Fritz Kortner
                                                            einen prächtigen Nachgestalter. Dem düsteren Zyniker
Karamazovi (Die Karamazows) | Tschechien 2008 |             Iwan gab Bernhard Goetzke die entsprechende Charak-
R+B: Petr Zelenka, nach dem Theaterstück von Evald          terisierung. Emil Jannings spielte den leichtsinnigen,
Schorm | K: Alexander Šurkala | M: Jan A.P. Kaczmarek       lebensfrohen Dimitri ganz im Sinne russischer Auffas-
| D: Ivan Trojan, Lenka Krobotová, Igor Chmela, Martin      sung.« (Der Kinematograph)
Myšička, David Novotný, Radek Holub, Michaela Badin-         Samstag, 20. November 2021, 20.00 Uhr | Musikbe-
ková | 100 min | OmeU | Eine tschechische Theater-          gleitung: Günter A. Buchwald
gruppe fährt für ein alternatives Festival ins polnische
Nowa Huta, um dort vor der Belegschaft eines noch           Die Frau mit den 5 Elefanten | Schweiz 2009 | R+B:
aktiven, aber verfallenden Stahlwerks die Bühnenbear-       Vadim Jendreyko | K: Niels Bolbrinker, Stéphane Kuthy |
beitung von Fedor Dostoevskijs »Die Brüder Karama-          M: Daniel Almada, Martín Iannaccone | Mit: Svetlana
zov« aufzuführen, die der tschechische Autor Evald          Geier, Anna Götte, Hannelore Hagen, Jürgen Klodt | 93
Schorm Anfang der 1980er Jahre ins Theater und ins          min | Als die fünf Elefanten bezeichnet Svetlana Geier
Fernsehen brachte. Kein Wunder, dass die Grenzen zwi-       selbst die fünf großen Romane Dostoevskijs, die sie neu
schen Literatur, Theater, Film und Realität verschwim-      ins Deutsche übertragen hat. Damit wurde sie weit über
men. Soll die Truppe in der baufälligen Halle ernsthaft     Spezialistenkreise bekannt, auch weil sie bei ihren
mit Schutzhelmen auftreten? Kann sich der Darsteller        Übersetzungen nah am Russischen blieb und die Titel
des Dmitrij rechtzeitig davonstehlen, um daheim an ei-      »Schuld und Sühne« und »Die Dämonen« in »Verbre-
nem Nachtdreh teilzunehmen? Ist der Fabrikarbeiter,         chen und Strafe« und »Böse Geister« änderte. Regis-
dessen Kind beim Spielen im Werk schwer verletzt wur-       seur Vadim Jendreyko beobachtet die 85-jährige Svet-
lana Geier bei ihrer akribischen Übersetzungsarbeit,        Adaptation des Dostojewski-Romans im damaligen Ge-
                    wenn sie mit ihrem ebenfalls schon betagten Assisten-       genwartsparis spielen lassen. Der Film schmilzt die lite-
                    ten jedes einzelne Wort sorgfältig abwägt. Der Doku-        rarische Vorlage auf ihre kriminalistische Essenz ein,
                    mentarfilm führt aber auch in die bewegte Vergangen-        ohne doch die philosophischen Implikationen ganz aus
                    heit von Svetlana Geier und in ihren ukrainischen           dem Blick zu verlieren. Die morbide Ausstrahlung ver-
                    Heimatort, den sie seit ihrer Flucht 1943 nicht mehr        fallener Bauten in alten Pariser Quartieren tut ein Übri-
Fedor Dostoevskij

                    besucht hat. »Der Film zeichnet ein komplexes Bild sei-     ges, um die bedrückende Atmosphäre des Romans zu
                    ner Protagonistin, löst nicht die großen Widersprüche       beschwören. Der Film bezeugt mit jeder Einstellung den
                    einer ereignisreichen Biografie, in der die Zeitgeschich-   versierten Blick seines Regisseurs und ein unaufdring-
                    te solch deutliche Spuren hinterlassen hat, und folgt mit   liches Können, das sich ganz in den Dienst der Ge-
                    seinen Bildern dem Tempo ihrer Erzählung.« (Lena            schichte stellt. Überdies erfreut er mit glänzenden
                    Serov)                                                      Schauspielerleistungen.« (Steffen Jacobs)
10                   Dienstag, 23. November 2021, 19.00 Uhr                     Freitag, 26. November 2021, 19.00 Uhr

                    Der Mörder Dimitri Karamasoff | Deutschland 1931 |          Crime and Punishment (Schuld und Sühne) | USA
                    R: Fedor Ozep | B: Leonhard Frank, Fedor Ozep, Victor       1935 | R: Josef von Sternberg | B: Joseph Anthony, S.K.
                    Trivas, nach Motiven des Romans »Die Brüder Karama-         Lauren, nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K:
                    zov« von Fedor Dostoevskij | K: Friedl Behn-Grund | M:      Lucien Ballard | M: R.H. Bassett, Louis Silvers | D: Peter
                    Karol Rathaus | D: Fritz Kortner, Anna Sten, Fritz Rasp,    Lorre, Edward Arnold, Marian Marsh, Tala Birell, Elisa-
                    Bernhard Minetti, Max Pohl, Elisabeth Neumann-Viertel       beth Risdon, Robert Allen, Gene Lockhart | 95 min |
                    | 93 min | »Die Musik zu DER MÖRDER DIMITRI KARA-           OF | »Die Frage, was diese Verfilmung mit Fedor Dosto-
                    MASOFF zählt zu den bahnbrechenden Leistungen des           evskijs Romanklassiker von 1866 verband, sah Stern-
                    Tonfilms. Sie entwickelt sich zum emotionalen Spiegel       berg als lachhaft an, denn solch unsterbliche Kunst
                    Dimitris und erreicht meiner Ansicht nach den Gipfel bei    könne schwerlich den Gang durch Hollywoods Wurst-
                    seiner hysterischen Troika-Fahrt im Schneegestöber,         maschine überstehen. Aber versuchen wir uns ohne
                    begleitet von einer gewaltigen Schlagwerksbatterie.         vorgefasste Meinung in den Film zu stürzen, tauchen
                    Rathaus' Beitrag ist eine echte Errungenschaft, weil er     wir in den Portraitstil der Großaufnahmen ein, betrach-
                    erstmals die Musik als integralen emotionalen Bestand-      ten wir das reduzierte Dekor. Ja, gegen den Glanz
                    teil des Werks behandelte.« (Bernard Herrmann) »Der         des Dietrich-Zyklus' mag der Film schlicht wirken,
                    erste deutsche Tonfilm, der einen Vergleich mit den         schmucklos gar, aber Sternberg packt diesen Minima-
                    guten stummen Filmen aushalten kann. Denn anders            lismus und verdichtet dessen Möglichkeiten. Das nicht
                    als bei den üblichen Roman-Verfilmungen ist der epi-        von der Hand zu weisende Ergebnis ist die Ausgestal-
                    sche Stoff nicht einfach als Unterlage für illustrative     tung eines unverzichtbaren Kernstücks des späteren
                    Szenen ausgenutzt, sondern von Grund auf in die Film-       Film Noir: in Freud'scher Terminologie, der Antiheld als
                    sprache übersetzt worden. Hervorzuheben ist vor allem       verbrecherisches Ich, von seinem Es in den Wahnsinn
                    eine Lehre, die dieser Tonfilm erteilt: dass das gespro-    getrieben, muss sich seinem auf Schuldgefühle verses-
                    chene Wort nicht den Vorrang haben darf, sondern sich       senen Über-Ich stellen, üblicherweise verkörpert als
                    einordnen muss ins Bildgefüge.« (Siegfried Kracauer)        Polizist oder Ermittler.« (Adrian Martin)
                     Mittwoch, 24. November 2021, 19.00 Uhr                     Samstag, 27. November 2021, 17.00 Uhr

                    Crime et Châtiment (Schuld und Sühne) | Frankreich          Rikos ja rangaistus (Schuld und Sühne) | Finnland
                    1956 | R: Georges Lampin | B: Charles Spaak, nach           1983 | R: Aki Kaurismäki | B: Aki Kaurismäaki, Pauli
                    dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: Claude Renoir |        Pentti, nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K:
                    M: Maurice Thiriet | D: Robert Hossein, Marina Vlady,       Timo Salminen | M: Pedro Hietanen | D: Markku Toikka,
                    Jean Gabin, Ulla Jacobsson, Bernard Blier, Lino Ven-        Aino Seppo, Esko Nikkari, Hannu Lauri, Olli Tuominen,
                    trua, Gérard Blain | 107 min | OmeU | »Réné Brunel ist      Matti Pellonpää | 93 min | OmU | »Sie lachen nicht, sie
                    nicht Raskolnikow, Paris ist nicht Sankt Petersburg.        weinen nicht. Aber vielleicht träumen sie. Man kann
                    Doch die alte Geschichte von verbrecherischer Verstri-      den Helden von Aki Kaurismäki nicht ansehen, was sie
                    ckung und religiöser Läuterung ist auch im Paris der        bewegt. Ungerührt geben sie sich dem Lauf der Zeit
                    1950er Jahre die gleiche wie 90 Jahre zuvor in der          hin, Amokläufer des eigenen Schicksals. Sie nehmen
                    Zarenstadt an der Newa. Georges Lampin hat seine            Rattengift, heuern Auftragskiller an oder greifen wie in
Fedor Dostoevskij
                                                                                                                                          11

                                                                                                                          RASKOLNIKOW
SCHULD UND SÜHNE selbst zur Waffe. In einer                    tisch-übersteigerten expressionistischen Bauten spie-
Fleischfabrik beginnt Kaurismäkis Erstling, mit einem          len. Auf diesen Hintergründen schwellen die Gescheh-
Blick in eine kalte Hölle, wo der Tod so nah und doch so       nisse müheloser ins Unheimliche, Übermenschliche.
fern ist. Ein kühles Licht liegt auf der Welt, das für klare   Man fragt sich immer: Wie wurden diese Originial-Rus-
Farben sorgt. Man darf den Beitrag des ständigen Ka-           sen in diese verzackten Zimmer, Treppenhäuser, Stra-
meramanns Timo Salminen zu Kaurismäkis Kosmos                  ßen, die sich ins Unendlich-Geheimnisvolle verlieren,
nicht unterschätzen. Eine Ruhe der Bildfindung und             hineingeschleudert? Man kann Wiene verteidigen, in-
-gestaltung geht von ihm aus, in der sich der Regisseur        dem man sagt: wichtiger als das realistische Milieu ist
mit seinem trockenen Witz frei bewegen kann.« (Micha-          bei Dostoevskij die seelische Atmosphäre, und diese
el Althen). Wenn Aki Kaurismäki behauptet, einen Klas-         seelische Atmosphäre wird zwischen diesen phantasti-
siker zu verfilmen, wird die Buchvorlage vielmehr in           schen Bauten deutlicher fühlbar als in fotografiertem
Frage gestellt. »Schuld und Sühne« wird aktualisiert           realistischem Milieu. Das ist richtig. Das Ganze wirkt
und ins heutige Helsinki versetzt, aus Raskol’nikov wird       sehr aufregend, frisst sich ein; man ahnt Dostoevskijs
Rahikainen. Dostoevskijs große Themen werden umge-             Größe und Tiefe; man ist erschüttert, mitgenommen,
wertet: Es gibt keine Gnade, es gibt keine Sühne.              geläutert.« (Kurt Pinthus) Zur Aufführung gelangt eine
 Samstag, 27. November 2021, 20.00 Uhr                        neue digital restaurierte Fassung des Filmmuseums
                                                               München.
Raskolnikow | Deutschland 1923 | R+B: Robert Wie-               Sonntag, 28. November 2021, 17.00 Uhr | Musikbe-
ne, nach dem Roman »Schuld und Sühne« von Fedor                gleitung: Günter A. Buchwald
Dostoevskij | K: Willy Goldberger | D: Grigorij Chmara,
Elisaveta Skulskaja, Alla Tarasova, Pavel Pavlov, Michail      Tichie stranicy (Verborgene Seiten) | Russland 1993
Tarchanow | 120 min | »Wiene nimmt die Schauspieler            | R+B: Aleksandr Sokurov | K: Aleksandr Burov, nach
des Moskauer Künstlertheaters und lässt diese keines-          Motiven von »Schuld und Sühne« von Fedor Dostoevskij
wegs in russischem Milieu, sondern in phantas-                 | D: Aleksandr Čerednik, Elizabeta Koroleva, Sergej Bar-
kovskij, Galina Nikulina, Olga Onishchenko | 77 min |         Roman von Fedor Dostoevskij | K: Otto Baecker | M:
                    OmU | Das Kino ist für Aleksandr Sokurov wie Malerei.         Giuseppe Becce | D: Albrecht Schoenhals, Lída Baaro-
                    Die Kinoleinwand ist flach, wie die eines Gemäldes. In        vá, Eugen Klöpfer, Hannes Stelzer, Hilde Körber, Hedwig
                    diesem Sinne ist dieser Film nach Motiven russischer          Bleibtreu, Karl Martell | 93 min | »Vor allem Baarová als
                    Prosa des 19. Jahrhunderts vor allem ein visuelles Er-        Nina, die sich in die Abhängigkeit des Sekretärs ihre
                    lebnis. Er wurde teils in schwarz-weiß, teils in einer        Vaters begibt (Alexej Nikitin, von Hannes Stelzer spröd
Fedor Dostoevskij

                    ganz leichten bräunlichen Farbigkeit gedreht, die kurz        und mit schroffer Sachlichkeit gespielt), überzeugt
                    in einem ungetrübten Rot aufscheint. »Das bisschen
                    Farbe, das Sokurov verwendet, ist fast immer schon zu
                    viel. Wer sich seine Filme ansieht, braucht mehr als nur
                    zwei Augen im Kopf.« (Andrea Kern) In einer optisch
                    unglaublichen Szene stürzen sich die Figuren ein Trep-
12                  penhaus hinab, dem jegliche dreidimensionale Tiefe
                    genommen wurde. Es entsteht etwas Unmögliches.
                    Dramatisch gestaltete Szenen gibt es nur wenige. In
                    ihnen spielt der Bezug zu Dostoevskij jedoch eine we-
                    sentliche Rolle. An zentraler Stelle zitiert Sokurov die
                    berühmte Szene aus »Schuld und Sühne«, in der die
                    todkranke Sonja versucht, Raskol'nikov dazu zu bringen
                    seine Schuld öffentlich zu gestehen, um so wenigstens
                    seine Seele zu retten.
                     Dienstag, 30. November 2021, 19.00 Uhr                      durch ein psychologisches Gespür für die Abgründe
                                                                                  einer Frau. Ansonsten verfolgt man als Zuschauer ge-
                    Les possédés (Die Dämonen) | Frankreich 1988 | R:             diegenes Theaterspiel. DER SPIELER ist ein den propa-
                    Andrzej Wajda | B: Andrzej Wajda, Jean-Claude Carriè-         gandistischen Vorstellungen der NS-Filmpolitik eher
                    re, Angnieszka Holland, Edward Zebrowski, nach dem            ferner Stoff, eine – im Dialog etwas zu überladene –
                    Roman von Fedor Dostoevskij | K: Witold Adamek | M:           Studie um Abhängigkeiten, falsche Liebe und Wahn-
                    Zygmunt Konieczny | D: Jerzy Radziwiłowicz, Isabelle          sinn, in der jeder der rollenden Kugel erliegt, auch wenn
                    Huppert, Jean-Philippe Écoffey, Jutta Lampe, Laurent          sich das Drehbuch von Peter Hagen alias Willi Krause
                    Mallet, Lambert Wilson, Omar Sharif, Bernard Blier |          und Alois Johannes Lippl – auch Goebbels hatte im
                    115 min | OmU | Jerzy Radziwiłowicz spielt die Rolle          Hintergrund mitgewirkt – für Nina ein Happy End er-
                    des abtrünnigen Verschwörers Šatov, der einer abge-           laubt.« (Wolfgang Jacobsen) Kurz nach seiner Urauf-
                    feimten Intrige seiner Mitverschwörer zum Opfer fällt.        führung wurde der Film verboten. Grund war die Liebes-
                    Sein Schicksal steht, anders als bei Dostoevskij, im Mit-     affäre zwischen Lida Baarová und Joseph Goebbels, die
                    telpunkt: Wajda sieht ihn als Opfer totalitärer Denk-         durch Hitlers Intervention jäh beendet wurde.
                    strukturen. »Wajda versucht nicht, die Geschichte eines        Freitag, 3. Dezember 2021, 19.00 Uhr
                    finsteren Revoluzzergrüppchens in einer zaristischen
                    Kleinstadt um 1870 in ihrer ganzen Breite zu fassen; er       Die Spielerin | Deutschland 2005 | R: Erhard Riedls-
                    drängt, der Dramatik zuliebe, die Hauptereignisse – Ge-       perger | B: Fred Breinersdorfer, nach Motiven des Rom-
                    burt und Tod, Brandstiftung, Mord und Selbstmord – in         ans von Fedor Dostoevskij | K: Frank Brühne | M: Karim
                    eine aberwitzig kurze Zeitspanne zusammen. Das gibt           Sebastian Elias | D: Hannelore Elsner, Erwin Steinhauer,
                    dem Anarchistentreiben eine hysterische Aufgeregtheit,        Nina Petri, Frank Giering, Gesine Cukrowski, Michael
                    jagt oft aber auch die Schauspieler in atemlose Theat-        Schönborn | 89 min | Eine freie Adaption, die im heuti-
                    ralik. Wajdas Zentralfigur ist der idealistische Revolutio-   gen Hamburg spielt, und gegen Ende teilweise wörtlich
                    när Šatov, der seinen Glauben verliert und dafür sterben      die Dialoge aus Dostoevskijs Roman übernimmt. »DIE
                    muss – ihn allein umgibt der Film mit Märtyrerglanz.«         SPIELERIN zeigt, wie es gehen kann: Wie ein Mensch
                    (Der Spiegel)                                                 plötzlich vom Spiel gepackt wird. Aus der Leidenschaft
                     Mittwoch, 1. Dezember 2021, 19.00 Uhr                       wird eine Sucht, die das Glück, dessen Suche ein gan-
                                                                                  zes Leben dauern kann, in den Bruchteilen einer Se-
                    Der Spieler | Deutschland 1938 | R: Gerhard Lamp-             kunde fassen möchte. Alle Intensität wird in diesen
                    recht | B: Peter Hagen, Alois Johannes Lippl, nach dem        einen Moment gelegt: wenn die Kugel fällt. Die Schlag-
auf-Schlag-Dramaturgie, die nicht mit der aufgesetzten      kol'nikovs und den Prozess der Überwindung dieses
Betroffenheitsgeste beim Zuschauer kalkuliert, unter-       Leidens. Dazu bedurfte es nicht nur eines genauen Ver-
streicht, dass es jeden treffen kann. Ein Blick auf Han-    trautseins mit der Welt Dostoevskijs, sondern nicht
nelore Elsner (oder Erwin Steinhauer) genügt, um eine       zuletzt auch hervorragender Charakterdarsteller. Mit
Ahnung zu bekommen vom Wesen der Spielsucht. Ner-           Georgij Taratorkin stellt Regisseur Kulidžanov einen
vös die Bewegungen, aschfahl die Haut und die Kippen        Schauspieler vor, der die zerfaserte Seele des Raskol'-

                                                                                                                         Fedor Dostoevskij
in Reichweite. Wie schon in DIE UNBERÜHRBARE zeigt          nikow derart begreifbar von innen nach außen zu keh-
Elsner die innere Zerrissenheit mit Mut, die sichtbaren     ren vermag, dass er fast schon wieder unheimlich wird.
Folgen ihres Alters zu nutzen.« (Rainer Tittelbach)         Faszinierend ist es, wenn man Innokentij Smoktunovskij
 Samstag, 4. Dezember 2021, 17.00 Uhr                      als Untersuchungsrichter Petrovitsch erlebt, der keiner-
                                                            lei Beweise in der Hand hat, Raskol'nikow seine Tat
The Great Sinner (Der Spieler) | USA 1949 | R: Robert       jedoch unwiderlegbar psychologisch nachweist.« (M.
Siodmak | B: Ladislas Fedor, Christopher Isherwood,         Jelenski)                                                      13
nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: George             Sonntag, 5. Dezember 2021, 17.00 Uhr
Folsey | M: Bronislau Kaper | D: Gregory Peck, Ava
Gardner, Melvyn Douglas, Walter Huston, Ethel Barry-        Le joueur (Das Spiel war sein Fluch) | Frankreich
more, Frank Morgan, Agnes Moorehead, Curt Bois |            1958 | R: Claude Autant-Lara | B: Jean Aurenche,
112 min | OF | Gedreht mit großem Budget, das Spiel-        François Boyer, Pierre Bost, nach dem Roman von Fe-
casino im Wiesbaden der 1850er Jahre als elegante           dor Dostoevskij | K: Jacques Natteau | M: René Cloërec
Studiokulisse. »Hier wird der Held nun einfach Fedor        | D: Gérard Philipe, Liselotte Pulver, Françoise Rosay,
Dostoevskij genannt; aus dem schlechtbezahlten und          Jean Danet, Jean-Max, Nadine Alari, Bernard Blier |
-behandelten Hauslehrer, der zur Suite des in Deutsch-      102 min | OmU | »Autant-Lara zaubert ein Baden-
land sein Geld verspielenden russischen Generals ge-        Baden wie aus dem Baukasten, in dem possierlich aus-
hört, ist der erfolgreiche Schriftsteller geworden. Schon   staffierte Marionetten ein ironisches Ballett aufführen.
durch diese Änderung, die die sozialen Spannungen           Die konventionellen Motive, auf die das Drehbuch die
(auch im Verhältnis des grüblerischen, leidenschaftli-      Vorlage zurückgeführt hat – Duell, ›Fehltritt‹, Selbst-
chen jungen Mannes zur der unergründlichen Stief-           mord, ›Skandal‹, Gewinn am Spieltisch usw. – hat Autant-
tochter des Generals) aufhebt, verliert der Stoff an bro-   Lara ironisch stilisiert, wobei er sich der vorzüglichen
delnder Unruhe, selbstquälerischer Leidenschaft und         Darsteller ebenso bedient wie der Dekors und der Ka-
dumpfer Tragik. Gregory Peck spielt den zum leiden-         mera. Die Figuren scheinen direkt aus dem Jahrgang
schaftlichen Spieler werdenden Dichter in nobler Hal-       1850 von ›Les Modes‹ zu stammen. Die Bauten sind
tung und mit darstellerischer Verve. Heiße Spannung         rigoros stilisiert, wobei die expressionistische Tradition
erzeugt allerdings nur die kleine weiße Kugel. Mit Recht    durchscheint. Wie in einem Kindermodell zum Aus-
gerät immer wieder der Spieltisch ins Bild, und vor der     schneiden sind Vorder- und Hintergrund gegeneinander
Leinwand verfolgt man den Lauf der Kugel ebenso ge-         abgesetzt. Die Farbgebung vermittelt Grazie und Klar-
bannt, wie es die Spieler am Roulette tun.« (Gerda Pfau)    heit: Jeder Gegenstand ist durch eine Lokalfarbe – ge-
 Samstag, 4. Dezember 2021, 20.00 Uhr                      deckte Valeurs herrschen vor – bestimmt, Übergänge
                                                            werden strikt vermieden.« (Enno Patalas)
Prestuplenie i nakazanie (Schuld und Sühne) | UdS-           Dienstag, 7. Dezember 2021, 19.00 Uhr
SR 1970 | R+B: Lev Kulidžanov, nach dem Roman von
Fedor Dostoevskij | K: Vjačeslav Šumskij | M: Michail Ziv   The Gambler (Dunkle Tage in St. Petersburg) | Groß-
| D: Georgij Taratorkin, Innokentij Smoktunovskij, Tanja-   britannien 1997 | R: Károly Makk | B: Katharine Ogden,
na Bedova, Victoria Fedorova, Efim Kopeljan, Evgenij        Charles Cohen, Nick Dear | K: Jules van den Steenho-
Jebedev | 205 min | OmU | »Durch die bedrückende            ven | M: Brian Lock, Gerard Schurmann | D: Michael
Wiedergabe des düsteren Milieus der engen Gassen,           Gambon, Jodhi May, Polly Walker, Dominic West, Luise
der schmutzigen Wege, Treppen und Zimmer im Ar-             Rainer, Johan Leysen | 97 min | OF | »St. Petersburg,
me-Leute-Viertel des damaligen Sankt Petersburg lässt       1866: Der hoch verschuldete Dichter Dostoevskij trifft
der Film keine Zweifel über die gesellschaftlichen Hin-     mit seinem Verleger eine Vereinbarung, dass er gegen
tergründe der Handlung und des Verhaltens der Haupt-        einen Vorschuss den Abgabetermin seines nächsten
figur aufkommen. Er verdeutlicht ebenso die psychi-         Buchmanuskripts einhalten muss. Andernfalls verliert
schen Reaktionen, das geistig-seelische Leiden Ras-         er die Rechte an allen seinen Werken. Kurz vor Ablauf
der Frist sieht es schlecht aus, es sei denn, die Steno-   Menschen ging Visconti soweit wie möglich weg von
                                       graphin Anna Snitkina kann die heftigen Stimmungs-         der Realität und hin zu einer neu geschaffenen, umge-
                                       schwankungen des Autors in anhaltende Kreativität          formten Realität, einer subjektiven Stilisierung – vom
                                       umwandeln. Während er eine autobiografische Ge-            Neo-Realismus zum Neo-Romantizismus. Er selbst
                                       schichte von obsessiver Begierde und Selbstzerstörung      nannte es einen »Abstecher in die Welt des Traums«.
                                       um das Roulettespiel entwickelt, beginnt die sittsame      Komplett im Studio gedreht (obwohl er zum größten Teil
Fedor Dostoevskij

                                       junge Frau unerwartete Gefühle für ihn zu empfinden.       »draußen« auf der Straße, auf Treppen, Brücken und an
                                       Gambon gewinnt erst langsam unsere Sympathien als          Kanälen spielt), steht der Film isoliert im Werk Viscontis.
                                       von seinen eigenen Schwächen getriebener Abhängi-          Die bewusst kenntlich gemachte theatralische Künst-
                                       ger. Weniger exaltiert, aber umso eindrücklicher porträ-   lichkeit erschafft eine Traum- und Märchenwelt – ein
                                       tiert May eine Frau, die sich mit ihr unbekannten Gefüh-   nebelverhangenes Irgendwo. Natalia, eine junge Russin
                                       len auseinandersetzen muss. Ihr zurückhaltendes Spiel      in Italien, wartet auf ihren Geliebten. Am vereinbarten
14                                     wird ergänzt von Polly Walker als verführerische Fem-      Tag des Treffens harrt sie vergebens aus. Dabei wird sie
                                       me fatale und Luise Rainer als wunderbar lebendige         von einem anderen Mann beobachtet, dem einsamen
                                       Großmutter.« (Time Out)                                    Junggesellen Mario, der sie tröstet und sich selbst in
                                        Mittwoch, 8. Dezember 2021, 19.00 Uhr                    Natalia verliebt.
                                                                                                   Freitag, 10. Dezember 2021, 19.00 Uhr
                                       Le notti bianche (Weiße Nächte) | Italien 1957 | R:
                                       Luchino Visconti | B: Luchino Visconti, Suso Cecchi        Quatre nuits d'un rêveur (Vier Nächte eines Träu-
                                       D’Amico, nach der Erzählung »Weiße Nächte« von Fe-         mers) | Frankreich 1971 | R+B: Robert Bresson, nach
                                       dor Dostoevskij | K: Giuseppe Rotunno | M: Nino Rota |     der Erzählung »Weiße Nächte« von Fedor Dostoevskij |
                                       D: Maria Schell, Marcello Mastroianni, Jean Marais,        K: Pierre Lhomme, Ghislain Cloquet | D: Isabelle Wein-
                                       Clara Calamai, Dick Sanders | 97 min | OmeU | Mit der      garten, Guillaume des Forêts, Maurice Monnoyer, Jérô-
                                       Adaption von Dostojewskijs Erzählung von verlorenen        me Massart, Patrick Jouané, Lidia Biondi | 87 min |
                    LE NOTTI BIANCHE
OmeU | Jacques ist ein Absolvent der Kunstakademie          Schneeflockenwirbels, das warme, gelbe und rötliche
im Paris der frühen 1970er Jahre. Er lebt allein, streunt   Flackern der Kerzen, das grelle Zucken der Flammen
durch die Straßen, beobachtet junge Frauen und ver-         im Kamin, und dazu jenes tiefe, dunkle, prunkvolle,
liebte Paare, dabei macht er Aufnahmen mit einem            schwüle Rot, das das 19. Jahrhundert für seine Interi-
Kassettenrecorder. Das Abspielen der Bänder inspiriert      eurs liebte, und dies alles gebrochen ins Ungefähre
ihn beim Malen. Eines Nachts trifft er Marthe, die sich     dämmernder Abende und schwarzer Nächte, ins Unge-

                                                                                                                       Fedor Dostoevskij
vom Pont Neuf stürzen will, wo sie vergeblich auf ihren     fähre der Schatten, die in den Zimmerecken lauern,
Geliebten gewartet hat. »Was man auch von Bressons          und dies alles nun hineingeschleudert in furiose, von
distinguiert photogenem Traumprotokoll halten mag, es       der Musik Krjukovs noch verstärkte Bewegung – das ist
hängt davon ab, was man von den Freiheiten hält, die        hier ein den Leidenschaften Dostoevskijs vollkommen
es einem einräumt, sich von den Szenen, die es auf-         entsprechender optischer Rahmen. Pyr’ev beschränkte
zeichnet, bezaubern, befremden zu lassen – man              sich auf den ersten Teil des Romans, doch alle Motive
schaut nicht einfach bloß zu, man betrachtet. Man geht      sind schon angeschlagen, alle Themen berührt. Juri           15
nicht in die Falle wie Marthe mit ihrer Mutter bei der      Jakovlev als der Fürst Myškin zarteste, innigste Empfin-
Galapremiere des unerträglichen Jungsfilms AMOUR            dung scheu und schüchtern andeutend, Julija Borisova
TU NOUS TIENS, aus dem zum Glück Bresson ganz und           als Nastasja Filippowna bewusst ihre kühle Schönheit
gar eine eigene Sequenz, eine Ellipse unschuldigen          ausspielend, sie und die anderen Darsteller gestalten in
Traumkitsches macht.« (Jürgen Ebert)                        Extreme geworfene Charaktere mit überzeugendem
 Samstag, 11. Dezember 2021, 17.00 Uhr                     Realismus der Leidenschaft.« (Neue Zeit)
                                                             Freitag, 7. Januar 2022, 19.00 Uhr
Nuits blanches sur la jetée (Weiße Nächte am Pier)
| Frankreich 2015 | R+B: Paul Vecchiali, nach der Er-       Idiot (Der Idiot) | Russland 1910 | R+B: Pjotr Čardynin,
zählung »Weiße Nächte« von Fedor Dostoevskij | K:           nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: Lui Forest-
Philippe Bottiglione | M: Catherine Vincent | D: Astrid     je | D: Ljubov Varjagina, Andrej Gromov, Pavel Birjukov,
Adverbe, Pascal Cervo, Geneviève Montaigu, Paul Vec-        Tatjana Šornikova, Arsenij Bibikov | 22 min | ohne Zwi-
chiali | 94 min | OmeU | »Ein Mann trifft eines Nachts      schentitel | Die einzige erhaltene Dostoevskij-Adaption
auf einem Pier eine Frau. Sie wartet dort vergeblich auf    des vorrevolutionären russischen Stummfilms illustriert
ihre große Liebe, er dagegen verbringt in dem Küsten-       die Geschichte des gutherzigen Fürsten Myškin, der
ort eine einjährige Auszeit. Sie beginnen zu sprechen,      nach der Rückkehr in seine Heimatstadt St. Petersburg
zuerst zurückhaltend und vorsichtig, dann jedoch im-        von gewissenlosen Menschen ausgenutzt wird und da-
mer offener und emotionaler. In den darauffolgenden         ran zerbricht. – L’Idiot (Der Idiot) | Frankreich 2008 |
drei Nächten treffen sie sich an derselben Stelle wieder,   R+B: Pierre Léon, nach einem Kapitel aus dem Roman
und es entspinnen sich Gespräche, die zwischen Me-          von Fedor Dostoevskij | K: Thomas Favel | M: Benjamin
lancholie und Heiterkeit pendeln und die fast in einer      Esdraffo | D: Jeanne Balibar, Laurent Lacotte, Sylvie
Liebesbeziehung münden. NUITS BLANCHES SUR LA               Testud, Bernard Eisenschitz, Jean Denizot, Serge Bo-
JETÉE des Franzosen Paul Vecchiali ist ein durch und        zon, Pierre Léon | 61 min | I OmeU | Im Gegensatz zu
durch romantischer Film, frei von jeglicher Sentimenta-     den großen Gefühlen, die bei Dostoevskij aus jeder Fi-
lität, der von den beiden Darstellern Astrid Adverbe und    gur sprühen, inszeniert Léon sein großartiges Schau-
Pascal Cervo getragen wird. Der Pier, auf dem sie sich      spielensemble mit einer ruhigen, präzisen Bildsprache
treffen, wird von Vecchiali sprichwörtlich in eine Bühne    und einem trockenen Humor, ein Aspekt, der bei
verwandelt, das Licht des Hafens und des Leuchtturms        Dostoevskij oft unterschätzt wird. Der Regisseur selbst
umhüllt die Darsteller in einem traumähnlichen Zu-          spielt den in die Jahre gekommenen Schwerenöter Ge-
stand.« (Hannes Brühwiler)                                  neral Epančin, einen stolzen und schnell gekränkten, in
 Samstag, 11. Dezember 2021, 20.00 Uhr                     vielerlei Hinsicht tragikomischen Angeber, Zielscheibe
                                                            von Dostoevskijs Spott.
Idiot (Der Idiot) | UdSSR 1958 | R+B: Ivan Pyr’ev, nach      Samstag, 8. Januar 2022, 17.00 Uhr
dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: Valentin Pavlov |
M: Nikolaj Krjukov | D: Jurij Jakovlev, Julija Borisova,    Návrat idiota (Die Rückkehr des Idioten) | Tschechi-
Nikita Podgornyj, Leonid Parchomenko | 124 min |            en 1999 | R+B: Saša Gedeon, frei nach dem Roman
OmeU | »Die grauen, bläulichen, grünlichen Nebel des        »Der Idiot« von Fedor Dostoevskij | K: Štĕpán Kucera |
Winters in Sankt Petersburg, das kalte, weiße Licht des     M: Vladimír Godár | D: Pavel Liška, Tatiana Vilhelmová,
Fedor Dostoevskij

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                    HAKUCHI

                              Anna Geislerová, Jiří Langmajer, Jiří Macháček | 94 min |   OmU | Zurück aus dem Krieg und dem tropischen Oki-
                              OmeU | František ist von der Welt gänzlich unberührt, er    nawa, wo er wegen eines Traumas behandelt wurde,
                              hat fast sein ganzes Leben in einer psychiatrischen Kli-    findet sich Kameda in der verschneiten Heimat Hokkai-
                              nik zugebracht. Frisch entlassen sitzt er im Zug in die     do zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen. Sein
                              böhmische Provinz, er fährt ins Ungewisse, ins Leben,       kindliches Gemüt und seine emotionale Instabilität füh-
                              zu den Verwandten, die ihn nicht kennen. »DIE RÜCK-         ren ihn immer näher an den Rand des Wahnsinns. Bei
                              KEHR DES IDIOTEN ist ein Roadmovie der Gefühle, an-         seiner ersten Verfilmung einer westlichen Literaturvor-
                              gesiedelt zwischen Weihnachten, wo alle vorgeben,           lage versuchte Kurosawa, das Original des von ihm
                              glücklich zu sein, und Neujahr, das angesichts des          bewunderten Dostoevskij so getreu wie möglich in den
                              emotionalen Scherbenhaufens Hand zum Neuanfang              japanischen Kontext zu übertragen. Er lieferte einen
                              bietet. Gedeon gelingt es, Realität und Traum, Äußeres      viereinhalbstündigen Film ab, den die Produktionsfirma
                              und Inneres in einem Bildersturm zu vereinen. Zusam-        gegen seinen Willen auf knapp drei Stunden kürzte. Die
                              men mit seinem Kameramann Štĕpán Kucera hat Ge-             Originalfassung ist nicht mehr erhalten, die erhaltene
                              deon die frostige Winterlandschaft in einer faszinierend    Fassung gilt heute als Klassiker und eine der besten
                              schlichten und gleichnishaften Bildlyrik eingefangen,       Dostoevskij-Adaptionen. »Dostoevskij sagte, dass er
                              die an die leichtfüßige Poesie tschechischer Filme aus      einen wahrhaft guten Menschen darstellen wollte. Iro-
                              den 1960er Jahren erinnert.« (Robert Richter)               nischerweise wählte er für diesen Zweck einen jungen
                               Samstag, 8. Januar 2022, 20.00 Uhr                        Mann als Helden, der ein Idiot ist. Aber in dieser Welt
                                                                                          scheint das wahrhaft Gute irgendwie fast als Blödheit
                              Hakuchi (Der Idiot) | Japan 1951 | R: Akira Kurosawa        betrachtet zu werden.» (Akira Kurosawa)
                              | B: Eijiro Hisaita, Akira Kurosawa, nach dem Roman von      Sonntag, 9. Januar 2022, 17.00 Uhr
                              Fedor M. Dostoevskij | K: Toshio Ubukata | M: Fumio
                              Hayasaka | D: Setsuko Hara, Masayuki Mori, Toshiro
                              Mifune, Yoshiko Kuga, Takashi Shimura | 166 min |
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