Zum 200. Geburtstag von Fedor Dostoevskij
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Zum 200. Geburtstag von Fedor Dostoevskij Fedor Dostoevskij 6 THE BROTHERS KARAMAZOV Fedor Michailovič Dostoevskij (1821–1881) ist nicht ersetzt Petersburg (»die künstlichste aller Städte«) nur einer der bedeutendsten Romanautoren der Welt- durch eine zeitgenössische italienische, jedoch in irrea- literatur, sondern gehört auch zu den russischen Auto- lem Licht schimmernde Stadt voller kleiner Brücken. ren, die im Ausland viel beachtet, gelesen – und von Bresson verlegt Dostoevskijs Sujets in ein Pariser Mili- Meisterregisseuren verfilmt wurden. In der Retrospekti- eu, als wäre nichts Petersburgisches an den »Weißen ve sind Verfilmungen aus allen Perioden seines Schaf- Nächten« – obwohl doch die hellen Nächte ein Spezifi- fens vertreten, von »Weiße Nächte« (1848) über »Schuld kum des Nordens sind und dort im Sommer für eine und Sühne« (1866) bis zu »Die Brüder Karamazov« unwirkliche Atmosphäre sorgen. Während Visconti noch (1879/80), laut Sigmund Freud der »großartigste Ro- mit studiogeneriertem Chiaroscuro arbeitet, verzichtet man, der je geschrieben wurde«. Besonders reizvoll ist Bresson darauf, den Titel wörtlich zu nehmen und inter- der Vergleich verschiedener Adaptationen derselben pretiert das Oxymoron der ›weißen Nacht‹ als Möglich- Vorlage: etwa Luchino Viscontis LE NOTTI BIANCHE mit keit einer ungeahnten, nur kurz aufscheinenden Klar- Robert Bressons QUATRE NUITS D’UN RÊVEUR, oder heit der Erkenntnis und des Fühlens. Die Pariser Weißen der völlig unterschiedlichen Verfilmungen von »Der Idi- Nächte werden zu einer Ausnahmezeit, in der die bisher ot« und »Die Brüder Karamazov«. unklaren Wünsche ans Licht kommen dürfen. Die Pari- Wie wurde Dostoevskij bisher überhaupt verfilmt? ser Brücken bieten sich – 20 Jahre vor Leos Carax’ DIE Man kann grob zwei Ausrichtungen unterscheiden. Die LIEBENDEN VON PONT-NEUF (1991) – als Kulisse für meisten Filme belassen die Handlung in der zweiten zarte Anbahnungen und emotionale Ergüsse an; diese Hälfte des 19. Jahrhunderts und rekonstruieren »Origi- großen Brücken sind Orte der Grenzüberschreitung und nalschauplätze« der Romane, also Petersburg, das rus- des neuen Sehens, die für den Sehnsüchtigen Zeichen sische Provinzstädtchen oder Wiesbaden (Čardynin, bereithalten (so trägt der vorbeifahrende Kahn den Na- Wiene, Ozep, Brooks, Pyr’ev, Kulidžanov, Wajda). Die men der Geliebten). zweite Gruppe von Filmen versetzt das Sujet in eine Doch bereits in Vorkriegsverfilmungen von Dosto- andere Zeit oder an einen anderen Ort (Visconti, Bres- evskij abstrahierte man zuweilen vom russischen Mi- son, Kaurismäki, Zelenka, Vecchiali). lieu. Die Vertreter des »Russenfilms« wie Carl Froelich Es scheint, dass besonders der westeuropäische (IRRENDE SEELEN / SKLAVEN DER SINNE, 1921, nach Film der 1950er bis 1970er Jahre in den literarischen »Der Idiot«) und Friedrich Zelnik (ERNIEDRIGTE UND Vorlagen Dostoevskijs universelle Sujets erkennt, die BELEIDIGTE, 1922) kombinierten in der Ausstatung vi- auch anderswo verortet werden können. Visconti etwa suelle Trends der westlichen Roaring Twenties mit rus-
sischen Versatzstücken – und das alles auf dem Rü- Überzeugender ist da Yul Brynners schillernde Erotik cken der literarischen Vorlagen, von denen wenig übrig in der amerikanischen Verfilmung aus den 1950er Jah- blieb. Jerzy Toeplitz schreibt über Wienes expressionis- ren. In Brooks’ Film bilden ähnlich wie bei Ozep die tischen RASKOLNIKOW: »Es war kein Zufall, dass der Söhne Dmitrij und Smerdjakov zum Vater ein Dreieck Regisseur Robert Wiene, der Schöpfer von DAS CABI- der Spannung. Im Gegensatz jedoch zum hilflosen NET DES DR. CALIGARI, den Roman ›Schuld und Süh- Greis von 1931 ist Fedor Karamazov (Lee J. Cobb) bei Fedor Dostoevskij ne‹ verfilmte und Raskolnikow in einem stilisierten De- Brooks ein echter Rivale seines Sohnes. Stärker her- kor sich bewegen und handeln ließ, das eher an die ausgearbeitet sind hier Dmitrijs potentielle kriminelle deutsche Kleinstadt von Mayer und Janowitz erinnerte Energien, die dem kühlen Intellekt seines Bruders Ivan als an das Petersburg des 19. Jahrhunderts.« Man gegenüberstehen, dessen Mitschuld darin besteht, könnte einwenden, dass die expressionistische Stadt- dem Vater nicht zu Hilfe gekommen zu sein. Smerdja- architektur insgesamt geografisch nicht festgelegt ist, kov wiederum bezeichnet sich selbst als das Werkzeug vielmehr die dunklen und unsicheren Seiten der Urba- des ödipalen Wunsches der beiden anderen. Der Bezug 7 nität hervorkehrt: Raskol’nikov (der groß und kräftig zur Freudschen Auslegung des Textes vom verhassten wirkende Grigorij Chmara) betritt seine schiefwändige Vater der Urhorde ist deutlich – deshalb wirkt die Figur Wohnung wie eine Erdhöhle, ein »Kellerloch«. Die ex- des gottesfürchtigen Bruders Aljoša etwas deplatziert pressionistischen Filmbauten scheinen die Menschen (1931 fehlte sie im Drehbuch von Ozep/Frank/Trivas dazwischen zu erdrücken, sie geradezu zum Verbre- ganz). chen zu treiben – hier erweist sich die Kombination von Als Maßstab der Qualität einer Literaturverfilmung caligaresker Kulisse und den ruhig-natürlich agieren- wird meist der Grad der Werktreue angesehen. Doch den Schauspielern des Moskauer Künstlertheaters als was bedeutet Werktreue oder Nähe zum Original, wenn wohltuend. Chmaras Augen tragen zwar den expressio- ein Text in ein multimediales Raum-Zeit-Medium über- nistischen Lidstrich, seine Bewegungen und Mimik sind führt wird? Geht es um die Handlung, die religiöse, aber nicht überzeichnet, sondern psychologisch fun- geistige oder politische Ausrichtung oder aber um eine diert – eben der Stanislavskij-Tradition verpflichtet. bestimmte Atmosphäre – etwa die des typischen Wienes Film gehört streng genommen also nicht zur Dostoevskijschen Skandals und der sich überschlagen- oben beschriebenen »Russenwelle«, bei der der Russe den Hysterie (russ. »nadryv«), die oft mit der Idiotie des immer das Andere, das Abnormale, das Gesetzlose, Gottesnarren gepaart wird? bestenfalls das unberechenbar Maßlose verkörpern Die hysterische Atmosphäre des »nadryv«, ein Wort, musste: sei es Ivan der Schreckliche oder ein Karama- das man auch mit Überreizung wiedergeben kann, ent- zov. lädt sich in Dostoevskijs Texten meist in einer Skandal- Weitere Früchte deutsch-russischer Zusammenar- szene (Geldbündel werden in den Kamin geworfen) oder beit waren zwei in Deutschland produzierte Karama- einem Anfall. Dostoevskijs Werk ist voll von »nadryv«- zov-Verfilmungen: Froelich ließ sich 1920 für seine Personen; zumeist leiden sie an derselben Krankheit Adaptation des russischen Romans von Dimitri Bucho- wie ihr Autor, an der Epilepsie. Es sind dies zum einen wetzki beraten, und der russische Emigrant Fedor Ozep die helle Figur des Fürsten Myškin und zum anderen wählte deutsche Charakterdarsteller für seinen Tonfilm eine der abscheulichsten Kreaturen, die Dostoevskij aus dem Jahre 1930/31. Oksana Bulgakowa verzeich- ersonnen hat: Smerdjakov, der illegitime Sohn und Mör- net in diesen beiden (vor allem für ein deutsches Publi- der des Urvaters Fedor Karamazov. Während in den kum produzierten) Filmen die Reduktion der psycholo- literarischen Texten das Hassenswerte dieser Figur nur gisch-philosophisch-religiösen Vatermordgeschichte indirekt aufscheint, muss sie im Film mit einem konkre- auf einen moralisierenden Krimi: Im Film von Ozep ten Schauspieler besetzt werden. Ozep wählt den sub- mordet eine Nebenfigur aus Berechnung, der Held er- alternen Widerling Fritz Rasp, Brooks den aalglatten, liegt einem Justizirrtum, und die Dirne wird ehrbar. Fritz doch zugleich psychotisch wirkenden Albert Salmi. Bei- Kortner, der bereits bei Froelich den Dmitrij gegeben de wirken in gewisser Weise debil. Der des Schwach- hatte, zeigt ein Jahrzehnt später mehr als »eine Spur sinns geziehene Fürst Myškin aus dem Roman »Der zuviel Raisonnement« (so Siegfried Kracauer in der Idiot« dagegen wird von dem durchgeistigten und edlen Frankfurter Zeitung, 13.2.1931) und seine kreuzbrave Gérard Philipe (bei Lampin, 1946) dargeboten, bzw. bei Darstellung sinnlicher Leidenschaft in den Zigeuner- Kurosawa (HAKUCHI, 1951) von dem feinsinnigen Mori. szenen erinnert in manchem eher an Heinrich Manns Hier fällt auf, dass auch das »Idiotische« kulturell ver- »Untertan« als an Dostoevskij. schieden ausfällt.
Die politische Dimension von Dostoevskijs Schriften greise Großmutter am Roulette nur ein schrulliger loser, hatte in der UdSSR dazu geführt, dass der Autor jahr- bei Dostoevskij jedoch die Figur, die durch ihr beständi- zehntelang praktisch zu den Verfemten gehörte; damit ges Setzen auf die Zahl Null das intrikate Nullsummen- hängt auch der relativ späte Anfang der Geschichte spiel des Textes bedingt). Bereits der Titel vom »Großen sowjetischer Dostoevskij-Adaptationen zusammen, die Sünder« lässt vermuten, dass der Film das Schicksal zunächst nur linientreuen Regisseuren (wie dem Stali- des russischen Spielers aus der moralischen Perspek- Fedor Dostoevskij nisten Ivan Pyr’ev in den 1950ern oder später dem tive hehrer Ideen beleuchtet – ein Moment, das im oft Ersten Sekretär des Filmverbands, Lev Kulidžanov) zynisch daherkommenden Originaltext weitgehend überantwortet wurden. Es ist der polnische Regisseur fehlt. Diese Reduktion des echten Dostoevskij, der über Andzrej Wajda, der in seinen LES POSSÉDÉS der Ver- »Verbrechen« und »Strafe« schrieb, auf die moralisch nachlässigung der ideologischen Problematik in den gefärbte Rede von »Schuld« und »Sühne« ist freilich ein filmischen Dostoevskij-Bearbeitungen ein Ende macht Übel, das bereits in der Rezeption seiner Romane ange- 8 und sich an »Die Dämonen« wagt. Wajda gelingt es hier, legt ist. »Die Überschätzung des ›ideellen Überbaus‹ den politischen Weitblick des Autors zu würdigen und der Werke Dostojewskis gehört zu den bewährtesten mit Hilfe von hervorragenden Schauspielern der Ge- Fallen, die dieser Autor seinen Kritikern und Lesern schichte der lokalen Revolution von Stavrogin/Vercho- stellt.« (Aage Hansen-Löve) venskij eine tragische Note zu geben. Und doch fängt Siodmaks Film ein zentrales Was bewirken einschneidende Eingriffe in die von Dostoevskij-Thema ein – das der (Spiel-)Leidenschaft, Dostoevskij vorgegebene Handlung? Robert Siodmaks die alle menschlichen Regungen, ja, sogar den Eros THE GREAT SINNER (1948) vernachlässigt nicht nur die (hier Ava Gardners) zunichte macht. Der süchtige Spie- Namen der Personen (aus dem Hauslehrer wird ler unterwirft sich bedingungslos der Magie der Zahlen Dostoevskij selbst), sondern lässt Randfiguren wie Ma- und der Mechanik der Roulettescheibe. Vor allem in den demoiselle Blanche beiseite oder verändert ihre Bedeu- Hollywood-Produktionen sind die wahren Bezüge zu tung für die Idee der Geschichte (bei Siodmak ist die Dostoevskij nicht gerade vordergründig: Es ist das psy- THE GREAT SINNER
chologische, um nicht zu sagen, psychoanalytische de, wirklich ein Fabrikarbeiter, oder ist er vom Festival Ausloten der Figurenkonstellationen und das auch in eingeschleust und das tragische Ereignis nur eine In- Dostoevskijs Kriminalgeschichten prominente Moment szenierung, für die die Theatergruppe das Publikum des suspense, durch das die amerikanischen Verfil- abgibt? Ständig werden wir daran erinnert, dass wir ein mungen brillieren. Natascha Drubek-Meyer Stück nach einem Roman in einem Film sehen, doch anstatt dass die Handlungsebenen konstrastierten, ver- Fedor Dostoevskij The Brothers Karamazov (Die Brüder Karamasow) schmelzen sie. | USA 1958 | R+B: Richard Brooks, nach dem Roman Samstag, 20. November 2021, 17.00 Uhr von Fedor Dostoevskij | K: John Alton | M: Bronislau Kaper | D: Yul Brynner, Maria Schell, Claire Bloom, Lee Die Brüder Karamasoff | Deutschland 1920 | R: Carl J. Cobb, Albert Salmi, Richard Basehart, William Shat- Froelich | B: Carl Froelich, Dimitri Buchowetzki,.Ronald ner | 145 min | OF | »Richard Brooks' Konzentration von Boschitzko, nach dem Roman von Fedor Dostoevskij liegt auf der Beziehung des Zynikers Dimitri Karamasow | K: Otto Tober | D: Fritz Kortner, Bernhard Goetzke, Emil 9 und seinem Vater, eine Hass-Liebe, die dadurch ihren Jannings, Hermann Thimig, Alina Griffycz-Milewska, Höhepunkt erreicht, dass sich beide in dieselbe Frau Rudolf Lettinger, Hanna Ralph, Werner Krauß | 105 min verlieben. Der Sündenfall tritt ein, Vatermord, der Ver- | »Das, was der Film bietet, ist natürlich ein zusammen- such eines Neuanfanges scheitert, die Moral versagt, gedrängter Extrakt des Buchdramas, der aber doch in und Gerechtigkeit ist eine Illusion. Aus den Trümmern der Filmbearbeitung nichts Unwesentliches fortlässt, der gescheiterten Ideale von Loyalität, Freundschaft sondern das Fortschreiten des Geschehnisse in logi- und Liebe steigt zu guter Letzt ausgerechnet dem Athe- scher Aufeinanderfolge in sehr guten Szenen festhält. isten unter den Brüdern die Erkenntnis empor: Wir alle Carl Froelichs äußerst sorgfältige Regie zeigt Bilder sind Werkzeuge des Teufels. Brooks’ Inszenierung ist echt russischer Färbung und operiert mit Darstellern, solide, was insbesondere in der Kameraarbeit stre- die sich in den Charakter ihrer Rollen mit größter Hinge- ckenweise zwar nur Routine bedeutet, dafür wird durch bung eingelebt zu haben scheinen. Es wird ein wahr- geschickte Farb- und Lichtkomposition der außerweltli- haftiger Einblick in die Kultur der Handlungsumgebung che Bezug geschaffen, der dem Werk die manipulative des Stückes geboten, eine Bildschilderung der Sitten Aura verleiht, die auch traditionelle Kirchengemälde und Gebräuche, wie sie auch Dostoevskijs gewandte zum Kultobjekt stilisierte – letztlich ein entscheidendes Feder nicht anschaulicher bieten konnte. Einen ausge- Merkmal des Classical Hollywood Style.« (Matthias zeichneten Typ hatte Werner Krauß mit seinem epilepti- Grimm) schen Koch Smerdjakoff geschaffen. Eine Kabinettleis- Freitag, 19. November 2021, 19.00 Uhr tung für sich. Der alte Karamasoff fand in Fritz Kortner einen prächtigen Nachgestalter. Dem düsteren Zyniker Karamazovi (Die Karamazows) | Tschechien 2008 | Iwan gab Bernhard Goetzke die entsprechende Charak- R+B: Petr Zelenka, nach dem Theaterstück von Evald terisierung. Emil Jannings spielte den leichtsinnigen, Schorm | K: Alexander Šurkala | M: Jan A.P. Kaczmarek lebensfrohen Dimitri ganz im Sinne russischer Auffas- | D: Ivan Trojan, Lenka Krobotová, Igor Chmela, Martin sung.« (Der Kinematograph) Myšička, David Novotný, Radek Holub, Michaela Badin- Samstag, 20. November 2021, 20.00 Uhr | Musikbe- ková | 100 min | OmeU | Eine tschechische Theater- gleitung: Günter A. Buchwald gruppe fährt für ein alternatives Festival ins polnische Nowa Huta, um dort vor der Belegschaft eines noch Die Frau mit den 5 Elefanten | Schweiz 2009 | R+B: aktiven, aber verfallenden Stahlwerks die Bühnenbear- Vadim Jendreyko | K: Niels Bolbrinker, Stéphane Kuthy | beitung von Fedor Dostoevskijs »Die Brüder Karama- M: Daniel Almada, Martín Iannaccone | Mit: Svetlana zov« aufzuführen, die der tschechische Autor Evald Geier, Anna Götte, Hannelore Hagen, Jürgen Klodt | 93 Schorm Anfang der 1980er Jahre ins Theater und ins min | Als die fünf Elefanten bezeichnet Svetlana Geier Fernsehen brachte. Kein Wunder, dass die Grenzen zwi- selbst die fünf großen Romane Dostoevskijs, die sie neu schen Literatur, Theater, Film und Realität verschwim- ins Deutsche übertragen hat. Damit wurde sie weit über men. Soll die Truppe in der baufälligen Halle ernsthaft Spezialistenkreise bekannt, auch weil sie bei ihren mit Schutzhelmen auftreten? Kann sich der Darsteller Übersetzungen nah am Russischen blieb und die Titel des Dmitrij rechtzeitig davonstehlen, um daheim an ei- »Schuld und Sühne« und »Die Dämonen« in »Verbre- nem Nachtdreh teilzunehmen? Ist der Fabrikarbeiter, chen und Strafe« und »Böse Geister« änderte. Regis- dessen Kind beim Spielen im Werk schwer verletzt wur- seur Vadim Jendreyko beobachtet die 85-jährige Svet-
lana Geier bei ihrer akribischen Übersetzungsarbeit, Adaptation des Dostojewski-Romans im damaligen Ge- wenn sie mit ihrem ebenfalls schon betagten Assisten- genwartsparis spielen lassen. Der Film schmilzt die lite- ten jedes einzelne Wort sorgfältig abwägt. Der Doku- rarische Vorlage auf ihre kriminalistische Essenz ein, mentarfilm führt aber auch in die bewegte Vergangen- ohne doch die philosophischen Implikationen ganz aus heit von Svetlana Geier und in ihren ukrainischen dem Blick zu verlieren. Die morbide Ausstrahlung ver- Heimatort, den sie seit ihrer Flucht 1943 nicht mehr fallener Bauten in alten Pariser Quartieren tut ein Übri- Fedor Dostoevskij besucht hat. »Der Film zeichnet ein komplexes Bild sei- ges, um die bedrückende Atmosphäre des Romans zu ner Protagonistin, löst nicht die großen Widersprüche beschwören. Der Film bezeugt mit jeder Einstellung den einer ereignisreichen Biografie, in der die Zeitgeschich- versierten Blick seines Regisseurs und ein unaufdring- te solch deutliche Spuren hinterlassen hat, und folgt mit liches Können, das sich ganz in den Dienst der Ge- seinen Bildern dem Tempo ihrer Erzählung.« (Lena schichte stellt. Überdies erfreut er mit glänzenden Serov) Schauspielerleistungen.« (Steffen Jacobs) 10 Dienstag, 23. November 2021, 19.00 Uhr Freitag, 26. November 2021, 19.00 Uhr Der Mörder Dimitri Karamasoff | Deutschland 1931 | Crime and Punishment (Schuld und Sühne) | USA R: Fedor Ozep | B: Leonhard Frank, Fedor Ozep, Victor 1935 | R: Josef von Sternberg | B: Joseph Anthony, S.K. Trivas, nach Motiven des Romans »Die Brüder Karama- Lauren, nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: zov« von Fedor Dostoevskij | K: Friedl Behn-Grund | M: Lucien Ballard | M: R.H. Bassett, Louis Silvers | D: Peter Karol Rathaus | D: Fritz Kortner, Anna Sten, Fritz Rasp, Lorre, Edward Arnold, Marian Marsh, Tala Birell, Elisa- Bernhard Minetti, Max Pohl, Elisabeth Neumann-Viertel beth Risdon, Robert Allen, Gene Lockhart | 95 min | | 93 min | »Die Musik zu DER MÖRDER DIMITRI KARA- OF | »Die Frage, was diese Verfilmung mit Fedor Dosto- MASOFF zählt zu den bahnbrechenden Leistungen des evskijs Romanklassiker von 1866 verband, sah Stern- Tonfilms. Sie entwickelt sich zum emotionalen Spiegel berg als lachhaft an, denn solch unsterbliche Kunst Dimitris und erreicht meiner Ansicht nach den Gipfel bei könne schwerlich den Gang durch Hollywoods Wurst- seiner hysterischen Troika-Fahrt im Schneegestöber, maschine überstehen. Aber versuchen wir uns ohne begleitet von einer gewaltigen Schlagwerksbatterie. vorgefasste Meinung in den Film zu stürzen, tauchen Rathaus' Beitrag ist eine echte Errungenschaft, weil er wir in den Portraitstil der Großaufnahmen ein, betrach- erstmals die Musik als integralen emotionalen Bestand- ten wir das reduzierte Dekor. Ja, gegen den Glanz teil des Werks behandelte.« (Bernard Herrmann) »Der des Dietrich-Zyklus' mag der Film schlicht wirken, erste deutsche Tonfilm, der einen Vergleich mit den schmucklos gar, aber Sternberg packt diesen Minima- guten stummen Filmen aushalten kann. Denn anders lismus und verdichtet dessen Möglichkeiten. Das nicht als bei den üblichen Roman-Verfilmungen ist der epi- von der Hand zu weisende Ergebnis ist die Ausgestal- sche Stoff nicht einfach als Unterlage für illustrative tung eines unverzichtbaren Kernstücks des späteren Szenen ausgenutzt, sondern von Grund auf in die Film- Film Noir: in Freud'scher Terminologie, der Antiheld als sprache übersetzt worden. Hervorzuheben ist vor allem verbrecherisches Ich, von seinem Es in den Wahnsinn eine Lehre, die dieser Tonfilm erteilt: dass das gespro- getrieben, muss sich seinem auf Schuldgefühle verses- chene Wort nicht den Vorrang haben darf, sondern sich senen Über-Ich stellen, üblicherweise verkörpert als einordnen muss ins Bildgefüge.« (Siegfried Kracauer) Polizist oder Ermittler.« (Adrian Martin) Mittwoch, 24. November 2021, 19.00 Uhr Samstag, 27. November 2021, 17.00 Uhr Crime et Châtiment (Schuld und Sühne) | Frankreich Rikos ja rangaistus (Schuld und Sühne) | Finnland 1956 | R: Georges Lampin | B: Charles Spaak, nach 1983 | R: Aki Kaurismäki | B: Aki Kaurismäaki, Pauli dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: Claude Renoir | Pentti, nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: M: Maurice Thiriet | D: Robert Hossein, Marina Vlady, Timo Salminen | M: Pedro Hietanen | D: Markku Toikka, Jean Gabin, Ulla Jacobsson, Bernard Blier, Lino Ven- Aino Seppo, Esko Nikkari, Hannu Lauri, Olli Tuominen, trua, Gérard Blain | 107 min | OmeU | »Réné Brunel ist Matti Pellonpää | 93 min | OmU | »Sie lachen nicht, sie nicht Raskolnikow, Paris ist nicht Sankt Petersburg. weinen nicht. Aber vielleicht träumen sie. Man kann Doch die alte Geschichte von verbrecherischer Verstri- den Helden von Aki Kaurismäki nicht ansehen, was sie ckung und religiöser Läuterung ist auch im Paris der bewegt. Ungerührt geben sie sich dem Lauf der Zeit 1950er Jahre die gleiche wie 90 Jahre zuvor in der hin, Amokläufer des eigenen Schicksals. Sie nehmen Zarenstadt an der Newa. Georges Lampin hat seine Rattengift, heuern Auftragskiller an oder greifen wie in
Fedor Dostoevskij 11 RASKOLNIKOW SCHULD UND SÜHNE selbst zur Waffe. In einer tisch-übersteigerten expressionistischen Bauten spie- Fleischfabrik beginnt Kaurismäkis Erstling, mit einem len. Auf diesen Hintergründen schwellen die Gescheh- Blick in eine kalte Hölle, wo der Tod so nah und doch so nisse müheloser ins Unheimliche, Übermenschliche. fern ist. Ein kühles Licht liegt auf der Welt, das für klare Man fragt sich immer: Wie wurden diese Originial-Rus- Farben sorgt. Man darf den Beitrag des ständigen Ka- sen in diese verzackten Zimmer, Treppenhäuser, Stra- meramanns Timo Salminen zu Kaurismäkis Kosmos ßen, die sich ins Unendlich-Geheimnisvolle verlieren, nicht unterschätzen. Eine Ruhe der Bildfindung und hineingeschleudert? Man kann Wiene verteidigen, in- -gestaltung geht von ihm aus, in der sich der Regisseur dem man sagt: wichtiger als das realistische Milieu ist mit seinem trockenen Witz frei bewegen kann.« (Micha- bei Dostoevskij die seelische Atmosphäre, und diese el Althen). Wenn Aki Kaurismäki behauptet, einen Klas- seelische Atmosphäre wird zwischen diesen phantasti- siker zu verfilmen, wird die Buchvorlage vielmehr in schen Bauten deutlicher fühlbar als in fotografiertem Frage gestellt. »Schuld und Sühne« wird aktualisiert realistischem Milieu. Das ist richtig. Das Ganze wirkt und ins heutige Helsinki versetzt, aus Raskol’nikov wird sehr aufregend, frisst sich ein; man ahnt Dostoevskijs Rahikainen. Dostoevskijs große Themen werden umge- Größe und Tiefe; man ist erschüttert, mitgenommen, wertet: Es gibt keine Gnade, es gibt keine Sühne. geläutert.« (Kurt Pinthus) Zur Aufführung gelangt eine Samstag, 27. November 2021, 20.00 Uhr neue digital restaurierte Fassung des Filmmuseums München. Raskolnikow | Deutschland 1923 | R+B: Robert Wie- Sonntag, 28. November 2021, 17.00 Uhr | Musikbe- ne, nach dem Roman »Schuld und Sühne« von Fedor gleitung: Günter A. Buchwald Dostoevskij | K: Willy Goldberger | D: Grigorij Chmara, Elisaveta Skulskaja, Alla Tarasova, Pavel Pavlov, Michail Tichie stranicy (Verborgene Seiten) | Russland 1993 Tarchanow | 120 min | »Wiene nimmt die Schauspieler | R+B: Aleksandr Sokurov | K: Aleksandr Burov, nach des Moskauer Künstlertheaters und lässt diese keines- Motiven von »Schuld und Sühne« von Fedor Dostoevskij wegs in russischem Milieu, sondern in phantas- | D: Aleksandr Čerednik, Elizabeta Koroleva, Sergej Bar-
kovskij, Galina Nikulina, Olga Onishchenko | 77 min | Roman von Fedor Dostoevskij | K: Otto Baecker | M: OmU | Das Kino ist für Aleksandr Sokurov wie Malerei. Giuseppe Becce | D: Albrecht Schoenhals, Lída Baaro- Die Kinoleinwand ist flach, wie die eines Gemäldes. In vá, Eugen Klöpfer, Hannes Stelzer, Hilde Körber, Hedwig diesem Sinne ist dieser Film nach Motiven russischer Bleibtreu, Karl Martell | 93 min | »Vor allem Baarová als Prosa des 19. Jahrhunderts vor allem ein visuelles Er- Nina, die sich in die Abhängigkeit des Sekretärs ihre lebnis. Er wurde teils in schwarz-weiß, teils in einer Vaters begibt (Alexej Nikitin, von Hannes Stelzer spröd Fedor Dostoevskij ganz leichten bräunlichen Farbigkeit gedreht, die kurz und mit schroffer Sachlichkeit gespielt), überzeugt in einem ungetrübten Rot aufscheint. »Das bisschen Farbe, das Sokurov verwendet, ist fast immer schon zu viel. Wer sich seine Filme ansieht, braucht mehr als nur zwei Augen im Kopf.« (Andrea Kern) In einer optisch unglaublichen Szene stürzen sich die Figuren ein Trep- 12 penhaus hinab, dem jegliche dreidimensionale Tiefe genommen wurde. Es entsteht etwas Unmögliches. Dramatisch gestaltete Szenen gibt es nur wenige. In ihnen spielt der Bezug zu Dostoevskij jedoch eine we- sentliche Rolle. An zentraler Stelle zitiert Sokurov die berühmte Szene aus »Schuld und Sühne«, in der die todkranke Sonja versucht, Raskol'nikov dazu zu bringen seine Schuld öffentlich zu gestehen, um so wenigstens seine Seele zu retten. Dienstag, 30. November 2021, 19.00 Uhr durch ein psychologisches Gespür für die Abgründe einer Frau. Ansonsten verfolgt man als Zuschauer ge- Les possédés (Die Dämonen) | Frankreich 1988 | R: diegenes Theaterspiel. DER SPIELER ist ein den propa- Andrzej Wajda | B: Andrzej Wajda, Jean-Claude Carriè- gandistischen Vorstellungen der NS-Filmpolitik eher re, Angnieszka Holland, Edward Zebrowski, nach dem ferner Stoff, eine – im Dialog etwas zu überladene – Roman von Fedor Dostoevskij | K: Witold Adamek | M: Studie um Abhängigkeiten, falsche Liebe und Wahn- Zygmunt Konieczny | D: Jerzy Radziwiłowicz, Isabelle sinn, in der jeder der rollenden Kugel erliegt, auch wenn Huppert, Jean-Philippe Écoffey, Jutta Lampe, Laurent sich das Drehbuch von Peter Hagen alias Willi Krause Mallet, Lambert Wilson, Omar Sharif, Bernard Blier | und Alois Johannes Lippl – auch Goebbels hatte im 115 min | OmU | Jerzy Radziwiłowicz spielt die Rolle Hintergrund mitgewirkt – für Nina ein Happy End er- des abtrünnigen Verschwörers Šatov, der einer abge- laubt.« (Wolfgang Jacobsen) Kurz nach seiner Urauf- feimten Intrige seiner Mitverschwörer zum Opfer fällt. führung wurde der Film verboten. Grund war die Liebes- Sein Schicksal steht, anders als bei Dostoevskij, im Mit- affäre zwischen Lida Baarová und Joseph Goebbels, die telpunkt: Wajda sieht ihn als Opfer totalitärer Denk- durch Hitlers Intervention jäh beendet wurde. strukturen. »Wajda versucht nicht, die Geschichte eines Freitag, 3. Dezember 2021, 19.00 Uhr finsteren Revoluzzergrüppchens in einer zaristischen Kleinstadt um 1870 in ihrer ganzen Breite zu fassen; er Die Spielerin | Deutschland 2005 | R: Erhard Riedls- drängt, der Dramatik zuliebe, die Hauptereignisse – Ge- perger | B: Fred Breinersdorfer, nach Motiven des Rom- burt und Tod, Brandstiftung, Mord und Selbstmord – in ans von Fedor Dostoevskij | K: Frank Brühne | M: Karim eine aberwitzig kurze Zeitspanne zusammen. Das gibt Sebastian Elias | D: Hannelore Elsner, Erwin Steinhauer, dem Anarchistentreiben eine hysterische Aufgeregtheit, Nina Petri, Frank Giering, Gesine Cukrowski, Michael jagt oft aber auch die Schauspieler in atemlose Theat- Schönborn | 89 min | Eine freie Adaption, die im heuti- ralik. Wajdas Zentralfigur ist der idealistische Revolutio- gen Hamburg spielt, und gegen Ende teilweise wörtlich när Šatov, der seinen Glauben verliert und dafür sterben die Dialoge aus Dostoevskijs Roman übernimmt. »DIE muss – ihn allein umgibt der Film mit Märtyrerglanz.« SPIELERIN zeigt, wie es gehen kann: Wie ein Mensch (Der Spiegel) plötzlich vom Spiel gepackt wird. Aus der Leidenschaft Mittwoch, 1. Dezember 2021, 19.00 Uhr wird eine Sucht, die das Glück, dessen Suche ein gan- zes Leben dauern kann, in den Bruchteilen einer Se- Der Spieler | Deutschland 1938 | R: Gerhard Lamp- kunde fassen möchte. Alle Intensität wird in diesen recht | B: Peter Hagen, Alois Johannes Lippl, nach dem einen Moment gelegt: wenn die Kugel fällt. Die Schlag-
auf-Schlag-Dramaturgie, die nicht mit der aufgesetzten kol'nikovs und den Prozess der Überwindung dieses Betroffenheitsgeste beim Zuschauer kalkuliert, unter- Leidens. Dazu bedurfte es nicht nur eines genauen Ver- streicht, dass es jeden treffen kann. Ein Blick auf Han- trautseins mit der Welt Dostoevskijs, sondern nicht nelore Elsner (oder Erwin Steinhauer) genügt, um eine zuletzt auch hervorragender Charakterdarsteller. Mit Ahnung zu bekommen vom Wesen der Spielsucht. Ner- Georgij Taratorkin stellt Regisseur Kulidžanov einen vös die Bewegungen, aschfahl die Haut und die Kippen Schauspieler vor, der die zerfaserte Seele des Raskol'- Fedor Dostoevskij in Reichweite. Wie schon in DIE UNBERÜHRBARE zeigt nikow derart begreifbar von innen nach außen zu keh- Elsner die innere Zerrissenheit mit Mut, die sichtbaren ren vermag, dass er fast schon wieder unheimlich wird. Folgen ihres Alters zu nutzen.« (Rainer Tittelbach) Faszinierend ist es, wenn man Innokentij Smoktunovskij Samstag, 4. Dezember 2021, 17.00 Uhr als Untersuchungsrichter Petrovitsch erlebt, der keiner- lei Beweise in der Hand hat, Raskol'nikow seine Tat The Great Sinner (Der Spieler) | USA 1949 | R: Robert jedoch unwiderlegbar psychologisch nachweist.« (M. Siodmak | B: Ladislas Fedor, Christopher Isherwood, Jelenski) 13 nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: George Sonntag, 5. Dezember 2021, 17.00 Uhr Folsey | M: Bronislau Kaper | D: Gregory Peck, Ava Gardner, Melvyn Douglas, Walter Huston, Ethel Barry- Le joueur (Das Spiel war sein Fluch) | Frankreich more, Frank Morgan, Agnes Moorehead, Curt Bois | 1958 | R: Claude Autant-Lara | B: Jean Aurenche, 112 min | OF | Gedreht mit großem Budget, das Spiel- François Boyer, Pierre Bost, nach dem Roman von Fe- casino im Wiesbaden der 1850er Jahre als elegante dor Dostoevskij | K: Jacques Natteau | M: René Cloërec Studiokulisse. »Hier wird der Held nun einfach Fedor | D: Gérard Philipe, Liselotte Pulver, Françoise Rosay, Dostoevskij genannt; aus dem schlechtbezahlten und Jean Danet, Jean-Max, Nadine Alari, Bernard Blier | -behandelten Hauslehrer, der zur Suite des in Deutsch- 102 min | OmU | »Autant-Lara zaubert ein Baden- land sein Geld verspielenden russischen Generals ge- Baden wie aus dem Baukasten, in dem possierlich aus- hört, ist der erfolgreiche Schriftsteller geworden. Schon staffierte Marionetten ein ironisches Ballett aufführen. durch diese Änderung, die die sozialen Spannungen Die konventionellen Motive, auf die das Drehbuch die (auch im Verhältnis des grüblerischen, leidenschaftli- Vorlage zurückgeführt hat – Duell, ›Fehltritt‹, Selbst- chen jungen Mannes zur der unergründlichen Stief- mord, ›Skandal‹, Gewinn am Spieltisch usw. – hat Autant- tochter des Generals) aufhebt, verliert der Stoff an bro- Lara ironisch stilisiert, wobei er sich der vorzüglichen delnder Unruhe, selbstquälerischer Leidenschaft und Darsteller ebenso bedient wie der Dekors und der Ka- dumpfer Tragik. Gregory Peck spielt den zum leiden- mera. Die Figuren scheinen direkt aus dem Jahrgang schaftlichen Spieler werdenden Dichter in nobler Hal- 1850 von ›Les Modes‹ zu stammen. Die Bauten sind tung und mit darstellerischer Verve. Heiße Spannung rigoros stilisiert, wobei die expressionistische Tradition erzeugt allerdings nur die kleine weiße Kugel. Mit Recht durchscheint. Wie in einem Kindermodell zum Aus- gerät immer wieder der Spieltisch ins Bild, und vor der schneiden sind Vorder- und Hintergrund gegeneinander Leinwand verfolgt man den Lauf der Kugel ebenso ge- abgesetzt. Die Farbgebung vermittelt Grazie und Klar- bannt, wie es die Spieler am Roulette tun.« (Gerda Pfau) heit: Jeder Gegenstand ist durch eine Lokalfarbe – ge- Samstag, 4. Dezember 2021, 20.00 Uhr deckte Valeurs herrschen vor – bestimmt, Übergänge werden strikt vermieden.« (Enno Patalas) Prestuplenie i nakazanie (Schuld und Sühne) | UdS- Dienstag, 7. Dezember 2021, 19.00 Uhr SR 1970 | R+B: Lev Kulidžanov, nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: Vjačeslav Šumskij | M: Michail Ziv The Gambler (Dunkle Tage in St. Petersburg) | Groß- | D: Georgij Taratorkin, Innokentij Smoktunovskij, Tanja- britannien 1997 | R: Károly Makk | B: Katharine Ogden, na Bedova, Victoria Fedorova, Efim Kopeljan, Evgenij Charles Cohen, Nick Dear | K: Jules van den Steenho- Jebedev | 205 min | OmU | »Durch die bedrückende ven | M: Brian Lock, Gerard Schurmann | D: Michael Wiedergabe des düsteren Milieus der engen Gassen, Gambon, Jodhi May, Polly Walker, Dominic West, Luise der schmutzigen Wege, Treppen und Zimmer im Ar- Rainer, Johan Leysen | 97 min | OF | »St. Petersburg, me-Leute-Viertel des damaligen Sankt Petersburg lässt 1866: Der hoch verschuldete Dichter Dostoevskij trifft der Film keine Zweifel über die gesellschaftlichen Hin- mit seinem Verleger eine Vereinbarung, dass er gegen tergründe der Handlung und des Verhaltens der Haupt- einen Vorschuss den Abgabetermin seines nächsten figur aufkommen. Er verdeutlicht ebenso die psychi- Buchmanuskripts einhalten muss. Andernfalls verliert schen Reaktionen, das geistig-seelische Leiden Ras- er die Rechte an allen seinen Werken. Kurz vor Ablauf
der Frist sieht es schlecht aus, es sei denn, die Steno- Menschen ging Visconti soweit wie möglich weg von graphin Anna Snitkina kann die heftigen Stimmungs- der Realität und hin zu einer neu geschaffenen, umge- schwankungen des Autors in anhaltende Kreativität formten Realität, einer subjektiven Stilisierung – vom umwandeln. Während er eine autobiografische Ge- Neo-Realismus zum Neo-Romantizismus. Er selbst schichte von obsessiver Begierde und Selbstzerstörung nannte es einen »Abstecher in die Welt des Traums«. um das Roulettespiel entwickelt, beginnt die sittsame Komplett im Studio gedreht (obwohl er zum größten Teil Fedor Dostoevskij junge Frau unerwartete Gefühle für ihn zu empfinden. »draußen« auf der Straße, auf Treppen, Brücken und an Gambon gewinnt erst langsam unsere Sympathien als Kanälen spielt), steht der Film isoliert im Werk Viscontis. von seinen eigenen Schwächen getriebener Abhängi- Die bewusst kenntlich gemachte theatralische Künst- ger. Weniger exaltiert, aber umso eindrücklicher porträ- lichkeit erschafft eine Traum- und Märchenwelt – ein tiert May eine Frau, die sich mit ihr unbekannten Gefüh- nebelverhangenes Irgendwo. Natalia, eine junge Russin len auseinandersetzen muss. Ihr zurückhaltendes Spiel in Italien, wartet auf ihren Geliebten. Am vereinbarten 14 wird ergänzt von Polly Walker als verführerische Fem- Tag des Treffens harrt sie vergebens aus. Dabei wird sie me fatale und Luise Rainer als wunderbar lebendige von einem anderen Mann beobachtet, dem einsamen Großmutter.« (Time Out) Junggesellen Mario, der sie tröstet und sich selbst in Mittwoch, 8. Dezember 2021, 19.00 Uhr Natalia verliebt. Freitag, 10. Dezember 2021, 19.00 Uhr Le notti bianche (Weiße Nächte) | Italien 1957 | R: Luchino Visconti | B: Luchino Visconti, Suso Cecchi Quatre nuits d'un rêveur (Vier Nächte eines Träu- D’Amico, nach der Erzählung »Weiße Nächte« von Fe- mers) | Frankreich 1971 | R+B: Robert Bresson, nach dor Dostoevskij | K: Giuseppe Rotunno | M: Nino Rota | der Erzählung »Weiße Nächte« von Fedor Dostoevskij | D: Maria Schell, Marcello Mastroianni, Jean Marais, K: Pierre Lhomme, Ghislain Cloquet | D: Isabelle Wein- Clara Calamai, Dick Sanders | 97 min | OmeU | Mit der garten, Guillaume des Forêts, Maurice Monnoyer, Jérô- Adaption von Dostojewskijs Erzählung von verlorenen me Massart, Patrick Jouané, Lidia Biondi | 87 min | LE NOTTI BIANCHE
OmeU | Jacques ist ein Absolvent der Kunstakademie Schneeflockenwirbels, das warme, gelbe und rötliche im Paris der frühen 1970er Jahre. Er lebt allein, streunt Flackern der Kerzen, das grelle Zucken der Flammen durch die Straßen, beobachtet junge Frauen und ver- im Kamin, und dazu jenes tiefe, dunkle, prunkvolle, liebte Paare, dabei macht er Aufnahmen mit einem schwüle Rot, das das 19. Jahrhundert für seine Interi- Kassettenrecorder. Das Abspielen der Bänder inspiriert eurs liebte, und dies alles gebrochen ins Ungefähre ihn beim Malen. Eines Nachts trifft er Marthe, die sich dämmernder Abende und schwarzer Nächte, ins Unge- Fedor Dostoevskij vom Pont Neuf stürzen will, wo sie vergeblich auf ihren fähre der Schatten, die in den Zimmerecken lauern, Geliebten gewartet hat. »Was man auch von Bressons und dies alles nun hineingeschleudert in furiose, von distinguiert photogenem Traumprotokoll halten mag, es der Musik Krjukovs noch verstärkte Bewegung – das ist hängt davon ab, was man von den Freiheiten hält, die hier ein den Leidenschaften Dostoevskijs vollkommen es einem einräumt, sich von den Szenen, die es auf- entsprechender optischer Rahmen. Pyr’ev beschränkte zeichnet, bezaubern, befremden zu lassen – man sich auf den ersten Teil des Romans, doch alle Motive schaut nicht einfach bloß zu, man betrachtet. Man geht sind schon angeschlagen, alle Themen berührt. Juri 15 nicht in die Falle wie Marthe mit ihrer Mutter bei der Jakovlev als der Fürst Myškin zarteste, innigste Empfin- Galapremiere des unerträglichen Jungsfilms AMOUR dung scheu und schüchtern andeutend, Julija Borisova TU NOUS TIENS, aus dem zum Glück Bresson ganz und als Nastasja Filippowna bewusst ihre kühle Schönheit gar eine eigene Sequenz, eine Ellipse unschuldigen ausspielend, sie und die anderen Darsteller gestalten in Traumkitsches macht.« (Jürgen Ebert) Extreme geworfene Charaktere mit überzeugendem Samstag, 11. Dezember 2021, 17.00 Uhr Realismus der Leidenschaft.« (Neue Zeit) Freitag, 7. Januar 2022, 19.00 Uhr Nuits blanches sur la jetée (Weiße Nächte am Pier) | Frankreich 2015 | R+B: Paul Vecchiali, nach der Er- Idiot (Der Idiot) | Russland 1910 | R+B: Pjotr Čardynin, zählung »Weiße Nächte« von Fedor Dostoevskij | K: nach dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: Lui Forest- Philippe Bottiglione | M: Catherine Vincent | D: Astrid je | D: Ljubov Varjagina, Andrej Gromov, Pavel Birjukov, Adverbe, Pascal Cervo, Geneviève Montaigu, Paul Vec- Tatjana Šornikova, Arsenij Bibikov | 22 min | ohne Zwi- chiali | 94 min | OmeU | »Ein Mann trifft eines Nachts schentitel | Die einzige erhaltene Dostoevskij-Adaption auf einem Pier eine Frau. Sie wartet dort vergeblich auf des vorrevolutionären russischen Stummfilms illustriert ihre große Liebe, er dagegen verbringt in dem Küsten- die Geschichte des gutherzigen Fürsten Myškin, der ort eine einjährige Auszeit. Sie beginnen zu sprechen, nach der Rückkehr in seine Heimatstadt St. Petersburg zuerst zurückhaltend und vorsichtig, dann jedoch im- von gewissenlosen Menschen ausgenutzt wird und da- mer offener und emotionaler. In den darauffolgenden ran zerbricht. – L’Idiot (Der Idiot) | Frankreich 2008 | drei Nächten treffen sie sich an derselben Stelle wieder, R+B: Pierre Léon, nach einem Kapitel aus dem Roman und es entspinnen sich Gespräche, die zwischen Me- von Fedor Dostoevskij | K: Thomas Favel | M: Benjamin lancholie und Heiterkeit pendeln und die fast in einer Esdraffo | D: Jeanne Balibar, Laurent Lacotte, Sylvie Liebesbeziehung münden. NUITS BLANCHES SUR LA Testud, Bernard Eisenschitz, Jean Denizot, Serge Bo- JETÉE des Franzosen Paul Vecchiali ist ein durch und zon, Pierre Léon | 61 min | I OmeU | Im Gegensatz zu durch romantischer Film, frei von jeglicher Sentimenta- den großen Gefühlen, die bei Dostoevskij aus jeder Fi- lität, der von den beiden Darstellern Astrid Adverbe und gur sprühen, inszeniert Léon sein großartiges Schau- Pascal Cervo getragen wird. Der Pier, auf dem sie sich spielensemble mit einer ruhigen, präzisen Bildsprache treffen, wird von Vecchiali sprichwörtlich in eine Bühne und einem trockenen Humor, ein Aspekt, der bei verwandelt, das Licht des Hafens und des Leuchtturms Dostoevskij oft unterschätzt wird. Der Regisseur selbst umhüllt die Darsteller in einem traumähnlichen Zu- spielt den in die Jahre gekommenen Schwerenöter Ge- stand.« (Hannes Brühwiler) neral Epančin, einen stolzen und schnell gekränkten, in Samstag, 11. Dezember 2021, 20.00 Uhr vielerlei Hinsicht tragikomischen Angeber, Zielscheibe von Dostoevskijs Spott. Idiot (Der Idiot) | UdSSR 1958 | R+B: Ivan Pyr’ev, nach Samstag, 8. Januar 2022, 17.00 Uhr dem Roman von Fedor Dostoevskij | K: Valentin Pavlov | M: Nikolaj Krjukov | D: Jurij Jakovlev, Julija Borisova, Návrat idiota (Die Rückkehr des Idioten) | Tschechi- Nikita Podgornyj, Leonid Parchomenko | 124 min | en 1999 | R+B: Saša Gedeon, frei nach dem Roman OmeU | »Die grauen, bläulichen, grünlichen Nebel des »Der Idiot« von Fedor Dostoevskij | K: Štĕpán Kucera | Winters in Sankt Petersburg, das kalte, weiße Licht des M: Vladimír Godár | D: Pavel Liška, Tatiana Vilhelmová,
Fedor Dostoevskij 16 HAKUCHI Anna Geislerová, Jiří Langmajer, Jiří Macháček | 94 min | OmU | Zurück aus dem Krieg und dem tropischen Oki- OmeU | František ist von der Welt gänzlich unberührt, er nawa, wo er wegen eines Traumas behandelt wurde, hat fast sein ganzes Leben in einer psychiatrischen Kli- findet sich Kameda in der verschneiten Heimat Hokkai- nik zugebracht. Frisch entlassen sitzt er im Zug in die do zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen. Sein böhmische Provinz, er fährt ins Ungewisse, ins Leben, kindliches Gemüt und seine emotionale Instabilität füh- zu den Verwandten, die ihn nicht kennen. »DIE RÜCK- ren ihn immer näher an den Rand des Wahnsinns. Bei KEHR DES IDIOTEN ist ein Roadmovie der Gefühle, an- seiner ersten Verfilmung einer westlichen Literaturvor- gesiedelt zwischen Weihnachten, wo alle vorgeben, lage versuchte Kurosawa, das Original des von ihm glücklich zu sein, und Neujahr, das angesichts des bewunderten Dostoevskij so getreu wie möglich in den emotionalen Scherbenhaufens Hand zum Neuanfang japanischen Kontext zu übertragen. Er lieferte einen bietet. Gedeon gelingt es, Realität und Traum, Äußeres viereinhalbstündigen Film ab, den die Produktionsfirma und Inneres in einem Bildersturm zu vereinen. Zusam- gegen seinen Willen auf knapp drei Stunden kürzte. Die men mit seinem Kameramann Štĕpán Kucera hat Ge- Originalfassung ist nicht mehr erhalten, die erhaltene deon die frostige Winterlandschaft in einer faszinierend Fassung gilt heute als Klassiker und eine der besten schlichten und gleichnishaften Bildlyrik eingefangen, Dostoevskij-Adaptionen. »Dostoevskij sagte, dass er die an die leichtfüßige Poesie tschechischer Filme aus einen wahrhaft guten Menschen darstellen wollte. Iro- den 1960er Jahren erinnert.« (Robert Richter) nischerweise wählte er für diesen Zweck einen jungen Samstag, 8. Januar 2022, 20.00 Uhr Mann als Helden, der ein Idiot ist. Aber in dieser Welt scheint das wahrhaft Gute irgendwie fast als Blödheit Hakuchi (Der Idiot) | Japan 1951 | R: Akira Kurosawa betrachtet zu werden.» (Akira Kurosawa) | B: Eijiro Hisaita, Akira Kurosawa, nach dem Roman von Sonntag, 9. Januar 2022, 17.00 Uhr Fedor M. Dostoevskij | K: Toshio Ubukata | M: Fumio Hayasaka | D: Setsuko Hara, Masayuki Mori, Toshiro Mifune, Yoshiko Kuga, Takashi Shimura | 166 min |
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