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Zum Zusammenspiel von Fach und Text. Vergleichskonstruktionen in Börsenberichten - ein holistischer Ansatz EUCOR-Workshop Universität Basel, 27-28.09.2021 Prof. Dr. Laurent Gautier, Centre Interlangues Texte Image Langage (UBFC-Dijon, EA 4182)
Gliederung 1. Forschungsgeschichtliche und epistemologische Kontextualisierung 2. Thesen zur Diskussion 3. Annäherung auf (zwei) Umwegen 4. Vergleichskonstruktionen im Fachtextmuster „Börsenbericht“ 5. Rück- und Ausblick 2
1. Forschungsgeschichtliche und epistemologische Kontextualisierung Fachsprachenforschung steht vor einem neuen Forschungskontext • Wechselwirkungen zw. mehreren Disziplinen wie Linguistik, Informationswissenschaften Kognitionswissenschaften => Fachkommunikationsforschung (FKF) (Schubert 2011, Gautier 2014) • FKF beruht auf einer inhärenten doppelten Interdisziplinarität (Isani 2014) : – 1. Ebene/ Forschungsgegenstand: die 3 oben genannten Disziplinen + fachliche Zieldisziplin(en) – 2. Ebene/ Diskurs: Sprache(n)/Text(e) + Fachakteure/ -kreise Quantitative Ansätze Qualitative Ansätze Korpus(linguistik) Ethnographie 3
Welche theoretisch-methodologischen Auswirkungen für die diskursive Wende in der FKF? • Doppelter Paradigmenwechsel: – Diskurs statt Sprache (Lerat 1995) – Wissen statt Sprache (Felder/Gardt 2015) => Netzwerk « Sprache und Wissen »? (Felder 2008) (Ziel ist es), in verschiedenen gesellschaftlich relevanten Wissensdomänen aus spezifisch sprachwissenschaftlicher Perspektive die Konstituierung, also die Versprachlichung der fachspezifischen Gegenstände und Sachverhalte zu untersuchen. Dadurch können Probleme sowohl fachspezifischer und professioneller Kommunikation als auch veröffentlichter und öffentlicher Kommunikation über Fachwissen aus sprachlicher Sicht analysiert werden. • Welche Auswirkungen, wenn diese „Ansätze“ ernst genommen werden sollen? 4
Verzicht auf stark sprachsystem- bzw. terminologisch- orientierte Ansätze • Bruch mit der traditionellen Gleichsetzung von Fachsprache(n) und Terminologie(n)/Phraseologie(n) (Gréciano 1995), wie in den älteren Fassungen der ISO-Norm 1087 • Neue Akzentlegung auf: – Einheitlichkeit der Sprache (vs. Fachsprachen als Subsysteme) Link KxG – Funktionelle Definition, welche die Vermittlung von Fachinhalten/Fachwissen in den Vordergrund rückt Link KxG – Kommunikative Definition, welche die prinzipielle Einbettung in fachlich-geprägten Kommunikationssituationen anerkennt Link KxG 5
Discourse- and-knowledge-turn in der Fachkommunikationsforschung • Allmähliche Integration neuerer Erkenntnisse der Pragmatik, Textlinguistik und letzten Endes der Diskurslinguistik. Drei Meilensteine: – Integrative Fachtextlinguistik: „(...) ein Verständnis für den Gesamtzusammenhang zwischen fachsprachlichen Einzelphänomenen kann nur dann erzielt, wenn die Ebene des Textes in di fachsprachlichen Untersuchungen einbezogenen wird.“ (Baumann 1992: 2) (vgl. Gautier 2009) 6
– Kognitive (Fach-)Textlinguistik mit Fokus auf Sprachverarbeitungsprozesse und Wissensstrukturen: Texte werden „in einem Zusammenhang mit Wissen, Denken, Gedächtnis […] behandelt“ (Figge 2000: 96) => Wissen = Fachwissen, kognitive ontologische Struktur des Fachs (Gautier 2008) – Diskurslinguistik: holistischer Ansatz, welcher die Wechselwirkungen Sprache – Text – Wissen – Handlungen mit einbezieht: „Es geht also bei der methodischen Umsetzung der Diskurslinguistik um eine sprach- und wissensbezogene Analyse, die die Produktionsbedingungen und Wirkungsmechanismen spezifischer medialer Umgebungen und die Interessen der Diskursteilnehmer als Untersuchungsgegenstand ernst nimmt.“ (Warnke/Spitzmüller 2008: 17) (vgl. Gautier 2020) 7
Kontinuierliche Ausweitung der Phraseologieforschung (Legallois/Tutin 2013) findet besondere Resonanz in der Fachsprachenforschung • in Richtung Lexik: wohin mit idiomatischen Einwortlexemen? (keine neue Frage, cf. Duhme 1991 vs Burger 2001 : 38 „besser nicht von ‚Einwortphrasemen‘ zu sprechen, da dadurch die strukturellen Grenzen zw. Komposition und polylexikalischen Verbindungen verwischt werden“) • in Richtung Syntax: von syntaktischen Schablonen (Fleischer 1997) bis zu Konstruktionen (Dobrovol‘skij 2011, Dalmas/Gautier 2013, 2018) • in Richtung Text und Diskurs, wo Präformierung allgegenwärtig (Gautier 2017) ist: Lexeme, aber auch und vor allem Schreib- und Textroutinen (Feilke/Lehnen 2012), Kollokationen (Gläser 2007), syntaktisch-semantische Muster (Gautier 2021) => Gelenkte Kommunikation ? 8
Eine erneute Bedeutung von Rekurrenzen, wenn Fachkommunikation als gelenkte und optimierte Aktivitäten aufgefasst wird • Fachkommunikation als gelenkte Kommunikation, „die durch Optimierung gekennzeichnet ist. Die Optimierung besteht in bewusstem Eingreifen (vgl. Schubert 2014), das sich entweder unmittelbar auf eine konkrete kommunikative Handlung richtet oder das bei den Kommunikationsmitteln ansetzt und dadurch mittelbar auf das kommunikative Handeln einwirkt“. (Schubert 2019, 17 - Grundlegendes bei Schubert 2007) • Akteure der Lenkung (nach Schubert 2019): Auftraggeber, Fachgemeinschaft, Referenzwerke… und Fachkommunikatoren • Lenkung insbesondere durch Sprachtechnologien als Instrumente der Lenkung, Übersicht bei Krüger (2019): Terminologiedatenbanken, TMs, automatische QA, maschinelle Ü => Verstärkt noch das Bedürfnis nach der Erfassung kognitiv- sprachlicher Schemata => Constraints/Beschränkungen im Mittelpkt 9
Konstruktionsgrammatik(en) als geeigneter Beschreibungsrahmen • Erweiterung des Forschungsobjekts innerhalb des KxG-Paradigmas : von der Syntax-Semantik-Schnittstelle zu Interkations- und Diskursforschung (Fried, (Hg.) 2010 ; Stefanowitsch/Fischer (Hg.) 2008) • Neue Fokussierung der KxG-Forschung auf Sprachwechsel- und Sprachvariationsphänomene (Hoffmann/Troudsale (Hg.) 2011) • Kompatibles allgemeines Ziel: „a uniform representation of all grammatical knowledge in the speaker‘s mind, in the form of constructions“ (Croft & Cruse 2004: 255) als Form-Bedeutung-Paare • Zulassung unterschiedlicher Schematizitätsgrade: von rein schematischen (= abstrakten) bis zu lexikalisch gesättigten Konstruktionen = Lexik-Grammatik-Kontinuum 10
2. Drei Thesen zur Diskussion • Fachtexte bedürfen eines besonderen Ansatzes, der von den fachlichen Komponenten ausgeht. Diese fachlichen Komponenten sind in der kognitiven Struktur / Architektur des Faches verankert und lassen sich frame- semantisch erfassen und darstellen. • Kx in Fachtexten sind nicht nur „fachlich gefärbte“ allgemeinsprachliche Kx, sie unterliegen dem Druck des Fachwissens und sollten als FachKx behandelt werden. • So definierte Fachkx dienen als „Bindeglied“ zwischen den vier Ebenen des Fachtextmusters. 11
3. Annäherung auf (zwei) Umwegen • Heuristische „Umwege“: Quantitative Überrepräsentation bestimmter Kx in bestimmten Fachtexten, welche auf den ersten Blick nicht „spezialisiert“ zu sein scheinen. • Beispiel 1: parallele Kx (dt./frz.) in Weinbeschreibungen (Bach/Gautier 2019) • Beispiel 2: ExistenzKx in Wetterberichten auf nl und schw. (Liégeois / Bonne / Gautier 2020) 12
Beispiel 1 • Zwei potentielle Kandidaten mit zwei ‚allgemeinen‘ Verben (haben/avoir; sein/être): keine Termini, aber doch fach- und textmustermotivierte Verwendungsweisen: – (1a) [Als ersten Wein] haben wir [einen Riesling Classic] [aus dem Jahre 2014] – (1b) sinon on a [les Gevrey Chambertin les *Sevrey] [de chez Olivier Juin] [en 2013] – (2a) und das ist [ganz ganz leichte intensive Weine] – (2b) donc là on est vraiment sur [le fruit croquant] en plus 13
• wir haben [wein] • Zwang der Informationslinearisierung (s. Czicza 2015: 47): „Es sind ‚in hohem Masse Thema-, Textsorten- und Kontextschemata auszeichnende konventionale syntagmatische Ausdrücke‘ (Feilke 2004: 213), die idiomatisch geprägt sind.“ ⇒ pragmatische Markierer der Weinbeschreibung bzw. Verkostungsnotiz: • eingeschränkte deiktische Funktion von wir (wer?) • „unübliche“ fixierte Valenzrealisierung des Verbs haben: [Wein] = diskriminierende Elemente wie der Jahrgang, das Prädikat oder der Name des Weines (Mobilisierung des Fachwissens in stabilen Strukturen) • Hoher Stabilitätsgrad 14
• on a [wein] oder on a [sensorische Deskriptoren] • Erlaubt es dem Redner, auf die Weinbeschreibung zurückzukommen (= Ende der Kontextualisierung) • ⇒ pragmatischer Markierer • Hoher Stabilitätsgrad (3) et du coup on a un rosé / beaucoup plus concentré que d'habitude (FR_VG_CM_01) (3b) on a les deux en début de bouche donc le côté masculin gibier et en fin de palais velours / voilà donc ça je pouvais le préciser sur ce Chambolle voilà (FR_CA_CDM_03) 15
Beispiel 2 • 3 unterschiedliche Typen: – (4a) er is : Morgen is er eerst vooral richting Franse grens veel bewolking met nog wat regen [...] – (4b) het is: In het noorden en het oosten is het droog met brede opklaringen. – (4c) het wordt: Het wordt vandaag wisselend bewolkt met in de loop van de dag enkele buien [...] • Restriktionen: – Auf der Linearisierungsebene => Wortstellungsbeschränkunegn: Inversion – Kohärente Distribution von Orts- und Zeitangaben • Textmusterspezifische Instanziierung des Wetter-Frames? 16
4. Vergleichskonstruktionen im Fachtextmuster „Börsenbericht“ • Charakterisierung von Textmustern auf Grund der allgemeinen Eigenschaften kognitiver Muster (Heinemann 2002 : 517- 518): – Multidimensionalität / Komponentialität: Textmuster als ein ‚Ensemble‘ von Komponenten aus mehreren Ebenen /FKF: +/ – Repetitivität als Wiederholung stereotyper Handlungen, Formen und Formeln /FKF: +/ – Vagheit als Reflex der Mannigfaltigkeit der Kommunikationsbedingungen /FKF: ??/ – Flexibilität und Variabilität: Leerstellen von Teilmustern und deren Ausfüllung /FKF: +/ 17
handlungstypisch-illokutive Grundelemente – typische Sprechakte Ist das so genannte Situationswissen dort zu verankern? In Fachdiskursen: mit dem enzyklopädischen Wissen verbunden? – implizit / redundant • Welche Relevanz für Fachdiskurse: – wie kommt man über allgemeine Kategorien wie informieren, berichten, … hinaus? – welche sprachlichen Merkmale? • Börsenbericht: • INFORMIEREN – BERICHTEN => WERTE miteinander VERGLEICHEN – ERKLÄREN / BEGRÜNDEN / RECHTFERTIGEN => ERGEBNIS des VERGLEICHS PERSPEKTIVIEREN – PROGNOSTIZIEREN => POTENTIELLE ENTWICKLUNG der WERTE bis zum nächsten VERGLEICH 18
inhaltich-propositionale Grundelemente • Prädikationen + Referenzstellen => prädikative Ausdrücke + Argumente – Wie kann diese Ebene (für Fachdiskurse) präzisiert werden ? – Fachdiskurse werden inhaltlich, nicht sprachlich definiert • Verbindung zu den Wissenskomponenten auf Grund der Frame-Semantik : Prädikat als Basis eines Frames + Argumente als Frame-Elemente (beteiligte Instanzen) • Terminologien als ontologische Systeme: zusätzliche Verbindung zu den Wissenskomponenten • => Enzyklopädisches Wissen 19
• frame-semantischer Ansatz zur Beschreibung der Struktur: – semantische Definition des Prädikators: • Prädikatsklasse : Abwärts- und Aufwärtsbewegungen + – Definition der FEs: • FE1: Indikator als Vergleichsbasis + Komparandum • FE2: Ausgangswert • FE3: relativer Wert • FE4: erreichter Endwert – Vorteile: • abstraktes Schema, das mehrere Oberflächenrealisierungen ermöglicht • Aufdeckung eines zweiten zugrundeliegenden Frames, i.e. eines Vergleichsframes. 20
Beispiele : (5a) Bei lustlosem Handel haben die deutschen Aktien am Freitag mehrheitlich nachgegeben (¯). Der am Morgen noch mit einem minimalen Plus () gestartete Leitindex DAX drehte im Handelsverlauf ins Minus und verlor bis zum Nachmittag 0,35 % auf 4.219,01 Punkte. Händler führten die abgeschwächte Tendenz auf den „dreifachen Verfallstag“ zurück, an dem um 13 Uhr die Wetten auf Aktien, Optionen und Indizes ausliefen (5b) Die gesamtwirtschaftliche Erzeugung (KOMPARANZ + KOMPARANDUM) stieg(PROZESS) saison- und kalenderbereinigt um 0,7%(ERGEBNIS), verglichen mit 0,3% im zweiten Quartal(REFERENZPERIODE)
syntaktische linearisierungsmotivierte Grundelemente • Welcher Platz für die Informationsstrukturierung? – Intraphrastisch: Fossilisierungen in der Wortstellung und Thema- Rhema-Gliederung => Beschränkungen – Transphrastisch: Themenentwicklung • Bestandteil der stilistisch-formulativen Ebene (wie bei Fix oder Adamzik) oder eigenständige Ebene? => Postulierung einer eigenständigen Ebene für Fachtexte 22
• Beispiele für Rahmenprogression mit anschließender linearer Progression: – Märkte und Indezes (6a) Die New Yorker Aktienbörse (Hyperthema) hat am Montag im Verlauf mit behaupteten Kursen tendiert. Bis 19:30 Uhr MEZ stieg der Dow Jones Industrial Index (Subthmea 1) um 25,27 Zähler oder 0,24% auf 10.675,19 Einheiten. Der S&P-500 Index (Subthema2) gewann 1,89 Punkte oder 0,16% auf 1.196,11 Zähler. Der Nasdaq Composite Index (Subthema 3) reduzierte sich dagegen um 2,66 Zähler (minus 0,12%) auf 2.132,54 Einheiten. - Industriesektoren und Unternhemn (6b) Pharmawerte (Hyperthema) erholten sich von ihren jüngsten Verlusten. GlaxoSmithKline (Subthema 1)verbesserten sich um ein Prozent und führten zeitweise die Gewinner im Stoxx 50 an. Auch Novartis (Subthema 2) legten um 0,9% und Roche (Subthema 3) um 1,4% zu.
Stilistisch-formulative Grundelemente • Terminologie • Vorgeformtes (Phraseme, Kollokationen, Textbausteine) Þ Direkte Verbindung, in Fachdiskursen, zur ersten Ebene: Terminologie, Kollokationen… • „Stilistische“ Merkmale => Definitions- und Modellierungsdefizite Zugrundeliegendes Textmuster als Aneinanderreihung begrenzter sprachlicher Repertoires: Lexik (=Terminologie) + Linearisierungsmuster + Grammatik 24
• Drei beteiligte Instanzen (FEs), die alle bestimmten Restriktionen unterliegen: § Vergleichsbasis = Komparandum zu 2 unterschiedlichen Zeitpunkten: § Indikator : Wert des Dax-Indexes § Terminus mit ootentiellen Restriktionen § Ausgangs- und Zielwerte § Nicht immer erwähnt § Bewegungsrichtung § Restriktionen in der Abwechslung von V und N + entsprechende Argumentstruktur § Relativer Wert § Restriktionen in den zugelassenen Präpositionen § Vergleichsperiode § Restriktionen in den zugelassenen Präpositionen 25
5. Rück- und Ausblick Konstruktionsbasierte Erfassung von Fachtexten? • Durch die Integration von Terminologie in Prädikat- Argument-Ketten, welche die kognitive Struktur des Fachs widerspiegeln • Durch die Assoziation aller zugelassenen und fossilisierten morpho-syntaktischen Ausdrucksformen, die global als Restriktionen aufgefasst werden können; • Mitberücksichtigung aller Diskursroutinen nach den selben Prinzipien => Auf dem Weg zu Fachkonstruktionen? 26
• Einsetzbarkeit: • Tools für Fachübersetzung und technische Redaktion • Grenzen: • Gültigkeit der Ergebnisse über die betroffene Textsorte und das betroffene Fach hinaus? • Gültigkeit der Methode über stark gelenkte (und z. T. automatisch produzierte) Texte dieser Art hinaus? => Welches Verallgemeinerungspotenzial? 27
• Fragen/Diskussionspunkte • Discourse pattern als Kx => Wohin mit (Fach- )Textmustern? • Discourse pattern als Bezugsgrösse für fachspezifische Kx auf „Satzebene“ • „Messbarkeit“ der Beschränkungen auf der dritten Ebene? • Welcher Platz für die Variation? 28
Vielen Dank für Ihre Aufmersamkeit! Laurent Gautier (laurent.gautier@ubfc.fr) 29
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