ZURÜCK ZUR NORMALITÄT? - WZB - Forschung für Nachhaltige ...
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ERGEBNISSE AUS BEOBACHTUNGEN PER REPRÄSENTATIVER BEFRAGUNG UND ERGÄNZENDEM MOBILITÄTSTRACKING BIS ENDE MAI AUSGABE 29.05.2020 01 WZB ZURÜCK ZUR NORMALITÄT? Unsere Alltagsmobilität in der Zeit von Ausgangsbeschränkungen, Quarantäne und wiedererlangter Routinen
2 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Von Ende März bis in den Mai hinein haben wir uns in Geduld und Rücksicht geübt. Die Corona-Pandemie hat einen Stillstand nahegelegt, dem sich fast alle gebeugt haben. Offenbar war dies die richtige Entscheidung. So ist es ist bisher gelungen, einen sehr großen Teil der Bevölkerung zu schützen. Viel- leicht war dabei der Wunsch, mit temporärer Disziplin die verlorene Norma- lität so bald wie möglich zurückzuerlangen, ein wichtiger Antrieb. Spätestens ab Mitte Mai jedoch sind Erleichterung – oder nachlassende Achtsamkeit – ein prägender Faktor. Sofern wir die Mobilitätsdaten als Maßstab wählen. Der Einschnitt in unsere Alltagsmobilität war enorm und einmalig. Wenig überraschend ist, dass sich dies in unseren Beobachtungsergebnissen ein- drucksvoll zeigt. Sie gewinnen ihren tieferen Wert allerdings erst in den fol- genden Monaten. Auf dem schrittweisen vermutlichen Weg zurück zu unserer alten Normalität wird die kontinuierliche Beobachtung wichtig. Dazu gehört die genaue Messung, wie dieser Rückweg verläuft. Eine entscheidende Frage ist, ob der Pfad zurück zum Ausgangspunkt führt oder ob dauerhafte Spuren zurückbleiben? Um auf diese Frage Antworten geben zu können, haben wir bisher Beobach- tungen aus der Phase des Lockdowns ausgewertet. Nun setzen wir weiter fort. Beginnend mit dieser Ausgabe erweitern wir das bisherige Mobilitätstracking mit Befragungsergebnissen aus dem Projekt MOBICOR. Ebenso wie das Tra- cking lassen diese vorläufigen Resultate, bei allen bestehenden Unterschieden, die Kraft der langjährig eingeübten Routinen mehr erahnen, als dies in der Talsohle des Shutdowns möglich schien. Doch nicht alle Verkehrsangebote profitieren gleichermaßen. Und — so deuten es einige Ergebnisse an – die mobile Gesellschaft spaltet sich.
3 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 WORUM ES GEHT „Handyortung“ war das erste Stichwort aus die- ser Richtung, das schnell Aufmerksamkeit erlangt Wir möchten Alltagsmobilität zuverlässig be- hat. Der zweite Komplex ist das mittlerweile viel schreiben. Aus der möglichst exakten Messung diskutierte Verfolgen infizierter Personen als ein differenziert nach Regionen und Personengrup- Instrument bei der direkten Bewältigung der Pan- pen ergeben sich Schlussfolgerungen und Hand- demie. Nach aktuellen Informationen wird diese lungsempfehlungen. Daher kombinieren wir Möglichkeit ab Mitte Juni verfügbar sein. Schließ- zuverlässige Messungen anhand ausgereifter Be- lich haben sich neben Anbietern von Navigations- fragungsverfahren mit Innovation und profunder systemen Google und Apple entschlossen, einen sozialwissenschaftlichen Perspektive. Dafür steht kleinen Einblick in ihre im Hintergrund gesam- das Team aus infas, MOTIONTAG und der Arbeits- melten Daten zu geben. gruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Ber- DAS MOBILITÄTSTRACKING lin für Sozialforschung (WZB). Unterstützt wer- den wir durch das Geodaten Know-how von infas Eine ähnliche Anwendung in einem Forschungs- 360 und die Mobilitätsexpertise von Nuts One. umfeld – und um diese Aufgabe geht es in unse- rer Report-Reihe – ist das freiwillige, GPS-basierte Eine Säule in unserem Konzept sind Tracking-Tech- Tracking individueller Bewegungsverläufe mit niken. Noch vor wenigen Wochen war das Stich- Hilfe einer Smartphone-App. Allerdings erschöp- wort „Tracking“ für die meisten von uns kaum mit fen sich solche Anwendungen in der Regel darin, Inhalt gefüllt. Irgendetwas mit dem Verfolgen von Unterwegszeiten und zurückgelegte Strecken zu Spuren? Neue Blickwinkel und eine enorme Dy- messen, geben jedoch keine Auskunft etwa über namik in der Covid-19-Pandemie haben dies ver- die genutzten Verkehrsmittel oder Aufenthaltska- ändert. Die relativ unscharfe funkzellenbasierte tegorien. 35% der Erwerbstätigen arbeiteten im April im Homeoffice
4 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Wir tauchen für Deutschland tiefer ein und bezie- rung ihrer Ergebnisse für die Zeit vor Corona an- hen Tagesstrecken, Verkehrsmittelnutzung und hand bekannter Mobilitätseckwerte zeigt jedoch Wegeanlässe mit ein. Für diese weitergehenden bereits jetzt eine gute Übereinstimmung mit die- Fragestellungen hat MOTIONTAG in den letzten sen Parametern. Jahren eine Anwendung entwickelt, die diesen Tauchgang nahezu in Echtzeit und automatisch MOBICOR – EIN ANSPRUCHSVOLLES NEUES zuverlässig leistet. Werden diese Befunde mit Ba- MOBILITÄTSPANEL sisinformationen zu den Mobilitätsmustern „vor Corona“ verknüpft, ergibt sich ein aufschlussrei- Darüber hinaus beginnen wir zusammen mit dem ches Bild. Es zeichnet den Zeitverlauf nach und Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) weitere Ana- ermöglicht eine Einschätzung der Entwicklungen, lysen. Diese werden finanziert durch das Bundes- die uns auf dem Weg zurück in den Alltag noch ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bevorstehen. sowie zurzeit das Land Hessen. Dazu haben wir den Aufbau des Panels MOBICOR gestartet, in Im aktuellen Report umfasst dies eine Zeitspan- dessen Rahmen eine elaboriert und exklusiv ge- ne, die über die ersten Monate des Jahres 2020 wonnene repräsentative Stichprobe aus mehre- bis Ende Mai reicht. Dies war zunächst als Eigen- ren Tausend Personen im Längsschnitt zunächst projekt entstanden und basiert auf rund 1.000 telefonisch und später auch online befragt wird. Tracking-Teilnehmern. Diese Stichprobe erhebt Dies erfolgt in wesentlichen Teilen angelehnt an keinen Repräsentativitätsanspruch, soll jedoch in das MiD-Design. den nächsten Monaten erheblich erweitert und anhand repräsentativer Eckwerte aus anderen Die Erhebungen haben Anfang Mai begonnen. Quellen kalibriert werden. Eine externe Validie- Sie werden bis Ende Mai die ersten 1.000 Inter- 80 Minuten sind wir üblicher- weise im Schnitt täglich unterwegs. Ende Mai sind es schon wieder über 70 Minuten.
5 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 views und bis Mitte Juni die volle bundesweite Stichprobengröße von 1.500 Interviews liefern. Hinzu kommen regionale Aufstockungen. Bis zum Jahresanfang sind zwei weitere Panelwellen in ei- nem echten Längsschnittdesign vorgesehen. Tracking per MOBICO Da das Interesse an den Befunden hoch ist, geben Für die Entwicklung guter Lösungen und neuer wir in diesem Mobilitätsreport auf der Basis von Angebote für die Alltagsmobilität werden zu- rund 900 Befragten einen ersten Einblick in bis- verlässige Daten benötigt. Zur Erhebung solcher herige bundesweite Zwischenergebnisse. Diese Daten stellt infas zusammen mit Resultate sind selbstverständlich vorläufig, ha- MOTIONTAG die infas mobico App bereit. ben aber bereits eine umfassende Qualitätssiche- rung durchlaufen. Die App beruht auf der Idee, dass die meisten Menschen, ihr Smartphone (fast) immer bei Als Innovation hinzu kommt der beschriebene sich haben und die Sensoren des Smartphones Tracking-Ansatz. Mit diesem Instrument können zur Bestimmung der Position und Bewegung die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer auf genutzt werden können. Einmal runtergeladen freiwilliger Basis in unkomplizierter Form Tag für und aktiviert, können Teilnehmende mit der Tag über ihre Mobilität berichten. Diese Tracking- App ihre Mobilität automatisch im Hintergrund Gruppe wird zum einem aus einigen der Panel- aufzeichnen. teilnehmerinnen und -teilnehmern gebildet. Zum anderen sollen im Jahresverlauf 2020 bis zu Intelligente Algorithmen verwandeln die Posi- 50.000 weitere Probanden gewonnen werden. tions- und Bewegungsdaten des Smartphones in einzelne Abschnitte, die nach genutzten Ver- Für eine bessere Einordnung verknüpfen wir die kehrsmitteln, Tageszeiten, Zielen oder möglichen so entstehenden Resultate aus Befragung und Alternativen untersucht werden können. So kann Tracking mit Referenzergebnissen für einen nor- auch die Verbreitung neuer Angebotsformen malen „Mobilitätsdurchschnitt“ – aktuell eine und ihre Integration in den Alltag nachvollzogen Art Durchschnittsmai für alle Personen im Alter werden. ab 16 Jahren. Derartige Ergebnisse liegen uns auf Grundlage der Studie „Mobilität in Deutschland“ Mit der App können die Teilnehmenden Ihre (MiD) vor, die infas 2002, 2008 und 2017 zusam- Mobilität bequem automatisch aufzeichnen. Sie men mit Partnern für das Bundesministerium für werden dadurch nicht mit dem Ausfüllen von Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) sowie Fragebögen belastet. In der App können sich die weitere regionale Auftraggeber durchgeführt hat. Teilnehmenden zudem einen Überblick über die ermittelten Daten und Erkenntnisse zu ihrer Doch nun, nach diesem Ausblick auf die anste- eigenen Mobilität gewinnen. hende umfassende Erweiterung unserer Beob- achtungen, zurück zu der aktuellen Situation im Wenn Sie die App nutzen möchten, können Sie Mai 2020. Dabei greifen wir nicht allein auf die sie aus dem Google Play-Store oder Apple App- Tracking-Ergebnisse und erstmalig die vorläufi- Store herunterladen. Geben Sie einfach „infas gen MOBICOR-Befunde zurück, sondern erweitern mobico“ in das Suchfenster ein. Weitere Informa- die Perspektive zunächst um einige ausgewählte tionen zur App finden Sie unter Resultate aus einer weiteren, bereits abgeschlos- www.infas.de/mobico.
6 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 senen repräsentativen telefonischen Befragung Einstieg in die Homeoffice-Situation. Oft be- von 1.000 Personen. Diese Befragung hat infas im schworen als möglicher Lösungsbeitrag für un- April im eigenen Auftrag durchgeführt. Sie bildet sere täglichen Verkehrsprobleme, wurde sie nun einen „Corona-Schwerpunkt“ innerhalb der von fast über Nacht zur neuen Lebenswirklichkeit. Im uns seit vielen Jahren in Eigenregie durchgeführ- „Normaljahr“ 2017 berichteten im MiD-Interview ten Reihe rund um den infas-Lebenslagenindex nur etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen, dass ilex, regelmäßig veröffentlicht in der Institutszeit- sie über eine Homeoffice-Möglichkeit verfügen schrift „Lagemaß“. würden – und dies in der Regel nur für einzelne Tage und nicht dauerhaft. EIN ERSTER EINBLICK IN NEUE ROUTINEN Im Corona-April stieg dieser Anteil auf ein Drittel. In dieser Befragung haben wir im April umfassen- Dies allerdings nicht gleichermaßen. Beschäftige, de Fragen zur aktuellen Lebenssituation und den die der unteren Lebenslagengruppe angehören empfundenen Auswirkungen und Perspektiven (gebildet nach dem mehrdimensionalen infas-Le- gestellt. Die detaillierten Ergebnisse hat infas be- benslagenindex), berichten nur zu einem Fünftel reits veröffentlicht. Für den vorliegenden Report davon. In den beiden höheren Lebenslagen betrug sollen zwei Aspekte herausgegriffen und den Mo- dagegen der Homeoffice-Anteil zum Befragungs- bilitätsanalysen vorangestellt werden. zeitpunkt mehr als ein Drittel. Es bestehen also längst nicht überall Beschäftigungsverhältnisse, Eine prägende Erfahrung für viele Arbeitneh- die diese Möglichkeit zulassen. merinnen und Arbeitnehmer war der plötzliche Anteile Homeoffice und Kurzarbeit Verstärkter Online-Einkauf und Warenlieferung nach Hause Angaben in Prozent Angaben in Prozent 20 10 7 Niedrige Lebenslage 21 Mittlere 36 Lebenslage 13 90 93 Hohe 36 Lebenslage Online-Einkauf Warenlieferung 5 Homeoffice Kurzarbeit ja nein nur Erwerbstätige – einschließlich Selbsständige und Beamte Telefonische Erhebung: 1.000 Interviews im April, Personen ab 18 Jahren, infas-Eigenstudie
7 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Noch deutlicher fallen die Unterschiede aus, entspricht aber weiterhin in etwa den dargestell- wenn nach dem Stichwort „Kurzarbeit“ gefragt ten Resultaten. wird. Diese Erfahrung war im April in den beiden oberen Lebenslagengruppen mit 13 bzw. fünf Pro- Andere Auswirkungen haben Nöte in Sachen Ein- zent eine seltene Ausnahme. Im unteren Lebens- kauf und Besorgung. Gefragt nach häufigeren On- lagensegment betrug der Anteil dagegen mit 21 line-Einkäufen, gaben im April 10 Prozent an, dies Prozent mehr als ein Fünftel. während des Lockdowns häufiger zu tun als bis- her. Hier sind also Veränderungen spürbar. Aber Die Arbeitssituation, ihre Beschränkung und da- vermutlich erschließt sich der Online-Handel mit auch die Auswirkungen auf die Alltagsmobi- kaum neue Kunden, sondern intensiviert eher den lität fallen somit unterschiedlich aus. Nur ein Teil Umsatz mit bisherigen Käuferinnen und Käufern. der Erwerbstätigen kann sich in die verhältnismä- ßig kommode Situation des Heimarbeitsplatzes Noch geringer als das Online-Plus fällt der Anteil zurückziehen. Nach weiteren Ergebnissen ist dies derjenigen aus, die nun Lieferdienste der Geschäf- in der ersten Maihälfte zwar etwas angestiegen, te vor Ort in Anspruch nehmen. Dies dürfte sich Unterwegszeit pro Tag und Person Wegeabschnitte pro Tag und Person nach Verkehrsmittel Angaben in Stunden Angaben in Mittelwerten 04.05. 04.05. deutliche deutliche Reduzierung Reduzierung Shutdown Shutdown 11.04. 11.04. Ostersamstag Ostersamstag 16.03. 16.03. Beginn Beginn Shutdown Shutdown 1,6 8,0 1,4 7,0 Wegabschnitte pro Person pro Tag 1,2 6,0 Stunden pro Person und Tag 1,0 5,0 0,8 4,0 0,6 3,0 0,4 2,0 0,2 1,0 0,0 0,0 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto Fußabschnitte auf Wegen einzeln ausgewiesen, etwa der Fußweg zur Haltestelle MiD-Baseline Tracking-Ergebnisse Eigenstudie MOTIONTAG
8 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 auf den Lebensmittelhandel und wenige Adhoc- SCHON WIEDER UNTERWEGS, ABER NICHT UN- Angebote von Geschäften oder Gaststätten be- BEDINGT GLEICHERMASSEN schränken, die hier Brückenangebote geschaffen haben. Und auch dies ist keine Erfahrung, die vie- Die vielleicht überraschendste Erkenntnis in den le teilen. Eher bleibt der Gang in den Supermarkt Maiwochen: es geht schnell wieder aufwärts. erzwungene – und manchmal vielleicht auch Dies zeigen sowohl die Tracking- als auch die willkommene – Notwendigkeit. Ein Grund dafür, neuen MOBICOR-Befragungsergebnisse. Nach warum auch in der Phase der Ausgangsbeschrän- einem Tiefpunkt vor Ostern gewinnt unsere All- kungen ein beachtliches Mindestniveau unserer tagsmobilität mehr und mehr ihr altes Niveau Alltagsmobilität erhalten bleibt. Doch mehr dazu zurück. Bereits unmittelbar mit der ersten Locke- in den folgenden Abschnitten dieses Reports. rung Anfang Mai ist ein solcher Sprung zu beob- achten. Danach geht es stetig aufwärts. Kurz vor dem Monatsende zeigt sich bereits ein Pegel von 70 bis 80 Prozent der „Normalmobilität“. Dies gilt für die tägliche Unterwegszeit und die individu- Anteil der pro Person zurückgelegten Tageskilometer Verteilung der Wegeabschnitte pro Tag und Person Angaben in Prozent Angaben in Prozent 04.05. 04.05. deutliche deutliche Reduzierung Reduzierung Shutdown Shutdown 11.04. 11.04. Ostersamstag Ostersamstag 16.03. 16.03. Beginn Beginn Shutdown Shutdown 100 100 90 90 80 80 Anteil der zurückgelegten Kilometer 70 70 Wegabschnitte in Prozent 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 0 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto Fußabschnitte auf Wegen einzeln ausgewiesen, etwa der Fußweg zur Haltestelle Tracking-Ergebnisse Eigenstudie MOTIONTAG
9 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 ellen mittleren Kilometersummen – also sowohl schiede spielen eine Rolle. Segmente mit schlech- die Zeit, die wir täglich unterwegs verbringen als ter, guter oder sehr gut ökonomischer Lage un- auch die Strecken, die wir dabei zurücklegen. terscheiden sich. Während sich in den beiden statushohen Gruppen bis in die ersten beiden Noch eindeutiger verhält es sich bei der Außer- Maiwochen ungewöhnlicherweise niedrigere Un- Haus-Quote und damit dem durchschnittlichen terwegskennziffern zeigten als in dem Segment Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die sich wie- mit einer schlechten Lage, haben sich ab Mitte der nach draußen wagen. Während dieser Anteil Mai die gewohnten Verhältnisse wieder einge- noch eher als die unterwegs verbrachte Zeit das pendelt. Je höher die ökonomische Lage ausfällt, verlorene Normalmaß fast wieder erreicht hat, desto größer ist erneut der Mobilitätsfußabdruck. hinken die mittleren Tagesstrecken weiterhin Die zwischenzeitliche Umkehr ist dabei plausibel. ein wenig hinterher. Wird bei der Bewertung al- Sie ist sicher darauf zurückzuführen, dass in be- lerdings einbezogen, dass viele Wege zu weiter stimmten Bevölkerungsgruppen weniger Home- entfernten Zielen im Moment kaum möglich sind, office-Möglichkeiten gegeben waren und damit darf auch die jetzt erreichte Kilometerzahl ein we- weiterhin die Notwendigkeit bestand, arbeitsbe- nig erstaunen. dingt unterwegs sein zu müssen. Allerdings zeigen sich nicht in allen Bevölkerungs- MEHR FREIZEITVERKEHR UND EINE ANDERE gruppen die gleichen Verläufe. Das Minus fällt TAGESGANGLINIE in den Altersgruppen mit hohen Anteilen von Berufstätigen erwartungsgemäß größer aus als Die Befragungsergebnisse lassen noch zuver- unter den Seniorinnen und Senioren im Alter ab lässiger als das Tracking den Blick auf die Anläs- 65 Jahren. Und auch sozioökonomische Unter- se zu, warum wir unterwegs sind. Zu normalen Außer-Haus-Quoten von März bis Mai 2020 Tageskilometer pro Person Angaben in Prozent Angaben in Mittelwerten 60 16.03. 100 Beginn Shutdown 50 80 Kilometer pro Person und Tag 40 60 30 40 20 20 10 0 0 01.03. 01.04 01.05.2020 01.01 01.02 01.03 01.04. 01.05.2020 nicht unterwegs unterwegs Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto MiD-Baseline Tracking-Ergebnisse Eigenstudie MOTIONTAG
10 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 11% aller Wege wurden 2017 mit dem Fahrrad zurückgelegt. Wie wird sich dies entwickeln?
11 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Zeiten erfolgt rund ein Drittel aller Wege berufs- heben, dass während der gesamten verschärften bedingt. Dies ist weniger als oft unterstellt, aber Lockdown-Phase eine Grundmobilität erhalten in Corona-Zeiten reduziert sich der beruflich ver- geblieben ist. Dies drückt sich nicht zuletzt in den ursachte Anteil verständlicherweise deutlich. Er schon erwähnten weiterhin relativ hohen mittle- beträgt nur noch – oder immerhin – ein Viertel ren Unterwegszeiten aus. Sie liegen im Mai 2020 aller Anlässe, aus denen wir aktuell unterwegs mit gut einer Stunde nicht mehr erheblich unten sind. Entsprechend nehmen anteilig gesehen an- den sonst üblichen 80 Minuten. Zeit, die für lan- dere Wegezwecke zu, in erster Linie der Freizeit- ge Wege gespart wurde, wurde also offenbar oft verkehr. Damit einher geht eine Verschiebung der für Ausgänge zu Fuß oder mit dem Fahrrad um- Tagesganglinie. Insgesamt liegt hier der aktuelle gewidmet. Verlauf absolut gesehen natürlich deutlich unter dem ursprünglichen Niveau. Aber auch diese Re- ERZWUNGENE NAHMOBILITÄT (UND SCHÖNES duktion zeigt sich nicht linear, sondern plausibel WETTER) BEGÜNSTIGEN DAS ZUFUSSGEHEN in höherem Maß in den Morgen- und Abendstun- UND FAHRRADFAHREN den. Die Aufteilung der Verkehrsmittel zieht in der Dies ist ein Umstand, der auch bei der Interpre- Regel die größte Aufmerksamkeit auf sich. In der tation der Veränderungen im Verkehrsmittelmix aktuellen Situation hat dies eine besondere Be- eine wichtige Rolle spielt. Zusätzlich ist bei all rechtigung. Denn während zu erwarten ist, dass diesen Effekten zu berücksichtigen, dass das Mo- Tagesstrecken, Unterwegsquoten und -zeiten bilitätsniveau insgesamt reduziert ist, entstan- eher früher als später wieder das gewohnte Ni- den durch mehr Zeiten zu Hause und die oft nicht veau erreichen werden, ist dies bei der Verkehrs- freiwillige Beschränkung auf kurze Wege, wenn mittelwahl keine Selbstverständlichkeit. das Haus verlassen wird. Jedoch bleibt hervorzu- Wege, Modal Split-Vergleich Mai 2020 vs. MiD-Mai, Personen ab 16 Jahren Angaben in Prozent 6 10 19 30 48 12 10 10 49 7 MOBICOR MiD ÖV MIV-Fahrer MIV-Mitfahrer Fahrrad zu Fuss MID-Referenzmonat Mai und vorläufige Ergebnisse MOBICOR 2020 / MiD 2017, Personen ab 16 Jahren
12 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Und tatsächlich lohnt sich hier der genauere Blick. Doch wie steht es um den in der Verkehrsplanung Der übliche Wege-Modal-Split, den wir in der Be- stark beachtete Hoffnungsträger, das Fahrradfah- fragung analog zu dem bisherigen MiD-Verfahren ren? Viele Zählstellen zeigen zurzeit eindrucksvoll ermitteln, zeigt Erstaunliches. Prozentual gese- steigende Zahlen. In einigen Großstädten fallen hen ist vor allem das Zu-Fuß-Segment der große mehr Radlerinnen und Radler ins Auge. Die Ver- Gewinner. Der Anteil der nur zu Fuß zurücklegten kehrspolitik hat darauf teilweise reagiert und mit- Wege steigt für die Bevölkerung ab 16 Jahren von unter sogar Radspuren eingerichtet. Im Vergleich rund 20 Prozent in einem „Normalmai“ auf 30 zu dem MiD-Benchmark spiegelt sich dies in dem Prozent im Corona-Mai 2020. Das vermeintliche von uns frisch gemessenen bundesweiten Fahr- Stiefkind, das mit einem Anteil von rund einem rad-Anteil jedoch kaum wider. Er verharrt unter Fünftel an allen Wegen allerdings nie eines war den ab 16Jährigen bei etwas über 10 Prozent al- – und mit Blick auf die Kilometersummen sogar ler Wege. Absolut gesehen sind es auch hier sogar gleichauf mit dem Fahrrad stand – hat also die weniger Bewegungen als vor Corona, wenn auch größte Zwischenkonjunktur. Verlierer ist dagegen in geringerem Ausmaß als bei anderen Verkehrs- der öffentliche Verkehr. Sein Anteil fällt von 10 Pro- mitteln. zent auf etwa die Hälfte zurück. Wenn zusätzlich noch das weiterhin etwas geringere Gesamtmo- Dieser vermeintliche Widerspruch löst sich erst bilitätsniveau berücksichtigt wird, ist dies absolut mit einer Art Röntgenblick auf. Er verlangt im ers- betrachtet sogar noch dramatischer. ten Schritt nach absoluten und nicht relativen Mobilitätsrückgänge in Prozent im Corona-Mai gegenüber MiD-Mai, Tageswerte pro Person (ab 16 Jahre) nach Teilgruppen Rückgang in Prozent gegenüber dem MiD-Ausgangswert ökonom. ökonom. ökonom. Status Status Status gesamt niedrig mittel hoch 16 -
13 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Zahlen. Im zweiten Schritt muss die Tagesgang- GLÜCKLICH DURCH DIE KRISE – DAS PRIVATE linie herangezogen werden. Und als Drittes gilt AUTO es zu berücksichtigen, dass die durchschnittliche Wegelänge mit dem Rad aktuell um gut ein Vier- Schließlich der Hauptverkehrsträger, das Auto. tel gestiegen ist. Zusammen genommen führt Spätestens bei der Betrachtung der absolvierten dies zu dem Ergebnis, dass die Radverkehrsstei- Personenkilometer hatte es diese Rolle selbst in gerung sich ausschließlich auf die Nachmittags- vielen Großstädten bereits vor der Pandemie inne stunden konzentriert. In diesem Tagesabschnitt – und behält sie auch im Verlauf. Anteilig auf der sind nach unseren vorläufigen Zwischenergeb- Ebene des Verkehrsaufkommens, also der Wege, nissen sogar mehr Fahrradfahrerinnen und Fahr- verliert das Auto zwar einige Prozentpunkte an radfahrer unterwegs, und dies mit mit einer grö- den zeitweilig boomenden Fußverkehr, trotzdem ßeren Kilometer-Verkehrsleistung als in unserem ist es weiterhin bei mehr als der Hälfte aller Wege Referenz-Durchschnittsmai. Diese Beobachtung das Transportmittel der Wahl. gilt nach ersten Auswertungen in den Städten sogar etwas ausgeprägter als in den kleineren Allerdings hinterlässt Corona auch hier seine Spu- Kommunen. So erklärt sich die Augenfälligkeit des ren. Der Mitfahreranteil sinkt recht deutlich, der aktuellen Radverkehrs. Und die Steigerungsraten Fahreranteil bleibt fast stabil. Die Alleinfahrt ohne an den Zählstellen werden vielfach darauf zurück- Maske verschafft also vielfach einen offenbar als zuführen sein, dass diese an ohnehin attraktiven ungefährdet empfundenen Rückzugsraum. Und Fahrradpassagen auf Zählbares warten. möglicherweise verloren geglaubte neue Aus- flugsformen? So führt jede hundertste Autofahrt ohne Zwischenstopp von zu Hause nach Hause. 35% nutzen zurzeit das Auto anstatt Bus oder Bahn.
14 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 BALD ALLES WIE IMMER — ODER NOCH VOL- der Zeitbudgets wird es sich wieder reduzieren. LERE STRASSEN UND PLATZ IN BUSSEN UND Zudem sind nicht alle Ausweichlösungen – etwa BAHNEN? von Bus und Bahn auf den Fahrradsattel – zum Beispiel angesichts teilweise langer Pendlerwege Von der sich abzeichnenden Erholung werden auf Dauer praktikabel. Und schlechteres Wetter alle Verkehrsträger profitieren, natürlich das Auto als in den bisherigen Corona-Monaten wird ein und selbst der öffentliche Verkehr. Nicht nur die Übriges tun. Straßen füllen sich wieder, sondern auch Bahnhö- fe, Haltestellen, Straßenbahnen, U-Bahnen und Ähnlich oder sogar noch ärger wird es vermutlich Busse. Der Autoverkehr wird sich vermutlich die dem Zwischenhoch ergehen, das der Fußverkehr Freiräume, die er vorübergehend dem Radverkehr verzeichnen konnte. Er stellt eine gute Option in überlassen hat, ganz überwiegend wieder zurück- der Nahmobilität dar, auf die wir uns alle gezwun- holen. Eine Ausnahme bilden möglicherweise genermaßen rückbesinnen durften. Doch sobald wenige städtische Strecken – sofern die Verkehrs- längere Strecken und andere Wegeanlässe wieder lenker vor Ort ihr zwischenzeitlicher Mut, dem zur Regel werden, wird sich auch dies verändern. Fahrrad neue Räume behelfsgestalterisch einzu- Nichtsdestotrotz sollte diese Wiederentdeckung räumen, nicht wieder verlässt. Denn es wird nicht der Stadtgestaltung Ansporn sein, nicht nur dem von alleine besser werden. Das beschriebene Rad—, sondern auch dem Fußverkehr künftig zu nachmittägliche Fahrradhoch hat ohne künftige besseren Bedingungen zu verhelfen. Denn das strukturelle Flankierungen aller Voraussicht nach Zufußgehen haben wir offenbar doch noch nicht keinen Bestand. Allein aufgrund sich verändern- verlernt. Wege pro Tag, ohne Wirtschaftsverkehr, Personen ab 16 Jahren Angaben in Millionen Wegen 50 47 40 42 43 36 30 34 32 27 20 22 18 16 10 11 11 2 6 0 05:00-07:59 08:00-09:59 10:00-12:59 13:00-15:59 16:00-18:59 19:00-21:59 22:00-4:59 Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr MOBICOR MiD MID-Referenzmonat Mai und vorläufige Ergebnisse MOBICOR 2020 / MiD 2017, Personen ab 16 Jahren
15 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Projekt und Methoden sentativen Testsample mit etwa 1.000 Beteiligten. Die auf dieser Grundlage bereits ermittelten Eckwerte Das Forschungsvorhaben „MOBICOR“ wurde vom wie etwa Aktivitätsquoten oder Tagesstrecken ent- Bundesministerium für Forschung und Technologie sprechen in ihrer Ausprägung bekannten Parametern (BMBF) angeregt und wird auch finanziell als ein aus repräsentativen Studien. Die so erfolgte externe Gemeinschaftsunternehmen bestehend aus infas, Validierung über die aus der MiD abgeleiteten Er- MOTIONTAG und Nuts One unterstützt. Gegenstand wartungswerte zu „Normalzeiten“ sprechen für die der Forschung ist es die Beweglichkeit der Gesell- Nutzugsmöglichkeit der Tracking-Ergebnisse. Ab Juni schaft vor, während und nach der Corona Pandemie wird diese Stichprobe erweitert und mit der repräsen- zu vermessen, zu analysieren und hinsichtlich ihrer tativen Befragung verknüpft. In Kürze werden damit Wandelbarkeit zu verstehen. Dabei sollen qualitative, auch für diesen Teil repräsentative Ergebnisse zur quantitative sowie neue digitale Erhebungsmethoden Verfügung stehen. Wichtige Grundprinzipen sind da- eingesetzt werden. bei transparente Information, Freiwilligkeit und eine Auswertung nach den gültigen Datenschutzkriterien, Die Befragungen um die Identifikation von Einzelfällen auszuschließen. MOBICOR ist als Längsschnittbefragung angelegt und Die von MOTIONTAG entwickelte App zeichnet damit ein echtes Panel. In drei Wellen beginnend im Smartphone-basiert Bewegungsdaten auf. Gleich- Mai 2020 sollen zunächst bis zum Jahresanfang in zeitig errechnet sie anhand stetig weiterentwickelter einem repräsentativen Ansatz zufällig ausgewählte Algorithmen weitgehend automatisch und in Echtzeit Bürgerinnen und Bürger telefonisch sowie online die genutzten Verkehrsmittel. Dabei werden zehn befragt werden. Die bundesweite Ausgangsstichprobe Verkehrsmittel unterschieden. Es wird die zurückge- beträgt 1.500 Interviews. Hinzu kommen regionale legte Entfernung bestimmt sowie die Zeit, die man Aufstockungen in einzelnen Bundesländern. Für Hes- dafür benötigt hat. Mit Unterstützung der Probanden sen ist dies mit 1.000 zusätzlichen Interviews bereits ebenfalls möglich ist eine Kategorisierung der Aufent- gestartet. Mit weiteren Ländern sind wir im Gespräch. haltsorte. Hierzu planen wir zurzeit Erweiterungen, Die zugrunde liegenden echten Zufallsstichproben ba- um auch dies in einem höheren Grad zu automatisie- sieren in allen Fällen auf einem Dual-Frame-Verfahren ren und so den Aufwand für die Teilnehmerinnen und im ADM-Ansatz. Grundgesamt ist die deutschsprachi- Teilnehmer zu reduzieren. ge Bevölkerung im Alter ab 16 Jahren. Der Fragebogen orientiert sich an der Vorgehensweise der Studie Wie wir fortfahren „Mobilität in Deutschland“, die infas zusammen mit Partner für das Bundesministerium für Verkehr und In weiteren Schritten werden wir die begonnenen digitale Infrastruktur (BMVI) durchgeführt hat. Damit Analysen vertiefen und das Panel fortführen. Die ist die Anschlussfähigkeit an die Ergebnisse aus dieser Berichterstattung erfolgt kontinuierlich jeweils nach Leitstudie gewährleistet. dem Abschluss einer Erhebungswelle. Unser besonde- res Augenmerk gilt dabei der sozialwissenschaftlichen Die App Perspektive. Bei Bedarf werden wir auch Zwischen- auswertungen auf Basis des Trackings zur Verfügung Zusätzlich setzen wir ab Anfang Juni die Tracking-App stellen. Mobico ein. Für die Monate Januar bis Mai basieren die Tracking-Ergebnisse noch auf einem nicht reprä-
16 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Doch wie steht es um die Perspektiven für Bus Ein Blick in die MiD zeigt, dass rund zwei Drittel und Bahn? Die aktuellen Zahlen legen eine lang- der ÖPNV-Wege von Personen zurückgelegt wer- sam einsetzende Erholung nahe. Allerdings kann den, in deren Haushalt kein Auto zur Verfügung dieses Verkehrssegment bisher weder sein altes steht oder bewusst auf dieses verzichtet wird. Niveau noch seine Anteile wieder erreichen. In Wenn Wege wieder länger werden, Arbeits-, Frei- der Summe liegt es Ende Mai im Bereich seiner zeit- und Versorgungsweg erneut oder weiterhin eigenen 50-Prozent-Marke. Maskenpflicht und anstehen, ist diese Mehrheit zunächst auf die Be- das teilweise längere Zeit eingeschränkte Ange- förderung per Bus oder Bahn angewiesen. bot machen den ÖPNV noch weniger zu einem Vergnügen, als er es für manche seiner Fahrgäs- te schon zu normalen Zeiten gewesen ist. Auch wenn die hergebrachte Bedienungshäufigkeit wieder verfügbar sein wird, bleiben aller Voraus- sicht nach gefühlte Beeinträchtigungen beste- hen. Einerseits. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass viele ÖPNV-Nutzerinnen und Nutzer auf dieses Verkehrsmittel angewiesen sind. Außer-Haus-Anteile im Mai, Personen ab 16 Jahren nach Verkehrsaufkommen pro Tag im Mai absolut, nach Haupt- verschiedenen Altersgruppen verkehrsmitteln, Personen ab 16 Jahren Angaben in Prozent Angaben in Millionen Wegen 90 86 88 90 120 80 85 85 79 78 77 110 70 74 73 100 60 80 50 74 40 60 30 40 45 43 20 20 27 10 23 23 16 10 9 0 0 gesamt 16 -
17 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 AUTO ALS ALTERNATIVE NUMMER 1 ZU BUS verloren. Damit nicht genug: unter den „oberen UND BAHN Zehntausend“ fährt gegenwärtig nach unseren bisherigen Resultaten so gut wie niemand mehr Manche der ehemaligen Fahrgäste werden viel- öffentlich. leicht nach Möglichkeiten suchen, dies zu ver- meiden und sich stattdessen für das Rad oder Allerdings kann sich dies ändern, sobald sich an- vermutlich eher für das eigene Auto entscheiden. dere Lebensverhältnisse ergeben und sich Ar- Andere werden den Weg zum ÖPNV weiterhin auf beitsplätze wieder füllen. Wie gezeigt, wird vielen absehbare Zeit niocht finden. der ehemaligen ÖPNV-Kunden die Möglichkeit auf Auto, Rad oder den Weg zu Fuß auszuweichen, Dies bestätigen auch unsere vorläufigen MOBI- nicht offenstehen – und dies nicht nur aufgrund COR-Befragungsergebnisse. Jeder zehnte Befrag- mangelnder Verfügbarkeit. Auch die mittlere Rei- te gibt an, aktuell den ÖPNV grundsätzlich zu seweite im ÖPNV wird unsere Bereitschaft, diese meiden und stattdessen lieber auf Wege zu ver- Strecken per Fuß oder Rad zu bewältigen, über- zichten. Ein gutes Drittel weicht grundsätzlich strapazieren. auf das Auto aus. Und jede(r) Fünfte schwingt sich lieber auf den Fahrradsattel, als auf Bus oder Für die Branche wäre es jedoch fahrlässig, sich Bahn zu setzen. Zusammen geht der Branche so auf derartige Notwendigkeiten oder das Capti- im Augenblick mehr als die Hälfte der Fahrgäste ve- bzw. Zwangskundendasein vieler Fahrgäste zu Verkehrsaufkommen pro Tag im Mai absolut, nach Hauptwegezweck, Personen ab 16 Jahren Angaben in Millionen Wegen 60 61 50 46 40 41 39 30 35 35 27 27 20 24 15 16 10 3 6 5 0 Arbeit dienstlich Ausbildung Einkauf Erledigung Freizeit Begleitung MOBICOR MiD MID-Referenzmonat Mai und vorläufige Ergebnisse MOBICOR 2020 / MiD 2017, Personen ab 16 Jahren
18 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 verlassen. Notwendig sind vielmehr Initiativen in ist die Kraft bewährter Routinen und manch un- Richtung Schutz, Rücksicht, Abstand — und damit abweisbaren Notwendigkeiten so mächtig, das alles in allem Investitionen in die Aufenthalts- Fahrrad- und Fußgängerplus sich als Strohfeuer qualität. Diese war bisher nicht unbedingt eine entpuppen? Stärke. Dieses Defizit wird aber – von Ausnahmen abgesehen – in den nächsten Monaten und viel- In jedem Fall bleibt für die Verkehrswende viel Ar- leicht sogar darüber hinaus an Bedeutung gewin- beit, in den Städten wie außerhalb der Ballungs- nen. räume. Ihr werden die Erfahrungen während der Corona-Phase nur auf die Sprünge helfen, wenn So verändert der Corona-Einschnitt im besten Fall sich daraus neue Angebotsstrukturen ergeben: die ÖPNV-Landschaft auf bisher kaum gedachte mehr Platz und umgesetze Wertschätzung für Weise. Die Antwort auf die Frage, warum viele den Fuß- und Radverkehr, neue Sorgfalt und Ide- Fahrgäste bisher dessen Produkte genutzt haben, en im öffentlichen Verkehr sowie ein bewussterer ist möglicherweise richtungsweisender als die Umgang mit der Autonutzung. übliche Frage nach den Gründen der Nicht-Nut- zung. Die Erkenntnis, dass die Entscheidung für Was bleiben wird und nicht einzuhegen ist, sind eine Fahrt im ÖPNV mitunter nur Notwendigkeit unsere Mobilitätsbedürfnisse. Auch dies lehrt die ist, könnte Denkräume eröffnen, wie dies zukünf- Krise. Wie eine in Deutschland oft nur partielle tig anders werden könnte. Ausgangssperre offenbar schnell an ihre Grenzen stößt, wenn ihr Anlass vermeintlich verschwindet WÄHREND UND NACH CORONA oder weniger offensichtlich ist, so wird auch un- sere Mobilität im Alltag einer Wohlstandsgesell- Ehrlich gesagt bleibt es auch Ende Mai schwer zu schaft kaum oder nicht reduzierbar sein. sagen: wird die Corona-Krise das Verkehrsgesche- hen länger als nur in einer — ja noch nicht ausge- WISSEN TUT NOT standenen – heißen Phase verändern? Viele An- zeichen sprechen dafür, dass die alte Normalität Wie ausgeführt ist der Pfad aus heutiger Sicht zumindest in Sachen Alltagsmobilität schneller nicht einfach vorherzusagen. Umso mehr kommt wieder tägliche Praxis wird als während des Lock- es nach unserer Überzeugung auf eine gute Da- downs oft unterstellt. Möglicherweise gilt dies tenlage an. Das mit der Förderung durch das jedoch nicht für alle Bevölkerungsgruppen glei- BMBF und der Beteiligung aus einzelnen Bundes- chermaßen. Wer zurzeit über ein Auto verfügt, ländern soeben begonnene neue Projekt MOBI- wird dies voraussichtlich eher mehr als weniger COR soll empirisch abgesichert Antworten geben. nutzen. Und wer sich dies nicht leisten kann, wird weiter auf den ÖPNV angewiesen sein. Wie können wir den Mobilitätsweg in der Abfolge vor, während und nach Corona beschreiben und Muss damit die kaum begonnene Mobilitätswen- was zeigt die sozialwissenschaftliche Messung? de von vorne beginnen und neuen Anlauf neh- Wie unterscheiden sich die Mobilitätswirklichkei- men? Geraten die außerhalb und — nüchtern ten von ärmeren und reicheren Bürgerinnen und betrachtet — selbst innerhalb der Städte zarten Bürgern, wie die in Familien mit Kindern von de- Pflänzchen der neuen Sharing-Kulturen ganz be- nen in anderen Lebenssituationen? Wie zwischen sonders in Mitleidenschaft? Ist der öffentliche Stadt und Land? Wie zwischen Jung und Alt? Wird Verkehr als ihr wichtigster Träger so stark gebeu- das Auto tatsächlich zum Krisengewinnler und telt, dass die Erholungsphase lang sein wird? Und wie ergeht es dem ÖPNV? War das Fahrrad- und
19 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Fußgängerhoch nur der besonderen Situation und WIE ES WEITERGEHT den glücklichen Wetterumständen geschuldet oder gibt es der Verkehrsplanung neue Impulse? Gute Forschung ist also gerade in der Krise ange- Hat es Bürgerinnen und Bürgern Appetit auf mehr bracht. Im Sommer 2020 werden nach dem gerade gemacht? Oder wird im Februar 2021 (2022?) erfolgeten Start des MOBICOR-Panels auf Grund- fast alles wieder so sein wie zu Beginn des Jahres lage der kompletten Stichprobe abgesicherte und 2020? Werden Carsharing, Ridepooling, Scooter nicht nur vorläufige Ergebnisse vorliegen. Danach & Co überleben, vielleicht sogar wachsen? Oder wird das Projekt zunächst mit zwei weiteren Er- verhilft eine mögliche Autoprämie dem Verkehrs- hebungswellen fortgesetzt. Parallel dazu werden träger No. 1 zu noch mehr Rückenwind? Werden wir eine noch größere Tracking-Teilnehmerschaft die Homeoffice-Rechner wieder abgebaut? Wie aufbauen. Und wir werden berichten. Seien Sie wirken sich die vorherzusehenden erheblichen also gespannt auf unseren nächsten Report vor- wirtschaftlichen Einschränkungen aus? Und last aussichtlich im Juli 2020. not least: wie sollte dies alles gestaltet werden?
WER WIR SIND Institut hat sich auf die Erhebung von Primär- daten mittels Methoden der empirischen Sozi- Das verantwortliche Expertenteam ist interdiszi- alforschung spezialisiert — insbesondere in den plinär. Es bündelt alle erforderlichen Kompeten- Bereichen Sozialforschung, Gesundheits- und zen. Seine Zusammenarbeit ist durch zahlreiche Mobilitätsforschung. Es führt Studien mittels gemeinsame Projekte etabliert. aller eingeführten Forschungsmethoden durch. Dazu gehören zahlreiche methodisch anspruchs- MOTIONTAG ist ein in Potsdam ansässiges Unter- volle sozialwissenschaftliche Panels und mit der nehmen, welches Verkehrsunternehmen, Markt- Studie “Mobilität in Deutschland” eine der größ- forschungsunternehmen, wie auch Mobilfunk- ten Mobilitätsstudien weltweit. anbietern dabei hilft, Verkehrsströme mittels Smartphone Apps zu analysieren und zu verste- Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialfor- hen. Wir arbeiten beispielsweise mit der BVG, der schung (WZB) ist einer der größten öffentlich- Deutschen Bahn, den Schweizerischen Bundes- rechtlichen sozialwissenschaftlichen Forschungs- bahnen wie auch der Swisscom zusammen und einrichtungen in Europa und wurde vor 50 Jahren werden unter anderem vom Land Brandenburg gegründet. Seit Januar 2020 arbeitet die neu ein- gefördert. gerichtete Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ unter der Die infas Institut für angewandte Sozialwissen- Leitung von Andreas Knie und Weert Canzler an schaft GmbH ist ein selbstständiges und unab- Analysen zur Transformation der Automobilge- hängiges Institut. infas ist als eines der ersten sellschaft. Forschungsinstitute in Deutschland nach der in- ternationalen Norm ISO 20252:2012 für Markt-, Die Arbeit des Projektteams wird außerdem un- Meinungs- und Sozialforschung zertifiziert. Das terstützt durch infas360 und Nuts One. Kontakt Robert Follmer Stephan Leppler Bereichsleiter Verkehrs- und Regionalforschung, CEO, MotionTag GmbH infas Institut für Tel.: +49 (0)159 0434 84 13 angewandte Sozialwissenschaft GmbH E-Mail: stephan.leppler@motion-tag.com Tel. +49 (0)228 3822-419 Mobil: +49 (0)171 587 55 83 Prof. Andreas Knie E-Mail: r.follmer@infas.de Leitung der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung WZB Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH Tel.: +49 (0) 30 254 91-588 E-Mail: andreas.knie@wzb.eu
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