Zur "orthaften Ortlosigkeit" der Philosophie im post-kolonialen Zeitalter

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Zur "orthaften Ortlosigkeit" der Philosophie im post-kolonialen Zeitalter
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

       Zur „orthaften Ortlosigkeit“ der
       Philosophie im post-kolonialen Zeitalter
        von Ram Adhar Mall

        W
                       ir sind auf dem Wege
                       vom Abendrot der eu-
                       ropäischen Philosophie
                       durch die Dämme-
        rung unserer Zeit zur Morgenröte der
        Weltphilosophie.“ Diese fast prophe-
        tisch klingenden Worte des weltphi-
        losophisch orientierten Karl Jaspers
        mögen manchen ein wenig gestelzt
        erscheinen, aber sie weisen auf die
        Notwendigkeit eines längst fälligen
        weltphilosophischen Diskurses hin.
        Der europäische philosophische Dis-
        kurs ist zweifelsohne ein großartiger
        Diskurs, aber er ist nicht Menschheits-
        diskurs, solange er sich wie bisher eu-
        rozentrisch gestaltet.
           Immer wo und immer wenn Phi-
        losophie konkrete Gestalt gewinnt,
        geschieht dies in einer bestimmten
        Kultur, in einer bestimmten Spra-
        che und an einem bestimmten Ort.
        Dies heißt „Orthaftigkeit” der Philo-
        sophie. Philosophie geht aber in kei-

                                                                                                                                                        Foto: canva.com
        ner bestimmten Sprache, in keiner
        Tradition und an keinem Ort aus-
        schließlich auf, das heißt „Ortlosig-
        keit“ der Philosophie. Wenn es eine       Ibn Sin (latinisiert: Avicenna) lebte – nach dem westlichen Kalender gezählt – vom späten 10. bis
        philosophia perennis gibt, dann gibt      gegen Mitte des 11. Jahrhunderts. Er gilt als aristotelisch-neuplatonischer Philosoph und verfasste
        es sie zumindest im Sinne einer re-       Werke in arabischer und persischer Sprache.
        gulativen Idee, oder im Sinne eines
        Leuchtturms, der alle Philosophien        sieren und in einem Atemzug zu uni-                isch, westlich sein. Selbst großartige
        anzieht, aber in keiner restlos auf-      versalisieren. Dieser selbstverschuldete           Matadore der westlichen Philosophie
        geht. Alle Philosophien der Welt          Anspruch, ein Nebenprodukt im Ge-                  wie Hegel, Husserl, Heidegger, Gada-
        sind daher Kompasse zu diesem ei-         folge des lang andauernden Kolonialis-             mer, um nur einige zu nennen, waren
        nen Leuchtturm.                           mus, war und ist eine Art theoretische             hiervon zutiefst überzeugt.
           Es ist eine hausgemachte, je selbst-   Gewalt, die als Anspruch theoretisch                  Die Rede von der „Macht der bes-
        verschuldete Anmaßung der westlichen      lächerlich sein mag. Aber die tragi-               seren Argumente“ ist zwar rechtens
        Philosophie gewesen, sich zu singulari-   sche Seite besteht darin, dass er sich in          und verständlich, aber sie erlebt ihre
                                                  der Komplizenschaft mit der mehrere                theoretische Grenze dort, wo fast
                                                  Jahrhunderte dauernden kolonialen                  alle Diskursparteien dieses Recht für
                                                  Macht weltweit durchgesetzt hat.                   sich beanspruchen und ihre prakti-
        Der europäische philoso-                     Nicht dass es keine Widerstände                 sche Grenze dort, wo die Argumente
                                                  dagegen gab und gibt, aber die theo-               selbst die Form der Gewalt anneh-
        phische Diskurs ist zwei-                 retisch besseren Argumente konnten                 men. Und genau dies geschah im Na-
        felsohne ein großartiger                  sich gegen die kolonial-imperialisti-              men der „kolonialen Vernunft“ in der
        Diskurs, aber er ist nicht                sche Macht nicht durchsetzen. Kolo-                lang andauernden Zeit des Kolonialis-
                                                  niale europäische Vernunft befreite                mus. Manchmal ist wer es sagt wich-
        der philosophische Diskurs                sich von dem Adjektiv europäisch mit               tiger als was und wie er es sagt. Macht
        der gesamten Menschheit.                  dem selbstverschuldeten Anspruch,                  verkleidet als Argument ist eine Art
                                                  Vernunft ist und kann nur europä-                  philosophische Erbsünde.

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                                             Ferner stellt die interkulturelle
Die interkulturelle Philosophie
und ihrer Aufgabenstellung                Philosophie auch die notwendige Be-
                                          dingung für die Möglichkeit der Dis-
Zunächst zum Begriff der interkul-        ziplin der komparativen Philosophie
turellen Philosophie. Was sie nicht       dar, denn die letztere ist und bleibt
ist: Interkulturelle Philosophie ist      ohne die erstere ein bloßes Nebenei-
nicht ausschließlich der Name einer       nander der Philosophien. Hegel hat
bestimmten philosophischen Kon-           zwar die außereuropäischen Philoso-
vention, einer bestimmten philoso-        phien, Religionen und Kulturen ver-
phischen Disziplin, sei sie europäisch    gleichend dargestellt, und dies ist sehr
oder nicht-europäisch, denn eine sol-     lobenswert, aber das tertium compa-
che Sicht führt zum Kulturalismus,        rationis machte er ausschließlich in
zum Provinzialismus und verhin-           der europäischen Tradition fest. In-
dert einen offenen interkulturel-         terkulturelle Philosophie entwirft ein
len Diskurs im weltphilosophischen        Modell der Philosophie, das die all-
Kontext. Was interkulturelle Philoso-     gemeine Anwendbarkeit des Begriffs
phie ist: Interkulturelle Philosophie     Philosophie bejaht unter legitimer
ist der Name einer proto-methodolo-       Anerkennung der Vielfalt der philo-
gischen, geistigen, philosophischen       sophischen Zentren und Ursprünge.          Prof. Dr. Ram Adhar Mall, Seniorprofessor
Einstellung, Einsicht, Überzeugung,          Jetzt ein Wort zur Aufgabenstel-        am Lehrstuhl für Religionswissenschaft der
Haltung, die alle kulturellen Prägun-     lung der interkulturellen Philosophie:     Universität Jena
gen der einen philosophia perennis        Die Weltgeschichte ist europäische
wie ein Schatten begleitet und ver-       Geschichte, und Hegel legt auch den        die Entdeckung der Sanskrit-Spra-
hindert, dass diese sich in den Stand     Gang der Weltgeschichte vom Ori-           che, der Upanishaden und des Bud-
der Absolutheit setzen. Interkultu-       ent zum Okzident fest. In der Eupho-       dhismus am Ende des 18 und im 19.
relle Philosophie ist nicht so sehr ein   rie der erfolgreichen europäischen         Jahrhundert in Europa. Es wurde so-
Nomen, sondern vielmehr das Verb          Expansion im 18. und 19. Jahrhun-          gar eine Erneuerung Europas durch
„interkulturell philosophieren“.          derts schreibt er: „Mit dem Eintritt       diese Entdeckung Asiens erwartet.
    Die interkulturelle Philosophie       des christlichen Prinzips ist die Erde     Die deutschen Romantiker, die Hegel
stellt weiterhin auch einen Emanzipa-     für den Geist geworden. Die Welt ist       ein Dorn im Auge waren, träumten
tionsprozess dar, wobei festzuhalten      umschifft und für die Europäer ein         von einer solchen Erneuerung Euro-
bleibt, dass es hierbei nicht um eine     Rundes. Was noch nicht von ihnen           pas durch Asien.
                                          beherrscht wird, ist entweder nicht           Der Hauptgrund des Fehlschlags
                                          der Mühe wert oder aber noch be-           besteht für Eliade darin, dass die
                                          stimmt, beherrscht zu werden.“ Jen-        zweite Renaissance im Gegensatz zur
Interkulturelle Philosophie               seits einer philosophischen Kultur         ersten eine Angelegenheit der Ori-
sollte man nicht so sehr                  der Bescheidenheit und Zurückhal-          entalisten blieb und von den Fach-
als ein Nomen gebrauchen,                 tung zeugen diese Worte Hegels von         philosophen, Theologen, Literaten,
                                          einer Art von Borniertheit, Einäugig-      Künstlern und Historikern kaum
sondern vielmehr als Verb                 keit, Beschränktheit und Anmaßung.         beachtet, geschweige denn ernst ge-
und sagen: interkulturell                    In diesem Zusammenhang drängt           nommen wurde. Es ist eigentlich un-
philosophieren.                           sich die Frage auf: Gibt es dann doch      verständlich, ja bedauerlich, dass sich
                                          philosophische Schreibtischtäter, die      an dieser Situation wenig oder gar
                                          für den Rassismus und Kolonialis-          nicht viel geändert hat.
                                          mus mitverantwortlich sind, ohne di-          Sollten wir heute in einer nie da-
Emanzipation im engeren Sinne des         rekt Täter oder Opfer zu sein? Von         gewesenen globalisierten Welt an der
innereuropäischen Denkens im Zeit-        einer Mitverantwortung können sie          Schwelle einer interkulturell einge-
alter der Aufklärung geht, sondern        jedenfalls nicht ganz freigesprochen       leiteten, so möchte ich sie nennen,
um eine Emanzipation des nicht-           werden. Man möchte gern erfahren,          „dritten Renaissance“ stehen (und
und außereuropäischen Denkens von         wie Hegel auf das postkoloniale Zeit-      vieles spricht dafür), so ist dies nicht
seinen Jahrhunderte, ja sogar Jahr-       alter wohl reagiert hätte.                 so sehr das Verdienst der Orientalis-
tausende alten, in Europa entstande-         Mircea Eliade hat die interessante      ten und Ethnologen als vielmehr ein
nen einseitigen, ja manchmal sogar        und heute noch aktuelle Frage aufge-       Ergebnis der historischen Präsenz
falschen Bildern. Die europäische         worfen, wie es dazu kam, dass es dem       der nicht-europäischen Kulturen in
Aufklärung ist zwar eine großartige       asiatischen Geist nicht gelungen ist,      der globalen Situation heute. Sollte
Leistung gewesen, aber sie war janus-     in Europa Fuß zu fassen, so wie es in      dieser dritten Renaissance ein Erfolg
köpfig, denn sie verletzte gerade die     der ersten Renaissance der graeco-la-      beschieden sein, so sind wir alle im
Ideale der Freiheit, Gleichheit und       teinischen Kultur gelungen ist. Eliade     Geiste der Interkulturalität berufen,
Brüderlichkeit im Zeitalter der euro-     spricht von einer „zweiten missglück-      den notwendigen Beitrag unseres je
päischen Kolonialisierung.                ten Renaissance“ und meint damit           eigenen Standorts zu leisten.

                                                                                                            zur debatte 2/2021    7
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                                                           dass die Europäer nicht nur sich selbst           spruch auf den Logos. Diese einseitige
           Zur Konzeption einer „interkul-
                                                           am besten verstehen, sondern auch                 Vereinnahmung des Logos sprach den
           turell orientierten analogischen
           Hermeneutik“                                    die Nicht-Europäer besser verstehen               Barbaren jede Logos-Fähigkeit ab,
                                                           als diese sich selbst. Was für eine her-          denn sie konnten nur stottern, d. h.
           Das Verstehen-Wollen und das Ver-               meneutische Anmaßung! Das postko-                 für die Griechen nur unverständlich
           standen-werden-Wollen gehören zu-               loniale Zeitalter hat es jedoch mit sich          reden. Zea dreht den Spieß um und
           sammen, denn wer nur verstanden                 gebracht, dass Europa heute auch von              fragt: „Wenn der Grieche sich in einer
           werden will, nimmt den Gesprächs-               Nichteuropa interpretiert, kritisiert             anderen Sprache, die nicht die seinige
           partner nicht richtig ernst. Und wer            und auch gewürdigt wird. Dieses In-               ist, auszudrücken hätte, müsste dies
           nur verstehen will, lässt bei sich einen        terpretierbar-geworden-Sein Euro-                 dem Barbaren barbarisch erschei-
           eigenen Standpunkt vermissen. Das               pas durch Nichteuropa ist eine Zäsur              nen, als ein Stammeln, als ein eben-
           heutige reziproke Angesprochen-Sein                                                               falls schlechtes Sprechen. Aber gerade
           der Kulturen, Philosophien, Religionen                                                            dies interessiert nicht den Menschen,
           und der diversen Weltanschauungen                                                                 der die Geschichte macht, interessiert
           ist von ganz anderer Qualität als das           Im Westen glaubte man,                            nicht den Griechen, der sie erzählt.“
           gewesene. Das qualitativ Neue an dem            dass die Europäer nicht nur                       Hat sich an dieser Situation etwas ge-
           heutigen post-kolonialen Angespro-                                                                ändert? Die Antwort könnte eher Jein
           chen-Sein Asiens, Afrikas und Latein-
                                                           sich selbst am besten ver-                        lauten.
           amerikas durch Europa und Europas               stehen, sondern auch alle                             Jenseits einer Identitätshermeneu-
           durch Asien, Afrika und Lateiname-              andern besser verstehen                           tik, die unter Verstehen eine Verdop-
           rika besteht darin, dass die nicht-euro-                                                          pelung des Selbstverstehens versteht,
           päischen Kulturen mit ihren je eigenen
                                                           als diese sich selbst.                            und ebenso jenseits einer radikalen
           Stimmen am heutigen Gespräch betei-                                                               Differenzhermeneutik, die Differenz
           ligt sind. Die Jahrhunderte des Koloni-                                                           viel zu radikal auffasst und Verstehen
           alismus kannten und erlaubten keinen            und überrascht die Europäer mehr                  ob ovo verunmöglicht, vertritt die hier
           Dialog. Meiner kulturtheoretischen              als die Nicht-Europäer, denn Europa               vertretene analogische Hermeneutik
           Herangehensweise liegt eine Ethik der           hat oft im Namen des Dialogs eine                 der Überlappung das Vorhandensein
           Interpretation, ja der Hermeneutik zu-          monologische Hermeneutik betrie-                  kleiner und großer Überlappungen,
           grunde, die Verstehen stets als eine            ben. Heute, im Zeitalter des Postko-              die Verstehen ermöglichen – in voller
           Zwei-Bahn-Straße begreift.                      lonialismus und der Globalisierung,               Anerkennung der Gemeinsamkeiten
               Das heutige post-koloniale Ge-              ist Hermeneutik also keine Einbahn-               und Differenzen.
           spräch führt zu einem vierdimensi-              straße mehr. Unser Philosophieren                     Das interkulturelle hermeneuti-
           onalen hermeneutisch-dialektischen              muss sich heute ent-europäisieren und             sche Subjekt ist kein zweites transzen-
           Dialog: 1. das Selbstverständnis, die           nicht anti-europäisieren.                         dentales Subjekt, denn gerade diesen
           Selbsthermeneutik Europas, 2. das                   Der bekannte lateinamerikani-                 Anspruch erhob das koloniale Sub-
           Fremdverständnis Europas, 3. das                sche Philosoph Leopoldo Zea wirft,                jekt. Das interkulturell orientierte
           Selbstverständnis der nicht-europä-             und dies zu Recht, der griechisch-eu-             hermeneutische Subjekt ist der Name
           ischen Kulturen und 4. das Fremd-               ropäischen Philosophie-Geschichts-                einer höherstufigen reflexiv-medita-
           verständnis der nicht-europäischen              schreibung eine selbstverschuldete                tiven Instanz oder Einstellung. Diese
           Kulturen.                                       Universalisierung des griechischen                befähigt uns, unser Gebunden-Sein
               Europa ist lange, ja viel zu lange          Logos vor und spricht von einem grie-             an den hermeneutischen Zirkel zu
           von der Überzeugung ausgegangen,                chisch-europäischen magistralen An-               durchschauen und auch zu durch-

Die ökonomische Globalisierung und die politische Moral standen             Dr. Gottfried Schweiger von der Universität Salzburg (li.) lud zu seinem
beim Arbeitskreis von Professor Neuhäuser im Vortragssaal im Mittelpunkt.   Arbeitskreis in das Atrium und besprach das Thema Gerechtigkeit.

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Zur "orthaften Ortlosigkeit" der Philosophie im post-kolonialen Zeitalter
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

                                                      Unter philosophischer Optik be-            Interreligiosität ist selbst aber nicht
                                                   deutet interkulturelle Philosophie,        eine bestimmte Religion, der man an-
                                                   dass es falsch ist, die philosophi-        gehören kann. Sie ist eine protoreli-
                                                   sche Wahrheit exklusiv durch eine          giöse Überzeugung, Haltung, die uns
                                                   bestimmte Tradition und eine be-           offen und tolerant macht. Ferner hilft
                                                   stimmte Tradition durch philoso-           sie uns, standhaft gegen Versuchun-
                                                   phische Wahrheit definieren zu             gen des Fundamentalismus jedweder
                                                   wollen. Mutatis mutandis gilt dies         Art zu sein. Die Worte des indischen
                                                   auch für Kulturen und diverse Wel-         Rig Veda „ekam sad, Vipra bahudha
                                                   tanschauungsformen. Gerade diesen          badanti“ (Das Eine Wahre. Die Wei-
                                                   Fehlschritt beging und begeht das          sen benennen es verschieden) und
                                                   westliche Denken, wenn es die west-        „Una religio in rituum varietate“ (wie
                                                   liche Art zu philosophieren zu der         Cusanus es ausdrückte) recht ver-
                                                   einzig richtigen Art deklariert. Dabei     standen, plädieren für eine verbin-
                                                   vergisst das westliche Denken, dass        dend-verbindliche Interreligiosität,
                                                   es das singuläre westliche Denken im       die jeder Religion als eine urreligiöse
                                                   Singular auch zu Hause im Westen           Haltung vorausgeht. Inter-Religiosität
                                                   nie gegeben hat und auch heute nicht       ist selbst keine Religiosität, sondern
Prof. Dr. Franziska Dübgen, Professorin für        gibt. Und ebenso verhält es sich mit       der Name einer Urreligiosität, die
Politische Philosophie und Rechtsphilosophie       den anderen philosophischen Tradi-         alle religiösen Gespräche wie einen
an der Universität Münster, propagierte in ihrem   tionen der Welt.                           Schatten begleitet und verhindert,
Referat den Abschied vom westlichen Fokus.            Unter religiöser Optik ist die Inter-   dass irgendeine geschichtlich gewor-
                                                   religiosität ein anderer Name der In-      dene Religiosität sich in den absoluten
brechen. Alle unsere Auslegungen                   terkulturalität. Auch die eine religio     Stand setzt. Es gibt nicht nur eine sä-
sind angesiedelt zwischen den bei-                 perennis (Hindus mögen sie Sanâtana        kulare, sondern natürlich ebenso eine
den Fiktionen einer totalen Kom-                   dharma nennen) trägt unterschiedli-        sakrale Pluralität.
mensurabilität und einer radikalen                 che theologische Gewänder. Es gibt            Unter der politischen Optik ist die
Inkommensurabilität. Sehr zu Recht                 nicht die eine Religion für die gesamte    Interkulturalität ein anderer Name
heißt es bei Dilthey: „Die Auslegung               Menschheit, hat es auch nie gegeben.       für eine pluralistisch-demokratische
wäre unmöglich, wenn die Lebensäu-                 Es sei denn, man erhebt den An-
ßerungen gänzlich fremd wären. Sie                 spruch, die einzige wahre Religion mit
wäre unnötig, wenn in ihnen nichts                 universeller Geltung zu besitzen. Was      Die argumentative Bekämpfung
fremd wäre.“ Unsere interkulturell                 tun, wenn mehrere Religionen die-
orientierte Überlappungshermeneu-                  sen alleinseligmachenden Anspruch          der theoretischen Gewalt, des
tik ist daher angesiedelt zwischen                 erheben und diesen Anspruch auch           theoretischen Fundamentalismus
der übertriebenen Identitätsthese der              noch durchsetzen wollen? Immer wo          in Lehre und Forschung, ist eine
Moderne und der ebenso übertriebe-                 und immer wenn mehrere Absolut-
nen Differenzthese der Postmoderne.                heitsansprüche aufeinander prallen,        zentrale pädagogische Aufgabe.
                                                   relativieren sie sich gegenseitig.
                                                      Freilich sollte man in einer solchen
Zu den vier Dimensionen der
Interkulturalität                                  Situation und im Geist unserer inter-      Überzeugung, die auch die politische
                                                   kulturell orientierten Interreligiosi-     Wahrheit keiner Gruppe, Klasse, Partei
Interkulturelle Philosophie kennt eine             tät, ja Proto-Religiosität, glauben und    allein zubilligt. Interkulturelle Orien-
vierfache Perspektive: 1. eine philo-              glauben lassen, jenseits eines exklusi-    tierung plädiert daher ebenso für eine
sophische, 2. eine religiöse/ theolo-              ven Universalitätsanspruchs. Ferner        säkulare Pluralität, die auch die politi-
gische, 3. eine politische und 4. eine             mag jeder seine eigene Religion für        sche Weisheit nicht einer einzigen Par-
pädagogische.                                      sich und für die Seinigen als die ein-     tei zuschreibt. Wer nicht so verfährt,
                                                   zig wahre, absolute ansehen. Geben         übt eine Art theoretischer Gewalt aus,
                                                   wir diesem Absolutheitsanspruch den        weil hier schon auf der theoretischen
                                                   Namen „Absolutheit nach innen“. Sie        Ebene alles andere zurückgewiesen
Im Geist einer interkulturell                      gilt jedoch für alle Diskursparteien.      wird. Es gehört zu einem proto-demo-
orientierten Interreligiosität,                    Aber sobald dieser jeweilige „Absolut-     kratischen Ethos, allen theoretisch-po-
                                                   heitsanspruch nach innen“ zu einem         litischen Gewaltformen schon auf der
ja Proto-Religiosität, soll                        „Absolutheitsanspruch nach außen“          Ebene der pädagogischen Erziehung in
man glauben und glauben                            wird, artet er aus in einen Krieg al-      Schulen und Hochschulen zu begeg-
lassen, jenseits eines                             ler gegen alle. Mahatma Gandhi hat         nen. Mit vollem Recht sprach der Jurist
                                                   in diesem Zusammenhang des Öfte-           und Rechtsphilosoph Ernst-Wolf-
exklusiven Universalitäts-                         ren gesagt: „Meine Mutter ist für mich     gang Böckenförde von Voraussetzun-
anspruchs.                                         die schönste und die beste, aber deine     gen eines demokratischen Staates, die
                                                   Mutter für dich ebenso.“                   der Staat selbst nicht hervorbringt.

                                                                                                                    zur debatte 2/2021     9
Zur "orthaften Ortlosigkeit" der Philosophie im post-kolonialen Zeitalter
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                                                                                                           alismus, Imperialismus usw. uni-
                                                                                                           versalisiert hat, aber im Sinne einer
                                                                                                           historischen Kontingenz. Den chi-
                                                                                                           nesischen Philosophen Chuang Tzu
                                                                                                           kontextuell variierend, könnte man
                                                                                                           hier von einer „Brunnenfrosch-Pers-
                                                                                                           pektive“ sprechen, und dies zu Recht.
                                                                                                               Fast alle Bücher über die Geschichte
                                                                                                           der Philosophie in der westlichen He-
                                                                                                           misphäre sind de facto Geschichten
                                                                                                           der europäischen Philosophie, ohne
                                                                                                           sie so zu betiteln. Bertrand Russell ist
                                                                                                           eine seltene Ausnahme, da er seinem
Einer der Arbeitskreise traf sich im Konferenzraum. Prof. Dr. Franziska Dübgen, Rechtsphilosophin an der   Buch die Überschrift gibt: History of
Universität Münster, leitete ihn.                                                                          Western Philosophy. Das Adjektiv „eu-
                                                                                                           ropäisch“ hat sich mit Hilfe außer-phi-
           ­ aher geht eine ethisch-moralische
           D                                                 rechtgelegt, wenn sie die europäische         losophischer Faktoren universalisiert.
           Erziehung der politischen voraus. So              Philosophie als die einzige Philoso-          Diese Faktoren liegen im Wesentli-
           sprach etwa Mahatma Gandhi immer                  phie beweisen wollen. Auf die Frage:          chen in den Machtfaktoren der kolo-
           wieder von der Moralisierung der Po-              Können Nicht-Europäer philoso-                nialen Herrschaft des Westens über
           litik anstelle der Politisierung der Mo-          phisch denken? sagen sie: Ja, aber: Ist       Asien, Afrika und Lateinamerika.
           ral und zählte ‚Politik ohne Moral‘ zu            die außereuropäische Philosophie so               Diese Machtfaktoren wie zum Bei-
           den sieben Todsünden der modernen                 wie die europäische, dann ist sie bloß        spiel kolonialer, kultureller, imperia-
           Menschheit.                                       eine Wiederholung und daher redun-            listischer, ja auch rassistischer Natur
               Die pädagogische Perspektive, in                                                            haben dazu geführt, dass das Adjektiv
           einer Hinsicht sogar die wichtigste, ist                                                        „europäisch“ sich de facto universali-
           der praktische Versuch, die Einsich-                                                            sieren konnte. So ist der Universa-
           ten und Ansichten der drei anderen                Selbst die Idee der                           lisierungsanspruch der westlichen
           Perspektiven in Familie und Gesell-               Vernunft, die die Gründer-                    Philosophie eine historische Kontin-
           schaft, von den Kindergärten bis zur                                                            genz. Daher besitzt die „koloniale
           Universität im Denken und Handeln,
                                                             väter der europäischen                        Vernunft“ eine lange, janusköpfige
           in Lehre und Forschung zu lernen                  Emanzipation ins Zentrum                      Geschichte. Einige der philosophi-
           und lehren. Nur so kann man gegen                 der Überlegungen stellten,                    schen Großmeister des 18. und 19.
           die Fundamentalismen auf jedwedem                                                               Jahrhunderts lieferten den Koloni-
           Gebiet wirken; denn sobald die Fun-
                                                             ist viel zu eurozentrisch.                    alherren intellektuelle, moralische,
           damentalismen die praktisch-poli-                                                               politische, ja sogar auch rassistische
           tische Bühne beherrschen, ist es für                                                            Fundierungen und Rechtfertigun-
           die Pädagogik sehr oft zu spät. Hitlers           dant. Ist sie dagegen nicht so wie die        gen. Selbst die Idee der Vernunft, die
           Buch Mein Kampf zum Beispiel war                  europäische Philosophie, dann ist sie         die Gründerväter der europäischen
           in den Bücherregalen schlimm genug,               keine Philosophie. Sie vergessen da-          Emanzipation vertraten, ist viel zu
           weil es schon voller theoretischer Ge-            bei, dass solche Wenn-Dann-Sätze,             eurozentrisch.
           walt war. Aber die Juden, die Sinti,              wenn sie konditional apriorisch ver-              In der letzten Zeit beschäftigt
           Roma und Andersdenkenden leb-                     fahren, das zu Beweisende schon vo-           mich die folgende Frage sehr: Sind
           ten noch. Nach der Machtergreifung                raussetzen und den logischen Fehler           Menschen von Natur aus gleich und
           wurde aus der theoretischen Gewalt                einer petitio principi begehen. Solche        sollen deshalb als gleich behandelt
           eine praktische. Daher ist, wie oben              Ansichten markieren die Spitze ei-            werden oder sind sie von Natur aus
           erwähnt, eine theoretisch-argumen-                nes Kulturalismus, ja eines Provin-           ungleich und sollen deshalb als un-
           tative Bekämpfung der theoretischen               zialismus, der sich, bedingt durch            gleich behandelt werden oder sol-
           Gewalt, des theoretischen Fundamen-
           talismus in Lehre und Forschung eine
           zentrale pädagogische Aufgabe.
                                                                        Global denken im Online-Teil
           Eine interkulturell orientierte
                                                               Die Dokumentation der Philosophi-           in der globalisierten Welt. Prof. Dr.
           Historiographie der Philosophie
                                                               schen Tage wird im Online-Teil des          Barbara Schellhammer stellt ihre Ge-
           als Kritik, Korrektur und Entwurf
                                                               Heftes vertieft. Sie finden dort von        danken Zum Anspruch des Fremden
           Einige europäische Philosophen ha-                  Seite 65–68 das Referat von Dr.             im Denken von Seite 69–75 vor.
           ben sich ein trickreiches und sogar                 Gottfried Schweiger Gerechtigkeit
           billiges Argumentationsmuster zu-

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Zur "orthaften Ortlosigkeit" der Philosophie im post-kolonialen Zeitalter
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

len alle Menschen im Sinne eines          vielmehr durch seine Überlegenheit
ethisch-moralischen humanistischen        bei der Anwendung von organisierter       Über alle Kulturgrenzen
Ethos gleichbehandelt werden? Ich         Gewalt. Oftmals vergessen Westler         und Traditionen hinweg gibt
tendiere zur letzten Alternative.         diese Tatsache; Nichtwestler verges-
   Hört man dagegen die diesbezüg-        sen sie niemals.“                         es weder eine singuläre
lichen Urteile der Philosophen wie            Es gibt nicht die eine singuläre      Geschichte noch die eine
zum Beispiel Hume, Kant, Hegel, so        Geschichte, auch nicht die eine Ge-       Geschichte der Philosophie.
sieht der Begründungs- und Rechtfer-      schichte der Philosophie. Und dies
tigungsweg anders aus. Die Menschen       gilt für alle philosophischen Traditio-
sind von Natur aus ungleich, daher        nen über die Kulturgrenzen hinaus. Es
müssen sie auch ungleich behandelt        kann mehrere methodische Zugänge          Lösungsansätze in anderen weltphi-
werden. Was für ein schicksalhafter,      zum Thema Historiographie der Phi-        losophischen Traditionen aussehen?
ja geschichtsträchtiger Irrtum, wenn      losophie geben. Und es gibt sie in der    Es zeugt in der Tat von keiner großen
man die Deklaration der Menschen-         Tat. Einige seien hier kurz erwähnt:      akademischen Offenheit, wenn un-
                                          Die chronologische Vorgehensweise         sere Philosophiestudent*innen ihren
                                          ist am meisten vertreten. Es kann fer-    B. A. oder M. A. oder gar ihre Pro-
                                          ner eine systematische Orientierung       motion in Philosophie machen und
Die Fragestellungen der                   geben. Man kann ebenso die verschie-      die Philosophen wie Platon, Aristote-
Philosophen verschiedener                 denen Schulen der Philosophie als ei-     les, Kant, Hume, Hegel, Nietzsche u.a.
Kulturen weisen viel eher                 nen Zugang wählen. Man kann auch          kennen lernen, ohne jedoch jemals die
                                          mit individuellen Philosophen und         Namen der außereuropäischen Philo-
Gemeinsamkeiten auf als                   ihren Philosophien anfangen.              sophen wie Lao Tzu, Konfuzius, Nag-
deren Antworten.                              Zusätzlich zu diesen diversen me-     arjuna, Shankara oder Avicenna und
                                          thodologischen Zugängen gibt es die       Al-Ghazali gehört zu haben. Ähnlich
                                          problemorientierte, themenorien-          verhält es sich, wenn es um philoso-
rechte der UNO-Charta oder den            tierte Historiographie der Philoso-       phische Probleme, Fragestellungen,
ersten und dritten Artikel des Grund-     phie, die ich vorziehe, weil sie uns      Systeme und dergleichen geht.
gesetzes liest. Ob die Menschen von       erlaubt, die philosophischen Themen,         Was wir heute dringend brauchen,
Natur aus gleich sind oder nicht, darü-   Fragestellungen und Lösungsansätze        ist eine nicht-eurozentrische (nicht
ber streiten heute noch Rechtsgelehrte    im Geiste einer interkulturellen phi-     aber eine anti-eurozentrische) Vor-
und Philosophen mit unterschiedli-        losophischen Orientierung zu stellen      gehensweise um die philosophischen
chen metaphysischen, ontologischen,       und diese im weltphilosophischen          Themen im Geiste einer interkultu-
ja ideologischen Konzeptionen über        Kontext zu diskutieren. Philosophi-       rellen Orientierung zu diskutieren.
die Natur des Menschen. Ohne auf          sche Fragestellungen weisen eher eine     Das Lernen und Lehren der Philoso-
eine konsensuelle Antwort zu warten,      grundsätzlichere Gemeinsamkeit un-        phie im interkulturellen Geist würde
hat für mich die Entscheidung Vor-        ter den Philosophen der Welt auf als      auch bedeuten, dass Student*innen
rang, dass alle Menschen im Geiste        ihre Antworten.                           (und nicht nur die) lernen, dass wir
einer ethisch-moralischen, humanis-                                                 stets philosophischer Argumente be-
tischen, demokratischen Entschei-                                                   dürfen. Aber dies heißt nicht, dass
                                          Ein Vorschlag zur Globalisierung
dung und Gesinnung gleichbehandelt        der interkulturellen Philosophie          diese Argumente von Natur aus für
werden sollen.                            in Lehre und Forschung                    alle überzeugend sein müssen. Die
   Die großartige Ethik Kants, näm-                                                 Argumente sind notwendig, nicht je-
lich der kategorische Imperativ, in       Oft wird, hauptsächlich seitens der       doch unbedingt hinreichend für die
einer seiner Formulierungen lautet:       Philosophie-Studierenden und des
„Handle so, dass du die Menschheit,       Mittelbaus, die Frage gestellt: Wa-
sowohl in deiner Person als in der        rum werden außereuropäische Phi-
Person eines jeden anderen jederzeit      losophien nicht im Curriculum des          PRESSE
zugleich als Zweck, niemals als Mit-      Philosophiestudiums an den west-
tel brauchst.“ Das koloniale Zeital-      lichen Hochschulen angeboten? Ist             Christ in der Gegenwart
ter hat gerade diese Ethik mit Füßen      nicht eine Transformation des philo-       Nr. 49/2020 – Ram Adhar Mall
getreten und Gewalt angewandt. Sa-        sophischen Lehrplans an den Univer-        kommt es darauf an, westliche
muel Huntington, eigentlich ein kno-      sitäten schon längst überfällig? Sind      Denkweisen von ihrem alleinigen
chenharter eurozentrischer Denker         wir nicht der philosophischen Kultur       Geltungsanspruch zu befreien.
par excellence, spricht als ein Real-     zutiefst verpflichtet, Philosophiestu-     Die interkulturelle Philosophie
politiker – und dies ist lobenswert –     dium im Kontext der Weltphiloso-           sieht er weniger als ein in sich ab-
von den unsäglichen Brutalitäten der      phien zu gestalten? Sind nicht höhere      geschlossenes Fach, sondern als
Kolonialzeit. Er schreibt: „Der Wes-      Schulen und Hochschulen grund-             dauernde Kritik an verkrusteten
ten eroberte die Welt nicht durch         sätzlich verpflichtet, den Studieren-      Vorurteilen, von denen man sich
die Überlegenheit seiner Ideen oder       den darüber zu informieren, wie die        befreien solle.
Werte oder seiner Religion, sondern       philosophischen Fragestellungen und

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Zur "orthaften Ortlosigkeit" der Philosophie im post-kolonialen Zeitalter
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

        Überzeugung. Wer philosophische
        Argumente nur dann philosophisch
        sein lassen will, wenn sie überzeugend
        sind, findet sich in einer schwierigen
        Lage, keine Argumente zu finden, die
        alle Philosophen überzeugen.
           Was wir daher heute brauchen, ist
        eine pluralistische Kartographie der
        Philosophiegeschichte. Selbst das oft
        erwähnte Diktum, Philosophie kann
        es nur in einer schriftlichen Tradi-
        tion geben, ist viel zu logozentrisch.
        Hinzukommt, dass Philosophie keine
        Sprache zu ihrer einzigen Mutterspra-
        che macht. Sprache gehört den Men-
        schen, die sie sprechen, und nicht         Professor Michael Reder, der Leiter der Philosophischen Tage, moderierte das Podium mit Professor
        umgekehrt. Es war und ist oft noch         Ram Adhar Mall.
        immer eine europäisch-philosophi-
        sche Einäugigkeit zu meinen, Philo-        Philosophie sei ja nur griechisch-eu-              schreibt Tagore: „Wenn je eine solche
        sophie spreche nur Griechisch und          ropäisch. Die Internationalisierung                Katastrophe über die Menschheit he-
        Deutsch. Mutatis mutandis gilt dies        gerade der Studentenschaft heute hat               reinbrechen sollte, dass eine einzige
        ebenfalls, sollte indische Philosophie     das Philosophieren polyzentrisch ge-               Religion (Kultur, Philosophie, Politik,
        zum Beispiel Sanskrit zur Mutterspra-      macht, und dies ist eine sehr will-                Anm. d. Verf.) alles überschwemmte,
        che der Philosophie deklarieren.           kommene Wende, auch im Sinne der                   dann müsste Gott für eine zweite Ar-
           Unsere interkulturell-philosophi-       interkulturellen Philosophie in Lehre              che Noah sorgen, um seine Geschöpfe
        sche und post-koloniale Perspektive        und Forschung.                                     vor seelischer Vernichtung zu retten.“
        braucht ferner interkulturell orien-                                                          Beide Dichterphilosophen geben uns
        tierte Lehrer oder Forscher. Es kommt                                                         den Ratschlag, unsere gut gemeinte
                                                   Resümee
        einer epistemischen Gewalt gleich,                                                            und verständliche Sehnsucht nach
        wenn unsere Universitäten den gro-         Als Resümee seien hier einige Impera-              Einheit nicht mit der Sucht nach Ein-
        ßen Reichtum der Weltphilosophie in        tive formuliert:                                   heitlichkeit, nach Einförmigkeit zu
        Lehre und Forschung nicht einbauen.           1. Frage nicht, wie Differenzen aus             verwechseln. Diese Ratschläge gelten
        Die westliche politische und episte-       der Welt zu schaffen sind, sondern                 mutatis mutandis für alle Unterneh-
        mische Macht und Dominanz hat mit          wie mit ihnen umzugehen ist. Kon-                  mungen des menschlichen Geistes auf
        Unterstützung der kolonialen Erzie-        sens soll sein, Dissens ist da. Kompro-            jedwedem Gebiet. Pluralismus scheint
        hungsstrategie das koloniale Curricu-      miss scheint der eigentlich gangbare               nicht nur Menschenwille, sondern
                                                   und geeignete Weg zu sein. Interkul-               auch Gotteswille zu sein.
                                                   turelle Orientierung sorgt dafür, dass                Das Projekt Interkulturelle Philoso-
                                                   die Kompromisse - soweit möglich -                 phie zielt so auf einen Paradigmenwech-
        Die westliche Macht und                    nicht faul werden.                                 sel im Diskurs der Weltphilosophien,
        Dominanz hat mit Unter-                       2. Beachte: Nicht die Standpunkt-               Weltkulturen und Weltreligionen und
                                                   haftigkeit ist ein Skandalon, sondern              stellt eigentlich ein Prolegomenon dar.
        stützung der kolonialen                    nur die Verabsolutierung eines be-                 Mein Traum, hoffentlich nicht zu uto-
        Erziehungsstrategie das                    stimmten Standpunktes.                             pisch, ist, dass das Philosophieren im
        koloniale Curriculum                          3. Jede Lesart ist zulässig bis auf             Geiste unserer interkulturellen philo-
                                                   die Lesart, die keine andere neben                 sophischen Orientierung bald der Lei-
        überall institutionalisiert.               sich zulässt.                                      ter der interkulturellen Philosophie
                                                      4. Lerne die Kunst der Gewaltlo-                nicht mehr bedarf. Interkulturelle phi-
                                                   sigkeit zu üben, sowohl im Sinne einer             losophische Orientierung ist daher
        lum überall institutionalisiert. Als die   theoretischen als auch im Sinne einer              nicht nur eine intellektuelle, akade-
        Universität Kalkutta – meine Alma          praktischen Gewalt.                                mische, sondern ebenso eine fächer-
        Mater – in der ersten Hälfte des 19.          Mit den lehrreichen Worten zweier               übergreifende gesamtgesellschaftliche
        Jahrhunderts von der britischen Kolo-      Dichterphilosophen, Hölderlin und                  ethisch-moralische und pädagogische
        nialmacht gegründet wurde, existier-       Tagore, möchte ich schließen. Höl-                 Verpflichtung. Interkulturelle philo-
        ten dort viele Fakultäten so wie sie an    derlin schreibt in einem Brief an He-              sophische Orientierung – so meine
        den Universitäten Cambridge, Ox-           gel: „Einig zu sein, ist göttlich und              feste Überzeugung – ist zwei Dinge
        ford existierten. Indische Philosophie     gut; woher ist die Sucht denn / Un-                in einem: Sie ist Denkweg und Le-
        war jedoch nicht ein Teil des philo-       ter den Menschen, dass nur einer und               bensweg in einem. Erkenntnisgewin-
        sophischen Fachbereichs. Die koloni-       eines nur sei.“ Und in einem Vortrag               nung und Erkenntnisverwirklichung­
        alherrschaftliche Begründung lautete,      zum Parlament der Religionen (1937)                gehören zusammen.

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