Zwei 2015 Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam - Universität Potsdam
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Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam Zwei 2015 SGWRMOPZUMXADSJBKNZEJXBKARUTZCMNBYLFPWSBSJZHCGFABRFTBH F O X C U Q W S J E O W M Q Y U L R U J X B C Q V M R S T H M Y B VA Q P I O U T Q S E F T H U K O W P L I J Z G R D W AY S C F V H N W K M J E B LV V U R S V V T F T O P T F A Q Y B D B T H W B A G U N K S H G K T N V E W E T X Q L I A Z G D T J S S W N V D F S N W C Q V R M R S T H M Y B VA Q P I O U T G Q S E F T H U K O P L X R I I J Z G R D W AY S C G R N E U I G K M A B G S T E N Q I U T O N Y B VA F R J K A E R C F U Q AY V J N W S B G T D F B O N V E W U Z V C X K U C O W R V U B H L A P J B V M Y V X X F Z V V Q Z Q I E I C H V Z O Q B Y F A R E H T K U N X VA D E L E V I U O V N AT B G R K H I K S B S S G N V B K D H S BCODHSBROUNAGTSLHNBGZSUNGHEBUWPIMABGHTDMHVNABCXKIZ M A N H L K I O A G E B VA D S H Z N S U V C L I O P A Q N M Z F C Z S F G F K R N E H A B F U K W S B Y F A F V K H N K R D M J B LV F T J U S S H R Z U C B N M S T V B A W O F B Y F W K M R O V U Z Q A H L P U L K E Z S X R E K U Z G H Z T Y S F R G J H AW C X O U L J K S N W P B D S F T R AV X I K N V H S W G D BQRMVORSKBCYIKWWNBLANGEGUIBCLACIETOETWYNZFGEFBIEKTDOIF G O R S B J I V G D L Q YA U T Z R U M B X G D S B V W B W G C K I W A Q I G U N E S G H W U T L C NAGDFUQWMCVGDUESYHDOPTRGLSBEUFJGXUNEWIHKABCNEUVBPAJEV H A U W E R E N W V G Y C N K W Z LV Z V G O P E R U B C W Q P P N B K M N Q TAY M L R O J P Z U H S RIMXADSJBKWNZEJXKBSDBIOSEKARUTZCMNBYLFPWSBSJZHCGFABRFT B H C F O X C U Q W R P E N V F S N W C Q V M R S T H M Y B VA Q P I O U T Q S E F T H G U K O P L I J Z G R D S W A Y D S C F V H N K M J B LV F S T J S S W H R Z U V C B N M L S T V B A W O F B Y F W K M R O V U Z Q A H L P V U L K E Z D S F T Y R A V X N V H S G D B Q M V O R YA H Z U O B E A Y D LV B V Z I O R E N W U O V C X T R E G F D S H B LT Z N U B A B K N Z E J X B C Q Z U C B N M S T V B A W O F ZEICHEN B Y F W K M R O V U Z Q A H L P U L K E Z T R A V X N V H S G A Y D LV B V Z I O R E N W U O V C X T R FBWNCNWNAOVMBLNVPDNWSNQPAVGHFAUNCMBALUQBA BYUVTGHIHCQKMYVHBRGWOINDVLBACBEOBVNAWPQJCBIHBVA OHTBOEQBVYLKBCQYHAVOVGNBNSKVJBQUVWVMPOQBYCFRDK GBNSZTHZVKBTZNSBCJGREWUVBAKJVBVBSBRTOUBARGXMBBYOH
Die Fotografin zum Thema Zeichen Von Sandra Bartocha stammen das Titel- Ich liebe Natur. Es ist für mich ein absolutes Glücksgefühl, motiv sowie die fünf themengebenden draußen unterwegs zu sein und die Elemente zu spüren. Abbildungen, mit denen die Abschnitte des Als Naturfotografin muss ich auf Zeichen achten – beispiels- Magazins eingeleitet werden. weise auf die Vorzeichen des Wetters, die ideale Aufnahmebe- dingungen für mich schaffen. War die Herbstnacht kalt genug, und ist es am Morgen ausreichend windstill, um die benötigte Nebelsituation im Wald vorzufinden? Was sagen Satellitenbild und Niederschlagsradar? Wird es schöne, lockere Wolken und einen klaren, sonnigen Abend geben, der es mir erlaubt, mit Licht in der Landschaft zu arbeiten? Wenn ich dann in der Natur unterwegs bin, achte ich mehr auf innere Anzeichen. Momente, die mich innehalten lassen, Situationen, die mich faszinieren, weil sie mich ästhetisch und emotional ansprechen. Warum empfinde ich eine Situation als schön, warum spricht sie mich an? Was ist das essenzielle Ele- ment, das es festzuhalten gilt? Daraus entsteht dann die Frage nach der richtigen Technik und Umsetzung, um genau dieses Motiv und diese Stimmung perfekt einzufangen. Das Ergebnis dieses Prozesses dient jedoch nicht der Do- kumentation, sondern ist eine Interpretation der erlebten Szene und bekommt dadurch eine ganz eigene, persönliche Dimension. DIE FOTOGRAFIN Sandra Bartocha ist Naturfotogra- fin und Fachautorin sowie Leiterin von Projektseminaren. Aufgewach- sen in Mecklenburg-Vorpommern, verliebte sie sich in die markante Landschaft der Ostsee, die Wäl- der und Seen dieses einzigartigen Bundeslandes. Bartocha studierte Medien wissenschaft, Anglistik und Erziehungswissen- schaft an der Universität Potsdam. Sie ist Chefredakteu- rin der Zeitschrift »Forum Naturfotografie« und war von 2007 bis 2013 Vizepräsidentin der Gesellschaft Deutscher Tierfotografen. Sandra Bartocha hat erfolgreich an natio- nalen und internationalen Wettbewerben wie dem »Wild- life Photographer of the Year« und den »International Photography Awards« teilgenommen. Sie war beteiligt am Unser Service für Sie: Mit einem paneuropäischen Projekt »Wild Wonders Of Europe«. Seit Smartphone oder einem Tablet- vier Jahren arbeitet sie an einem fotografischen Langzeit- PC und einer kostenlosen App projekt über den Norden Europas – »LYS«. für QR-Codes (z.B. ZBar, QR Code Scanner, QR Droid) können Kontakt Sie weiterführende Links direkt Sandra Bartocha Foto: Bartocha, Sandra scannen. Kiefernring 72 | 14478 Potsdam $ www.bartocha-photography.com g info@bartocha-photography.com 2 Portal Wissen Zwei 2015
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Zeichen haben vielfältige Eingabenstatistiken von Formen. Wir nutzen sie DDR-Bürgern rückblickend oder begegnen ihnen tag- als Vorzeichen der friedlichen täglich in verschiedenen Revolution von 1989 gelesen Bereichen. Sie sind Stellver- werden können. Kollegen treter für Wahrnehmungen vom Institut für Romanistik und Vorstellungen: Ein wiederum untersuchen, was Buchstabe steht für einen die amerikanischen Reise- Laut, ein Wort oder Bild für tagebücher Alexander von eine Vorstellung, eine Note Humboldts auszeichnet, und für einen Ton, eine chemi- Etikettierungen entscheiden schiedener Zeichensysteme die Nachwuchsforscher des sche Formel für einen Stoff, also unter Umständen über beleuchten. Ein eindeutiger Graduiertenkollegs „Wicked ein Grenzstein für einen die Daseinsberechtigung Sinn haftet einem Zeichen Problems, Contested Admi- Gebietsanspruch, ein Bau- des Bezeichneten innerhalb nicht an, er wird kulturell nistrations“ nehmen gezielt werk für eine Ideologie, eine eines Wirklichkeitsaus- und durch die jeweiligen Probleme in den Blick, bei Geste für einen Hinweis schnitts und über die Art soziökonomischen Rahmen- denen Verwaltungen vor oder eine Bewertung usw. dieses Daseins. bedingungen des entschlüs- übergroßen Fragezeichen zu selnden Individuums mit- stehen scheinen. Dass Wis- Einerseits erschließen wir Über Zeichen wird bereits geprägt. Gesellschaftspoli- senschaft dazu beitragen uns mit Zeichen die Welt, seit der Antike nachgedacht, tische und soziokulturelle kann, Zeichen zu setzen, will eignen sie uns an, richten zunächst vor allem in der Entwicklungen wirken sich ein Projekt zur Förderung uns in ihr ein und stellen Philosophie. Jede Epoche daher auf die Zeichenverar- nachhaltigen Konsums uns in ihr mittels Zeichen- hat ihre Theorien von beitung aus. beweisen. Eine Initiative setzung dar. Anderseits Zeichen hervorgebracht, von Historikern, die bran- wird diese Bezugnahme auf um sich ihrem Wesen zu Sich mit Zeichen und Zei- denburgische Städte bei der Welt und uns selbst durch nähern. Heute befasst sich chensystemen zu befassen, Vermittlung der Geschichte unsere Zeichensysteme insbesondere die Semiotik mit ihrer Zirkulation und der Reformation unterstüt- sichtbar. Als Ausdruck eines mit ihnen. Während sich dem dabei zu beobachten- zen zeigt, dass zwischen spezifischen Umgangs mit die Linguistik auf sprachli- den wechselseitigen Spiel Wissenschaft auf der einen Natur, Umwelt und Mit- che Zeichen konzentriert, mit Formen und Deutungs- und Zeichen und Wundern mensch geben sie Auskunft widmet sich die Semiotik möglichkeiten, ist daher im auf der anderen Seite kei- über Welt- und Menschen- allen Zeichenarten und dem Hinblick auf soziokulturelle ne unüberbrückbare Kluft bilder einer Gesellschaft Zusammenspiel der Kom- Verständigungsprozesse besteht. oder Epoche, über ihre ponenten und Prozesse, die unserer zunehmend hete- sozialen Ordnungen oder an ihrer Vermittlung beteiligt rogenen Gesellschaft eine Ich wünsche Ihnen eine ethnischen Abgrenzungen. sind. Sie hat dafür Modelle, dringliche und richtungs- anregende Lektüre! Methoden und Konzepte weisende Aufgabe, um Als ein vom Menschen entwickelt. Mit den Konzep- Kommunikation zu opti- geschaffenes Netzwerk ten der Semiose sowie der mieren und interkulturelles von Bedeutungen können Semiosphäre beispielsweise Verständnis zu befördern, Zeichensysteme verändert lassen sich der Prozess der gesellschaftliche Entwicklun- PROF. DR. EVA KIMMINICH werden und mit ihnen auch Zeichenverarbeitung, d.h. gen zu erkennen, zu nutzen PROFESSORIN Welt- und Menschenbilder. der Sinnkonstruktion, bzw. oder aufzufangen. FÜR KULTUREN Auf sprachlicher Ebene kann das Zusammenwirken ver- ROMANISCHER LÄNDER dies beispielsweise durch Die Beiträge in diesem Heft eine wertende Vorsilbe zeigen, auf welch vielfältige geschehen: Kraut – Unkraut, Weise Wissenschaft mit Foto: Kimminich, Prof. Dr. Eva Mensch – Unmensch, Zeichen, ihrer Erforschung, Sinn – Unsinn, oder durch Deutung und Erklärung hierarchisierende Begriffe befasst ist. So beschäftigen wie Ober- und Unterschicht. sich Potsdamer Sozial- Die Konsequenzen solcher wissenschaftler damit, ob Portal Wissen Zwei 2015 3
Inhalt Vorzeichen Signale erkennen, Folgen abschätzen, Ursachen ermit- teln – Vorzeichen zu deuten, ist für Forscher ein weites, aber wichtiges Feld. So untersuchen Potsdamer Wis- senschaftler die Gefahren von frei werdendem Kohlen- stoff im sibirischen Permafrost, identifizieren anhand jahrhundertealter DNA den englischen König Richard III. und spüren der Entwicklung des Völkerrechts im glo- balen Wandel nach. Ein sozialwissenschaftliches Vorha- ben widmet sich der Frage, ob Eingabenstatistiken von 6 DDR-Bürgern rückblickend als Vorzeichen der friedlichen Revolution von 1989 gelesen werden können. Der wahre Richard III. ������������������������������������ 8 Spontane Revolution oder lange Wende?�����12 Auf dem Weg zu einer regelgestüzten und wertorientierten Weltgemeinschaft? �������������17 26 Perlen der Wissenschaft�������������������������������� 20 Tauwetter im Permafrost������������������������������ 22 Ausgezeichnet Das Ausgezeichnete zu verstehen, um davon zu lernen, ist wesentlicher Antrieb von Wissenschaft. Ein Projekt am Institut für Romanistik etwa untersucht, was die ame- rikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts besonders macht, während Sportwissenschaftler ein bestmögliches Krafttraining für Nachwuchssportler erar- beiten wollen. Was europäische Wohlfahrtsstaaten aus- zeichnet, erforscht ein europäisches Gemeinschaftspro- jekt, die besondere Geschichte der Hochpleateaus im Skandinavischen Gebirge ein australischer Geologe, der in Potsdam zu Gast ist. Lebenszeichen hinterlassen�������������������������� 28 Mehr als Hanteln, Schweiß und Muskelberge�������������������������������������������32 Auf den Hochplateaus zu Hause�������������������37 44 Zwischen demokratischer Verantwortlichkeit und ökonomischer Modernisierung�������������41 Fragezeichen Fragen sind der Anfang von Forschung, Motor aller wissenschaftlichen Arbeit. Wir fragen mit: Wie finden Nilhechte ihre Partner? Was macht gute Physiklehrerin- nen und -lehrer aus? Wie wechseln wir die Perspektive im Gespräch? Warum macht Arbeitslosigkeit krank – und was hilft dagegen? Übergroße Fragezeichen wiederum interessieren die Nachwuchsforscher des Graduierten- kollegs „WIPCAD“, in dem sie untersuchen, wie Verwal- tungen vertrackte Probleme angehen. Elektrischer Code für den Partner����������������46 Ich sehe was, was du nicht siehst����������������49 ProblemKomplex �������������������������������������������52 Das Geheimnis der lehrenden Profession��� 56 Wenn Arbeitslosigkeit krank macht�������������� 59
Zeichensetzung Das Bild weltferner Wissenschaft im Elfenbeinturm ist längst widerlegt. Wissenschaft kann selbst Veränderun- gen anstoßen, Zeichen setzen. So wollen Potsdamer Sozialwissenschaftler Jugendliche für ein nachhaltiges Konsumverhalten sensibilisieren, während Forscher vom Moses Mendelssohn Zentrum Mordfälle auf rechtsextre- mistische Hintergründe durchleuchten und Gesundheits- wissenschaftler telemedizinische Rehaprogramme erar- beiten. Ein Team von Biologen wiederum forscht daran, 62 Nutzpflanzen widerstandsfähiger zu machen, ein anderes entwickelt eine Methode, um Antikörper schneller als bisher – und nur mithilfe von Zellkulturen – herzustellen. Verzichten statt vernichten, teilen statt besitzen �������������������������������������� 64 Kamel statt Maus������������������������������������������ 67 Politischer als gedacht���������������������������������� 70 Fit vor dem Bildschirm�����������������������������������73 Die Genom-Analysten ���������������������������������� 76 Zeichen und Wunder Dass zwischen Wissenschaft auf der einen und Zeichen und Wundern auf der anderen Seite keine unüberbrück- bare Kluft besteht, zeigen die Initiative von Historikern, die brandenburgische Städte bei der Vermittlung der Geschichte der Reformation unterstützen, oder die Begeisterung einer Altphilologin für antike Sprachen und Texte. Keine Berührungsängste haben auch jene Anglis- tik-Studierenden, die zu einer Studienreise nach Südafri- ka aufgebrochen sind und in einem Reisetagebuch davon 80 berichtet haben. Alte Sprachen und die Vorteile der Langsamkeit�������������������������������������������������� 82 Der Außenspiegel�������������������������������������������85 Unterwegs in Südafrika �������������������������������� 86 500 Jahre Reformation����������������������������������96 Impressum com/carmeta 34u.l.; Fotolia.com/Christian Schwier 56; Fotolia. com/danr13 34u.r.; Fotolia.com/Focus Pocus LTD 59; Fotolia.com/ Layout/Gestaltung: unicom-berlin.de Gina Sanders 41; Fotolia.com/Gina Sanders 70; Fotolia.com/ Portal Wissen Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: Marek 32; Fotolia.com/Mopic 52; Fraunhofer-Institut für Offene Das Forschungsmagazin der Universität Potsdam 31. September 2015 Kommunikationssysteme (FOKUS) 73; Fritze, Karla 9, 11(3), 13 ISSN 2194-4237 Formatanzeigen: unicom MediaService, (2), 16M., 16u., 18, 25o., 30o.(2), 31o., 31M., 31u., 33, 34o., 35o. Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im (2), 36o., 36M.o., 43r.o., 43r.M.o., 46, 48o., 48u., 53, 54(3), 61o., Tel.: (030) 509 69 89 -15, Fax: -20 Auftrag des Präsidiums 66u., 67, 68(2), 69(2), 82(2), 84(3), 85(2), 95u., 98r.(2); Hofmann, Gültige Anzeigenpreisliste: Nr. 1 Kristin 88/89, 89u.(2), 90u.; Hölzel, Thomas 76/77, 78(2), 79(4); www.hochschulmedia.de Redaktion: Silke Engel (verantwortlich), Matthias Zimmermann International Court of Justice, Den Haag 17; Kimminich, Prof. Dr. Druck: Brandenburgische Universitätsdruckerei Mitarbeit: Antje Horn-Conrad, Petra Görlich, Heike Kampe, Eva 3; Krawietz, Dr. Marian 15, 16o.(2); Lee, Choonkyu 49; Lima, und Verlagsgesellschaft Potsdam mbh Jana Scholz Raphael 55; MMZ 71; 72u.(2); Peters, Arne 89o.(2), 90/91, 90o., Auflage: 3.000 Exemplare 92/93, 92(4), 94/95, 95o.; PIK 20; pixelio.de/Berthold Bronisz 43l.; Anschrift der Redaktion: pixelio.de/knipseline 57; pixelio.de/Kurt F. Domnik 42; pixelio. Nachdruck gegen Belegexemplar bei Quellen- und Autoren- Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam de/Peter Reinäcker 72o.; pixelio.de/Peter Röhl 64; pixelio.de/S. angabe frei. Tel.: (0331) 977-1675, -1474, -1496 · Fax: (0331) 977-1130 Hofschlaeger 58o.; privat 36M.u., 36u., 43r.M.u.,43u., 51o., 51M.o., E-Mail: presse@uni-potsdam.de 51M., 51M.u., 51u., 58u., 61u., 75(2); Rahmstorf, Prof. Dr. Stefan 21; Fotos/Abbildungen: Schennen, Stephan 22/23, 24, 25M., 25u.; Schmidt, Joana 91M., Archiv der Hansestadt Wismar, Signatur 2.2.1 – 109 12 (2), 14; 91u.; Staatsbibliothek zu Berlin – PK 28(3); Staatsbibliothek zu Banmann, Diana 86/87, 88o., 93(3), 94; Bartocha, Sandra 1, 2, Berlin – PK, Carola Seifert 30/31; Tresp, Uwe 96, 98l.; University of 6/7, 26/27, 44/45, 62/63, 80/81, 100; Brandenburgklinik Berlin- Leicester 8, 10o.(2), 10u.l.; van den Dool, Joos 66o.; Völler, Prof. Brandenburg GmbH 60(2); Coetzee-van Rooy, Prof. Susan 91o.; Dr. Heinz 74; Wikimedia/Bjoertvedt (nach CC BY-SA 3.0) 19; Wiki- Portal Wissen finden Sie online unter Egholm, D.L.. 37, 38, 39, 40; Fotolia.com/Amy_fang 65; Fotolia. media/gemeinfrei 10u.r., 29, 83, 97; XPRAG 50 $ www.uni-potsdam.de/portal
Der wahre Richard III. Was Knochen über Menschen erzählen oder wie Professor Michael Hofreiter die DNA des englischen Königs entschlüsselt Foto: University of Leicester Das Skelett von Richard III. 8 Portal Wissen Zwei 2015
Vo r z e i c h e n Nein, Richard III. hatte keinen Buckel. Lars Eidinger über- Allgemeine Zoologie und Evolutionäre adaptive Geno- treibt. Wenn der Schauspieler in die Rolle des englischen mik das Projekt abschließen, um sich wieder ganz den Königs schlüpft und sich für seine Vorstellungen an der Berliner ausgestorbenen Tieren zuwenden zu können. Schaubühne einen Buckel aufbindet, ist das reines Theater. Schon auf den ersten Blick suggeriert Eidinger so das Böse, das Das Forschungsunternehmen Richard begann für Hof- dem englischen König seit Jahrhunderten immer wieder ange- reiter 2012 mit einem Anruf der Genetikerin Turi King dichtet wird. Ob er tatsächlich diese skrupellose Bestie war, als von der Universität Leicester. „Turi King hatte sich schon die Shakespeare ihn einst in den dunkelsten Farben beschrieb, zuvor bei mir in alter DNA weiterbilden lassen wollen. kann Prof. Michael Hofreiter nicht sagen. Wohl aber, dass Nun erzählte sie mir, dass die ‚Richard III. Society‘ nach dieser Buckel eine klare Überzeichnung ist. „Richard III. hatte den Gebeinen ihres verehrten Königs suche.“ Richard aufgrund einer Skoliose lediglich eine schiefe Schulter. Er war III. gehört zu den wenigen englischen Königen, deren auch nicht dunkelhaarig und dunkeläugig, wie oft dargestellt, Skelette als verschollen galten. Man wusste nur, dass sondern blond und blauäugig.“ er im Franziskanerkloster in Leicester beigesetzt wor- den war. Doch Heinrich VIII. hatte die meisten Klös- Der Potsdamer Wissenschaftler kann es beweisen. Und nicht nur das. Er hat mit seiner 15-köpfigen Arbeitsgrup- pe das Skelett des Königs wissenschaftlich untersucht – ter schleifen lassen, so auch dieses. Immerhin gab es alte Karten, die zu dem einstigen geistlichen Ort führten. „ Das letzte Wort und das verrät neben Alter, Augen- und Haarfarbe auch Über die Klosterfundamente erstreckte konnte nur die mögliche Herz-Kreislaufprobleme, ja selbst die Konsis- tenz des Ohrenschmalzes oder Laktoseverträglichkeit sich inzwischen ein Parkplatz. Dort hob man am 25. August 2012 einen Genetik sprechen. “ können nachgewiesen werden. Die akribisch isolierte schmalen Graben aus und wurde bereits bei der ers- und aufgereinigte DNA, die nun in den Labors auf dem ten Erkundung fündig. „Das war schon verblüffend“, Uni-Campus Golm nach und nach entschlüsselt wird, so Michael Hofreiter. Das freigelegte Skelett sei fast spricht eine unverfälschte Sprache: die des Erbguts des komplett gewesen. „Es fehlten nur die Füße.“ Schnell 1485 auf dem Schlachtfeld von Bosworth gefallenen stellten Wissenschaftler das männliche Geschlecht und obersten englischen Heerführers. In ihren Labors haben das Alter von Mitte 30 fest, und auch die Wunden die Forscher kleine Proben königlicher Knochenteile stimmten mit den Überlieferungen zu Richard über- und Zähne zermahlen, aufgelöst und schließlich das ein: Das Skelett wies insgesamt elf Verletzungen auf, genetische Material herausgefiltert. Am Ende konnten davon neun am Kopf. Alles deutete auf Richard III. hin. sie mit fast hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass es sich bei dem Knochenfund um die Gebeine von Richard Aber das letzte Wort konnte nur die Genetik sprechen. III. handelt. Dazu mussten zuerst noch lebende Nachfahren gesucht werden. Die Ahnenforscher verfolgten zahlreiche Spu- Wie aber kamen die Proben der 2012 in der mittelengli- ren, durchkämmten Kirchenbücher, Heiratsurkunden, schen Stadt Leicester gehobenen königlichen Überreste Grundstückseintragungen, alte Zeitungen – und wurden zur Universität Potsdam? Der leger gekleidete Professor schließlich fündig. Sie ermittelten zwei mütterliche und in Jeans, T-Shirt und Biolatschen, der selbst vier Jahre fünf väterliche Verwandte, die zum Teil gar nichts von in England gearbeitet hat, erzählt von der späten Ber- ihrer adligen Herkunft wussten und bis nach Australien gung Richards. Eine lange Reihe kleiner Tierfiguren auf verstreut waren. seinem Schreibtisch verrät, dass er seine zahlreichen früheren Projekte einem anderen Bereich gewidmet hat. Die Nachbildungen erinnern ihn an seine Forschungen DER WISSENSCHAFTLER über ausgestorbene Mammuts, Höhlenbären, Michael Hofreiter studierte Biologie in Säbelzahntiger oder Wildpferde. Denn die München, promovierte 2002 an der Uni- eigentliche Liebe Hofreiters gehört der versität Leipzig und arbeitete bis 2010 tierischen Artenvielfalt. „Ich halte mich am Max-Planck-Institut für evolutionäre gern von dem stark umkämpften Feld der Anthropologie in Leipzig. Bis 2013 war Humangenetik fern, auch weil die Zahl der Wissenschaftler als Professor für der Kontaminationsquellen mit Evolutionsbiologie und Ökologie an der moderner DNA sehr groß Universität York tätig. Seit 2013 ist er Professor für Allge- ist.“ Doch als ihm die- meine Zoologie/Evolutionäre adaptive Genomik an der ser englische König dazwischen- Universität Potsdam. kam, machte der Forscher eine Aus- nahme. Im Labor wird strengstens darauf Kontakt geachtet, dass alles steril zugeht. Die Mitar- Universität Potsdam beiter bewegen sich zwischen Zentrifugen und Gefrier- Institut für Biochemie und Biologie schränken nur mit Handschuhen, und die sensibelsten Karl-Liebknecht-Str. 24–25 Foto: Fritze, Karla Bereiche dürfen ausschließlich durch eine Sicherheits- 14476 Potsdam schleuse keimfrei betreten werden. Bis Jahresende g michael.hofreiter@uni-potsdam.de will der aus Bayern stammende Professor für Portal Wissen Zwei 2015 9
Vo r z e i c h e n Das Grab Richards III. wurde unter einem Parkplatz gefunden. Richard III. selbst hatte keine lebenden Nachkommen: muss es mindestens in einer der Linien ein „Kuckucks- Seine ehelichen und unehelichen Nachfahren blieben kind“, also das Ergebnis einer außerehelichen Ver- kinderlos. Also setzten die Forscher bei der schwes- bindung, gegeben haben. Die beiden Nachfahren aus terlichen bzw. der ur-ur-großväterlichen Linie an. „Es gibt zwei Regionen im menschlichen Genom, die fast unverändert von Generation zu Generation weiterge- der mütterlichen Linie erwiesen sich dagegen als „echt“. „Dort kommt es natürlich auch seltener zu Kuckucks- „ Wir verfügen inzwischen über die „ Es gibt zwei geben werden. Das ist zum einen die mitochondriale DNA, aus den Mito- chondrien, den Energiequellen in den kindern“, erklärt Hofreiter, „höchs- tens wenn man Babys vertauscht.“ Die Wissenschaftler hatten großes technischen Möglich- keiten, jahrhunder- Regionen im mensch- Zellen. Diese Kraftwerke haben eigene Glück. Sie verfügen inzwischen über lichen Genom, die Gene: von unseren drei Milliarden die technischen Möglichkeiten, jahr- tealte DNA zu ent- fast unverändert wei- Bausteinen etwa 16.000. Sie werden hundertealte DNA zu entschlüsseln, “ schlüsseln. “ über die Eizellen der Mutter weiter- und „öffneten“ genau im richtigen tergegeben werden. gegeben“, erklärt Hofreiter. Die zwei- Moment das richtige Zeitfenster. „In wenigen Jahr- te Region seien die Y-Chromosomen: zehnten wird die Linie Richard III. erloschen sein. Die Diese Geschlechtschromosomen vererbt der Vater an beiden Nachfahren aus mütterlicher Linie haben kei- den Sohn. Bei den sieben aufgespürten Nachfahren nen Nachwuchs.“ erwiesen sich die fünf aus der väterlichen Linie stam- menden als nicht mit Richard III. verwandt. Mit ande- Am 4. Februar 2013 wurde die eindeutige Identifizie- ren Worten: Seit dem gemeinsamen Vorfahren der fünf rung der Gebeine Richard III. in Leicester auf einer und Richard III., seinem Ur-Ur-Großvater Edward III., Pressekonferenz bekannt gegeben. Im Dezember 2014 Die beiden lebenden Nachfahren Richards III. aus der mütterlichen Linie: Wendy Dulig und Michael Ibsen. Bildnis von Richard III., 16. Jahrhundert. Fotos: University of Leicester (3); Wikimedia/gemeinfrei (u.r.) 10 Portal Wissen Zwei 2015
Vo r z e i c h e n Als Genom, auch Erbgut eines Lebewesens oder eines Virus, bezeichnet man die Gesamtheit der materiellen Trä- ger der vererbbaren Informationen einer Zelle bzw. eines Viruspartikels: Chromosomen, Desoxyribonukleinsäure (DNA) bzw. Ribonukleinsäure (RNA) bei RNA-Viren, bei denen RNA anstelle von DNA als Informationsträger dient. Im abstrakten Sinn versteht man darunter auch die Gesamtheit der vererbbaren Informationen. Dank der rasanten Entwicklung moderner Untersuchungsverfah- ren konnten insbesondere in den letzten Jahren große Fortschritte auf dem Gebiet der Genomanalyse gemacht werden. Eine Schätzung ergab, dass etwa 20.000 Wissen- schaftler weltweit allein an der Aufklärung des Genoms des Menschen arbeiten. folgte die Publikation mit den genetischen Fakten, an der – unter der Federführung von Turi King und Mi- chael Hofreiter – insgesamt 18 Autoren beteiligt waren. Gern hätten sie bis zur Neubestattung der Gebeine Ri- chard III. während einer einwöchigen Zeremonie Ende März 2015 in Leicester das ganze Projekt abgeschlos- sen. „Das haben wir leider nicht geschafft. Aber bis Jah- resende möchten wir das komplette Genom analysiert haben – also auch mögliche genetische Defekte“, so Mi- chael Hofreiter. 50.000 Euro sind dafür veranschlagt. „Inzwischen ist die Forschung so weit, dass sich die Kosten solcher Bestimmungen stark reduzieren lassen. Das erste Genom, das aus Fossil genommen wurde, das Neandertaler-Genom, hatte noch ein Budget von fünf Millionen Euro. Das Gleiche können wir heute, nur fünf Jahre später, für 10.000 Euro erledigen. Da wir aber die Qualität wesentlich verbessern wollen, muss man für Richard III. schon rund 50.000 Euro aufwen- den, um ein hochwertiges Genom mit allen möglichen Antworten zu bekommen.“ Das Knochenmehl ist inzwischen weitgehend aufge- braucht. Den Rest gaben die Wissenschaftler nach Leicester zurück, wo es mit den Gebeinen Richards III. DNA-Analyse beigesetzt wurde. Michael Hofreiter konnte bei den im Potsdamer Labor. Feierlichkeiten nicht dabei sein. Aus Zeitgründen. „ Bis Jahresende Gern würde er sich auch Richard III. an der Schaubühne ansehen – trotz wissenschaftlicher Ungenauigkeit. möchten wir das „Doch auch Theater oder Kino sind komplette Genom aktuell abgeschrieben.“ Ebenso wie analysiert haben – das Wave Gothic Treffen zu Pfings- ten in Leipzig, auf das er dieses Jahr also auch mögliche verzichten musste. Fühlt sich Micha- genetische Defekte. “ el Hofreiter auch in der Freizeit zur Vergänglichkeit hingezogen? „Nein“, sagt er fröhlich. Er genieße einfach die Musik und die tolle Atmosphäre in der Stadt, in der er zehn Jahre lang alte DNA erforscht hat. Damals noch im Labor. Heute ist er mit dem Schreiben von Manuskripten und dem Fotos: Fritze, Karla (3) Einwerben finanzieller Mittel ausgelastet. Sein Arbeits- platz ist jetzt der Computer. HEIDI JÄGER Portal Wissen Zwei 2015 11
Vo r z e i c h e n Spontane Revolution oder lange Wende? Was Eingabenstatistiken über das Ende der DDR verraten Eingabenstatistik Fotos: Archiv der Hansestadt Wismar, Signatur 2.2.1 – 109 (2) der Stadt Wismar, 2. Halbjahr 1970. 12
Vo r z e i c h e n Ein grauer Schrank in einem Großraumbüro, angefüllt mit je paarweise stehenden Ordnern. Darüber hängt eine Karte der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die einstigen Kreise sind vielfarbig bunt gekennzeichnet, kleine Pins über das gesamte Gebiet verteilt. Unauffällig, aber was sich dahinter verbirgt, ist durchaus spektakulär. Es ist ein ungeahnter Schatz, den das Team um Prof. Dr. Ulrich Kohler und Dr. Marian Krawietz gehoben hat: Die Ordner enthalten sogenannte Eingabenstatistiken. Hierbei handelt es sich um Auswertungen von offiziellen Beschwerden, Anregungen, aber auch Lobesbriefen, aus nahezu allen Winkeln der DDR – über fast 20 Jahre hinweg von 1970 bis 1989. Mit ihrer Hilfe wollen die Sozialwissenschaftler weitrei- chende Einblicke in die Soziologie des DDR- Alltags erhalten und hoffen, dabei nicht zuletzt eine wichtige Frage beantworten zu können: War die friedliche Revolution von 1989/90 tatsächlich so spontan, wie oft behauptet wird, oder vielleicht eher logische Folge eines langfristigen Niedergangs der DDR und der allmählichen Abkehr der Bürger von ihrem Staat? Wenn Prof. Kohler von „Eingabenstatistiken“ spricht, spürt man seine Begeisterung. Der Profes- sor für Methoden der empirischen Sozialforschung will, wovon andere nur träumen: Aussagen über das „große Ganze“ auf der Grundlage von Analysen tref- fen, die auch tatsächlich dieses Ganze repräsentieren. Das Leben in der DDR beispielsweise. Bislang gibt es derartig umfangreiche und quantitativ ausgerichtete Forschung zum sozialen Wandel in der DDR kaum, vor allem weil – flächendeckend und über einen längeren Zeitraum – keine Daten über das Verhältnis der DDR- Bürger zu ihrem Land verfügbar waren. Das soll sich nun ändern, dank der Untersuchung der Eingabenstatistiken. Projektleiter Dr. Marian Krawietz und Prof. Dr. Ulrich Kohler. Eingaben waren im ostdeutschen Teilstaat der übliche – wenn nicht einzige – Weg für Bürger, mit Verwaltungs- genössischen Erfahrungen der oftmals sehr begrenzten und Regierungsbehörden zu kommunizieren, sich gegen Möglichkeiten zur Partizipation. staatliche Willkür zur Wehr zu setzen und Veränderun- gen anzuregen oder einzufordern. Wie intensiv dieses In- Die gesammelten Eingaben könnten wie ein Spiegel strument genutzt wurde, könnte demnach Rückschlüsse der Verhältnisse in der ostdeutschen Gesellschaft ge- auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat zulassen. lesen werden. So ließe sich beispielsweise schauen, Und darauf, wie sich das Verhältnis wandelte. „Die Ent- wann in welcher Region wie viele Eingaben zur Woh- scheidung, eine Eingabe zu schreiben oder eben nicht zu schreiben, hing von verschiedensten Ursachen ab“, erklärt Ulrich Kohler. Aus soziologischer Sicht lassen nungssituation verfasst wurden – und wie dies etwa mit dem Wohnungsbau und der Bevölkerungsentwicklung vor „ Die gesammelten Eingaben könnten sich diese im Wesentlichen in drei Kategorien zusam- Ort korrelierte. Allein: „Die ‚Grund- menfassen: der Möglichkeit zur Partizipation, also die gesamtheit‘ der in der DDR gemach- wie ein Spiegel der Geschicke der eigenen Gesellschaft aktiv mitzugestalten, ten Originaleingaben, die die Basis für Verhältnisse in der ost- der wahrgenommenen, persönlichen Lebensqualität und eine Stichprobe hätten sein können, der Veränderung von Werten. Das Schreiben einer Ein- existiert nicht mehr“, stellt Kohler fest. deutschen Gesellschaft gabe hing unter anderem davon ab, wie die Menschen die Lebensqualität in ihrem Land einschätzten und vor Sie wurden in der Regel, schon aus Platzgründen, nach wenigen Jahren gelesen werden. “ allem, ob es an etwas mangelte. Da das Schreiben einer vernichtet. „Das stellte uns zunächst vor ein scheinbar Eingabe durchaus mit gewissen Hürden verbunden war, unlösbares Problem. Allerdings fanden wir in der Lite- Fotos: Fritze, Karla (2) reflektieren Eingaben das, was den Menschen besonders ratur immer wieder Hinweise auf Unterlagen, in denen wichtig war. Und über einen längeren Zeitraum betrach- die Eingaben zusammengefasst und ausgewertet wur- tet, zeigen die Eingaben den Wandel des Bedeutsamen. den“, so Kohler. Doch bislang war nicht klar, wo diese Eine durchgängig wichtige Rolle spielten dabei die zeit- zu finden sind. Portal Wissen Zwei 2015 13
Vo r z e i c h e n Da Eingaben in der Regel auf Kreisebene gemacht wurden, war davon auszugehen, dass auch deren „Spu- DAS PROJEKT ren“ in den Nachfolgern der DDR-Kreisarchive lie- „Spontane Revolution oder lange Wende?“ Eine soziolo- gen würden. Doch wo genau? Die Eingabenstatistiken gische Analyse der DDR und ihres Niedergangs auf Basis – möglicherweise ein Schlüssel zu einer quantitativ- von Eingabenstatistiken zwischen 1970 und 1989 empirischen Gesellschaftsanalyse der DDR – fanden Beteiligt: Prof. Dr. Ulrich Kohler (Gesamtprojektleitung), Dr. Ulrich Kohler und der wissenschaftliche Projektleiter Marian Krawietz (wissenschaftlicher Projektleiter), Fabian Dr. Marian Krawietz, keineswegs im ersten Anlauf. An Class (Doktorand), Maximilian Schultz und Sophia Albrecht vielen Stellen habe man vergeblich gesucht, Funde er- (Projektassistenz), Wissenschaftliche Hilfskräfte: Martin wiesen sich als uninteressant oder nicht ausreichend, so Asmus, Isabell Fettweiß, Carolin Höroldt, Felix Huß, Natalia „ Die Statistiken Krawietz. Der entscheidende Tipp kam schließlich aus dem Potsdamer Stadt- archiv: „Es hieß: ‚Schauen Sie doch Schindler, Theresa Schlegel, Andreas Schmidt, Maria Seidel. Laufzeit: 2014–2017 Förderung: Deutsche Forschungs- haben eine ganz mal in diese und jene Provenienz, bei gemeinschaft (DFG) eigene, besondere der Organisations- und Instrukteurs- Qualität. “ abteilung des Rates der Stadt Potsdam, eine zwischen Partei und Verwaltung geschaltete Ebene‘ – und dort, fanden wir dann die $ https://www.uni-potsdam.de/ soziologie-methoden/dfg/einga- ben.html Statistiken“, schildert Krawietz das glückliche Ende der $ https://twitter.com/_re_turn Suche. Stichproben in anderen Kreisarchiven ließen hof- fen, dass solche Statistiken landesweit auf Kreisebene erarbeitet und, was keineswegs trivial ist, an ähnlicher Auf der Grundlage der ersten Funde warben Kohler und Stelle archiviert wurden – und zwar vielerorts seit 1970. Krawietz bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft Fast 20 Jahre lang bildeten sie die Grundlage, auf der (DFG) die Projektmittel ein, um in ostdeutschen Archi- Kreisräte bis zu viermal pro Jahr über die Eingaben – ven die Daten für einen flächendeckenden Korpus von anhand sogenannter Eingabenanalysen – diskutierten. insgesamt rund 200 DDR-Altkreisen zusammenzutra- Heute sind sie beredtes Zeugnis dieser Epoche und, da gen. Im Projektbüro auf dem Campus Griebnitzsee wur- die Eingaben selbst nicht mehr zur Verfügung stehen, den Regale mit besagten grauen Aktenordnern gefüllt. tatsächlich ein „Schatz“, der das Herz empirischer Sozi- Die Karte der ehemaligen DDR kam an die Wand und alwissenschaftler höher schlagen lässt. „Natürlich wäre wurde schon bald bunt. Nur Altkreise, die nicht Bestand- es schön gewesen, die Originaleingaben zu haben“, sagt teil der Stichprobe waren, blieben dabei ohne Farbe. An Ulrich Kohler. „Aber mittlerweile bin ich der Ansicht, immer anderen Orten steckten Pins als Marker für die dass die Statistiken eine ganz eigene, besondere Quali- anzusteuernden Kreisarchive: Greifswald, Schwedt, Aue tät haben.“ – im März 2015 waren bis zu acht studentische Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter im Land unterwegs und stöberten vor Ort mithilfe der dortigen Archivare die Eingabenstatistiken waren nach inhaltlichen Kategorien Ratsprotokolle und darin enthaltenen Statistiken auf. angeordnete statistische Übersichten der an die Verwal- Ausgerüstet mit Fotohandys lichteten sie alle verfügba- tungsorgane der DDR eingegangenen Eingaben. Die Sta- ren Eingabenstatistiken ab, versahen sie mit Metadaten tistiken waren Bestandteil sogenannter Eingabenanalysen, und luden sie direkt in eine Cloud. Vom Fortgang ih- die in den Räten bis zu viermal im Jahr vorgestellt und dis- rer detektivischen Arbeit berichteten sie dabei immer kutiert wurden. Hier: Eingabenstatistik der Stadt Wismar, wieder auf Twitter. Zeitgleich prüften Kollegen in Pots- 2. Halbjahr 1970, Archiv der Hansestadt Wismar, Signatur dam die eingehenden Dokumente: 2.2.1 – 109. Wie vollständig sind die Jahr- gänge? Wurden die richti- gen – jährlichen – Statistiken erfasst oder nur halb- oder vierteljährliche? Umfassen die Statistiken auch tatsächlich die Kreise oder betreffen sie nur Foto: Archiv der Hansestadt Wismar, Signatur 2.2.1 – 109 einzelne Gemeinden? Wo sich Fehlstellen auftaten, informier- ten sie die Feldforscher vor Ort, damit diese „nachjustieren“ und weitere Provenienzen durchse- hen konnten. „Auf diesem Weg entstand eine digitale Datenbank, die über 50 Gigabyte schwer ist und ca. 17.000 Einzeldokumen- te enthält“, umreißt Krawietz den 14
Vo r z e i c h e n Umfang des Projekts. Um dabei die Erhebung von Be- statistische Auswertungen mit der Akten-Signatur in ginn an richtig anzugehen, waren alle Datensammler die entsprechenden Kreis- und Landesarchive fährt, um vorab in Kooperation mit dem Potsdamer Stadtarchiv ge- weitergehende Recherchen – beispielsweise anhand der schult und das Verfahren innerhalb einer Bachelorarbeit schriftlichen Eingabenanalysen – durchzuführen. Das im kleinen Rahmen erprobt und verfeinert worden. „Die verlangt von uns aktuell ein Höchstmaß an Konzentra- Daten können nur so gut sein wie die Entscheidungen, tion und Aufmerksamkeit, nicht zuletzt von den vielen die man am Anfang getroffen hat“, ist sich Ulrich Koh- studentischen Mitarbeitern, die im Projekt beschäftigt ler sicher. „Gute Daten können nur Leute erheben, die sind“, so der Projektleiter. wissen, wonach sie schauen müssen.“ Die Arbeitsgruppe selbst widmet sich nun der Da- Nach und nach füllten Ausdrucke der eingesammelten tenvalidierung. „Wir nehmen unsere Statistiken und Eingabenstatistiken die Ordnerreihen, während par- kombinieren sie – ausgehend von unseren drei Kate- allel am Dateneingabe-Instrument gefeilt wurde. „Die gorien: Partizipation, Lebensqualität und Kunst ist, die sehr heterogenen Dokumente über eine Wertewandel – mit anderen Daten, die wir Dateneingabemaske einzuspeisen und in einen zur DDR haben, also etwa DDR-Volks- maschinenlesbaren Datensatz zu überfüh- zählungen, makro-ökonomische Kenn- ren. Das ist nicht trivial“, erklärt zahlen der deutschen Bun- Krawietz. Deshalb wurde ein desbank oder Statistiken zu Tool entwickelt, das sicherstellt, Migrations- und Ausreisebe- dass die Tabellen aus den Ein- wegungen, Grenzzwischenfäl- gabenstatistiken fehlerfrei len oder Häftlingszahlen“, er- transkribiert werden. Es ver- läutert Kohler. Dieser Schritt soll fügt beispielsweise über eine zeigen, ob die erhobenen Daten automatische Fehlerkontrolle, tatsächlich derart aussagekräftig die nach der Eingabe sämtliche sind, wie die Forscher hoffen. Summen prüft. „Frühe Fehler So wollen sie mit Blick auf lassen sich später ganz schwer die Partizipation prüfen, ob entdecken – und haben fatale Aus- für die DDR das sogenannte wirkungen auf die Ergebnis- Exit-Voice-Modell gilt. Dieses se“, ergänzt Kohler. Zudem geht davon aus, dass Mitglie- hilft das Eingabetool dabei, der von Organisationen zwei die Daten vergleichbar Möglichkeiten haben, auf zu machen, indem Missstände zu reagieren: es ähnliche Katego- durch den Versuch der rien zusammenführt. Einflussnahme, Voice, oder die Beendigung der Nach der Digitali- Mitgliedschaft, Exit. Je lo- sierung und Aufbe- yaler sie zu ihrer Organisa- reitung der Statisti- tion stehen, desto eher wählen sie Voice. ken sollen diese – al- Auf die DDR bezogen, fielen die Eingaben unter ler Voraussicht nach bei der Voice, die (versuchte) Ausreise unter Exit. Der Ab- GESIS -– Leibniz-Institut für Übersicht zur Datenerhebung gleich der Eingabenstatistiken mit Daten zu Exitstrategi- Sozialwissenschaften – veröf- der studentischen Mitarbeiter en, dem Repressionsgrad sowie der sozioökonomischen fentlicht und damit dauerhaft in der dritten Woche. Entwicklung der DDR soll nun zeigen, ob Eingaben anderen Forschern zugänglich ge- tatsächlich als Mittel der Partizipation angesehen und macht werden. „Dass wir die Daten, die wir erheben, eingesetzt wurden – oder eher nicht. Analog dazu wollen offen auf den Tisch legen, ist vielleicht nicht ganz die Forscher klären, ob die Statistiken erkennen lassen, üblich, meines Erachtens aber zwingend notwendig“, sagt Kohler. „Immerhin forschen wir mit öffentlichen Geldern. Und letztlich zeigt es, dass auch das Bereit- dass Eingaben den DDR-Bürgern als Mittel dienten, um sich über die eigene Lebensqualität zu äußern. Etwa über „ Wir nehmen stellen von Datensätzen für die Wissenschaft eigentlich die eigene Wohnung, Gesundheit, Ar- unsere Statistiken eine Forschungsleistung ist.“ Außerdem wolle man mit beit, Kinderbetreuung, soziale Sicher- und kombinieren sie diesem Vorgehen dem interdisziplinären Ansatz des heit, das Angebot an Waren und Diens- mit anderen Daten, Projektes nachkommen und nicht nur Insidern aus den ten oder den Umweltzustand. Eine Sozialwissenschaften, sondern Wissenschaftlern aus dritte Validierungsstudie soll zeigen, die wir zur DDR allen Disziplinen den Datensatz zur Verfügung stellen. ob sich anhand der Eingabenstatistiken “ haben. Foto: Krawietz, Dr. Marian Krawietz zufolge könnten beispielsweise besonders Zeit- ein Wertewandel nachvollziehen lässt historiker auf die Ergebnisse zurückgreifen und davon – weg von materialistischen und hin zu postmaterialisti- profitieren. „Mein Traum ist ein so perfekt aufbereiteter schen Werten, wie er in den 1970er und 1980er Jahren Datensatz, dass ein Wissenschaftler im Anschluss an in der westlichen Hemisphäre verzeichnet wurde. Portal Wissen Zwei 2015 15
Vo r z e i c h e n Schulung der studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Potsdamer Stadtarchiv. Eigentlich seien die Validierungsstudien häufig ein Ma- gabenstatistiken und des SOEP schon einmal räumlich terial, das man hinterher wegwerfe, erklärt Ulrich Koh- zusammenführen. Was dabei herauskommt, wird die ler. „Aber diese könnten auch für sich schon inhaltlich Analyse zeigen. Erste Ergebnisse werden im Frühjahr interessant sein und vielleicht sogar eigene Veröffentli- 2016 erwartet. chungen ergeben.“ Auf jeden Fall entstünden im Laufe der Validierung häufig noch einmal Ideen für die eigent- MATTHIAS ZIMMERMANN „ liche Analyse, die als nächstes ansteht. Im Laufe der Und deren Potenzial scheint gewaltig. Immerhin wollen Kohler und Krawietz Validierung entstehen nichts weniger, als Formen der „Parti- häufig noch einmal zipation, Entwicklungsdynamiken in DIE WISSENSCHAFTLER der Lebensqualität sowie Prozesse des Prof. Dr. Ulrich Kohler studierte Soziolo- Ideen für die eigentli- Wertewandels für die zweite Dekade gie, Geschichte und Rechtswissenschaft che Analyse. “ der DDR zwischen 1970 und 1989 untersuchen“, wie Krawietz erklärt. an der Universität Konstanz sowie Sozi- ologie, Wirtschafts- und Sozialgeschich- Gewissermaßen „Sahnehäubchen“ und auch chronolo- te/Neuere Geschichte und öffentliches gischer Zielpunkt dieser Auswertung ist die Frage, ob Recht an der Universität Mannheim. Seit schon lange vor 1989 „ein ‚Nährboden‘ für Revolution Oktober 2012 ist er Professor für Metho- in der DDR vorhanden war und damit die gesellschafts- den der empirischen Sozialforschung der Wirtschafts- und politischen Veränderungen noch längerfristiger sind als Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. bisher angenommen“, so der Projektleiter. Kontakt Doch der Horizont des Vorhabens ist noch weiter ge- Universität Potsdam steckt. Die ausgewählten DDR-Altkreise, von denen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät die Eingabenstatistiken erhoben wurden, entsprechen August-Bebel-Straße 89 weitgehend dem Erhebungsgebiet der Teilstichprobe 14482 Potsdam C des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP). Bei diesem g ulrich.kohler@uni-potsdam.de handelt es sich um eine repräsentative Wiederho- lungsbefragung von über 12.000 Privathaushalten in Deutschland, die seit 1984 jährlich durchgeführt wird Dr. Marian Krawietz studierte Mittlere und die in Deutschland lebenden Menschen repräsen- und Neuere Geschichte, Soziologie und tieren soll. Die Teilstichprobe C umfasst Ostdeutsch- Osteuropäische Geschichte in Köln und Fotos: Krawietz, Dr. Marian (2, oben); Fritze, Karla (2, Mitte, unten) land und wird seit 1990 erhoben. Da auch die Katego- Bonn. 2010 wurde er mit einer Arbeit rien des SOEP denen gleichen, die für die Auswertung zum Wertewandel in den Transformati- der Eingabenstatistiken erarbeitet wurden, könnten onsländern an der Universität Hannover diese sogar für vergleichende Analysen herangezogen promoviert. Seit April 2012 ist er wissen- werden. Für Krawietz und Kohler eine reizvolle Per- schaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Methoden der spektive: „Eine für uns besonders spannende Frage: Empirischen Sozialforschung an der Universität Potsdam. Lässt sich das, was wir entlang der drei Kategorien aus- Vorher hat er u.a. am Zentrum für Zeithistorische For- werten, eventuell zäsurübergreifend fortschreiben?“, schung in Potsdam gearbeitet. so Krawietz. Kontakt Vorbereitet ist die Projektgruppe jedenfalls: Die paarwei- g marian.krawietz@uni-potsdam.de se sortierten Ordner im Büro sollen die Daten der Ein- 16 Portal Wissen Zwei 2015
Vo r z e i c h e n AUF DEM WEG ZU EINER REGELGESTÜZTEN UND WERTORIENTIERTEN WELTGEMEINSCHAFT? Rechts- und Politikwissenschaftler untersuchen die Rolle des Völkerrechts im globalen Wandel Der UN-Sicherheitsrat, Blauhelm-Friedensmissionen und erste Formen einer internationalen Strafgerichtsbar- keit: sie schienen wie die Vorboten eines internationalen Krisenmanagements innerhalb einer zusammenwach- senden Weltgemeinschaft. Aber gibt es tatsächlich eine Art wertorientierte Verrechtlichung der internationalen Beziehungen? Wächst die Welt zusammen und schafft sie sich eine gemeinsame Völkerrechtsordnung, hinter der alle gleichermaßen stehen? Der Potsdamer Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Andreas Zimmermann will die- ser Frage nachgehen. Und zwar gemeinsam mit Prof. Dr. Heike Krieger von der Freien Universität Berlin und Prof. Dr. Georg Nolte von der Humboldt-Universität zu Berlin in der von der Deutschen Forschungsgemein- schaft (DFG) zunächst bis 2019 finanzierten Kolleg-Forschergruppe „The International Rule of Law – Rise or Decline? – Zur Rolle des Völkerrechts im globalen Wandel“. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Foto: International Court of Justice, Den Haag Portal Wissen Zwei 2015 17
Vo r z e i c h e n „Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 haben alle gedacht: ‚Jetzt wird die Welt neu geordnet‘“, erklärt DAS PROJEKT Andreas Zimmermann. „Bestehende Strukturen der Kolleg-Forschergruppe „The International Rule of Law Völkerrechtsordnung verdichteten sich, neue kamen – Rise or Decline? – Zur Rolle des Völkerrechts im glo- hinzu. Das ‚Haus Europa‘ wuchs, die OSZE wurde ge- balen Wandel“ gründet, die Russische Föderation trat dem Europarat Beteiligt: Prof. Dr. Andreas Zimmermann (Universität bei. Es gab eine intensive Periode des Strukturwandels, Potsdam), Prof. Dr. Heike Krieger (Freie Universität im Bereich der internationalen Sicherheit, aber auch in Berlin), Prof. Dr. Georg Nolte (Humboldt-Universität zu der Wirtschaftsordnung, etwa mit der Gründung der Berlin); Prof. Dr. Markus Jachtenfuchs (Hertie School of Welthandelsorganisation.“ Governance, Prof. Dr. Andrea Liese (Universität Pots- dam), Prof. Dr. Michael Zürn (Wissenschaftszentrum Es schien, als habe sich das Völkerrecht von einer for- Berlin) malen und wertneutralen Ordnung hin zu einer wertge- Finanzierung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bundenen und am Menschen ausgerichteten Ordnung Laufzeit: 2015–2019 entwickelt. Eine Lesart, die in der Völkerrechtswissen- schaft rasch viel Unterstützung fand – und bis heute hat. heute bloße Verzögerungen eines langfristigen wertori- Doch seit einiger Zeit zeigen sich Entwicklungen, die entierten Verrechtlichungsprozesses? Ist das Völkerrecht das Paradigma einer wertgebundenen Verrechtlichung tatsächlich auf dem Weg, zu einem ‚Recht der Weltbevöl- auf globaler Ebene infrage stellen. Dazu gehören zwi- kerung‘ zu werden, oder erlebt es gerade einen empfind- schenstaatliche Krisen, etwa in der Ukraine oder see- lichen Dämpfer oder gar einen Einbruch?“ rechtliche Territorialstreitigkeiten in Ost- und Südostasi- en, die belegen, dass das Denken in geopolitischen Ein- Mit dem Ziel, diese Entwicklung von möglichst vielen „ flussräumen möglicherweise wieder Seiten unter die Lupe zu nehmen, haben die drei betei- Ist das Völkerrecht auf dem Vormarsch ist. Dazu gehört ligten Rechtswissenschaftler von der Uni Potsdam, der aber auch, dass Versuche von Staaten, Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität tatsächlich auf dem drängende globale Aufgaben durch völ- zu Berlin eine Kolleg-Forschergruppe ins Leben geru- Weg, zu einem ‚Recht kerrechtliche Rechtssetzung anzuge- fen, die von der DFG zunächst bis 2019 gefördert wird. hen, immer wieder auf Schwierigkei- Für Zimmermann eine ideale Konstellation: „Natürlich der Weltbevölkerung‘ ten stoßen, etwa im Bereich des Klima- bietet die räumliche Nähe beste Arbeitsvoraussetzun- zu werden? “ schutzes oder des Welthandelssystems. Längst mehrten sich die Stimmen, die gen. Wo sonst kann man mal eben mit der S-Bahn zu einer Kollegin an einer anderen Universität fahren?“, eine „Stagnation des Völkerrechts“ und eine „Rückkehr so der Wissenschaftler. „Vor allem aber versprechen wir der Geopolitik“ vorhersagten, erklärt Zimmermann. uns von einer Arbeitsgruppe, in der drei Leute durch „Angesichts dieser Anzeichen stellen wir uns die Frage: ihr ‚Fernglas‘ auf den gleichen Gegenstand schauen Wird die lange sehr positiv bewertete Entwicklung des und sich darüber austauschen, eine äußerst produktive Völkerrechts durch Reformalisierungs- oder gar Ent- Forschung.“ Zudem teilten die drei eine ähnliche Ein- rechtlichungsprozesse abgelöst? Oder beobachten wir schätzung des Völkerrechts: „Wir beurteilen das, was das Völkerrecht leisten kann und muss, eher konservativ“, so Zimmermann. „Nicht wenige Kollegen in Deutschland DER WISSENSCHAFTLER sehen das meines Erachtens zu idealistisch. Deshalb Prof. Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. soll unsere Untersuchung zeigen, was das Völkerrecht in (Harvard) studierte Rechtswissenschaf- einer veränderten Welt eigentlich wirklich leisten kann.“ ten an der Universität Tübingen, der Université de Droit d'Économie et des Die Gruppe will erkennbare Veränderungsprozesse des Sciences d'Aix-Marseille III sowie an der Völkerrechts und seiner Voraussetzungen in drei zen Harvard Law School. Seit 2009 ist er tralen Bereichen untersuchen: Werten, Strukturen und Professor für Öffentliches Recht, insbe- Institutionen. Dabei ist jeder aus der Forschergruppe für sondere Staatsrecht, Europarecht und Völkerrecht sowie einen der Bereiche federführend. Heike Krieger von der Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht Freien Universität Berlin etwa widmet sich der Frage, an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam und ob anerkannte Grundwerte und Prinzipien der Völker- zugleich Direktor des Potsdamer Menschenrechtszen- rechtsordnung, die bislang jedenfalls im Grundsatz von trums. allen Staaten geteilt werden, in Reinterpretationsprozes- sen ausgehöhlt werden. Dazu gehören die Wahrung des Kontakt Friedens und der Sicherheit, der Schutz grundlegender Universität Potsdam Menschenrechte, der Schutz der Umwelt oder das Ge- Juristische Fakultät waltverbot. So seien etwa China und Russland schon Foto: Fritze, Karla Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam seit Längerem darum bemüht, traditionelle Werte – wie g schiller@uni-potsdam.de den Schutz der Familie oder der Religion – gegenüber klassischen Freiheitsrechten zu stärken. 18 Portal Wissen Zwei 2015
Vo r z e i c h e n Doch es gebe eben auch Anzeichen dafür, dass sich Den skizzierten Verdichtungsprozess rechtsstaatlicher jedenfalls bestimmte Staaten von dieser Art gerichtli- Strukturen – auf nationaler wie internationaler Ebene cher Streitbeilegung abwenden. Während das früher – seit 1990 kann man in einem modernen Begriff der eher die deutliche Ausnahme gewesen sei, gebe es „Rule of Law“ zusammenfassen. Dieser stammt aus der inzwischen immer mehr Akteure, die eine Gerichts- angelsächsisch geprägten internationalen Rechtspraxis. Er barkeit nicht anerkennen, der sie formal eigentlich enthält eine stärkere Betonung des Befolgungsanspruchs unterworfen sind. So ist etwa die Russische Föderation und verweist auf dichtere Rechtsvorstellungen in maß- zum Prozess vor dem Internationalen Seegerichtshof geblichen innerstaatlichen Rechtsordnungen. Der Begriff über die Festsetzung des Greenpeace-Schiffs ‚Arctic lässt offen, stellt aber auch die Frage, ob das anwendbare Sunrise‘ 2013 einfach nicht erschienen. Gleiches gilt und das anzustrebende Recht nicht nur formal genü- gend bestimmt ist und in geregelten Verfahren zustande kommt, sondern ob es auch inhaltlichen Ansprüchen, für China in einem Streitfall mit den Philippinen über Hoheitsrechte im Südchinesischen Meer. „Man hat „ Man hat immer gesagt: Die inter- insbesondere Fairness- und Gerechtigkeitsansprüchen, immer gesagt: Die internationale Ge- genügen muss. richtsbarkeit bildet den Schlussstein nationale Gerichts- des Völkerrechts. Und nun bricht barkeit bildet den das an verschiedenen Stellen schein- Georg Nolte von der Humboldt-Universität zu Berlin bar weg.“ Zimmermann untersucht Schlussstein des wiederum betrachtet den Wandel internationaler Struk- turen völkerrechtlicher Ausprägung. So gebe es, wie nun, welche Rolle internationale Ge- richte unter den gegenwärtigen Rah- Völkerrechts. “ Zimmermann erklärt, anders als noch vor einigen Jah- menbedingungen dennoch einnehmen und beanspru- ren inzwischen weniger „harte normative Ordnungen chen können. Dies führt ihn tief in die Rechtspraxis: und dafür mehr informelle Absprachen zwischen ein- Welche neuen Institutionen hat es gegeben – und wer zelnen Staaten. Wir wollen klären, ob dieses Vorgehen hat sich an deren Entscheidungen gehalten? Welche das Völkerrecht und seine vertraglichen Instrumente Verfahren wurden mit welchem Ergebnis geführt? Wie infrage stellt.“ reagierten Prozessbeteiligte auf Urteile: Nahmen sie diese an, auch wenn sie beispielsweise ihre innerstaat- Andreas Zimmermann selbst untersucht die Entwick- lichen Verfassungen infrage stellten? Auf diese Weise lung und den Stand des Völkerrechts anhand „seiner“ will der Rechtswissenschaftler schließlich klären, wel- Institutionen, allen voran dem Europäischen Gerichts- che Gerichte unter den neuen Bedingungen tatsächlich hof für Menschenrechte in Straßburg. Die wachsende funktionieren. Zahl internationaler Organisationen und Gerichte und deren ausgreifende Praxis seien häufig als ein Beleg Besonders wichtig ist Andreas Zimmermann und für einen Reifungsprozess des Völkerrechts in- seinen Kollegen dabei der Austausch mit anderen terpretiert worden, erklärt der Jurist. Disziplinen. Nicht umsonst sind neben Rechts- auch Politikwissenschaftler an dem Vorhaben beteiligt. Da- zu zählen die Potsdamer Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Andrea Liese, Prof. Dr. Markus Jachtenfuchs von der Hertie School of Governance und Prof. Dr. Micha- el Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin. Mit ihrer Hilfe sollen gegenwärtige Entwicklungen in den inter- nationalen Beziehungen nicht nur aus unterschiedli- chen völkerrechtlichen, sondern zugleich politikwis- senschaftlichen und möglichst auch historischen Per- spektiven beleuchtet werden. „Um zu prüfen, ob das Völkerrecht eigentlich effektiv ist, müssen wir natürlich auch eine Art ‚Realitätscheck‘ durchführen“, sagt Zim- mermann. „Und das kann die Politikwissenschaft weit besser als wir, da unser Blick doch eher normativ ist.“ Zudem holt sich das Kolleg in Form sogenannter „Se- nior Fellows“ immer wieder Experten aus anderen Foto: Wikimedia/Bjoertvedt (nach CC BY-SA 3.0) Das Greenpeace-Schiff „Arctic Sunrise“. Ländern „an Bord“, um einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen. So sind schon Forschungsaufenthalte von Fachkollegen aus China, Südafrika und den USA ge- plant. Schließlich ist das Völkerrecht eine internationale Angelegenheit. MATTHIAS ZIMMERMANN Portal Wissen Zwei 2015 19
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