Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust - Psychologische und philosophische Erkenntnisse zum Konflikt zwischen Impuls und Selbstkontrolle

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Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 32 (4), 307–314,
Sonderdruck aus:                                 Psychologische
                                                     Impuls undRundschau,
                                                                  Selbstkontrolle
                                                                              62 (3), 147–166 © Hogrefe Verlag Göttingen 2011
                                                                                                                            147

                                           Zwei Seelen wohnen, ach,
                                                     in meiner Brust
 Psychologische und philosophische Erkenntnisse zum
         Konflikt zwischen Impuls und Selbstkontrolle
                                 Wilhelm Hofmann, Malte Friese, Jörn Müller und Fritz Strack

        Zusammenfassung. Bereits die antike Philosophie hat sich mit der Frage beschäftigt, warum Menschen zuweilen wider
        besseres Wissen den kurzfristigen Verlockungen des Augenblicks nachgeben und damit wichtigen langfristigen Zielen zuwider
        handeln. In der modernen Psychologie wird das Problem der Selbstkontrolle in einer ganzen Reihe von Ansätzen aufgegriffen,
        darunter kybernetische Modelle, intertemporale Entscheidungsmodelle, Zielintentions-Modelle, Zielkonflikt-Modelle, und
        Zweisystem-Modelle. Zweisystem-Modelle scheinen sich von den übrigen Ansätzen dadurch abzuheben, dass sie impulsive
        Prozesse der Verhaltensdetermination explizit thematisieren und in Erklärungsmodelle menschlichen Verhaltens integrieren.
        Wir berichten jüngere empirische Befunde, die aus einem solchen Ansatz erwachsen sind und diskutieren die Vorteile und
        Grenzen einer Zweisystem-Modellierung von Selbstkontrollkonflikten aus grundlagen- und anwendungsorientierter Sicht.
        Schlüsselwörter: Selbstkontrolle, Willensschwäche, Impulsivität, Zweisystem-Modelle, Selbstregulation

        Two souls live in my breast. Psychological and philosophical considerations concerning the conflict between impulses and self-
        control

        Abstract. Ancient philosophers already wondered why people sometimes act against their better judgment. That is, why do
        people yield to immediate short-term temptations even though they know that it will be detrimental to the pursuit of their
        long-term goals? Modern psychology has tackled the self-control problem from a variety of perspectives, such as cybernetic
        models, models of inter-temporal choice, goal-intention models, goal-conflict models, and dual-system models. One advan-
        tage of dual-system models seems to be that these models explicitly integrate impulsive processes of behavior determination
        into their theoretical architecture. We report a program of empirical research which has emanated from a dual-system
        approach and discuss the benefits and limitations of such an approach for basic and applied research.
        Key words: self-control, weakness of will, impulsivity, dual-system models, self-regulation

                           Schon oft bedachte ich in langer Nacht,         getrunken nach Hause zu fahren. (3) Eheleute, die ihrem
                      was unsern Menschenverstand so verdirbt,             Partner treu sein wollen, finden sich plötzlich in einem frem-
                           und ich erkannte: nicht der Unverstand          den Bett wieder. Die Liste ließe sich fortsetzen, das Pro-
                 ist Wurzel allen Übels – an der Einsicht fehlt’s
                 den meisten nicht, ganz anders liegt der Grund:           blem ist deutlich geworden: Menschliches Verhalten steht
                         Was recht ist, sehen wir und wissen wir           häufig im Spannungsfeld zwischen zwei sich widerspre-
                        und tun es doch nicht, sei’s aus Trägheit,         chenden Verhaltensmöglichkeiten. Die eine verkörpert
                     sei’s weil die Lust des schönen Augenblicks           das, was wir langfristig für gut und vernünftig halten. Die
                                         das gute Werk verdrängt.          andere das, was uns im jeweiligen Moment Spaß macht.
                           Euripides, Hippolytos (Z. 375–383a)             Weil aber die hedonische Alternative mit einem unmittel-
                                                                           baren Handlungsimpuls verknüpft ist, erfordert die Durch-
Die Problemstellung dieses Beitrags ist alt: Wie kommt es                  setzung der „vernünftigen“ Alternative ein beträchtliches
dazu, dass Menschen den Verlockungen des Augenblicks                       Maß an Selbstkontrolle. Die damit bezeichnete Fähigkeit,
nachgeben und ihren eigenen Langzeitinteressen zuwider                     kurzfristige Impulse zu inhibieren, um langfristige Ziele zu
handeln? Drei Beispiele aus dem (modernen) alltäglichen                    verwirklichen, ist jedoch manchmal nicht stark genug oder
Leben: (1) Trotz aller guten Vorsätze kommt es vor, dass                   versagt ganz – mit möglicherweise verhängnisvollen Kon-
Diäthaltende ihr tägliches Kalorienziel um Kuchenlänge                     sequenzen für den Akteur und betroffene Beteiligte.
verfehlen. (2) Motorisierte Partybesucher, die nüchtern                        Das Ziel dieses Beitrages ist es, das Problem der
bleiben wollten, sehen sich am Ende des Abends dann                        Selbstkontrolle aus unterschiedlichen Sichtweisen zu be-
doch gezwungen, ihr Auto stehen zu lassen oder gar an-                     handeln. Zunächst möchten wir den größeren ideenge-
                                                                           schichtlichen Rahmen innerhalb der philosophischen und
                                                                           psychologischen Diskussion aufzeigen. Dann geben wir
    Diese Arbeit wurde durch eine Sachbeihilfe der Deutschen For-
schungsgemeinschaft an den Erstautor gefördert (Hofm 4175/3-1).
                                                                           einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Theo-
Die Arbeit wurde am 1.2.2010 zum Druck angenommen. Der Erst-               rien und der empirischen Forschung zur Selbstkontrolle.
autor ist mittlerweile an der University of Chicago tätig.                 Dabei gelangen wir zu der Schlussfolgerung, dass die Pro-
DOI: 10.1026/0033-3042/a000086
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zesse impulsiver Verhaltensdetermination in den meisten          mit in Gestalt eines „praktischen Syllogismus“ ein erstes
theoretischen Ansätzen unterrepräsentiert sind und damit         kognitives Modell motivierten Schlussfolgerns. Er stimmt
eine wichtige Determinante selbstkontrollierten Verhal-          mit Sokrates im Prinzip überein, dass bei der Willens-
tens vernachlässigt wird. Schließlich versuchen wir eine         schwäche eine Art kognitiver Defekt vorliegt. Er unter-
Integration auf der Basis sogenannter Zweisystem-Mo-             scheidet sich aber von ihm in der Auffassung, dass dem
delle menschlicher Informationsverarbeitung, die impulsi-        Akratiker nicht das Prinzipienwissen selbst fehle, sondern
ve und reflektive Prozesse gleichermaßen berücksichti-           dessen korrekte Anwendung unter dem Druck der Leiden-
gen. Dabei stellen wir aktuelle empirische Arbeiten zur          schaften misslinge. Diese Art von „Wissen“ sei letztlich
Verhaltensvorhersage selbstkontrollierten Verhaltens vor,        so wenig mit dem Ethos des Menschen „verwachsen“, wie
die mit einer solchen Zweisystem-Sichtweise kompatibel           die Worte eines Schauspielers dessen Meinung aus-
sind, integrieren diese Befunde in ein Arbeitsmodell und         drückten. Das Heilmittel gegen Akrasie liegt deshalb nach
diskutieren abschließend mögliche Ansatzpunkte für die           Aristoteles sowohl in der Ausbildung fester kognitiver
zukünftige Selbstkontrollforschung.                              Strukturen als auch in einer affektiven Selbstregulierung.
                                                                     Sokrates und Aristoteles vertreten beide eine Seelen-
Willensschwäche und Selbstkontrolle                              lehre, in der die Seele „eingestaltig“ ist, also keine klar
                                                                 voneinander abgegrenzten Teile hat. Damit ist aber die
aus philosophischer Perspektive                                  Möglichkeit eines starken intrapsychischen Konflikts
                                                                 deutlich limitiert. Platon geht dagegen bewusst von einer
Der Konflikt zwischen Impuls und Selbstkontrolle wird            Teilung der Seele in (insgesamt drei) unterschiedliche Tei-
bereits sehr früh in der antiken Philosophie unter dem           le aus, um die Möglichkeit solcher Konflikte zu etablieren.
Schlagwort der Akrasie (Unbeherrschtheit) diskutiert (Bo-        Im vierten Buch der Politeia schildert er unter anderem
bonich & Destrée, 2007; Müller, 2009). Ein wichtiger Aus-        den Konflikt zwischen Begierde und Vernunft am Beispiel
gangspunkt zur Gegenüberstellung verschiedener Posi-             der Kontrolle des Durstes (am besten stellen wir uns hier
tionen ist Sokrates’ Zweifel daran, ob Willensschwäche,          jemanden vor, der eine Wüste durchquert und daher seine
d. h., Handeln wider besseres Wissen, überhaupt möglich          Wasservorräte rationieren muss):
ist. Sokrates diskutiert im Protagoras (351b–358e) eine
hedonistische Handlungstheorie. Dieser Theorie zufolge                Wollen wir nun sagen, dass manche bisweilen, wenn sie dürs-
                                                                 ten, nicht trinken mögen? […] Was wird man nun, fragte ich, in
verhalten sich Menschen grundsätzlich nach ihrem Urteil          Bezug auf diese sagen? Nicht etwa, dass in ihrer Seele zwar vor-
über den erwarteten Lustwert von Handlungen. Dem                 handen sei das zu trinken Gebietende, aber vorhanden auch das zu
Akratiker mangelt es allerdings an dem nötigen Wissen,           trinken Verbietende, als ein vom Gebietenden Verschiedenes und
um die tatsächliche Lustbilanz der konfligierenden Hand-         es Bezwingendes? […] Nicht ohne Grund also, […] werden wir
lungsoptionen richtig einschätzen zu können – und zwar,          die Ansicht hegen, dass es ein Doppeltes und von einander Ver-
weil er unter die situative „Macht der Erscheinung“ (dyna-       schiedenes sei, indem wir das, womit sie überlegt, das vernünftig
                                                                 Überlegende der Seele nennen, das aber, womit sie verliebt ist und
mis tou phainomenou) gerät: Beeinflusst durch die räum-          hungert und dürstet oder sonst etwas leidenschaftlich begehrt, das
liche und zeitliche Nähe des Objekts der Begierde über-          Unvernünftige und Begehrende, das gewisse Erfüllungen und Ge-
schätzt er dessen Lustwert und fällt ein falsches Urteil.        nüsse liebt? (Platon, Politeia IV, 439c–d)
Besäße er hingegen eine richtige „Messkunst“, würde er
erkennen, dass das langfristige und bessere Gut der kurz-            Als dritten Teil der Seele nennt Platon in dem häufig
fristigen Verlockung vorzuziehen sei, und auch entspre-          als Musterexemplar für Willensschwäche zitierten Leon-
chend handeln. Der Akratiker entscheidet sich somit ge-          tios-Beispiel (Politeia IV, 439 e–440 a) den Mut bzw. die
gen sein (noch) nicht erkanntes ureigenstes Interesse.           Willenskraft. An anderer Stelle (Phaidros 246 a–256 e)
                                                                 vergleicht Platon diese drei Teile mit einem Pferdegespann
    In partieller Absetzung von der sokratischen Position        und seinem Lenker. Selbstkontrolle liegt für Platon dann
argumentiert Aristoteles in der Nikomachischen Ethik             vor, wenn die Vernunft mithilfe des Mutes bzw. der Wil-
(VII, 1–11), dass Handeln wider besseres Wissen sehr             lenskraft die Begierde effektiv kontrolliert und damit für
wohl möglich sei, und bringt die Affekte (pathe) als expla-      eine Harmonisierung der Strebungen der verschiedenen
natorisches Moment ins Spiel. Er untersucht, wie das Wis-        Seelenteile sorgt.
sen einer akratischen Person beschaffen ist, bei der die
affektive Begierde über die Vernunft siegt. So verfügt der           In der christlichen Philosophie wird das Problem der
Akratiker laut Aristoteles zwar über das nötige Vorwissen        Akrasie aufgegriffen und in einer subjektphilosophischen
in Form von allgemeinen Prämissen (z.B. „Dickmacher sol-         Lesart originell weiterentwickelt (Müller, 2009). Am Bei-
len vermieden werden“). Er kann dieses Vorwissen jedoch          spiel der sexuellen Begierde zeigt Augustinus die innere
im Versuchungsfall nicht (schnell genug) in entsprechen-         Gespaltenheit des Menschen in „zwei Willen“ (duae vo-
de handlungsrelevante Schlussfolgerungen übersetzen              luntates) auf und liefert eine introspektive Analyse eines
(„Dieser Kuchen hier ist ein Dickmacher“ 씮 „Dieser Ku-           derartigen Willenskonflikts: „So stritten sich zwei Willen
chen ist zu meiden“): Die vernünftige Schlussfolgerung           in mir, ein alter und ein neuer, ein fleischlicher und ein
wird unterbunden, weil die plötzlich auftretende Begierde        geistlicher, und sie zerrissen meine Seele.“ (Confessiones
den Akratiker bereits zu einer anders gearteten Konklu-          VIII, 5, 10). In der Sünde, genauer gesagt: in der menschli-
sion „verleitet“ hat, welche nun das Handeln bestimmt            chen Erbsünde, sieht er den Grund für diesen Willenskon-
(„Süßes ist zu erstreben“ 씮 „Dieser Kuchen hier ist süß“ 씮       flikt, weil die Sünde als „schlechte Gewohnheit“ die effek-
„Der Kuchen hier ist zu erstreben“). Aristoteles liefert so-     tive willentliche Ausrichtung auf das wahre Gute blockiert
Impuls und Selbstkontrolle                                                   149

(Müller, 2007). Damit steht Augustinus in einer Denktra-           vor. Interessanterweise hat James bereits auf die Beein-
dition, die sich in der christlichen Scholastik in der Etiket-     flussbarkeit dieser Balance durch situationale Rahmenbe-
tierung (übermäßiger) Begierden als „(Tod-)Sünden“ oder            dingungen wie etwa bereits verausgabte Ressourcen hin-
„Laster“ manifestiert. Im Gegenzug werden dann inner-              gewiesen – ein Punkt, der in jüngeren Selbstregulations-
weltliche Askese und Selbstkontrolle (v. a. in Form einer          ressourcen-Modellen (Baumeister, Bratslavsky, Muraven
Steigerung der inneren Aufmerksamkeit) zu einer Art Kar-           & Tice, 1998) wieder aufgegriffen wurde.
dinaltugend erhoben.                                                   Natürlich darf bei einer Würdigung historischer Vor-
    Die moderne philosophische Diskussion über Wil-                denker von Selbstkontroll-Konflikten Sigmund Freud
lensschwäche hat sich anfangs auf den Status der im wil-           nicht fehlen. Er war der erste Psychologe, der menschli-
lensschwachen Handeln involvierten Urteile fokussiert:             ches Verhalten als Ergebnis des Konflikts verschiedener
Nach Davidson (1980) verletzt der Willensschwache das              psychischer Systeme oder „Instanzen“ konzipiert hat
„principle of continence“, indem er sein reflektiertes Urteil      (Freud, 1923, 1934). Das Es ist dabei der Sitz primitiver
über die Gesamtsituation (all things considered judg-              Triebe und Wünsche, deren Ursprung laut Freud im Un-
ment) nicht in ein handlungsleitendes Urteil umsetzt. Die          terbewussten verborgen liegt. Es operiert nach dem Lust-
handlungspsychologische Möglichkeit dieses Prozesses               prinzip, ohne Gesichtspunkte der Durchführbarkeit oder
liegt dabei in Anlehnung an Platons Modell der Seelentei-          Angemessenheit zu berücksichtigen. Demgegenüber fun-
lung in einer Kompartimentalisierung des menschlichen              giert das Über-Ich als Repräsentant internalisierter gesell-
Geistes in voneinander getrennte, aber interagierende              schaftlicher Gebote und Verbote und steht damit in einem
Subsysteme begründet (Davidson, 1982, 1985). Jüngere               Spannungsverhältnis zum Es. Die Aufgabe des Ich ist es
Arbeiten heben zur Erklärung von Willensschwäche                   schließlich, dem Realitätsprinzip Geltung zu verschaffen
besonders auf die fehlende Pervasivität rationaler Hand-           und einen Kompromiss zwischen den häufig antagonisti-
lungseinstellungen in der Akteursidentität ab: Die ver-            schen Interessen des Es und Über-Ichs auszuhandeln.
nünftigen Vorsätze „durchformen“ nicht die handelnde
Person als ganze und sind gerade aufgrund dieser Isoliert-
heit bzw. Fragmentierung anfällig gegenüber entgegen-              Prominente Ansätze in der zeitgenössischen
gesetzten Handlungsimpulsen (Holton, 1999; Roughley,               psychologischen Selbstkontrollforschung
2008). Willensstärke wird dann oft begriffen als eine kon-
sistente Ausformung des Überzeugungssystems, die sich              Die zeitgenössische Psychologie hat eine Vielzahl theore-
sowohl in einer kohärenten Formung von Vorsätzen als               tischer Ansätze mit Bezug zur Selbstkontrolle hervorge-
auch in deren konsequenter Umsetzung in Verhalten aus-             bracht (siehe auch Goschke, 2004). Einige repräsentativ
drückt (Hill, 2005; Holton, 2003). Wenig Aufmerksamkeit            ausgewählte Ansätze möchten wir in diesem Abschnitt
wird dabei allerdings dispositionalen und situativen Rah-          kurz darstellen (siehe Tabelle 1 für einen Überblick).1
menelementen geschenkt. Auch die Affektausprägung                      Ein wesentlicher Anstoß geht von frühen kyberneti-
steht meist nicht im Vordergrund, obwohl die Frage nach            schen Betrachtungen selbstregulierten Verhaltens aus
der Stärke von begehrlichen Impulsen letztlich entschei-           (Miller, Galanter & Pribram, 1960). So haben Carver und
dend dafür sein könnte, ob die von philosophischer Seite           Scheier (1981) ein breit anwendbares Modell selbstregula-
aus betonte konzeptuelle Differenz von Willensschwäche             torischer Feedback-Schleifen vorgestellt. Das Modell er-
und Zwang, also von (vermeidbaren) willensschwachen                klärt, wie Menschen Diskrepanzen zwischen ihrem aktuel-
und (unvermeidbaren) kompulsiven Handlungen, als sol-              len Zustand und ihren internen Zielstandards überwachen
che überhaupt aufrecht erhalten werden kann (Guckes,               und zu reduzieren versuchen. Umfangreiche moderne For-
2005; Watson, 2004).                                               schungsarbeiten haben seitdem herausgearbeitet, welche
                                                                   kognitiven Mechanismen die Zielerreichung unterstützen
                                                                   (z. B. Förster, Liberman & Friedman, 2007; Kruglanski
Das Problem der Selbstkontrolle                                    et al., 2002; Shah, Friedman & Kruglanski, 2002) und auf
in der Psychologie                                                 welche Weise Emotionen als affektive Feedbackmecha-
                                                                   nismen der Zielerreichung dienen (Carver & Scheier, 1990).
Historische Ansätze                                                Impulsive Einflüsse werden in kybernetischen Modellen
                                                                   jedoch in der Regel nicht weiter spezifiziert bzw. als „Stö-
Auch in der Geschichte der Psychologie wurde das Pro-              rungen“ (environmental disturbance) des Regelkreislau-
blem der Selbstkontrolle immer wieder thematisiert. Wil-           fes aufgefasst.
liam James (1890/1950) beispielsweise widmet sich in sei-
nen Principles of Psychology verschiedenen Spielarten                   1 Leider ist es uns im Rahmen dieses Positionspapiers nicht

des menschlichen Willens. Im Falle des unhealthy will ist          möglich, einen exhaustiven Überblick über Modelle der Selbstregu-
                                                                   lation zu bieten (siehe z. B. Baumeister & Vohs, 2004). So mussten
die richtige Balance zwischen impulsiven Antriebskräften           wir u. a. verzichten auf die Beschreibung von Temperament-Model-
und idealen Motiven (im Sinne langfristig orientierter Ziel-       len der Selbstregulation (z. B. Rothbart, Ellis, Rueda & Posner,
standards) in eine der beiden möglichen Richtungen ge-             2003), Persönlichkeitsmodellen (für Überblicksartikel, siehe Car-
stört: Der explosive will ist gekennzeichnet durch starke          ver, 2005; Cervone, Shadel, Smith & Fiori, 2006), biopsychologi-
                                                                   schen Ansätzen (z. B. Gray, 1987; Zuckerman, 1985) sowie auf
Impulse, die sich so rasch in Verhalten umsetzen, dass             komplexere Multi-System-Ansätze wie beispielsweise die Theorie
inhibierende Mechanismen nicht greifen können. Beim                der Persönlichkeits-Systeme-Interaktionen (PSI-Theorie) von Kuhl
obstructed will dagegen liegt ein Übermaß an Inhibition            (2000, 2001).
150                                                  Wilhelm Hofmann et al.

Tabelle 1. Überblick über ausgewählte zeitgenössische Ansätze und Modelle zur Erklärung und Vorhersage selbstkontrol-
           lierten Verhaltens (SKV)
Modell/Ansatz                 Repräsentative                   Kernannahmen
                              Referenzen

Kybernetische Modelle         Carver & Scheier, 1981           SKV als Ergebnis eines Feedbackprozesses in dem Diskrepanzen
                                                               zwischen Ist-Zustand und Soll-Zustand (Standards) durch ent-
                                                               sprechende Verhaltensweisen reduziert werden.
Intertemporale Entscheidungs- Ainslie, 1975;                   Die Bewertung von Handlungsoptionen unterliegt einer hyper-
Modelle (temporale            Loewenstein & Prelec, 1992       bolischen Abwertungskurve als Funktion der zeitlichen Distanz.
Diskontierung)                                                 Dadurch können Präferenzumkehrungen erklärt werden.
Zielintentions-Modelle und Anwendungen auf Gesundheitsverhalten
   Theorie des überlegten/    Fishbein & Ajzen, 1975;          Verhalten als Folge von Zielintentionen; diese ergeben sich
   geplanten Verhaltens       Ajzen & Madden, 1985             wiederum aus Einstellung und subjektiver Norm
                                                               (Fishbein & Ajzen, 1975) sowie wahrgenommener Verhaltens-
                                                               kontrolle (Ajzen & Madden, 1985).
   Health Belief Model        Janz & Becker, 1984              SKV (vor allem Gesundheitsverhalten) als Ergebnis der wahrge-
                                                               nommenen Bedrohung (Anfälligkeit und Schweregrad) und wahr-
                                                               genommener Ergebniserwartung (Nutzen und Hindernisse).
   Protection Motivation      Rogers, 1983                     SKV (vor allem Gesundheitsverhalten) als Ergebnis der Schutz-
   Theory                                                      motivation. Diese resultiert aus Einschätzung der Bedrohung
                                                               (Schweregrad und Vulnerabilität) und Einschätzung der Bewälti-
                                                               gungsmöglichkeiten (Selbstwirksamkeit und Handlungswirksam-
                                                               keit).
   HAPA-Modell                Schwarzer, 1999                  Zielintention als Ergebnis von Selbstwirksamkeit, Handlungs-Ergeb-
                                                               niserwartung und Risikowahrnehmung. Die Übersetzung von Ziel-
                                                               intentionen in tatsächliches Gesundheitsverhalten erfolgt über
                                                               Planungs-, Initiierungs-, und Aufrechterhaltungsprozesse.
Erweiterungen von Zielintentions-Modellen
   Prototype/willingness      Gibbons et al.,                  Zielintention und Bereitwilligkeit (behavioral willingness) als
   model                                                       separate Verhaltensprädiktoren.
   Gewohnheit (vergangenes    Towler & Shepherd, 1991;         Häufiges vergangenes Verhalten (Gewohnheit) als separater
   Verhalten) als Prädiktor   Aarts et al., 1998               Verhaltensprädiktor (z. B. Towler & Shepherd, 1991) bzw. als
                                                               Moderator des Einfluss von Zielintentionen (Aarts et al., 1998).

Situationaler Ansatz          Mischel, 1974;                   SKV wird durch situative Rahmenbedingungen (z. B. Selbstkon-
                              Baumeister et al., 1998          trollerschöpfung, Belastung, Alkohol) beeinflusst.
Dispositonaler Ansatz         Bogg & Robert, 2004;             SKV hängt mit stabilen Persönlichkeitsunterschieden in relevanten
                              Tangney et al., 2004             Traits (z. B. Gewissenhaftigkeit, Dispositionale Selbstkontrolle)
                                                               zusammen.

Zielkonflikt-Ansätze          Stroebe et al., 2008             SKV als Ergebnis eines Konflikts zwischen Kontrollzielen und
                                                               „hedonischen“ Zielen (z. B. Essensgenuss).

Zweisystem-Ansätze            Metcalfe & Mischel,              SKV als Ergebnis eines Konflikts zwischen einem ressourcenab-
                              1999;                            hängigen reflektiven (cool) System der Abwägung und Zielver-
                              Strack & Deutsch, 2004           folgung und einem ressourcenunabhängigen impulsiven (hot) System
                                                               das impulsives Verhalten generiert.

    Der schon von Sokrates eingebrachte Gedanke, dass              Zigarette) logisch unvereinbar ist. Dieser Widerspruch
die zeitliche Nähe eine wichtige Rolle bei der Willens-            kann elegant durch die Annahme erklärt werden, dass bei-
schwäche spiele, wird in der psychologischen und ökono-            de Entscheidungsergebnisse mit zunehmender zeitlicher
mischen Forschung im Rahmen ökonomischer Modelle                   Distanz zum erwarteten Ereignis abgewertet werden (siehe
intertemporalen Entscheidungsverhaltens wieder aufge-              Abbildung 1). Diese zeitliche Abwertung (temporal dis-
griffen (Ainslie, 1975, 2001; Loewenstein & Elster, 1992).         counting) verläuft aber nicht linear, sondern hyperbo-
Ausgangspunkt ist dabei das Phänomen der Präferenzum-              lisch, d. h. stark gebogen. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich
kehr, der zufolge das Entscheidungsergebnis einer Person           wird dabei angenommen, dass der zu erwartende Nutzen
zum Zeitpunkt t2 (gesunde Lunge durch Nichtrauchen)                mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Ereignis zunächst
mit der Entscheidung zum Zeitpunkt t1 (Genuss einer                sehr stark abfällt und dann weich ausklingt. Auch wenn
Impuls und Selbstkontrolle                                              151

                                                                                           (Janz & Becker, 1984; Rosenstock, 1966), oder der Health
                                                               Gesunde Lunge               Action Process Approach (HAPA; Schwarzer, 1999).
Erwartete Nützlichkeit (Utility)

                                                                                                Die Ansätze der Zielintention haben sich in ihrer An-
                                                                                           wendung auf selbstkontrolliertes Verhalten insgesamt gut
                                                Genuss einer                               bewährt. Allerdings scheinen sich diese „rationalen“ Mo-
                                                Zigarette                                  delle trotz aller Erweiterungen einer oberen Schwelle an
                                   Präferenz-                                              Verhaltensaufklärung anzunähern (Armitage & Conner,
                                   umkehr                                                  2001; Six & Eckes, 1996). Das könnte unter anderem daran
                                                                                           liegen, dass wichtige Verhaltensdeterminanten, die außer-
                                                                                           halb des Bereiches reflektierten Handelns und bewusster
                                                                                           Zielintentionen liegen, nicht berücksichtigt werden. So
                                                                                           wurden in den letzten Jahren immer wieder Vorschläge zur
                                                   t1                 t2       Zeitachse   Erweiterung der Theorie des geplanten Verhaltens unter-
                                                                                           breitet (Conner & Armitage, 1998, für einen Überblick).
Abbildung 1. Veranschaulichung des Modells hyperboli-                                      Beispielsweise haben Gibbons und Kollegen vorgeschla-
scher Abwertung (hyperbolic discounting) zur Erklärung                                     gen, neben Zielintentionen auch das Konstrukt der beha-
intertemporalen Entscheidungsverhaltens am Beispiel des                                    vioral willingness aufzunehmen. Dieses Konstrukt wird
Zigarettenrauchens.                                                                        dadurch erfasst, dass Personen über Risikosituationen
                                                                                           (z. B. sexuelle Versuchungssituationen) nachdenken und
der Wert des zeitlich fernen Ergebnisses „gesunde Lun-                                     dann angeben sollen, ob sie unter diesen Umständen Ver-
ge“ insgesamt höher ist als der Genuss einer Zigarette,                                    haltensweisen an den Tag legen könnten, die den eigenen
kann ab einem gewissen Punkt auf der Zeitachse, an dem                                     Zielstandards zuwider laufen könnten (z. B. Sex ohne Kon-
sich beide Kurven überschneiden, das zeitlich nahe Er-                                     dom zu haben). Allerdings korreliert die so gemessene be-
gebnis einen höheren erwarteten Nutzen produzieren als                                     havioral willingness in der Regel sehr hoch mit Verhal-
das zeitlich ferne (siehe Ainslie, 2001): eine Präferenzum-                                tensintentionen (Gibbons, Gerrard, Blanton & Russell,
kehr findet statt. Diesen Modellen gemäß entscheidet sich                                  1998). Insofern ist fraglich, ob hier wirklich unterschiedli-
der Raucher im Moment der Entscheidungsfindung inso-                                       che Konstrukte gemessen werden. Außerdem lassen die
fern „rational“, als er seinen momentan erwarteten Nutzen                                  Forschungsarbeiten zum hot-cold empathy gap Zweifel
maximiert. Dennoch wird er sein Verhalten bereuen, so-                                     daran aufkommen, ob Personen gut in der Lage sind, Situ-
bald er das eigene Verhalten nach der Bedürfniserfüllung                                   ationseinflüsse und die durch interne Bedürfniszustände
(und der damit einhergehenden schlagartigen Abwertung                                      und externe Versuchungsreize ausgelösten „viszeralen“
der kurzfristigen Option) wieder im Lichte der nun wie-                                    Faktoren (wie Craving und Verlangen) unter normalen Be-
derum präferierten langfristigen Option beurteilt. Der in-                                 fragungsbedingungen valide zu berichten (Ariely & Loe-
tertemporale Entscheidungs-Ansatz lässt sich daher als                                     wenstein, 2006; Nordgren, van der Pligt & van Harreveld,
Ein-Prozess-Modell bezeichnen, das Präferenzwechsel                                        2007; Sayette, Loewenstein, Griffin & Black, 2008). Ein an-
mithilfe einer einfachen Diskontierungsfunktion erklären                                   derer Erweiterungsvorschlag besteht darin, neben Inten-
kann. Was dabei kurzfristig als „rationale“ Nutzenmaxi-                                    tionen auch Gewohnheiten als Prädiktoren (Towler & She-
mierung erscheint kann jedoch aus der Langzeitperspekti-                                   pherd, 1991) oder Moderatoren (Aarts, Verplanken & van
ve zu irrationalem Verhalten führen.                                                       Knippenberg, 1998) zu berücksichtigen. Aber auch hierbei
    Eine weitere breite Klasse von Modellen zur Verhal-                                    ist fraglich, wie viel Selbsteinsicht Personen in ihre routi-
tensvorhersage baut auf dem Erwartung × Wert Ansatz                                        nierten, automatischen Verhaltensweisen haben und in-
auf. Die prominentesten Vertreter dieser Modellklasse                                      wieweit Gewohnheiten den appetitiven, hedonischen
sind Fishbein und Ajzens Theorie des überlegten Han-                                       Charakter von Versuchungssituationen wiedergeben kön-
delns (Fishbein & Ajzen, 1975) und ihrer Fortentwicklung,                                  nen. Somit ist zu vermuten, dass Modelle geplanten Ver-
der Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen, 1991; Ajzen                                   haltens mitsamt ihrer Erweiterungen durch die Methode
& Madden, 1986). Dreh- und Angelpunkt dieser Modelle                                       des Selbstberichts einer wesentlichen Einschränkung un-
ist das Konzept der Zielintention. So lautet eine Kernan-                                  terliegen. Zudem fehlt vielen Erweiterungsvorschlägen
nahme, dass Zielintentionen die besten Prädiktoren für                                     eine theoretische Einbettung in Modelle menschlicher In-
tatsächliches Verhalten sind. Eine zweite Annahme lautet,                                  formationsverarbeitung, auf deren Basis die neu zu inte-
dass Menschen ihre Zielintentionen auf der Basis von                                       grierenden Konstrukte begründet werden können.
Nutzenabwägungen treffen, indem sie die Wahrschein-                                            Ein weiterer Fokus der modernen Selbstkontrollfor-
lichkeit und den Wert des erwarteten Verhaltensergebnis-                                   schung liegt auf der Identifikation situationaler Rahmen-
ses miteinander kognitiv „verrechnen“. So würden diese                                     bedingungen, die Selbstkontrolle beeinflussen. Dazu ge-
Modelle beispielsweise vorhersagen, dass Personen                                          hören etwa Mischels grundlegende Arbeiten zu den Be-
umso weniger gesundheitsbewusstes Essverhalten an                                          dingungsfaktoren, die Kindern den Belohnungsaufschub
den Tag legen, je weniger sie sich von diesem Verhalten                                    erleichtern oder erschweren (z. B. Mischel, 1974; Mischel,
einen positiven Nutzen erwarten und entsprechende                                          Shoda & Peake, 1988). In jüngerer Zeit zeigten Baumeister
Handlungsintentionen ausbilden. Besonders im Bereich                                       und Kollegen, dass die Ausübung von Selbstkontrolle mit
des Gesundheitsverhaltens sind Zielintentionsmodelle                                       Anstrengung verbunden ist, die dann bei einer nachfol-
sehr präsent und einflussreich, etwa die Protection Moti-                                  genden Aufgabe nicht mehr in gleichem Maße zur Verfü-
vation Theory (Rogers, 1983), das Health Belief Model                                      gung steht (z. B. Baumeister et al., 1998). Personen, deren
152                                                     Wilhelm Hofmann et al.

Ressourcen zur Bewältigung von Verhaltenskonflikten in                Esser das Kontrollziel gegenüber dem Genuss-Ziel ab-
einer vorangehenden Aufgabe erschöpft wurden, konsu-                  schirmen, sodass letzteres inhibiert wird. Allerdings besit-
mierten danach mehr ungesundes Essen (Vohs & Hea-                     zen verlockende Essensstimuli in der Umgebung einen
therton, 2000), tranken mehr Alkohol (Muraven, Collins &              hohen Anreizwert (Fedoroff, Polivy & Herman, 1997;
Nienhaus, 2002) und zeigten ungezügelteres sexuelles Ver-             Jansen & van den Hout, 1991). Diese Reize können das
halten (Gailliot & Baumeister, 2006) als Personen, deren              Genussziel soweit aktivieren, dass es zum dominanten Ziel
Selbstregulationsressourcen nicht erschöpft wurden. Die-              wird und das Kontrollziel temporär inhibiert (Papies,
sen Befunden zur ego depletion liegt die Annahme zu-                  Stroebe & Aarts, 2007; Shah, Friedman & Kruglanski,
grunde, dass die notwendigen Ressourcen limitiert, domä-              2002). Das Zielkonflikt-Modell berücksichtigt somit expli-
nenunabhängig und erschöpfbar sind (Baumeister et al.,                zit den Einfluss externaler Stimuli auf den Selbstkontroller-
1998). In ähnlicher Weise wurden Einbußen der Selbst-                 folg. Auch werden hedonische Zielverfolgungsprozesse
kontrolle bei kognitiver Belastung (Boon, Stroebe, Shut &             als „Widersacher“ von Kontrollzielen angesehen. Es wer-
Ijntema, 2002; Ward & Mann, 2000), emotionalem Stress                 den allerdings keine a priori bestehenden Unterschiede
(Herman, Polivy, Lank & Heatherton, 1987), Alkoholkon-                zwischen den antagonistischen Kräften angenommen, da
sum (Hull & Bond, 1986) und situational eingeschränkter               beide nach denselben Prozessen der Zielverfolgung ab-
Selbstaufmerksamkeit nachgewiesen (Collins, 1978).                    laufen. Somit sind zusätzliche Annahmen notwendig, um
                                                                      zu erklären, warum speziell das Kontrollziel unter bestimm-
    Analog zum situationalen Ansatz besteht ein weiterer              ten Risiko-Bedingungen (z. B. kognitive Belastung, Alko-
Schwerpunkt der Selbstkontrollforschung darin, die Per-               holkonsum) schwächer zu werden scheint, während das
sönlichkeitsfaktoren zu identifizieren, die den Erfolg der            damit in Konflikt stehende (hedonische) Ziel an Einfluss
Selbstkontrolle bestimmen. So zeigten Bogg und Roberts                gewinnt.
(2004), dass Gewissenhaftigkeit mit vielen Ausprägungen
schädlichen Gesundheitsverhaltens negativ korreliert
(z. B. exzessivem Alkoholkonsum, ungesundem Essver-                   Vernachlässigung impulsiver
halten, Rauchen, oder riskantem Sexualverhalten) sowie                Determinanten
positiv mit förderlichem Gesundheitsverhalten zusammen-
hängt (z. B. regelmäßigem Fitnesstraining). Auch die kürz-            Zusammengenommen hat die vorangegangene For-
lich postulierte Skala zur Erfassung dispositionaler Selbst-          schung herausgearbeitet, welchen Beitrag explizite Abwä-
kontrolle (Tangney, Baumeister & Boone, 2004) und                     gungsprozesse sowie intentionale Zielverfolgungspro-
ihre deutschsprachige Adaptation (Bertrams & Dickhäu-                 zesse im Dienste der Selbstkontrolle leisten. Ebenso gut
ser, 2009) weisen negative Korrelationen zu problemati-               belegt ist der Einfluss situationaler und dispositionaler
schem Gesundheitsverhalten sowie positive Korrelatio-                 Rahmenbedingungen auf den Selbstkontroll-Erfolg (bzw.
nen zu Selbstmanagementfähigkeiten auf. Dementspre-                   auf die Konsistenz zwischen Selbstkontrollstandards und
chend hängt Impulsivität als Disposition, definiert als die           Verhalten). Allerdings fällt auf, dass es den meisten An-
generalisierte Tendenz unbedacht zu handeln, positiv mit              sätzen (mit Ausnahme des Zielkonflikt-Modells) an einer
problematischem Selbstkontrollverhalten zusammen (z. B.               Modellierung tatsächlicher intrapsychischer Konflikte
Granö, Virtanen, Vaherta, Elovainio & Kivimäki, 2004; Ver-            mangelt. Dies liegt unseres Erachtens daran, dass in den
dejo-Garcia, Lawrence & Clark, 2008; Waldeck & Miller,                entsprechenden Modellen und Untersuchungsdesigns
1997).2                                                               der Einfluss von Impulsen, definiert als objektspezifische,
                                                                      affektiv-behaviorale Reaktionen, nicht oder nur sehr indi-
    Allerdings modellieren die bislang besprochenen An-               rekt abgebildet wird. Stattdessen werden Impulse meist
sätze intrapsychische Konflikte nicht direkt. Genau dies              als eine Art Hintergrund- oder Störvariable betrachtet und
leistet jedoch der Zielkonflikt-Ansatz, der vor kurzem im             nicht weiter spezifiziert. Gegen diese Sichtweise spricht,
Bereich des Essverhaltens postuliert wurde (Stroebe,                  dass nicht alle Menschen von ein- und derselben Versu-
2002; Stroebe, Mensink, Aarts, Schut & Kruglanski, 2008).             chung gleichermaßen impulsiv angezogen werden. Impul-
Der Ansatz wurde aus kognitiv-motivationalen Modellen                 se sind somit interindividuell variabel und können auch
von Zielsystemen (goal systems theory; Kruglanski et al.,             zeitlich in Abhängigkeit körperlicher Bedürfniszustände
2002) abgeleitet. Seine Kernannahme lautet, dass die                  variieren (z.B. Seibt, Häfner & Deutsch, 2007). Womöglich
Selbstregulation appetitiver Verhaltensweisen durch ei-               liegt in diesem Defizit ein Grund für die obere Schwelle in
nen Konflikt von miteinander inkompatiblen Zielen cha-                der prädiktiven Validität, die von Ansätzen des überlegten
rakterisierbar ist. Demnach erleben gezügelte Esser                   Handelns und ihren Derivaten erreicht wird (Armitage &
beispielsweise einen Konflikt zwischen dem (langfristi-               Conner, 2001). Eine stärkere theoretische sowie empiri-
gen) Ziel der Gewichtskontrolle und dem hedonischen                   sche Integration des Impulskonzeptes in Modelle der
(kurzfristigen) Ziel des „Essensgenusses“ (eating enjoy-              Selbstkontrolle könnte daher die Erklärungskraft entschei-
ment goal). Damit Essverhalten erfolgreich im Sinne des               dend erhöhen und die Validität bei der Verhaltensvorher-
Langzeitziels reguliert werden kann, müssen gezügelte                 sage verbessern. Somit könnte eine spezifische, d. h. ob-
                                                                      jektbezogene, für individuelle Unterschiede sowie körper-
                                                                      liche Bedürfniszustände sensitive Erfassung impulsiver
    2 Impulsivität als Disposition unterscheidet sich, wie noch zu    Determinanten die Forschung zur Selbstkontrolle wesent-
sehen sein wird, vom Konzept eines Impulses. Das Konstrukt der        lich bereichern.
Impulsivität ließe sich vor diesem Hintergrund bestimmen als die
generalisierte Tendenz, spezifische Impulse ohne weitere Delibera-        Im Folgenden möchten wir kurz skizzieren, wie eine
tion in Verhalten umzusetzen.                                         solche Integration aussehen kann, indem wir auf soge-
Impuls und Selbstkontrolle                                                    153

nannte Zweisystem-Modelle menschlicher Informations-            Zweisystem-Unterteilung für nicht dezidiert genug halten
verarbeitung rekurrieren. Diese haben für die Model-            (Frank, Cohen & Sanfey, 2009). Nichtsdestotrotz haben
lierung von Selbstkontrollkonflikten den entscheiden-           sich Zweisystem-Modelle u. E. als grobe Struktur zur Er-
den Vorteil, dass sie automatische, impulsive Prozesse          klärung empirischer Befundmuster und zur Generierung
und kontrollierte, reflektive Prozesse der Informa-             neuer Hypothesen bewährt, da sie einen guten Kompro-
tionsverarbeitung näher spezifizieren und als potenziell        miss aus konzeptueller Sparsamkeit und Erklärungswert
verhaltenswirksame Einflussfaktoren einander gegen-             bieten (Deutsch & Strack, 2006; Evans, 2008). Zudem ha-
überstellen. Intensive (mess-)theoretische und empirische       ben Neurowissenschaftler argumentiert, dass sich be-
Arbeiten im Zuge dieser Modelle haben außerdem dazu             stimmte Gehirnareale in ihren Funktionen (grob) zwei
beigetragen, die entsprechenden psychologischen Kon-            Systemen der Handlungssteuerung zuordnen lassen (z. B.
strukte reliabel zu erfassen.                                   Bechara, Noel & Crone, 2006; Lieberman, 2007). Das limbi-
                                                                sche System (insbesondere die Amygdala) und das me-
                                                                solimbische Belohnungssystem (insbesondere der Nuc-
Zweisystem-Modelle und ihre                                     leus accumbens) scheinen dabei eine wichtige Rolle bei
                                                                der Entstehung impulsiver affektiver Reaktionen zu spie-
Anwendbarkeit auf                                               len. Reflektive Prozesse der Zielverfolgung dagegen
Selbstkontrollkonflikte                                         involvieren vor allem den für das menschliche Arbeitsge-
                                                                dächtnis zentralen präfrontalen Cortex, insbesondere des-
Zweisystem-Modelle menschlicher Informationsverarbei-           sen dorsolaterale Regionen (dlPFC). Von diesen Regionen
tung sind eine Unterkategorie sogenannter Multi-System-         wird auch angenommen, dass hier kognitive Prozesse und
Modelle. Deren gemeinsame Grundannahme ist die Mo-              affektive Signale integriert werden (Erk, Kleczar & Walter,
dulisierung des Gehirns (Fodor, 1983): spezielle, miteinan-     2007). Des weiteren scheint das Zusammenspiel des prä-
der korrelierte Funktionen bzw. Verarbeitungsprozesse           frontalen Cortex mit dem anterioren cingulären Cortex
werden von unterschiedlichen, anatomisch getrennten             (ACC), dem „Alarmsystem“ intrapsychischer Konflikte
neuronalen Netzwerkverbänden geleistet (Morsella, 2005).        (Botvinick, Braver, Carter, Barch & Cohen, 2001) sowie mit
Unter bestimmten Umständen können die Prozessergeb-             Systemen der Handlungssteuerung und -inhibierung im
nisse unterschiedlicher Systeme miteinander inkompati-          motorischen Cortex (Bechara et al., 2006; Lieberman, 2007;
bel sein (Goschke, 2004; Kuhl & Goschke, 1994). Durch           Miller & Cohen, 2001) von großer Bedeutung bei der
diese Inkompatibilität wird intrapsychischer Konflikt, wie      Selbstregulation.
er phänomenal bei der Selbstkontrolle vorliegt, überhaupt           Da sich viele Selbstkontrollkonflikte als Konflikt zwi-
erst möglich. Das Entstehen eines intrapsychischen Kon-         schen zwei „Agenten“, Impuls und Selbstkontrollstan-
flikts scheint plausibel sowohl aus einer evolutionären als     dards, verstehen lassen, liegt eine Verknüpfung zwischen
auch aus einer damit zusammenhängenden funktionalen             Zweisystem-Modellen als Leitidee und empirischer
Perspektive. Evolutionäre Ansätze betonen, dass neue            Selbstkontrollforschung nahe, wenn auch dieses Poten-
psychische Subsysteme im Laufe der Entwicklungsge-              zial bislang zu wenig genutzt worden ist (Carver, 2005).
schichte des Menschen hinzugekommen sind, wobei                 Wir haben eine mögliche solche Verknüpfung kürzlich an
höherwertige Kontrollsysteme als entwicklungsgeschicht-         anderer Stelle genauer ausgeführt (Hofmann, Friese &
lich jünger angesehen werden (Evans, 2008). Aus funktio-        Strack, 2009) und werden diesen Ansatz kurz am Beispiel
naler Perspektive wurde argumentiert, das Austragen             des Zweisystem-Modells von Strack und Deutsch (2004)
von Konflikten innerhalb eines psychischen Systems sei          skizzieren.
adaptiv, da mögliche Konflikte mit der Außenwelt vorab
                                                                    Das Zweisystem-Modell von Strack und Deutsch
intern simuliert werden könnten (Livnat & Pippenger,
                                                                (2004) nimmt ein reflektives und ein impulsives System der
2006). Dennoch müssen psychische Systeme als Ganzes
                                                                Informa-tionsverarbeitung an. Das reflektive System ope-
auch zu einer Konfliktlösung gelangen, wenn die Hand-
                                                                riert auf der Basis propositionaler Repräsentationen,3 die
lungsfähigkeit des Organismus nicht dauerhaft beein-
                                                                Schlussfolgerungs- und Planungsprozesse gewährleis-
trächtigt werden soll.
                                                                ten. Diese Prozesse sind aufwendiger als impulsive Pro-
    Das eingangs erwähnte platonische Modell von der            zesse insofern als sie mehr Zeit und Arbeitsgedächtniska-
Seelenteilung sowie Freuds Instanzenmodell lassen sich          pazität – eine begrenzte und erschöpfbare Ressource –
als frühe Vorläufer von Multi-System-Modellen begreifen.        benötigen. Dafür gestatten reflektive Prozesse ein relativ
Die derzeit prominenten modernen Zweisystem-Modelle             hohes Maß an flexibler Handlungskontrolle, sofern diese
aus der Kognitions- und Sozialpsychologie (z. B. Epstein,       operativen Bedingungen gegeben sind.
1990; Metcalfe & Mischel, 1999; Sloman, 1996; Smith &              Das impulsive System hingegen besteht aus assoziati-
DeCoster, 2000; Strack & Deutsch, 2004; Wilson, Lindsey         ven Verknüpfungen, die eine automatische und Ressour-
& Schooler, 2000; für einen Überblick siehe Evans, 2008)
lassen sich als empirisch gut fundierte Varianten von                3 Damit sind symbolische Repräsentationen im Arbeitsge-
Multi-System-Modelle verstehen. Zwar ist die Familie von        dächtnis gemeint, die Elemente und Beziehungen zwischen den Ele-
Zweisystem-Modellen wiederholt in die Kritik geraten            menten wiedergeben (Strack & Deutsch, 2004). Wesentliche Merk-
(z. B. Keren & Schul, 2009). Sie wurde sowohl von Ein-          male von Propositionen sind, dass sie einen Wahrheitswert besit-
                                                                zen (also als „wahr“ oder „falsch“ beurteilt werden können), Prin-
prozess-Vertretern bemängelt (Kruglanski, Erb, Pierro,          zipien der logischen Konsistenz folgen sowie bewusst und mitteilbar
Mannetti & Chun, 2006; für eine Gegenposition, siehe            sind. Vereinfacht gesagt lassen sich Propositionen mit geordneten
Deutsch & Strack, 2006) als auch von Seiten derer, die eine     Gedankeninhalten gleichsetzen.
154                                                       Wilhelm Hofmann et al.

cen sparende Verarbeitung von Information, ausgehend                        Viele Selbstkontrollkonflikte lassen sich in dieser Kon-
von perzeptuellen Inputs bis hin zur Aktivierung und Aus-               zeption als Inkompatibilität zwischen den Verhaltensimpli-
führung von Verhaltensschemata gestattet (Strack &                      kationen des impulsiven auf der einen Seite und des re-
Deutsch, 2004). Impulse lassen sich hiernach als automa-                flektiven Systems auf der anderen Seite denken. Wie wird
tisch aktivierter hedonischer Affekt und damit einherge-                der „Sieger“ aus diesem Konflikt letztendlich bestimmt?
hende Annäherungs-/Vermeidungsreaktionen verstehen                      Das Modell nimmt hierzu an, dass beide Systeme sich
(Hofmann, Friese & Strack, 2009). Da diese Prozesse auf                 einen gemeinsamen Zugang zur Verhaltenssteuerung tei-
bereits vorhandene Bahnungen angewiesen sind, sind                      len: die Aktivierung entsprechender Verhaltenschemata
impulsive Prozesse relativ unflexibel, wobei eine Modula-               im Motorkortex des Gehirns (Aron, 2008; Norman & Shal-
tion durch kontextbezogene externale (z. B. Priming) und                lice, 1986; Strack & Deutsch, 2004). Welches der beiden
internale (z. B. körperliche Bedürfniszustände) Faktoren                Systeme letztendlich tatsächliches Verhalten steuert,
theoretisch gut erklärt werden kann (Gawronski & Boden-                 hängt von der relativen residualen Aktivierungsstärke ab,
hausen, 2006; Seibt et al., 2007; Strack & Deutsch, 2004).              mit der beide Systeme auf die Handlungssteuerung zu-
Impulse sind zunächst „experientielle“, d. h. phänomenale               greifen (einschließlich möglicher inhibitorischer Einflüs-
Widerfahrnisse, die keiner weiteren Begründung bedür-                   se). Überschreitet diese Aktivierung einen bestimmten
fen und nicht notwendigerweise bewusst sind im Sinne                    Schwellenwert, wird Verhalten ausgeführt.
von zugangs-bewusst (access-conscious; Block, 1995).
                                                                            Da beide Systeme unterschiedlichen Operationsprin-
Phänomenale Erfahrungen können aber über Prozesse der                   zipien folgen (Strack & Deutsch, 2004), wird deren Effekti-
Selbstinferenz in propositionale Repräsentationen über-
                                                                        vität bei der Handlungssteuerung durch situationale oder
führt und damit zum Inhalt von Denk- und Schlussfolge-
                                                                        dispositionale Rahmenbedingungen unterschiedlich be-
rungsprozessen werden (Hofmann & Wilson, 2010).                         einflusst (Hofmann, Friese & Strack, 2009). Situationale
Auf diesem Weg können Impulse in der Form subjektiven
                                                                        Faktoren wie etwa ego depletion, kognitive Belastung
„Verlangens“ oder „Begehrens“ in das Bewusstsein ge-
                                                                        oder Alkoholkonsum, die mit der Verfügbarkeit von Kon-
langen und sich ruminativ aufdrängen (Kavanagh, Andra-                  trollressourcen zusammenhängen, sollten gezielt die Ef-
de & May, 2005).4 Dadurch kann kostbare Arbeitsge-
                                                                        fektivität des reflektiven Systems unterminieren und damit
dächtniskapazität in Anspruch genommen werden, die
                                                                        ceteris paribus zu einer stärkeren Verhaltenswirksamkeit
somit für die langfristige Zielverfolgung fehlt. Mehr noch:             impulsiver Einflüsse führen. Analog sollte stärker impuls-
Akutes Verlangen kann nun als propositional repräsen-
                                                                        getriebenes Verhalten bei dispositional niedriger Kontroll-
tierter Bewusstseinsinhalt in direkten Konflikt mit damit
                                                                        fähigkeit zu erwarten sein.
inkompatiblen Zielen treten. Auf diesem Weg kann es
reflektive Schlussfolgerungs- und Entscheidungsprozes-                      Aus messtheoretischer Sicht wurde argumentiert, dass
se im Sinne eines motivierten Schlussfolgerns (Kunda,                   sich zentrale Konstrukte, die dem reflektiven System zuge-
1990) beeinflussen und verzerren (z. B. „Einmal ist kein-               ordnet werden (z. B. Selbstkontrollziele bzw. -standards,
mal“). Im schlimmsten Fall allerdings wird das reflektive               explizite Bewertungen von Objekten und Handlungsopti-
System kurzfristig „gekapert“ und dem sich aufdrängen-                  onen) angemessen mithilfe von Selbstberichtsmaßen er-
dem Verlangen unterstellt (Hofmann, Friese, Schmeichel                  fassen lassen, da diese Konstrukte in der Regel in bewuss-
& Baddeley, 2010; Kavanagh et al., 2005): Ehemals gute                  te Schlussfolgerungs- und Zielverfolgungsprozesse ein-
Vorsätze und Absichten werden aus dem Arbeitsgedächt-                   gebunden sind. Demgegenüber lassen sich relativ auto-
nis verdrängt und reflektive Planungsprozesse können                    matische, möglicherweise schwer zu verbalisierende
nun – ironischerweise – dazu „missbraucht“ werden, aku-                 (Berridge, 2003), und häufig sozial unerwünschte impulsi-
tes Verlangen in die Tat umzusetzen (wie etwa bei einem                 ve Reaktionen möglicherweise adäquater mithilfe indirek-
rückfälligen Raucher, der zuerst Geld wechselt und einen                ter bzw. impliziter Messmethoden erfassen (Hofmann,
längeren Fußweg auf sich nimmt um endlich, am Automa-                   Friese & Strack, 2009). Wenn man annimmt, dass Impulse
ten angekommen, Zigaretten kaufen zu können).                           eine affektive, hedonische Komponente aufweisen, sowie
                                                                        eine damit in Verbindung stehende behaviorale Kompo-
                                                                        nente in Form einer Annäherungs-Vermeidungsreaktion
                                                                        (motivationale Orientierung), bieten sich vor allem zwei
     4 Eine interessante Implikation des Modells lautet somit, dass
                                                                        Arten von Paradigmen an: Für die Erfassung unmittelbarer
sich körperliche Bedürfniszustände und das subjektive Empfinden         affektiver Reaktionen auf Versuchungsreize eignen sich
das mit diesen Zuständen einhergehen kann konzeptuell und in
ihren Auswirkungen auf die Informationsverarbeitung trennen
                                                                        implizite Valenzmaße wie etwa Implizite Assoziationstest-
lassen. Erstere stellen physiologisch getriggerte interne Kontext-      verfahren (IAT; Gawronski & Conrey, 2004; Greenwald,
faktoren dar, die das impulsive System für bedürfnisbezogene Reize      McGhee & Schwartz, 1998) oder die Affekt-Misattributi-
sensibilisieren und bereits eine ganze Reihe automatischer Verar-       ons-Prozedur (AMP; Payne, Cheng, Govorun & Stewart,
beitungsprozesse anstoßen können (z. B. Aarts, Dijksterhuis &           2005; Payne, Govorun & Arbuckle, 2008). IAT-Maße wie
De Vries, 2001). Diese Prozesse müssen nicht notwendigerweise
bewusst sein. Subjektive Bedürfniszustände des Verlangens oder          auch die AMP weisen im Mittel eine zufriedenstellende
Begehrens dagegen entstehen, wenn Aufmerksamkeit auf mit Be-            interne Konsistenz um .80 auf (Hofmann, Gawronski,
dürfniszuständen zusammenhängende phänomenologische Hin-                Gschwendner, Le & Schmitt, 2005; Payne et al., 2005). Be-
weisreize gerichtet wird und diese Signale in propositionale Inhalte    haviorale Reaktionen hingegen lassen sich über Annähe-
transformiert werden. Erst dann kann Verlangen/Begehren auch
Gegenstand von Zielverfolgungsprozessen im reflektiven System
                                                                        rungs-Vermeidungsmaße (z. B. Neumann, Hülsenbeck &
werden und wertvolle Arbeitsgedächtnisressourcen besetzen (siehe        Seibt, 2004; Rinck & Becker, 2007; Wiers, Rinck, Kordts,
Kavanagh et al., 2005).                                                 Houben & Strack, 2008) messmethodisch umsetzen und
Impuls und Selbstkontrolle                                             155

scheinen trotz jüngster Kritik (Eder & Rothermund, 2008)           belle 2 sind Studien aus acht repräsentativen Kernberei-
motivationale Orientierungen valide aufzugreifen (Kriegl-          chen selbstkontrollierten Verhaltens (Wahlverhalten bzgl.
meyer, Deutsch, De Houwer & De Raedt, 2010). Weiter-               Lebensmittelprodukten, Essverhalten, Alkoholkonsum,
hin gibt es erste Befunde, die darauf hindeuten, dass indi-        Zigarettenkonsum, sexuelles Verhalten, aggressives Ver-
rekte Maße trotz einer gewissen Stabilität (Egloff &               halten, vorurteilbehaftetes Verhalten, riskantes Spielver-
Schmukle, 2008) für Unterschiede in körperlichen Bedürf-           halten) zusammengefasst, welche die folgenden Kriterien
niszuständen sensitiv sind (Hoefling & Strack, 2008; Seibt         erfüllen: (1) Als abhängige Variable wurde tatsächliches
et al., 2007) und damit ein weiteres erwünschtes Merkmal           Verhalten (z. B. Süßigkeitenkonsum während eines Pro-
eines Impulsmaßes erfüllen.                                        dukttests) oder zumindest selbstberichtetes Verhalten
                                                                   (z. B. retrospektiver Süßigkeitenkonsum laut Esstage-
    Bei allen Vorzügen wäre es jedoch unrealistisch anzu-
                                                                   buch) erfasst. (2) Als Moderator wurden Bedingungs-
nehmen, dass implizite Maße perfekte Abziehbilder
menschlicher Impulse liefern. So gibt es eine anhaltende           unterschiede zwischen Personen manipuliert (z. B. hohe
                                                                   versus geringe Selbstregulationsressourcen) oder indivi-
Debatte darüber, was genau implizite Maße eigentlich er-
                                                                   duelle Unterschiedsvariablen erfasst (z. B. Facetten exe-
fassen (De Houwer, Teige-Mocigemba, Spruyt & Moors,
2009; Fiedler, Messner & Bluemke, 2006; Hofmann &                  kutiver Kontrolle), die sich jeweils in einen theoretischen
                                                                   Bezug zur Selbstkontrollforschung bringen lassen. (3) Es
Schmitt, 2008). Beispielsweise ist mittlerweile unstrittig,
                                                                   wurde zumindest ein indirektes Maß zur Erfassung impul-
dass implizite Maße – wie viele andere Messmethoden der
Psychologie ebenso – nicht „prozess-rein“ sind (Conrey,            siver Determinanten verwendet und wenn möglich auch
                                                                   ein direktes Maß reflektiver Determinanten erhoben.
Sherman, Gawronski, Hugenberg & Groom, 2005; Klauer,
Voss, Schmitz & Teige-Mocigemba, 2007) und methoden-                   Tabelle 2 bietet einen Überblick über die Befundlage.
spezifische Varianzanteile enthalten (z. B. Mierke & Klau-         Vergleicht man die meist in Regressionsanalysen ermittel-
er, 2003; für einen Überblick zum IAT siehe Gawronski &            te relative Vorhersagekraft von Impulsmaßen mit derjeni-
Conrey, 2004). Dennoch deuten viele Befunde darauf hin,            ger reflektiver Maße als Funktion der situativen oder dis-
dass sich substanzielle Varianzanteile in impliziten Maßen         positionalen Rahmenbedingungen, zeigt sich generell eine
auf automatisch aktivierte Assoziationen zurückzuführen            hohe Bedingungsabhängigkeit in der Vorhersagekraft bei-
lassen (z.B. Conrey et al., 2005; Sherman et al., 2008). Inso-     der Maße. Zum Beispiel zeigt eine Reihe von Studien (Frie-
fern stellen sie auf ihrem derzeitigen Entwicklungsstand           se, Hofmann & Wänke, 2008; Hofmann, Rauch & Gaw-
u. E. eine praktikable und proximale Möglichkeit der Im-           ronski, 2007; Ostafin, Marlatt & Greenwald, 2008), dass
pulserfassung dar, deren Vorzüge und Grenzen es weiter             Personen mit hohen Selbstkontrollstandards (bzw. negati-
auszuloten gilt.                                                   ven expliziten Bewertungen) weniger hedonisch attraktive
                                                                   Produkte wählen und konsumieren als Personen mit nied-
    Zusammen genommen lassen diese Ausführungen
vermuten, dass sich die Vorhersage selbstkontrollierten            rigen Selbstkontrollstandards (bzw. positiveren expliziten
                                                                   Bewertungen), solange sie über ausreichend Kontrollres-
Verhaltens durch die gemeinsame Berücksichtigung drei-
                                                                   sourcen verfügen. Gleichzeitig weisen Impulsmaße unter
er Modellbestandteile verbessern lässt: (1) reflektive De-
terminanten wie Selbstkontrollstandards oder explizite             diesen Umständen meist keinen signifikanten Zusammen-
                                                                   hang mit dem erhobenen Verhalten auf. Unter Bedingun-
Bewertungen im Sinne von Modellen des geplanten Han-
                                                                   gen geringer Kontrollressourcen (Selbstkontrollerschöp-
delns, (2) impulsive Determinanten wie automatische af-
fektive Bewertungen oder Annäherungs-Vermeidungs-                  fung, kognitive Belastung, Alkoholkonsum) dagegen
                                                                   kehrt sich das Vorhersagemuster um: hier weisen Impuls-
dispositionen, die einen Einblick in die Prozesse impulsi-
                                                                   maße über viele Studien hinweg einen deutlich positiven
ver Verhaltensdetermination gestatten sowie (3) kritische
situationale oder dispositionale Rahmenbedingungen, die            Zusammenhang mit dem untersuchten Verhalten auf,
                                                                   während die Vorhersagekraft reflektiver Maße deutlich
das relative Gewicht reflektiver versus impulsiver Determi-
                                                                   zurückgeht. Ohne an dieser Stelle auf alle Details der je-
nanten auf die Handlungssteuerung in einem Selbstkon-
trollkonflikt zugunsten der einen oder anderen Seite ver-          weiligen Moderatoren und die dahinter stehenden An-
                                                                   nahmen einzugehen, finden sich funktional äquivalente
schieben können. Die kombinierte Berücksichtigung die-
                                                                   Effekte für eine ganze Reihe weiterer Situationsfaktoren
ser Faktoren sollte einer isolierten Betrachtung überlegen
sein. Besonders deutlich sollte sich der Mehrwert einer            (siehe Tabelle 2). So zeigt sich eine höhere Vorhersage-
                                                                   kraft impulsiver Determinanten unter hoher vs. geringer
Mitberücksichtigung impulsiver Determinanten unter den-
                                                                   Mortalitätssalienz (Friese & Hofmann, 2008), affektivem
jenigen (Risiko-)Bedingungen zeigen, in denen reflektive
Determinanten typischerweise keine oder nur geringe                vs. kognitivem Fokus (Scarabis, Florack & Gosejohann,
                                                                   2006), positiver vs. negativer Stimmung (Holland, Herm-
Beziehungen mit tatsächlichem Verhalten aufweisen (sie-
                                                                   sen & van Knippenberg, 2008), und unter einem Promo-
he oben), Verhalten also eher impulsgetrieben zu sein
scheint.                                                           tionsfokus vs. einem Präventionsfokus (Florack, Friese &
                                                                   Scarabis, 2010). Zusammen genommen stellen diese Situa-
                                                                   tionen also einen repräsentativen Querschnitt möglicher
                                                                   Risiko-Bedingungen der Selbstkontrolle dar, unter denen
Empirische Evidenz                                                 Impulse eine größere Tragweite zu besitzen scheinen.
Im Folgenden werden einige Forschungsarbeiten bespro-                 Ein zweiter Strang von Arbeiten (siehe Tabelle 2) hat
chen, die den vorgeschlagenen Ansatz vor dem Hinter-               individuelle Unterschiede in denjenigen mehr oder weni-
grund von Zweisystem-Modellen verfolgt haben. In Ta-               ger scharf umrissenen Kontrollkapazitäten erfasst, von
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