Zwischen Freiheit und Verbot - Ab wann man von Cancel Culture reden sollte - Forum.lu

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60 forum 411   Gesellschaft

                        Zwischen Freiheit
                        und Verbot
                        Ab wann man von Cancel Culture reden sollte

 Henning Marmulla       Dies ist ein Text über eine Debatte, die keine ist. Zu   Skalpell legen, um sich optimieren zu lassen. Er
                        einer idealen Debatte gehört zumindest die tenden-       wählte 800 Porträtfotos, zum Großteil von Frauen,
                        zielle Bereitschaft der Kontrahent*innen, davon aus-     aus dem Internet aus, die nach einem plastischen
                        zugehen, dass die Gegenseite Recht haben könnte.         Eingriff aufgenommen worden waren, transfor-
                        Eine gewisse Neugierde auf die andere Position           mierte diese mit dem Computer zu 60 Zufallsge-
                        gehört genauso dazu wie eine Ergebnisoffenheit des       sichtern, druckte sie großformatig aus und beklebte
                        Debatten-Resultats. Ein Blick auf die sogenannte         damit eine Skatebahn. Skater*innen sollten wäh-
                        Debatte über die sogenannte Cancel Culture aber          rend der Laufzeit der diesjährigen Breadphoto, der
                        verrät, dass es hier nicht um echte Debatte geht. Hier   größten Foto-Ausstellung der Benelux-Länder, über
                        geht es um knallharten politischen Kampf. Es geht        die Piste fahren und die Fotos zerstören. Damit
                        um Deutungsmacht, es geht um Gefühle, Verlet-            sollte die Vergänglichkeit von Schönheit demons­
                        zungen und Angst, und beinahe jede Stellungnahme         triert werden. Titel des Kunstwerks: Destroy my face.
                        einer Seite lässt durchblicken, dass die Gegenposi-      Unter dem Namen We are not a playground startete
                        tion zweifellos falsch liege. Kurz: Wir befinden uns     daraufhin ein anonymes Kollektiv eine Online-
                        in einem neuen Kulturkampf. Diese Auseinander-           Petition mit dem Ziel, das Kunstwerk zu verhin-
                        setzung steckt so voller Ressentiments, dass sie zu      dern. Der Vorwurf: Der Künstler und die Festival-
                        unserer Zeit recht gut passt, in der die Fronten sich    leitung würden zu Gewalt gegen Frauen aufrufen.
                        verhärten, in denen die Polarisierung voranschreitet.    In einen Dialog, den die Festivalleitung daraufhin
                        Sie passt auch zur Logik der Medien, die solch eine      angeboten hatte, wollte das Kollektiv nicht treten:
                        Debatte erst ermöglicht haben: den sogenannten           Sie wollten anonym bleiben. Sie schrieben, jeglicher
                        sozialen, in denen es ein Daumen hoch oder runter        Dialog verzögere die notwendige Entfernung des
                        gibt, Nuancen nicht zum Standard gehören und die         Kunstwerks. Nachdem die amerikanischen Sponso-
                        eigene Sicht auf die Welt in Dauerschleife bestätigt     ren des Werkes sich aufgrund des sozialen Drucks
                        wird.                                                    zurückgezogen hatten, wurde das Kunstwerk wie-
                                                                                 der entfernt.1 Wie unter dem Brennglas sieht man
                        Wenn Sie bisher noch nichts von der Cancel Cul-          hier, was mit Cancel Culture gemeint sein kann:
                        ture gehört haben, sei hier zu Beginn eines von          Ein gut gemeintes Kunstwerk wird von einer sozi-
                        zahlreichen Beispielen aus dem Kunstbetrieb wie-         alen Gruppe falsch (oder anders) interpretiert, sie
 Wir befinden uns       dergegeben. Der 54-jährige niederländische Künst-        fühlt sich verletzt oder sogar bedroht, baut sozialen
  in einem neuen        ler Erik Kessels wollte ein Kunstwerk gegen den          Druck auf, der in einem Rückzug der Geldgeber
    Kulturkampf.        grassierenden Schönheitswahn schaffen, der immer         mündet, woraufhin ein Kunstwerk entfernt wird:
                        wieder dazu führt, dass Menschen sich unter das          gecancelt. Ein echter Dialog findet nicht statt.
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Gesellschaft   November 2020               61

Viele weitere Stellungnahmen und Handlungen
werden unter dem Begriff der Cancel Culture ver-
sammelt: Verlage trennen sich von Autor*innen,
Kulturhäuser laden Eingeladene wieder aus, Monu-
mente werden beschmutzt oder zerstört, Kunstwerke
abgehängt, Professor*innen verlieren ihren Job,
Journalist*innen verlassen Redaktionen, all das aus
dem Grund, dass der Druck von bestimmten Grup-
pen auf Verlage, Kulturhäuser etc. so groß wird, dass
diese nachgeben. Dabei werden häufig Meinungs-
und Kunstfreiheit gegen persönliche Verletzungen
ausgespielt. Viele der Phänomene gab es lange vor
dem Begriff der Cancel Culture, einige haben sich
in ihrer Häufigkeit und Radikalität intensiviert.
Tendenziell wird der Begriff der Cancel Culture von
denjenigen benutzt, die sich gecancelt fühlen. Die,
die „canceln“, nennen ihre Stellungnahmen und
Aktionsformen berechtigte Kritik. Klassische Akti-
onsformen sind beispielsweise Petitionen (siehe das
Beispiel des niederländischen Künstlers), Demons-
trationen (Protestierende versuchten 2016 vergeb-
lich, eine Veranstaltung mit Thilo Sarrazin in Ech-
ternach zu verhindern) oder Boykott (das Comité
pour une paix juste au Proche-Orient beteiligte sich
an einer BDS-Boykott-Kampagne, mit der der Euro-
vision Song Contest 2019 verhindert werden sollte,
einfach aus dem Grund, weil er in Israel stattfand).
Und manchmal wird auch vor Gericht entschieden

                                                                                                                            © Carlo Schmitz
(Fred Keup, Joe Thein und Dan S. gegen Tun Ton-
nar). Letztendlich aber versucht der Begriff der Can-
cel Culture so viele Phänomene unter einem Dach
zu versammeln, dass er analytisch untauglich ist und
höchstens zu einer Radikalisierung des Kulturkamp-
fes beiträgt. Es gilt, das Knäuel an Vorwürfen und die
Entwicklungen, die mit dem Begriff gemeint sind,
zu sortieren. Zu unterscheiden ist zwischen Cancel-
Wunsch und Zensur, Kritik und Verleumdung.

Es gibt zahlreiche Akteur*innen, die das eine oder
andere am liebsten verbieten möchten. Aber der           die diese Wünsche einfach umsetzt. Wir sind nicht
Wunsch und die Äußerung des Wunsches nach einem          in Preußen zu Zeiten des Deutschen Bundes, als
Verbot eines Buches, eines Kinofilms, eines Auftritts    gleich drei Ministerien mit der Unterbindung poli-
sind durchaus legitim. Die Gedanken und auch die         tisch, moralisch und religiös unliebsamer Äußerun-
Wünsche sind frei. Es ist gesetzlich erlaubt – und       gen betraut waren. Wir können im Rahmen unserer
viel zu wenig wird in der Debatte auf die juristische    Gesetze recht viel. Roman Polanski kann Filme dre-
Dimension verwiesen, zu sehr auf die emotionale –,       hen, Thilo Sarrazin Bücher schreiben, Feine Sahne
in den sozialen Medien oder in einer Tageszeitung        Fischfilet Songs schreiben, die an der Grenze zur Ver-
darüber nachzudenken, dass es besser gewesen wäre,       fassungsfeindlichkeit kratzen. Und für jedes Beispiel
eine*n Künstler*in nicht zu einer Podiumsdebatte         lassen sich Cancel-Wünsche angeben, doch Polanski
einzuladen. Es ist auch erlaubt, Petitionen zu lan-      dreht, Sarrazin schreibt, die Punk-Band spielt. Wenn
cieren. Die Stürmung einer Theateraufführung oder        Cancel-Wünsche Wünsche bleiben oder Kritik arti-
die Zerstörung von Kunstwerken hingegen kann als         kulieren, die zu echter Debatte führt, dann sind
Eingriff in die öffentliche Ordnung oder Sachbeschä-     demokratische Spielregeln eingehalten. Aber die
digung gewertet und strafrechtlich verfolgt werden.      Tendenzen der letzten Jahre gehen darüber hinaus.
Vom Wunsch eines Verbots zur faktischen Zensur           Denn manch eine Stellungnahme, die sich als Kritik
ist es ein weiter Weg. Und Gott sei Dank gibt es in      ausgibt, setzt auf Ausschluss der gegnerischen Posi-
echten Demokratien keine zentrale Zensur-Instanz,        tion durch Skandalisierung. Und bisweilen führt ein
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                        hinreichend intensiv vorgebrachter Cancel-Wunsch          Bedeutung der Identitäten der bisher Unterdrück-
                        dazu, dass Menschen ihre Jobs, Schauspieler*innen         ten gegen Etablierte, von konservativ bis liberal, die
                        ihre Aufträge oder Künstler*innen, wie Erik Kessels,      Sorge haben, dass aus falsch verstandener Solidarität
                        der doch nur etwas gegen den frauenverachtenden           Errungenschaften des Universalismus und der Mei-
                        Schönheitswahn tun wollte und sich plötzlich selbst       nungsfreiheit mit dem Bade ausgeschüttet werden
                        mit dem Vorwurf der Frauenverachtung konfron-             und eine neue, linke, totalitäre Meinungsdiktatur
                        tiert sah, ihre Ausstellungen verlieren. Wie konnte es    sich durchsetzt, in der man nicht mehr sagen dürfe,
                        soweit kommen?                                            was man denkt. Wenn man die Debatte weiter
                                                                                  zuspitzt auf die Dualität von Identitätspolitik und
                        Die sogenannte Cancel Culture hat einen direkten          Universalismus, könnte man die identitätspolitische
                        Vorläufer: Es ist der Wunsch nach Political Correct-      Maxime so formulieren: Partikulare Interessen sollen
                        ness. Geleitet von der Überzeugung, dass Sprache          durchgesetzt werden gegen einen Universalismus,
                        Wirklichkeit schafft, sollten zunächst bestimmte          den es so nie gegeben habe. Der Universalismus sei
                        Begriffe nicht mehr benutzt werden. Gut gemeint           immer nur eine Illusion gewesen, mit der die Domi-
                        in der Anlage, führte und führt eine übertrieben          nierenden ihre Herrschaft über die Dominierten
                        ausgelegte Political Correctness freilich auch zu         verschleiert hätten. Die universalistische Maxime
                        Sprachverboten, die echte Debatte verunmöglichen.         hingegen lautet: Ein Universalismus, der immer Ziel
                        Die Cancel Culture setzt ein und setzt nach, wo die       bleiben muss, solle geschützt werden gegen eine Ato-
                        Political Correctness, aus der Sicht von enttäusch-       misierung der Gesellschaft in lauter kleine identitär
                        ten Individuen, Gruppen und Organisationen,               definierte Gruppen. Selbst wenn der Universalismus
                        wirkungslos geblieben ist. Es handelt sich hier um        nie breitenwirksam umgesetzt worden sei, müsse er
                        eine Spezifizierung (thematisch) und auch um eine         weiter zielführendes und handlungsanleitendes Ideal
                        Radikalisierung der Aktionsstrategie. Arbeitete die       bleiben.
                        klassische Political Correctness mit Kanonreform,
                        Sprachumwandlung und Appellen, beobachten wir             Ein Beitrag wie dieser verlangt vielleicht mehr als
                        nun eine neue Bewegung: Sie setzt mitunter die Tak-       viele andere, dass der Autor seinen eigenen Stand-
                        tik der Skandalisierung ein, um Personen moralisch        punkt offenlegt. Für mich ist jeder Rückzug auf
                        zu diskreditieren. Aber: Wer sind die Akteur*innen        Identität oder eine abgrenzbare Kultur per se reak-
                        in diesem Kampf?                                          tionär, weil er Identitäten festschreibt und Kulturen
                                                                                  abkapselt. Das universalistische Projekt, die norma-
                        Universalismus gegen Partikularismus                      tive Idee universeller Menschenrechte, das Ideal,
                                                                                  dass Herkunft, Hautfarbe, Staatsangehörigkeit,
                        Es hat sich in den vergangenen Jahren, ausgehend          Geschlecht keine Rolle spielen sollen, ist für mich
                        von den USA, in letzter Zeit dynamisiert auch in          oberste Maxime. Und so kann ich jeglichen Verweis
                        Europa, eine Front herausgebildet, die sich medial        auf Kultur und Identität in einer gesellschaftlichen
                        relativ dominant abbildet. Sie lässt sich mit den         Debatte nur als rückschrittlich ansehen. Gleich, ob
                        Begriffen Universalismus versus Partikularismus           von rechts oder von links. Unter dieser Perspektive
                        zusammenfassen. Modern und auch postmodern                beobachte ich im Folgenden, was in der vergangenen
                        geschulte Universalist*innen hegen starke Zweifel         Zeit unter dem Begriff der Cancel Culture beschrie-
                        gegenüber jeglicher Position, die sich auf eine feste     ben wurde.
                        Identität oder gar Authentizität beruft, komme sie
                        von links oder von rechts. Die universalistische Per-     Die Grundannahme lautet, dass ein Cancel-
                        spektive geht davon aus, dass eine wie auch immer         Wunsch noch keine Zensur ist. Die These, die es
                        behauptete Identität irrelevant sei in der Arena sich     zu belegen gilt, will jedoch zeigen, dass im aktuel-
                        herrschaftsfrei miteinander auseinandersetzender          len Klima ein Druck durch Cancel-Wünsche auf-
                        Diskursteilnehmer*innen. Und so kommt es zu Kon-          gebaut werden kann, der so immens ist, dass gerade
                        flikten auf der einen Seite zwischen rechten Identitä-    Kulturvermittler*innen – Kulturhäuser, Museen,
        Manch eine      ren und Universalist*innen, weil letzteren das Pochen     Verlage, Universitäten – vor ihm einknicken. Und
   Stellungnahme,       auf Volk, Herkunft und Nation unerträglich ist. Auf       dann wird plötzlich ganz real, was die Rede von der
 die sich als Kritik    der anderen Seite aber auch zum Konflikt zwischen         Cancel Culture meint. Wenn eine kritische Masse
                        linker Identitätspolitik und Universalismus, weil für     erreicht ist, die das Verbot von etwas fordert, und
  ausgibt, setzt auf
                        die Universalist*innen auch diese Form des Identi-        der Widerstand dagegen so gering ist, dass viele
    Ausschluss der      tären totalitaristisch erscheint. In dieser Perspektive   Akteur*innen einknicken, dann kann man durch-
      gegnerischen      kämpfen also – in den Formulierungen der jewei-           aus von einer Cancel Culture sprechen. Einknicken
    Position durch      ligen Selbstdarstellungen – „woke“, ungerechtig-          ist nichts Schlimmes, wenn man überzeugt wurde.
  Skandalisierung.      keitssensible und lange Zeit marginalisierte Personen     Verbohrte Konsequenz ist was für Denkfaule. Aber
                        (nebst Sympathisant*innen) unter Verweis auf die          wer entgegen der eigenen Überzeugung einknickt,
Gesellschaft     November 2020   63

weil er Angst vor einem Shitstorm oder einer              der Möglichkeit rechnen, auf Céline zu stoßen. So
Aktivist*innengruppe hat, die vor einem Kulturhaus        abstoßend man seine Texte auch finden mag. Indes,        Verbohrte
aufmarschieren könnte, der beteiligt sich an einer        auch ein Kanon wird in jeder Zeit neu geschrieben,       Konsequenz ist
Verarmung der Pluralität unseres kulturellen Lebens.      und wir könnten eine Debatte darüber führen, was         was für Denkfaule.
                                                          im Studium gelesen werden soll und was nicht. Aber
Geschichte schreiben, Literatur umschreiben               eine curricular an der Schule vorgeschriebene Lek-
                                                          türe oder eine an der Universität muss auch ohne
Viele der Cancel-Wünsche beziehen sich auf Erin-          Trigger-Warnungen, wie es in den USA bereits
nerung. Wie erinnern wir das, was war? An wen soll        üblich ist, den Studierenden zugemutet werden. Und
erinnert werden? Im Zuge der Proteste der Black           die Idee, Literatur umzuschreiben, wäre in diesem
Lives Matter-Bewegung ist Schwung gekommen in             Kontext Geschichtsklitterung. Das Wort „Negro“
die Debatte, ob bestimmte Straßen umbenannt wer-          in den Büchern James Baldwins zu streichen, würde
den sollten (Mohrenstraße in Berlin), ob bestimmte        sein Werk verstellen. Statt Literatur so umzuschrei-
Monumente das Stadtbild prägen sollten (Kolum-            ben, dass sie niemanden verletzt, sollte sie in ihrer
bus, General Robert E. Lee2). Die voranschreitenden       Andersartigkeit thematisiert und kommentiert wer-
postcolonial studies und die zunehmenden Proteste         den. So kann man auch die Fortschritte erkennen,
schwarzer Aktivist*innen führen zurecht dazu, dass        die wir zum Beispiel, was die Rede vom „Neger“
die öffentliche Erinnerung an ehemalige „Helden“          angeht, gemacht haben. Man nennt das Alteritätser-
zunehmend auch vor dem Hintergrund ihrer kolo-            fahrung, eine Quelle, sich selbst, die Geschichte und
nialen oder anderer Verbrechen gesehen wird. Es ist       die Gegenwart besser zu verstehen. Alles andere wäre
dabei zu unterscheiden zwischen Geschichtsschrei-         Neusprech im Sinne George Orwells und in hohem
bung auf der einen Seite, die in den Aufgabenbe-          Maße totalitär.
reich der Historiker*innen fällt, sich aber natürlich
– durch neue Quellen, neue Fragestellungen, neue          Literatur und das Spiel mit der Wahrheit
Erkenntnisse – entwickelt, und Geschichtserinne-
rung auf der anderen Seite, an deren Konstruktion         Die österreichische Schriftstellerin Lisa Eckhart, die
sich die Öffentlichkeit beteiligt unter der Frage:        vorderhand als Kabarettistin bekannt geworden war
Was soll wie erinnert werden? Geschichtsschreibung        und im Sommer dieses Jahres mit einem Roman
kann dabei genauso Kontroversen auslösen (Stich-          unter dem Titel Omama als Autorin debütierte, war
wort Wehrmachtsausstellung) wie Geschichtserin-           zum Harbour Front Literaturfestival in Hamburg
nerung (Stichwort Gëlle Fra3). Ja, zur Geschichts-        eingeladen worden. Grund für die Einladung zu
erinnerung gehört die Debatte unbedingt dazu, da          diesem Debütant*innenball war eben der Roman,
sich eine Gesellschaft darüber austauschen muss, wie      nicht ihre Qualität als Kabarettistin. Eckhart wurde
sie sich qua Erinnerung über sich selbst verständigt.     von den Veranstaltern dann aber wieder ausgeladen,
Die Betonung liegt dabei aber auf Verständigung,          weil, so das erste Argument, ein „linker Mob“ damit
nicht auf Voluntarismus. Bildersturm und Statuen­         gedroht habe, die Veranstaltung zu stören (was sich
sturz durch Selbstermächtigung können nicht die           im Nachhinein als Ente herausstellte), und weil zwei
Lösung sein. Dem Abriss von Monumenten muss               der ebenfalls eingeladenen Autoren verkündeten,
ein geregeltes Verfahren vorangehen, in dem alle          nicht mit Eckhart auf einer Bühne sitzen zu wollen.
Positionen gehört werden und es dann zu einer             Die Lesung wurde abgesagt, nicht, weil ein linker
Entscheidung kommt. Grundlage müssen Gesetze              Mob mit Gewalt gedroht hatte, sondern weil der
sein sowie die dominanten ethischen Vorstellungen         Veranstalter Angst bekam. Aber woher kam diese
einer Gesellschaft. In sich zunehmend auch mora-          Angst? Tessie Jakobs schreibt in der woxx im Indika-
lisch differenzierenden Gesellschaften ist dieser ethi-   tiv: „Eine solche Befürchtung bestand deshalb, weil
sche Minimalkonsens natürlich immer schwieriger           Eckharts Bühnenprogramm rassistische und anti-
zu finden – und deshalb prinzipiell umso nötiger zu       semitische Aussagen enthält“.4 Darüber kann man
verteidigen.                                              streiten. Ich erkenne weniger einen Eckhartschen
                                                          Rassismus oder Antisemitismus in diesem Bühnen-
In diesem Kontext sind auch die Wünsche zu nen-           programm, als vielmehr die Entlarvung existieren-
nen, Literatur umzuschreiben; den „Negerkönig“            der Klischees. Aber hierzu zweierlei: Erstens ging es
in Pippi Langstrumpf etwa zu ersetzen durch den           beim Literaturfestival nicht um Eckharts Qualitäten
„Südseekönig“. Der Unterschied zu den Monu-               als Kabarettistin, sondern um ihren Roman. Zwei-
menten, die an Geschichte erinnern und die für alle       tens hätten die beiden jungen Autoren, die nicht
sichtbar im öffentlichen Raum stehen, ist der, dass       mit ihr auf einer Bühne sitzen wollten, diese Bühne
Literatur sich niemandem aufdrängt, man muss sie          nutzen können, um ein Gespräch über das, was sie
bewusst zur Hand nehmen. Wer sich hingegen für            störte, zu lancieren. Stattdessen bescherte die Ausla-
das Studium der Romanistik entscheidet, muss mit          dung der Autorin, Ironie des Schicksals, eine Präsenz
64 forum 411   Gesellschaft

                                                                                                                                          © Carlo Schmitz
                        in den Feuilletons, die sie ohne diese Ausladung nie      kam auf ), dann weiß ich nicht mehr, wie man erklä-
                        erhalten hätte. Die Jury des Festivals jedenfalls hatte   ren sollte, worin die Aufgabe von Schauspieler*innen
                        den Roman und seine Autorin nicht ohne Grund              besteht. Und beim Schauspiel, auch bei dem der
                        eingeladen. Man war vom Roman überzeugt. Die              Lisa Eckhart auf den Kabarettbühnen, kommen
                        Ausladung, hier muss man von Cancel Culture spre-         Mehrdeutigkeiten ins Spiel. Sie aushebeln zu wol-
                        chen, erfolgte auf Druck. Schade, denn im Roman           len, nur noch die Eindeutigkeiten in der Kunst
                        legt die Autorin ihren Figuren zwar rassistische und      zuzulassen, kommt einem Messerstich ins Herz
                        antisemitische Parolen in den Mund, aber wie die          der Kunst gleich. Aber Mehrdeutigkeiten sind im
                        Germanist*innen unter uns im ersten Semester ler-         Klima der Cancel-Wünsche unerwünscht. Es geht
                        nen, ist Figurenrede nicht gleich Autorposition. Und      um Eindeutigkeiten. Da gibt es dann nur das Ent-
                        wie bitte sollte man das Österreich der Nachkriegs-       weder-Oder: Daumen hoch oder Daumen runter.
                        zeit (und m. E. das von heute) anders darstellen als      Flüchtlinge rein oder Ausländer raus. Gender-Stern
                        durch Figuren, denen der Nationalsozialismus in           oder Frauen in die Küche. Schwuchteln sind Pädo-
                        Fleisch und Blut übergegangen ist? Fragen Sie mal         phile oder die besseren Menschen. Verbunden mit
                        Thomas Bernhard.                                          dem Wunsch nach dem Ende der Mehrdeutigkeit
                                                                                  und dem Ende des Spiels ist die Fetischisierung des
                        Literatur ermöglicht das Spiel mit der Realität.          Authentischen. Auch diese kommt in vielen Stel-
                        Kunst überhaupt tut das. Sie spielt. So wie ihre          lungnahmen der Cancel-Fraktion zum Ausdruck.
                        Künstler*innen. So wie Schauspieler*innen. Das            Aber: „Das Authentizitätsparadigma“, schreibt Tania
                        Spiel ist anthropologisch betrachtet von immen-           Martini dazu in der taz überzeugend, „ist für Men-
                        ser Bedeutung. Das wusste schon Friedrich                 schen, die in der Postmoderne geschult sind, eini-
                        Schiller. Und für manche ist das Spiel eben Beruf.        germaßen unterkomplex.“ Und dazu zitiert sie Lisa
                        Für Schauspieler*innen beispielsweise. Thimotée           Eckhart passend mit den folgenden Worten: „Dass
                        Chalamet spielt eine schwule Person, obwohl er            wir in einer Zeit leben, wo ,künstlich‘, ,manieriert‘
                        nicht schwul ist. Lars Eidinger und André Jung spie-      und ,gewollt‘ keine Komplimente sind, erachte ich
                        len Behinderte, obwohl sie nicht behindert sind.          als sehr seltsam.“5 Wenn schließlich ein Ende von
                        Wenn hier ein Cancel-Wunsch aufkommt (und er              Mehrdeutigkeit und Spiel und ein Übermaß an
Gesellschaft     November 2020   65

Authentizität gefordert werden, wird zugleich eine        Das Argument, eine Person aus einer privilegierten
Hypersensibilität mit den Befindlichkeiten verletz-       Kultur solle sich nicht am Set an Ausdrucksformen        Aus dem gut
ter Personen angemahnt. Dies so sehr, dass es sogar       von unterprivilegierten Kulturen bedienen, ist reak-     gemeinten
als unerträglich beschrieben wird, wenn eine weiße        tionär, weil ihm ein abgeschlossener Kulturbegriff       Wunsch,
Künstlerin sich in die Haut einer schwarzen Figur         zugrunde liegt. Er führt zu einer Verkapselung kul-      niemanden in
hineinversetzt.                                           tureller Ausdrucksformen in ihren Ursprungskon-
                                                                                                                   seinem Sein zu
                                                          texten und verunmöglicht einen kreativen Umgang
Cultural appropriation                                    mit Kultur. Wenn man den Cancel-Gedanken, dass           verletzten, spricht
                                                          kulturelle Ausdrucksformen in ihrer ursprünglichen       man nicht für ihn.
Genau diese Macht der Literatur, sich mit Empathie        Kultur verbleiben müssten, zu Ende denkt, hätten         Dann aber kommt
in andere Menschen hineinzuversetzen, hatte Lionel        wir heute weder die House- oder Rock-Musik, die          Gesellschaft an ein
Shriver auf dem Brisbane Writer’s Festival 2016 als       wir haben, noch könnten Künstler*innen wie Jacob         Ende.
essenziell für die Literatur beschrieben. Retrospektiv    Collier, weiß, jung und privilegiert, den Jazz in neue
formulierte sie ihre Position für die New York Times:     Dimensionen führen.
„Briefly, my address maintained that fiction writers
should be allowed to write fiction – thus should          Solch eine Haltung verstärkt die Kluft zwischen
not let concerns about ‘cultural appropriation’ con-      einem „Wir“ und einem „die Anderen“ und lässt
strain our creation of characters from different back-    keine Vermittlung mehr zwischen beiden zu. Und
grounds than our own. I defended fiction as a vital       dann dreht sich der identitätspolitische Nieman-
vehicle for empathy. If we have permission to write       dem-zu-nahe-treten-wollen-Zirkus so weit, dass
only about our own personal experience, there is no       sogar anti-rassistische Kunst als rassistisch umgewer-
fiction, but only memoir.“6 Die Autorin Yassmin           tet wird, wenn sie von Künstler*innen mit der „fal-
Abdel-Magied, die während Shrivers Vortrag auf-           schen“ Hautfarbe produziert wird. Das geht dann
stand und den Saal verließ, reagierte7 wie folgt auf      so weit, dass nicht mehr eine schlimme Realität
Shrivers Rede: „It was a monologue about the right        kritisiert wird, sondern die Kunst, die diese Realität
to exploit the stories of ‘others’, simply because it     aufdeckt. Das kannten wir bisher aus totalitären Sys-
is useful for one’s story.” Und sie urteilte: “It’s not   temen, nun kehrt es zurück.
always OK if a white guy writes the story of a Nige-
rian woman because the actual Nigerian woman              Realität kritisieren oder die Kritik kritisieren
can’t get published or reviewed, to begin with.” Wer,
muss man hier fragen, legt denn fest, welche Freiheit     Georg Herolds Bild Ziegelneger, so der Wunsch
einer Schriftstellerin zukommt, welche Figur sie in       einer aufgebrachten Bürgerin aus diesem Jahr, sollte
ihren Roman integrieren darf? Nach welchen Maß-           im Frankfurter Städel Museum abgehängt werden.
stäben, nach welchen Kriterien? Zugegeben, hinter         Stein des Anstoßes: der Titel, sodann die Tatsache,
solcher Forderung verbirgt sich durchaus die poli-        dass ein weißer Künstler es gemalt hatte. Was zeigt
tische Analyse unfassbarer politischer Ungleichheit,      das Bild? Eine farbige Person, auf die ein Ziegelstein
die absolut ins Schwarze trifft. Denn es stimmt, die      geworfen wird. Motiv und Titel verweisen auf die
Chancen, Einlass in den globalen Literaturbetrieb         rassistische Stimmung, die der Künstler Anfang der
zu erhalten, sind für farbige Menschen geringer als       1980er Jahre in der Bundesrepublik beobachtet und
für weiße. Dies ist ein Unrecht erster Güte. Nur die      mit seinem Bild kritisiert hat. Und dennoch, so der
literaturtheoretische Schlussfolgerung, die Abdel-        Wunsch der Cancelerin, sollte es abgehängt werden.
Magied daraus zieht, bedeutet das Ende jeglicher          Es verletze Gefühle. Thorsten Jantschek fand dafür
Kunstfreiheit. Und sie geht noch weiter: „I can’t         bei Deutschlandfunk Kultur die richtigen Worte:
speak for the LGBTQI community, those who are             „Das Museum hatte betont, es wolle ,niemanden
neuro-different or people with disabilities, but that’s   verletzen, provozieren oder triggern‘. Sind das nicht
also the point. I don’t speak for them and should         dieselben Leute, die in jeder zweiten Ausstellungs-
allow for their voices and experiences to be heard        eröffnung sagen, dass Kunst irritiert, verstört, Seh-
and legitimized.” Hinter diesem Zitat verbirgt sich,      und Denkgewohnheiten aufbricht? Mannomann!“8
in meinen Augen, die ganze Tragik der Identitätspo-       Was für eine Kunst ist zu erwarten, wenn die viel
litik: Aus dem gut gemeinten Wunsch, niemanden            verwendete Rede von der Irritation durch Kunst
in seinem Sein zu verletzten, spricht man nicht für       uns nur noch schein-irritiert? Wir beobachten es
ihn. Dann aber kommt Gesellschaft an ein Ende.            in den Theatern dieser Welt. Kaum ein Publikum,
Dann kommt auch bürgerschaftliches Engagement             das wirklich in seinen Überzeugungen irritiert wird.
an ein Ende. Dann können nur noch Betroffene für          Die Kritiken sprechen von mutigen oder gewag-
die Ebensobetroffenen sprechen. Dann muss sogar           ten Stücken, wo sie doch nur mit Zustimmung der
derjenige, der Solidarität üben möchte, um Erlaub-        Zuschauer*innen, den wenigen, die noch ins Thea-
nis für diese Solidarität anfragen.                       ter gehen, rechnen können9. Gratis-Mut hat Hans
66 forum 411   Gesellschaft

                        Magnus Enzensberger so etwas einst genannt. Aber         Wer auch nur einen Blick in das Buch Eure Hei-
                        zurück zum Ziegelneger: Das vorgebrachte Argu-           mat ist unser Albtraum 11 geworfen hat, wird schnell
                        ment, ein Bild verletze Gefühle, kann nicht geltend      verstanden haben, dass die Rede vom offenen Aus-
                        gemacht werden. Gefühle sind – wenn auch gesell-         tausch erst einmal wie Hohn klingen muss für Men-
                        schaftlich vermittelt – in hohem Maße subjektiv.         schen, die ihr Leben lang „geothert“ wurden, als
                        Sicherlich wird sich für jedes Kunstwerk eine Per-       nicht normal gelesen wurden. Hier sind Texte von
                        son finden lassen, die sich verletzt fühlt. Aber wo      Autor*innen versammelt, die unter den ausgespro-
                        kämen wir hin, wenn auf jede Verletzung eine Zen-        chenen und unausgesprochenen Ausgrenzungen
                        sur stattfände? Wenn wir dies zuließen, dann könn-       einer weißen, dominanten Mehrheitsgesellschaft
                        ten Mohammed-Karikaturen tatsächlich nicht mehr          gelitten haben und leiden – und dagegen aufbegeh-
                        veröffentlicht werden. Subjektive Gefühle dürfen         ren. Richtig so. Und doch kann nicht die Lösung
                        nicht in Stellung gebracht werden gegen das hohe         darin bestehen, dass alle, die als zu cis, zu normal, zu
                        Gut der Kunst- und Meinungsfreiheit. In der Aus-         privilegiert erscheinen, aus dem Raum des offenen
                        einandersetzung über Kunst sollte das Gefühl nichts      Austauschs ausgeschlossen werden sollen.
                        verloren haben. Doch wir beobachten eine gefähr-
                        liche Zunahme des Verweises auf Gefühl. Indes,           Boomer und alte weiße Männer
                        Gefühle lassen sich nicht gegen Gefühle ausspielen.
                        Was allein zählen kann, sind Prinzipien. Doch die        Aber genau der Ausschluss der bisher Privilegierten
                        geraten in Gefahr, wenn subjektive Verletzungen          wird bisweilen angestrebt. Wenn Begriffe wie „Boo-
                        über allgemein formulierte Prinzipien gestellt wer-      mer“ oder „alter weißer Mann“ zu Schimpfwörtern
                        den. Und wenn dann die Angst bei Künstler*innen          werden, dann ist das ein Ausschluss von Personen
                        entsteht, die zahlreichen, diffusen und unklaren         aus der Diskurs-Arena qua ihres Alters, ihrer Haut-
                        Gefühle zu verletzen, dann verstummt die Stimme,         farbe, ihres Geschlechts. Wie wenig neugierig auf
                        trocknet der Pinsel aus, und die Kreativität erstarrt.   die Position des Anderen kann man sein, wenn man
                        Die Schere im Kopf zerschneidet jeden Anflug von         nicht interessiert ist an der vielleicht interessanten
                        künstlerischer Gestaltungskraft. Diese aber brau-        Stellungnahme eines alten, weißen Mannes? Und:
                        chen wir, damit Künstler*innen, egal wen sie kriti-      Wie kommt man darauf, diese Strategie der Exklu-
                        sieren, weiterhin gegen das Unrecht dieser Welt auf-     sion wegen angeborener Eigenschaften anzuwenden,
                        begehren können. Hört sich selbstverständlich an,        wenn man sich ansonsten, wenn es um die Ausge-
                        ist es aber nicht.                                       schlossenen oder Unterprivilegierten geht, immer
                                                                                 dagegen wehrt? Das Argument lautet: Jahrtausende
                        Gesprächsabbruch                                         schon hätten weiße heterosexuelle Männer den Ton
                                                                                 angegeben, jetzt seien mal die anderen an der Reihe.
                        Wer darf kritisieren? Wer darf reden? „Welche            Das aber ist keine Revolutionierung der Macht,
                        Machtposition bekleidet die kritisierte Person inner-    das ist nur ihre Umkehr. Umkehr der Machtposi-
                        halb der Gesellschaft und hat sie mit ihren Aussa-       tion, nicht ihre Auflösung. Das ist die Kindergar-
                        gen nach ,unten‘ oder nach ,oben‘ getreten?“10 Die       ten-Logik: Der hat die ganze Zeit mit dem Laster
                        Frage, gestellt von Tessie Jakobs in der woxx, denkt     gespielt, jetzt bin ich dran. Nein, alle müssen dran
                        die Antwort gleich mit und läuft darauf hinaus zu        sein. In gesellschaftlich relevanten Debatten müssen
                        sagen: Nach unten darf ich nicht treten. Nein? Darf      alle dran sein. Ein echter Debattenraum kümmert
                        ich Nazis nicht kritisieren, wenn sie Unterstützung      sich nicht um die Hautfarbe oder das Geschlecht
                        von der Arbeitsagentur beziehen? Darf ich einen          einer Person, sondern ist an ihrer Stellungnahme
                        mittellosen Islamisten nicht kritisieren, wenn er mit    interessiert. Echte Debatte braucht Gegner, unbe-
                        einem Messer durch die Stadt läuft und auf Men-          dingt, doch sie braucht keine Feinde.
                        schen einsticht? Was für eine gefährliche Legitimie-
                        rung der Kritikposition ist das, wenn legitime Kritik    Dass Gegner nicht zu Feinden werden
                        nur dann geäußert werden darf, wenn der Sprecher
                        benachteiligt ist. Kann eine wohlhabende, weiße,         Navid Kermani hat es neulich, in seiner Eröffnungs-
Subjektive Gefühle      heterosexuelle Person, um es zuzuspitzen, sich also      rede zum Literaturfestival, von dem Lisa Eckhart
   dürfen nicht in      nicht mehr äußern über Dinge, die uns alle ange-         ausgeladen worden war, auf den Punkt gebracht:
                        hen? Der Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus,          Wir müssen aufpassen, dass Gegner nicht zu Fein-
 Stellung gebracht
                        Frauenfeindlichkeit geht alle an, die in einer gleich-   den werden.12 Ich würde ergänzen: Wir müssen auf-
     werden gegen       berechtigten Gesellschaft leben wollen. Aber die         passen, dass wir Tugenden wie Kritikfähigkeit13 und
      das hohe Gut      Fantasie manch eines identitätspolitisch Bewegten        Ambiguitätstoleranz nicht über Bord werfen. Nun
   der Kunst- und       reicht nicht aus sich vorzustellen, dass Ungleichbe-     könnte man sagen: Das sagt sich so leicht, wenn man
 Meinungsfreiheit.      handlungen sogar Privilegierte um den Schlaf brin-       von einer privilegierten Position aus spricht. Der
                        gen können.                                              Autor dieser Zeilen, weiß, mittelalt, homosexuell,
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berufstätig und recht gut vernetzt, schreibt sicherlich   wichtiger zu nehmen als die schwachen“.15 Dazu
von einer privilegierten Position. Aber was wäre die      gehört natürlich noch, dass man ein größeres Inte-                     Wir müssen
Alternative? Soll ich mein Ideal des herrschaftsfreien    resse an der „Wahrheitsfindung“ hat als an der eige-                   unseren Gegnern
Diskurses aufgeben, nur weil es realiter noch nicht       nen Befindlichkeit. Jede*r sollte ein Interesse daran                  eine Plattform
umgesetzt ist? Soll ich gar sagen, in Umdrehung des       haben, dass der Gegner reden kann. Denn: Die Welt                      bieten, statt sie zu
alten deutschen Untertanengeistes: Nach oben tre-         ist bunt und divers, so muss auch unsere Debatte
                                                                                                                                 verbieten.
ten, nach unten buckeln? Ist eine Position nur des-       sein. Aber es muss eine Debatte sein. Und nicht der
halb wertvoller, weil sie aus einer unterprivilegierten   Versuch, diese permanent zu unterbinden.
Lage heraus artikuliert wird?

Nein, fanden auch 150 englische und US-ameri-
kanische Intellektuelle, darunter, um nur zwei zu
nennen, Margaret Atwood und Salman Rushdie, die
am 7. Juli dieses Jahres ein Manifest veröffentlich-
ten, in dem Sie das rezente Klima, das sie erleben,
zuspitzten.14 Sie stellen darin fest, dass die Proteste
neuer sozialer Bewegungen für soziale Gerechtigkeit
zunähmen. Dies begrüßen sie. Mit diesem Kampf
einher ginge jedoch „a new set of moral attitudes
and political commitments that tend to weaken our
norms of open debate and toleration of differences
in favor of ideological conformity“. Und dem gelte
es entgegenzutreten. Damit, möchte ich wiederho-
len, Gegner, wie Kermani sagt, nicht zu Feinden
werden. Damit der Streit nicht in den Krieg führt.
Wir müssen unseren Gegnern eine Plattform bieten,
statt sie zu verbieten. Damit wir die Blasen zerstö-
ren, in denen sich viel zu viele eingerichtet haben.
Die Populist*innen dieser Welt versuchen genau
das: unsere Gesellschaften in verfeindete Lager zu        1   Siehe dazu den Beitrag (ohne Titel) von Kerstin Schweighöfer,
spalten. Das ist sozusagen ihr Geschäftsmodell. Und           in: art. Das Kunstmagazin, November 2020, S. 16.
auch die sozialen Medien verdienen prächtig an die-       2   https://www.forum.lu/article/polanski-ou-la-guerre-des-valeurs
ser Spaltung. Aber wenn unsere Demokratien eine               (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird,
                                                              wurden zuletzt am 30. Oktober 2020 aufgerufen).
Zukunft haben wollen, dann muss genau das, diese
Spalterei, ein Ende haben. Zu wünschen wäre, dass         3   Vgl. https://www.forum.lu/wp-content/
                                                              uploads/2015/11/6794_296_Oppel.pdf
sich nicht die Positionen mit den größten Follower-
                                                          4   https://www.woxx.lu/meinungsfreiheit-wer-cancelt-hier-wen
Zahlen, sondern die mit den stärksten Argumenten
                                                          5   https://taz.de/Identitaetspolitik-auf-der-Buchmesse/!5717068
durchsetzen. Auch das wäre eine Art Minderhei-
tenschutz. Für alles andere gilt: Wir haben Gesetze.      6   https://www.nytimes.com/2016/09/23/opinion/will-the-left-
                                                              survive-the-millennials.html?_r=0
Sachbeschädigung ist Sachbeschädigung. Und Kör-
                                                          7   https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/sep/10/
perverletzung ist Körperverletzung, egal ob ein Nazi          as-lionel-shriver-made-light-of-identity-i-had-no-choice-but-to-
einen Flüchtling, ein Flüchtling einen Schwulen, ein          walk-out-on-her
Schwuler einen AfD-Politiker oder ein Pegida-Fan          8   https://www.deutschlandfunkkultur.de/umstrittenes-
einen Polizisten attackiert. Polizeigewalt ist so uner-       bild-im-staedel-museum-warum-herolds.2165.
träglich wie Gewalt gegen die Polizei. Wir brauchen           de.html?dram:article_id=479849

mehr denn je Prinzipien und weniger Parteinahme.          9   Vgl. dazu Jakob Hayner, Warum Theater. Krise und Erneuerung,
                                                              Berlin, Matthes & Seitz, 2020.
Vor allem weniger Parteinahme für die eigene Posi-
                                                          10 https://www.woxx.lu/meinungsfreiheit-wer-cancelt-hier-wen
tion. Mehr Empathie für die anderen und weniger
Wut auf Andersdenkende. Eine Debatte, in der jeder        11 Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah (Hg.), Eure Heimat
                                                             ist unser Albtraum, Berlin, Ullstein, 2019.
sich die Teile der Realität als Belege auswählt, die
                                                          12 Navid Kermani, „In aller Offenheit“, in: Die Zeit vom 10.
die eigene vorgefertigte Position unterstützen, ist so       September 2020, S. 43.
verlogen wie die Spielerei mit Statistiken. Und auch,
                                                          13 Vgl. dazu https://www.forum.lu/article/
wenn es hart sein muss, denjenigen zuzuhören, die            glueck-und-kritikfaehigkeit/
eine radikal entgegengesetzte Position vertreten, ist     14 https://harpers.org/a-letter-on-justice-and-open-debate
das möglich. Jens-Christian Rabe schlug dazu, ganz
                                                          15 Jens-Christian Rabe, „Mehr wollen. Wie der Streit über die neue
konkret, neulich in der Süddeutschen Zeitung vor,            moralische Sensibilität zur kulturellen Revolution führt“, in:
„die starken Argumente der jeweils anderen Seite             Süddeutsche Zeitung vom 24./25. Oktober 2020, S. 15.
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