Zwischen Freiheit und Verbot - Ab wann man von Cancel Culture reden sollte - Forum.lu
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
60 forum 411 Gesellschaft Zwischen Freiheit und Verbot Ab wann man von Cancel Culture reden sollte Henning Marmulla Dies ist ein Text über eine Debatte, die keine ist. Zu Skalpell legen, um sich optimieren zu lassen. Er einer idealen Debatte gehört zumindest die tenden- wählte 800 Porträtfotos, zum Großteil von Frauen, zielle Bereitschaft der Kontrahent*innen, davon aus- aus dem Internet aus, die nach einem plastischen zugehen, dass die Gegenseite Recht haben könnte. Eingriff aufgenommen worden waren, transfor- Eine gewisse Neugierde auf die andere Position mierte diese mit dem Computer zu 60 Zufallsge- gehört genauso dazu wie eine Ergebnisoffenheit des sichtern, druckte sie großformatig aus und beklebte Debatten-Resultats. Ein Blick auf die sogenannte damit eine Skatebahn. Skater*innen sollten wäh- Debatte über die sogenannte Cancel Culture aber rend der Laufzeit der diesjährigen Breadphoto, der verrät, dass es hier nicht um echte Debatte geht. Hier größten Foto-Ausstellung der Benelux-Länder, über geht es um knallharten politischen Kampf. Es geht die Piste fahren und die Fotos zerstören. Damit um Deutungsmacht, es geht um Gefühle, Verlet- sollte die Vergänglichkeit von Schönheit demons zungen und Angst, und beinahe jede Stellungnahme triert werden. Titel des Kunstwerks: Destroy my face. einer Seite lässt durchblicken, dass die Gegenposi- Unter dem Namen We are not a playground startete tion zweifellos falsch liege. Kurz: Wir befinden uns daraufhin ein anonymes Kollektiv eine Online- in einem neuen Kulturkampf. Diese Auseinander- Petition mit dem Ziel, das Kunstwerk zu verhin- setzung steckt so voller Ressentiments, dass sie zu dern. Der Vorwurf: Der Künstler und die Festival- unserer Zeit recht gut passt, in der die Fronten sich leitung würden zu Gewalt gegen Frauen aufrufen. verhärten, in denen die Polarisierung voranschreitet. In einen Dialog, den die Festivalleitung daraufhin Sie passt auch zur Logik der Medien, die solch eine angeboten hatte, wollte das Kollektiv nicht treten: Debatte erst ermöglicht haben: den sogenannten Sie wollten anonym bleiben. Sie schrieben, jeglicher sozialen, in denen es ein Daumen hoch oder runter Dialog verzögere die notwendige Entfernung des gibt, Nuancen nicht zum Standard gehören und die Kunstwerks. Nachdem die amerikanischen Sponso- eigene Sicht auf die Welt in Dauerschleife bestätigt ren des Werkes sich aufgrund des sozialen Drucks wird. zurückgezogen hatten, wurde das Kunstwerk wie- der entfernt.1 Wie unter dem Brennglas sieht man Wenn Sie bisher noch nichts von der Cancel Cul- hier, was mit Cancel Culture gemeint sein kann: ture gehört haben, sei hier zu Beginn eines von Ein gut gemeintes Kunstwerk wird von einer sozi- zahlreichen Beispielen aus dem Kunstbetrieb wie- alen Gruppe falsch (oder anders) interpretiert, sie Wir befinden uns dergegeben. Der 54-jährige niederländische Künst- fühlt sich verletzt oder sogar bedroht, baut sozialen in einem neuen ler Erik Kessels wollte ein Kunstwerk gegen den Druck auf, der in einem Rückzug der Geldgeber Kulturkampf. grassierenden Schönheitswahn schaffen, der immer mündet, woraufhin ein Kunstwerk entfernt wird: wieder dazu führt, dass Menschen sich unter das gecancelt. Ein echter Dialog findet nicht statt.
Gesellschaft November 2020 61 Viele weitere Stellungnahmen und Handlungen werden unter dem Begriff der Cancel Culture ver- sammelt: Verlage trennen sich von Autor*innen, Kulturhäuser laden Eingeladene wieder aus, Monu- mente werden beschmutzt oder zerstört, Kunstwerke abgehängt, Professor*innen verlieren ihren Job, Journalist*innen verlassen Redaktionen, all das aus dem Grund, dass der Druck von bestimmten Grup- pen auf Verlage, Kulturhäuser etc. so groß wird, dass diese nachgeben. Dabei werden häufig Meinungs- und Kunstfreiheit gegen persönliche Verletzungen ausgespielt. Viele der Phänomene gab es lange vor dem Begriff der Cancel Culture, einige haben sich in ihrer Häufigkeit und Radikalität intensiviert. Tendenziell wird der Begriff der Cancel Culture von denjenigen benutzt, die sich gecancelt fühlen. Die, die „canceln“, nennen ihre Stellungnahmen und Aktionsformen berechtigte Kritik. Klassische Akti- onsformen sind beispielsweise Petitionen (siehe das Beispiel des niederländischen Künstlers), Demons- trationen (Protestierende versuchten 2016 vergeb- lich, eine Veranstaltung mit Thilo Sarrazin in Ech- ternach zu verhindern) oder Boykott (das Comité pour une paix juste au Proche-Orient beteiligte sich an einer BDS-Boykott-Kampagne, mit der der Euro- vision Song Contest 2019 verhindert werden sollte, einfach aus dem Grund, weil er in Israel stattfand). Und manchmal wird auch vor Gericht entschieden © Carlo Schmitz (Fred Keup, Joe Thein und Dan S. gegen Tun Ton- nar). Letztendlich aber versucht der Begriff der Can- cel Culture so viele Phänomene unter einem Dach zu versammeln, dass er analytisch untauglich ist und höchstens zu einer Radikalisierung des Kulturkamp- fes beiträgt. Es gilt, das Knäuel an Vorwürfen und die Entwicklungen, die mit dem Begriff gemeint sind, zu sortieren. Zu unterscheiden ist zwischen Cancel- Wunsch und Zensur, Kritik und Verleumdung. Es gibt zahlreiche Akteur*innen, die das eine oder andere am liebsten verbieten möchten. Aber der die diese Wünsche einfach umsetzt. Wir sind nicht Wunsch und die Äußerung des Wunsches nach einem in Preußen zu Zeiten des Deutschen Bundes, als Verbot eines Buches, eines Kinofilms, eines Auftritts gleich drei Ministerien mit der Unterbindung poli- sind durchaus legitim. Die Gedanken und auch die tisch, moralisch und religiös unliebsamer Äußerun- Wünsche sind frei. Es ist gesetzlich erlaubt – und gen betraut waren. Wir können im Rahmen unserer viel zu wenig wird in der Debatte auf die juristische Gesetze recht viel. Roman Polanski kann Filme dre- Dimension verwiesen, zu sehr auf die emotionale –, hen, Thilo Sarrazin Bücher schreiben, Feine Sahne in den sozialen Medien oder in einer Tageszeitung Fischfilet Songs schreiben, die an der Grenze zur Ver- darüber nachzudenken, dass es besser gewesen wäre, fassungsfeindlichkeit kratzen. Und für jedes Beispiel eine*n Künstler*in nicht zu einer Podiumsdebatte lassen sich Cancel-Wünsche angeben, doch Polanski einzuladen. Es ist auch erlaubt, Petitionen zu lan- dreht, Sarrazin schreibt, die Punk-Band spielt. Wenn cieren. Die Stürmung einer Theateraufführung oder Cancel-Wünsche Wünsche bleiben oder Kritik arti- die Zerstörung von Kunstwerken hingegen kann als kulieren, die zu echter Debatte führt, dann sind Eingriff in die öffentliche Ordnung oder Sachbeschä- demokratische Spielregeln eingehalten. Aber die digung gewertet und strafrechtlich verfolgt werden. Tendenzen der letzten Jahre gehen darüber hinaus. Vom Wunsch eines Verbots zur faktischen Zensur Denn manch eine Stellungnahme, die sich als Kritik ist es ein weiter Weg. Und Gott sei Dank gibt es in ausgibt, setzt auf Ausschluss der gegnerischen Posi- echten Demokratien keine zentrale Zensur-Instanz, tion durch Skandalisierung. Und bisweilen führt ein
62 forum 411 Gesellschaft hinreichend intensiv vorgebrachter Cancel-Wunsch Bedeutung der Identitäten der bisher Unterdrück- dazu, dass Menschen ihre Jobs, Schauspieler*innen ten gegen Etablierte, von konservativ bis liberal, die ihre Aufträge oder Künstler*innen, wie Erik Kessels, Sorge haben, dass aus falsch verstandener Solidarität der doch nur etwas gegen den frauenverachtenden Errungenschaften des Universalismus und der Mei- Schönheitswahn tun wollte und sich plötzlich selbst nungsfreiheit mit dem Bade ausgeschüttet werden mit dem Vorwurf der Frauenverachtung konfron- und eine neue, linke, totalitäre Meinungsdiktatur tiert sah, ihre Ausstellungen verlieren. Wie konnte es sich durchsetzt, in der man nicht mehr sagen dürfe, soweit kommen? was man denkt. Wenn man die Debatte weiter zuspitzt auf die Dualität von Identitätspolitik und Die sogenannte Cancel Culture hat einen direkten Universalismus, könnte man die identitätspolitische Vorläufer: Es ist der Wunsch nach Political Correct- Maxime so formulieren: Partikulare Interessen sollen ness. Geleitet von der Überzeugung, dass Sprache durchgesetzt werden gegen einen Universalismus, Wirklichkeit schafft, sollten zunächst bestimmte den es so nie gegeben habe. Der Universalismus sei Begriffe nicht mehr benutzt werden. Gut gemeint immer nur eine Illusion gewesen, mit der die Domi- in der Anlage, führte und führt eine übertrieben nierenden ihre Herrschaft über die Dominierten ausgelegte Political Correctness freilich auch zu verschleiert hätten. Die universalistische Maxime Sprachverboten, die echte Debatte verunmöglichen. hingegen lautet: Ein Universalismus, der immer Ziel Die Cancel Culture setzt ein und setzt nach, wo die bleiben muss, solle geschützt werden gegen eine Ato- Political Correctness, aus der Sicht von enttäusch- misierung der Gesellschaft in lauter kleine identitär ten Individuen, Gruppen und Organisationen, definierte Gruppen. Selbst wenn der Universalismus wirkungslos geblieben ist. Es handelt sich hier um nie breitenwirksam umgesetzt worden sei, müsse er eine Spezifizierung (thematisch) und auch um eine weiter zielführendes und handlungsanleitendes Ideal Radikalisierung der Aktionsstrategie. Arbeitete die bleiben. klassische Political Correctness mit Kanonreform, Sprachumwandlung und Appellen, beobachten wir Ein Beitrag wie dieser verlangt vielleicht mehr als nun eine neue Bewegung: Sie setzt mitunter die Tak- viele andere, dass der Autor seinen eigenen Stand- tik der Skandalisierung ein, um Personen moralisch punkt offenlegt. Für mich ist jeder Rückzug auf zu diskreditieren. Aber: Wer sind die Akteur*innen Identität oder eine abgrenzbare Kultur per se reak- in diesem Kampf? tionär, weil er Identitäten festschreibt und Kulturen abkapselt. Das universalistische Projekt, die norma- Universalismus gegen Partikularismus tive Idee universeller Menschenrechte, das Ideal, dass Herkunft, Hautfarbe, Staatsangehörigkeit, Es hat sich in den vergangenen Jahren, ausgehend Geschlecht keine Rolle spielen sollen, ist für mich von den USA, in letzter Zeit dynamisiert auch in oberste Maxime. Und so kann ich jeglichen Verweis Europa, eine Front herausgebildet, die sich medial auf Kultur und Identität in einer gesellschaftlichen relativ dominant abbildet. Sie lässt sich mit den Debatte nur als rückschrittlich ansehen. Gleich, ob Begriffen Universalismus versus Partikularismus von rechts oder von links. Unter dieser Perspektive zusammenfassen. Modern und auch postmodern beobachte ich im Folgenden, was in der vergangenen geschulte Universalist*innen hegen starke Zweifel Zeit unter dem Begriff der Cancel Culture beschrie- gegenüber jeglicher Position, die sich auf eine feste ben wurde. Identität oder gar Authentizität beruft, komme sie von links oder von rechts. Die universalistische Per- Die Grundannahme lautet, dass ein Cancel- spektive geht davon aus, dass eine wie auch immer Wunsch noch keine Zensur ist. Die These, die es behauptete Identität irrelevant sei in der Arena sich zu belegen gilt, will jedoch zeigen, dass im aktuel- herrschaftsfrei miteinander auseinandersetzender len Klima ein Druck durch Cancel-Wünsche auf- Diskursteilnehmer*innen. Und so kommt es zu Kon- gebaut werden kann, der so immens ist, dass gerade flikten auf der einen Seite zwischen rechten Identitä- Kulturvermittler*innen – Kulturhäuser, Museen, Manch eine ren und Universalist*innen, weil letzteren das Pochen Verlage, Universitäten – vor ihm einknicken. Und Stellungnahme, auf Volk, Herkunft und Nation unerträglich ist. Auf dann wird plötzlich ganz real, was die Rede von der die sich als Kritik der anderen Seite aber auch zum Konflikt zwischen Cancel Culture meint. Wenn eine kritische Masse linker Identitätspolitik und Universalismus, weil für erreicht ist, die das Verbot von etwas fordert, und ausgibt, setzt auf die Universalist*innen auch diese Form des Identi- der Widerstand dagegen so gering ist, dass viele Ausschluss der tären totalitaristisch erscheint. In dieser Perspektive Akteur*innen einknicken, dann kann man durch- gegnerischen kämpfen also – in den Formulierungen der jewei- aus von einer Cancel Culture sprechen. Einknicken Position durch ligen Selbstdarstellungen – „woke“, ungerechtig- ist nichts Schlimmes, wenn man überzeugt wurde. Skandalisierung. keitssensible und lange Zeit marginalisierte Personen Verbohrte Konsequenz ist was für Denkfaule. Aber (nebst Sympathisant*innen) unter Verweis auf die wer entgegen der eigenen Überzeugung einknickt,
Gesellschaft November 2020 63 weil er Angst vor einem Shitstorm oder einer der Möglichkeit rechnen, auf Céline zu stoßen. So Aktivist*innengruppe hat, die vor einem Kulturhaus abstoßend man seine Texte auch finden mag. Indes, Verbohrte aufmarschieren könnte, der beteiligt sich an einer auch ein Kanon wird in jeder Zeit neu geschrieben, Konsequenz ist Verarmung der Pluralität unseres kulturellen Lebens. und wir könnten eine Debatte darüber führen, was was für Denkfaule. im Studium gelesen werden soll und was nicht. Aber Geschichte schreiben, Literatur umschreiben eine curricular an der Schule vorgeschriebene Lek- türe oder eine an der Universität muss auch ohne Viele der Cancel-Wünsche beziehen sich auf Erin- Trigger-Warnungen, wie es in den USA bereits nerung. Wie erinnern wir das, was war? An wen soll üblich ist, den Studierenden zugemutet werden. Und erinnert werden? Im Zuge der Proteste der Black die Idee, Literatur umzuschreiben, wäre in diesem Lives Matter-Bewegung ist Schwung gekommen in Kontext Geschichtsklitterung. Das Wort „Negro“ die Debatte, ob bestimmte Straßen umbenannt wer- in den Büchern James Baldwins zu streichen, würde den sollten (Mohrenstraße in Berlin), ob bestimmte sein Werk verstellen. Statt Literatur so umzuschrei- Monumente das Stadtbild prägen sollten (Kolum- ben, dass sie niemanden verletzt, sollte sie in ihrer bus, General Robert E. Lee2). Die voranschreitenden Andersartigkeit thematisiert und kommentiert wer- postcolonial studies und die zunehmenden Proteste den. So kann man auch die Fortschritte erkennen, schwarzer Aktivist*innen führen zurecht dazu, dass die wir zum Beispiel, was die Rede vom „Neger“ die öffentliche Erinnerung an ehemalige „Helden“ angeht, gemacht haben. Man nennt das Alteritätser- zunehmend auch vor dem Hintergrund ihrer kolo- fahrung, eine Quelle, sich selbst, die Geschichte und nialen oder anderer Verbrechen gesehen wird. Es ist die Gegenwart besser zu verstehen. Alles andere wäre dabei zu unterscheiden zwischen Geschichtsschrei- Neusprech im Sinne George Orwells und in hohem bung auf der einen Seite, die in den Aufgabenbe- Maße totalitär. reich der Historiker*innen fällt, sich aber natürlich – durch neue Quellen, neue Fragestellungen, neue Literatur und das Spiel mit der Wahrheit Erkenntnisse – entwickelt, und Geschichtserinne- rung auf der anderen Seite, an deren Konstruktion Die österreichische Schriftstellerin Lisa Eckhart, die sich die Öffentlichkeit beteiligt unter der Frage: vorderhand als Kabarettistin bekannt geworden war Was soll wie erinnert werden? Geschichtsschreibung und im Sommer dieses Jahres mit einem Roman kann dabei genauso Kontroversen auslösen (Stich- unter dem Titel Omama als Autorin debütierte, war wort Wehrmachtsausstellung) wie Geschichtserin- zum Harbour Front Literaturfestival in Hamburg nerung (Stichwort Gëlle Fra3). Ja, zur Geschichts- eingeladen worden. Grund für die Einladung zu erinnerung gehört die Debatte unbedingt dazu, da diesem Debütant*innenball war eben der Roman, sich eine Gesellschaft darüber austauschen muss, wie nicht ihre Qualität als Kabarettistin. Eckhart wurde sie sich qua Erinnerung über sich selbst verständigt. von den Veranstaltern dann aber wieder ausgeladen, Die Betonung liegt dabei aber auf Verständigung, weil, so das erste Argument, ein „linker Mob“ damit nicht auf Voluntarismus. Bildersturm und Statuen gedroht habe, die Veranstaltung zu stören (was sich sturz durch Selbstermächtigung können nicht die im Nachhinein als Ente herausstellte), und weil zwei Lösung sein. Dem Abriss von Monumenten muss der ebenfalls eingeladenen Autoren verkündeten, ein geregeltes Verfahren vorangehen, in dem alle nicht mit Eckhart auf einer Bühne sitzen zu wollen. Positionen gehört werden und es dann zu einer Die Lesung wurde abgesagt, nicht, weil ein linker Entscheidung kommt. Grundlage müssen Gesetze Mob mit Gewalt gedroht hatte, sondern weil der sein sowie die dominanten ethischen Vorstellungen Veranstalter Angst bekam. Aber woher kam diese einer Gesellschaft. In sich zunehmend auch mora- Angst? Tessie Jakobs schreibt in der woxx im Indika- lisch differenzierenden Gesellschaften ist dieser ethi- tiv: „Eine solche Befürchtung bestand deshalb, weil sche Minimalkonsens natürlich immer schwieriger Eckharts Bühnenprogramm rassistische und anti- zu finden – und deshalb prinzipiell umso nötiger zu semitische Aussagen enthält“.4 Darüber kann man verteidigen. streiten. Ich erkenne weniger einen Eckhartschen Rassismus oder Antisemitismus in diesem Bühnen- In diesem Kontext sind auch die Wünsche zu nen- programm, als vielmehr die Entlarvung existieren- nen, Literatur umzuschreiben; den „Negerkönig“ der Klischees. Aber hierzu zweierlei: Erstens ging es in Pippi Langstrumpf etwa zu ersetzen durch den beim Literaturfestival nicht um Eckharts Qualitäten „Südseekönig“. Der Unterschied zu den Monu- als Kabarettistin, sondern um ihren Roman. Zwei- menten, die an Geschichte erinnern und die für alle tens hätten die beiden jungen Autoren, die nicht sichtbar im öffentlichen Raum stehen, ist der, dass mit ihr auf einer Bühne sitzen wollten, diese Bühne Literatur sich niemandem aufdrängt, man muss sie nutzen können, um ein Gespräch über das, was sie bewusst zur Hand nehmen. Wer sich hingegen für störte, zu lancieren. Stattdessen bescherte die Ausla- das Studium der Romanistik entscheidet, muss mit dung der Autorin, Ironie des Schicksals, eine Präsenz
64 forum 411 Gesellschaft © Carlo Schmitz in den Feuilletons, die sie ohne diese Ausladung nie kam auf ), dann weiß ich nicht mehr, wie man erklä- erhalten hätte. Die Jury des Festivals jedenfalls hatte ren sollte, worin die Aufgabe von Schauspieler*innen den Roman und seine Autorin nicht ohne Grund besteht. Und beim Schauspiel, auch bei dem der eingeladen. Man war vom Roman überzeugt. Die Lisa Eckhart auf den Kabarettbühnen, kommen Ausladung, hier muss man von Cancel Culture spre- Mehrdeutigkeiten ins Spiel. Sie aushebeln zu wol- chen, erfolgte auf Druck. Schade, denn im Roman len, nur noch die Eindeutigkeiten in der Kunst legt die Autorin ihren Figuren zwar rassistische und zuzulassen, kommt einem Messerstich ins Herz antisemitische Parolen in den Mund, aber wie die der Kunst gleich. Aber Mehrdeutigkeiten sind im Germanist*innen unter uns im ersten Semester ler- Klima der Cancel-Wünsche unerwünscht. Es geht nen, ist Figurenrede nicht gleich Autorposition. Und um Eindeutigkeiten. Da gibt es dann nur das Ent- wie bitte sollte man das Österreich der Nachkriegs- weder-Oder: Daumen hoch oder Daumen runter. zeit (und m. E. das von heute) anders darstellen als Flüchtlinge rein oder Ausländer raus. Gender-Stern durch Figuren, denen der Nationalsozialismus in oder Frauen in die Küche. Schwuchteln sind Pädo- Fleisch und Blut übergegangen ist? Fragen Sie mal phile oder die besseren Menschen. Verbunden mit Thomas Bernhard. dem Wunsch nach dem Ende der Mehrdeutigkeit und dem Ende des Spiels ist die Fetischisierung des Literatur ermöglicht das Spiel mit der Realität. Authentischen. Auch diese kommt in vielen Stel- Kunst überhaupt tut das. Sie spielt. So wie ihre lungnahmen der Cancel-Fraktion zum Ausdruck. Künstler*innen. So wie Schauspieler*innen. Das Aber: „Das Authentizitätsparadigma“, schreibt Tania Spiel ist anthropologisch betrachtet von immen- Martini dazu in der taz überzeugend, „ist für Men- ser Bedeutung. Das wusste schon Friedrich schen, die in der Postmoderne geschult sind, eini- Schiller. Und für manche ist das Spiel eben Beruf. germaßen unterkomplex.“ Und dazu zitiert sie Lisa Für Schauspieler*innen beispielsweise. Thimotée Eckhart passend mit den folgenden Worten: „Dass Chalamet spielt eine schwule Person, obwohl er wir in einer Zeit leben, wo ,künstlich‘, ,manieriert‘ nicht schwul ist. Lars Eidinger und André Jung spie- und ,gewollt‘ keine Komplimente sind, erachte ich len Behinderte, obwohl sie nicht behindert sind. als sehr seltsam.“5 Wenn schließlich ein Ende von Wenn hier ein Cancel-Wunsch aufkommt (und er Mehrdeutigkeit und Spiel und ein Übermaß an
Gesellschaft November 2020 65 Authentizität gefordert werden, wird zugleich eine Das Argument, eine Person aus einer privilegierten Hypersensibilität mit den Befindlichkeiten verletz- Kultur solle sich nicht am Set an Ausdrucksformen Aus dem gut ter Personen angemahnt. Dies so sehr, dass es sogar von unterprivilegierten Kulturen bedienen, ist reak- gemeinten als unerträglich beschrieben wird, wenn eine weiße tionär, weil ihm ein abgeschlossener Kulturbegriff Wunsch, Künstlerin sich in die Haut einer schwarzen Figur zugrunde liegt. Er führt zu einer Verkapselung kul- niemanden in hineinversetzt. tureller Ausdrucksformen in ihren Ursprungskon- seinem Sein zu texten und verunmöglicht einen kreativen Umgang Cultural appropriation mit Kultur. Wenn man den Cancel-Gedanken, dass verletzten, spricht kulturelle Ausdrucksformen in ihrer ursprünglichen man nicht für ihn. Genau diese Macht der Literatur, sich mit Empathie Kultur verbleiben müssten, zu Ende denkt, hätten Dann aber kommt in andere Menschen hineinzuversetzen, hatte Lionel wir heute weder die House- oder Rock-Musik, die Gesellschaft an ein Shriver auf dem Brisbane Writer’s Festival 2016 als wir haben, noch könnten Künstler*innen wie Jacob Ende. essenziell für die Literatur beschrieben. Retrospektiv Collier, weiß, jung und privilegiert, den Jazz in neue formulierte sie ihre Position für die New York Times: Dimensionen führen. „Briefly, my address maintained that fiction writers should be allowed to write fiction – thus should Solch eine Haltung verstärkt die Kluft zwischen not let concerns about ‘cultural appropriation’ con- einem „Wir“ und einem „die Anderen“ und lässt strain our creation of characters from different back- keine Vermittlung mehr zwischen beiden zu. Und grounds than our own. I defended fiction as a vital dann dreht sich der identitätspolitische Nieman- vehicle for empathy. If we have permission to write dem-zu-nahe-treten-wollen-Zirkus so weit, dass only about our own personal experience, there is no sogar anti-rassistische Kunst als rassistisch umgewer- fiction, but only memoir.“6 Die Autorin Yassmin tet wird, wenn sie von Künstler*innen mit der „fal- Abdel-Magied, die während Shrivers Vortrag auf- schen“ Hautfarbe produziert wird. Das geht dann stand und den Saal verließ, reagierte7 wie folgt auf so weit, dass nicht mehr eine schlimme Realität Shrivers Rede: „It was a monologue about the right kritisiert wird, sondern die Kunst, die diese Realität to exploit the stories of ‘others’, simply because it aufdeckt. Das kannten wir bisher aus totalitären Sys- is useful for one’s story.” Und sie urteilte: “It’s not temen, nun kehrt es zurück. always OK if a white guy writes the story of a Nige- rian woman because the actual Nigerian woman Realität kritisieren oder die Kritik kritisieren can’t get published or reviewed, to begin with.” Wer, muss man hier fragen, legt denn fest, welche Freiheit Georg Herolds Bild Ziegelneger, so der Wunsch einer Schriftstellerin zukommt, welche Figur sie in einer aufgebrachten Bürgerin aus diesem Jahr, sollte ihren Roman integrieren darf? Nach welchen Maß- im Frankfurter Städel Museum abgehängt werden. stäben, nach welchen Kriterien? Zugegeben, hinter Stein des Anstoßes: der Titel, sodann die Tatsache, solcher Forderung verbirgt sich durchaus die poli- dass ein weißer Künstler es gemalt hatte. Was zeigt tische Analyse unfassbarer politischer Ungleichheit, das Bild? Eine farbige Person, auf die ein Ziegelstein die absolut ins Schwarze trifft. Denn es stimmt, die geworfen wird. Motiv und Titel verweisen auf die Chancen, Einlass in den globalen Literaturbetrieb rassistische Stimmung, die der Künstler Anfang der zu erhalten, sind für farbige Menschen geringer als 1980er Jahre in der Bundesrepublik beobachtet und für weiße. Dies ist ein Unrecht erster Güte. Nur die mit seinem Bild kritisiert hat. Und dennoch, so der literaturtheoretische Schlussfolgerung, die Abdel- Wunsch der Cancelerin, sollte es abgehängt werden. Magied daraus zieht, bedeutet das Ende jeglicher Es verletze Gefühle. Thorsten Jantschek fand dafür Kunstfreiheit. Und sie geht noch weiter: „I can’t bei Deutschlandfunk Kultur die richtigen Worte: speak for the LGBTQI community, those who are „Das Museum hatte betont, es wolle ,niemanden neuro-different or people with disabilities, but that’s verletzen, provozieren oder triggern‘. Sind das nicht also the point. I don’t speak for them and should dieselben Leute, die in jeder zweiten Ausstellungs- allow for their voices and experiences to be heard eröffnung sagen, dass Kunst irritiert, verstört, Seh- and legitimized.” Hinter diesem Zitat verbirgt sich, und Denkgewohnheiten aufbricht? Mannomann!“8 in meinen Augen, die ganze Tragik der Identitätspo- Was für eine Kunst ist zu erwarten, wenn die viel litik: Aus dem gut gemeinten Wunsch, niemanden verwendete Rede von der Irritation durch Kunst in seinem Sein zu verletzten, spricht man nicht für uns nur noch schein-irritiert? Wir beobachten es ihn. Dann aber kommt Gesellschaft an ein Ende. in den Theatern dieser Welt. Kaum ein Publikum, Dann kommt auch bürgerschaftliches Engagement das wirklich in seinen Überzeugungen irritiert wird. an ein Ende. Dann können nur noch Betroffene für Die Kritiken sprechen von mutigen oder gewag- die Ebensobetroffenen sprechen. Dann muss sogar ten Stücken, wo sie doch nur mit Zustimmung der derjenige, der Solidarität üben möchte, um Erlaub- Zuschauer*innen, den wenigen, die noch ins Thea- nis für diese Solidarität anfragen. ter gehen, rechnen können9. Gratis-Mut hat Hans
66 forum 411 Gesellschaft Magnus Enzensberger so etwas einst genannt. Aber Wer auch nur einen Blick in das Buch Eure Hei- zurück zum Ziegelneger: Das vorgebrachte Argu- mat ist unser Albtraum 11 geworfen hat, wird schnell ment, ein Bild verletze Gefühle, kann nicht geltend verstanden haben, dass die Rede vom offenen Aus- gemacht werden. Gefühle sind – wenn auch gesell- tausch erst einmal wie Hohn klingen muss für Men- schaftlich vermittelt – in hohem Maße subjektiv. schen, die ihr Leben lang „geothert“ wurden, als Sicherlich wird sich für jedes Kunstwerk eine Per- nicht normal gelesen wurden. Hier sind Texte von son finden lassen, die sich verletzt fühlt. Aber wo Autor*innen versammelt, die unter den ausgespro- kämen wir hin, wenn auf jede Verletzung eine Zen- chenen und unausgesprochenen Ausgrenzungen sur stattfände? Wenn wir dies zuließen, dann könn- einer weißen, dominanten Mehrheitsgesellschaft ten Mohammed-Karikaturen tatsächlich nicht mehr gelitten haben und leiden – und dagegen aufbegeh- veröffentlicht werden. Subjektive Gefühle dürfen ren. Richtig so. Und doch kann nicht die Lösung nicht in Stellung gebracht werden gegen das hohe darin bestehen, dass alle, die als zu cis, zu normal, zu Gut der Kunst- und Meinungsfreiheit. In der Aus- privilegiert erscheinen, aus dem Raum des offenen einandersetzung über Kunst sollte das Gefühl nichts Austauschs ausgeschlossen werden sollen. verloren haben. Doch wir beobachten eine gefähr- liche Zunahme des Verweises auf Gefühl. Indes, Boomer und alte weiße Männer Gefühle lassen sich nicht gegen Gefühle ausspielen. Was allein zählen kann, sind Prinzipien. Doch die Aber genau der Ausschluss der bisher Privilegierten geraten in Gefahr, wenn subjektive Verletzungen wird bisweilen angestrebt. Wenn Begriffe wie „Boo- über allgemein formulierte Prinzipien gestellt wer- mer“ oder „alter weißer Mann“ zu Schimpfwörtern den. Und wenn dann die Angst bei Künstler*innen werden, dann ist das ein Ausschluss von Personen entsteht, die zahlreichen, diffusen und unklaren aus der Diskurs-Arena qua ihres Alters, ihrer Haut- Gefühle zu verletzen, dann verstummt die Stimme, farbe, ihres Geschlechts. Wie wenig neugierig auf trocknet der Pinsel aus, und die Kreativität erstarrt. die Position des Anderen kann man sein, wenn man Die Schere im Kopf zerschneidet jeden Anflug von nicht interessiert ist an der vielleicht interessanten künstlerischer Gestaltungskraft. Diese aber brau- Stellungnahme eines alten, weißen Mannes? Und: chen wir, damit Künstler*innen, egal wen sie kriti- Wie kommt man darauf, diese Strategie der Exklu- sieren, weiterhin gegen das Unrecht dieser Welt auf- sion wegen angeborener Eigenschaften anzuwenden, begehren können. Hört sich selbstverständlich an, wenn man sich ansonsten, wenn es um die Ausge- ist es aber nicht. schlossenen oder Unterprivilegierten geht, immer dagegen wehrt? Das Argument lautet: Jahrtausende Gesprächsabbruch schon hätten weiße heterosexuelle Männer den Ton angegeben, jetzt seien mal die anderen an der Reihe. Wer darf kritisieren? Wer darf reden? „Welche Das aber ist keine Revolutionierung der Macht, Machtposition bekleidet die kritisierte Person inner- das ist nur ihre Umkehr. Umkehr der Machtposi- halb der Gesellschaft und hat sie mit ihren Aussa- tion, nicht ihre Auflösung. Das ist die Kindergar- gen nach ,unten‘ oder nach ,oben‘ getreten?“10 Die ten-Logik: Der hat die ganze Zeit mit dem Laster Frage, gestellt von Tessie Jakobs in der woxx, denkt gespielt, jetzt bin ich dran. Nein, alle müssen dran die Antwort gleich mit und läuft darauf hinaus zu sein. In gesellschaftlich relevanten Debatten müssen sagen: Nach unten darf ich nicht treten. Nein? Darf alle dran sein. Ein echter Debattenraum kümmert ich Nazis nicht kritisieren, wenn sie Unterstützung sich nicht um die Hautfarbe oder das Geschlecht von der Arbeitsagentur beziehen? Darf ich einen einer Person, sondern ist an ihrer Stellungnahme mittellosen Islamisten nicht kritisieren, wenn er mit interessiert. Echte Debatte braucht Gegner, unbe- einem Messer durch die Stadt läuft und auf Men- dingt, doch sie braucht keine Feinde. schen einsticht? Was für eine gefährliche Legitimie- rung der Kritikposition ist das, wenn legitime Kritik Dass Gegner nicht zu Feinden werden nur dann geäußert werden darf, wenn der Sprecher benachteiligt ist. Kann eine wohlhabende, weiße, Navid Kermani hat es neulich, in seiner Eröffnungs- Subjektive Gefühle heterosexuelle Person, um es zuzuspitzen, sich also rede zum Literaturfestival, von dem Lisa Eckhart dürfen nicht in nicht mehr äußern über Dinge, die uns alle ange- ausgeladen worden war, auf den Punkt gebracht: hen? Der Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Wir müssen aufpassen, dass Gegner nicht zu Fein- Stellung gebracht Frauenfeindlichkeit geht alle an, die in einer gleich- den werden.12 Ich würde ergänzen: Wir müssen auf- werden gegen berechtigten Gesellschaft leben wollen. Aber die passen, dass wir Tugenden wie Kritikfähigkeit13 und das hohe Gut Fantasie manch eines identitätspolitisch Bewegten Ambiguitätstoleranz nicht über Bord werfen. Nun der Kunst- und reicht nicht aus sich vorzustellen, dass Ungleichbe- könnte man sagen: Das sagt sich so leicht, wenn man Meinungsfreiheit. handlungen sogar Privilegierte um den Schlaf brin- von einer privilegierten Position aus spricht. Der gen können. Autor dieser Zeilen, weiß, mittelalt, homosexuell,
Gesellschaft November 2020 67 berufstätig und recht gut vernetzt, schreibt sicherlich wichtiger zu nehmen als die schwachen“.15 Dazu von einer privilegierten Position. Aber was wäre die gehört natürlich noch, dass man ein größeres Inte- Wir müssen Alternative? Soll ich mein Ideal des herrschaftsfreien resse an der „Wahrheitsfindung“ hat als an der eige- unseren Gegnern Diskurses aufgeben, nur weil es realiter noch nicht nen Befindlichkeit. Jede*r sollte ein Interesse daran eine Plattform umgesetzt ist? Soll ich gar sagen, in Umdrehung des haben, dass der Gegner reden kann. Denn: Die Welt bieten, statt sie zu alten deutschen Untertanengeistes: Nach oben tre- ist bunt und divers, so muss auch unsere Debatte verbieten. ten, nach unten buckeln? Ist eine Position nur des- sein. Aber es muss eine Debatte sein. Und nicht der halb wertvoller, weil sie aus einer unterprivilegierten Versuch, diese permanent zu unterbinden. Lage heraus artikuliert wird? Nein, fanden auch 150 englische und US-ameri- kanische Intellektuelle, darunter, um nur zwei zu nennen, Margaret Atwood und Salman Rushdie, die am 7. Juli dieses Jahres ein Manifest veröffentlich- ten, in dem Sie das rezente Klima, das sie erleben, zuspitzten.14 Sie stellen darin fest, dass die Proteste neuer sozialer Bewegungen für soziale Gerechtigkeit zunähmen. Dies begrüßen sie. Mit diesem Kampf einher ginge jedoch „a new set of moral attitudes and political commitments that tend to weaken our norms of open debate and toleration of differences in favor of ideological conformity“. Und dem gelte es entgegenzutreten. Damit, möchte ich wiederho- len, Gegner, wie Kermani sagt, nicht zu Feinden werden. Damit der Streit nicht in den Krieg führt. Wir müssen unseren Gegnern eine Plattform bieten, statt sie zu verbieten. Damit wir die Blasen zerstö- ren, in denen sich viel zu viele eingerichtet haben. Die Populist*innen dieser Welt versuchen genau das: unsere Gesellschaften in verfeindete Lager zu 1 Siehe dazu den Beitrag (ohne Titel) von Kerstin Schweighöfer, spalten. Das ist sozusagen ihr Geschäftsmodell. Und in: art. Das Kunstmagazin, November 2020, S. 16. auch die sozialen Medien verdienen prächtig an die- 2 https://www.forum.lu/article/polanski-ou-la-guerre-des-valeurs ser Spaltung. Aber wenn unsere Demokratien eine (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 30. Oktober 2020 aufgerufen). Zukunft haben wollen, dann muss genau das, diese Spalterei, ein Ende haben. Zu wünschen wäre, dass 3 Vgl. https://www.forum.lu/wp-content/ uploads/2015/11/6794_296_Oppel.pdf sich nicht die Positionen mit den größten Follower- 4 https://www.woxx.lu/meinungsfreiheit-wer-cancelt-hier-wen Zahlen, sondern die mit den stärksten Argumenten 5 https://taz.de/Identitaetspolitik-auf-der-Buchmesse/!5717068 durchsetzen. Auch das wäre eine Art Minderhei- tenschutz. Für alles andere gilt: Wir haben Gesetze. 6 https://www.nytimes.com/2016/09/23/opinion/will-the-left- survive-the-millennials.html?_r=0 Sachbeschädigung ist Sachbeschädigung. Und Kör- 7 https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/sep/10/ perverletzung ist Körperverletzung, egal ob ein Nazi as-lionel-shriver-made-light-of-identity-i-had-no-choice-but-to- einen Flüchtling, ein Flüchtling einen Schwulen, ein walk-out-on-her Schwuler einen AfD-Politiker oder ein Pegida-Fan 8 https://www.deutschlandfunkkultur.de/umstrittenes- einen Polizisten attackiert. Polizeigewalt ist so uner- bild-im-staedel-museum-warum-herolds.2165. träglich wie Gewalt gegen die Polizei. Wir brauchen de.html?dram:article_id=479849 mehr denn je Prinzipien und weniger Parteinahme. 9 Vgl. dazu Jakob Hayner, Warum Theater. Krise und Erneuerung, Berlin, Matthes & Seitz, 2020. Vor allem weniger Parteinahme für die eigene Posi- 10 https://www.woxx.lu/meinungsfreiheit-wer-cancelt-hier-wen tion. Mehr Empathie für die anderen und weniger Wut auf Andersdenkende. Eine Debatte, in der jeder 11 Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah (Hg.), Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin, Ullstein, 2019. sich die Teile der Realität als Belege auswählt, die 12 Navid Kermani, „In aller Offenheit“, in: Die Zeit vom 10. die eigene vorgefertigte Position unterstützen, ist so September 2020, S. 43. verlogen wie die Spielerei mit Statistiken. Und auch, 13 Vgl. dazu https://www.forum.lu/article/ wenn es hart sein muss, denjenigen zuzuhören, die glueck-und-kritikfaehigkeit/ eine radikal entgegengesetzte Position vertreten, ist 14 https://harpers.org/a-letter-on-justice-and-open-debate das möglich. Jens-Christian Rabe schlug dazu, ganz 15 Jens-Christian Rabe, „Mehr wollen. Wie der Streit über die neue konkret, neulich in der Süddeutschen Zeitung vor, moralische Sensibilität zur kulturellen Revolution führt“, in: „die starken Argumente der jeweils anderen Seite Süddeutsche Zeitung vom 24./25. Oktober 2020, S. 15.
Sie können auch lesen