Zwischenraum 01 | 2021 - Katholische Akademie Schwerte

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Zwischenraum
 Das Magazin der Katholischen Akademie Schwerte

                01 | 2021
Inhalt                                                                        Editorial

                      3                                          23                 Die Bildung der Laien und die Evangelisierung der
         Christliches                              Jahresthema 2021:
­Menschenrechtsengagement im                         lebenszeichen
                                                                                    beruflichen und intellektuellen Klassen ­stellen
      digitalen Zeitalter                                Text: Stefanie Lieb
                                                                                    eine bedeutende pastorale Herausforderung dar.
  Text: Wolfgang Bentrup und Markus Leniger
                                                                                    Papst Franziskus, EG 102

                                                                 24
                      6                       Artist in Residence 2020 / 21:
   »Ich bin kein Atheist und                         ­Tabita Cargnel
                                                                                    Gott im Lockdown?
   ich glaube nicht an Gott«                             Text: Stefanie Lieb
                                                                                    Das Corona-Virus geht um. Die zweite                 Kirche der Ruf, sich auf das »Kerngeschäft«
   Text: Markus Adolphs und Christian Pelz                                          Welle ist da, und wir schwimmen mit. Frust,          zurückzuziehen: auf die Pfarrseelsorge, die
                                                                                    Enttäuschung, Fatalismus ist weithin die             Betreuung der Kirchentreuen. Der Rückzug
                                                                 26                 Reaktion, aber auch Aufbegehren, Wut,                in eine »Beteiligungskirche« birgt allerdings
                     12                            Kirchen und Kino.                entschlossenes Krisenmanagement. Doch                die Gefahr eines sich selbst genügenden
                                                                                    die Pandemie bremst nicht nur die wirt-              Binnenmilieus. Doch auch die Alternative
Über das Aushungern von Kunst                        Der Filmtipp                   schaftlichen Aktivitäten aus, sie legt sich          einer reinen »Dienstleistungskirche«, die
 und Kultur in Corona-Zeiten                            Text: Markus Leniger        auch wie Mehltau auf alle Bereiche des               sich auf (virtuelle) Angebote verlegt, ohne
             Text: Stefanie Lieb                                                    gesellschaftlichen und auch kirchlichen              den persönlichen Kontakt zu suchen und
                                                                                    Lebens. In der Krise zeigt sich, was trägt,          sich neu zu »inkulturieren«, verlöre auf
                                                                 30                 aber auch, was dem Druck von außen nicht             Dauer an Akzeptanz und Relevanz. Beides
                     14                       Ausstellungen und Konzerte            standhält und wegbricht. »Man sieht schärfer,        wäre zugleich eine Unterbietung des
                                                                                    was gut funktioniert – aber auch präziser, was       Christlichen.
   WER, wenn nicht WIR?                                                             nicht funktioniert« (Christoph Markschies).              Wenn Papst Franziskus – jenseits der
             Text: Peter Klasvogt                                                       Da überraschen auch nicht die Erkennt-           Selbstreferenzialität binnenkirchlicher
                                                                 32                 nisse der groß angelegten Studie des Wiener          Nabelschau – die Kirche immer wieder
                                                    Veranstaltungen                 Pastoraltheologen Paul M. Zulehner »Gott             auffordert, an die »Ränder« zu gehen, dann
                     16                            Januar – Juni 2021               im Lockdown«, der zufolge sich die Abnah-            zielt diese Neuausrichtung des Kirchlichen
                                                                                    me kirchlich gebundener Glaubenspraxis               und Wiederbelebung des Urchristlichen
    Lorenz Kardinal Jaeger                                                          fortsetzen und in Corona-Zeiten eher noch            nicht nur auf die Behebung sozialer Miss-
     als Kirchenpolitiker                                                           beschleunigen wird. Daran werden auch alle           stände. Darin zeigt sich zugleich sein
          Text: Christian Kasprowski                                                digitalen und hybriden Konferenz-Formate             bildungsdiakonischer Ansatz, wenn er –
                                                                                    und Streaming-Angebote wenig ändern. Die             noch als Erzbischof von Buenos Aires und
                                                                                    Krise des Kirchlichen, jedenfalls in Westeu-         seitdem immer wieder – wörtlich davon
                                                                                    ropa, ist der demographisch und kulturell            spricht, » nicht nur an die geografischen
                                                                                    bedingte Mitgliederschwund, ein Schicksal,           Ränder, sondern an die Grenzen der mensch­
                                                                                    das die Kirchen auch mit anderen Orga­               lichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde,
                                                                                    nisationsformen teilen. Und wie in allen             die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit,
                                                  Akademie im Film
                                                                                    Großorganisationen wächst auch in der                die der Ignoranz, die der fehlenden religiösen
                                                  Lernen Sie uns aus neuem
                                                  Blickwinkel kennen und besuchen
                                                  Sie unseren YouTube-Kanal
                                                                                                                                     1
GES C HI C HT E + P OLITI K
              Praxis, die des Denkens « zu gehen. Daraus              »Wir müssen dahin kommen«, so Weihbischof
              ergibt sich ein klarer Handlungsauftrag für             Christoph Hegge, »dass die säkulare Gesell­
              die Kirche unserer Tage, »mit kreativen
              Methoden, anderen Ausdrucksformen, aussage­
              kräftigeren Zeichen und Worten« (EG 11) an
                                                                      schaft vor allem bei zentralen sozialen und
                                                                      ethischen Themen eine Kompetenzvermutung
                                                                      hinsichtlich der Kirche hegt: Wer Fragen des
                                                                                                                                    Christliches
              diesen Rändern für eine neue humanisieren-
              de Bildung aus dem Geist des Evangeliums
                                                                      glückenden Zusammenlebens und der Nachhaltig­
                                                                      keit, des interreligiösen Dialogs wie der persön­     ­Menschenrechtsengagement
              Sorge zu tragen. Das ist nicht zuletzt auch             lichen Lebensführung hat, soll wissen: bei den
              eine klare Ansage und Arbeitsauftrag für die
              Katholischen Akademien und die Einrichtun-
                                                                      Katholischen Akademien und bei den Einrichtun­
                                                                      gen der katholischen Erwachsenenbildung bin ich          im digitalen Zeitalter
              gen der Katholischen Erwachsenenbildung.                richtig; hier finde ich ein profiliertes Kompetenz­
              Kirchliche Bildungsdiakonie ist kein »Luxus«,           zentrum mit Tiefgang.« Gerade in einer Zeit,            Tagung in Kooperation mit der christlichen
              auf den man in Zeiten knapper Ressourcen                in der die Corona-Pandemie über die ganze
              oder mangelnder gesellschaftlicher Akzep-               Welt einen Lock-down bzw. ein Slow-down                  ­Menschenrechtsorganisation ACAT e. V.
              tanz verzichten könnte. Vielmehr braucht es             verhängt, wo alle Aktivitäten zurückgefahren,
              ein kraftvolles, offensives »Eindringen                 Gewissheiten infrage gestellt werden und mit                   Text: Wolfgang Bentrup und Markus Leniger
              christlicher Werte in die soziale, politische und       zunehmender Dauer die Unduldsamkeit das
              wirtschaftliche Welt« (EG 101). Eben darum              Zusammenleben belastet, ist gerade auch die
              braucht es Akademien als gastfreundliche                Kirche mit ihren Dialogorten gefragt, sich mit
              Diskurs-Orte, wo es darum geht, die Wert-               ihrer sinndeutenden Kraft und lebensgestal-
              maßstäbe des Christentums im Ringen um                  terischen Kompetenz an die Ränder der
              das rechte Handeln und richtige moralische              Sorge, der Enttäuschung und der Angst zu
              Urteil unwiderstehlich plausibel zu machen              begeben – in Weggemeinschaft mit jedem,
Ed ito rial

              und lebensgestalterisch einzubringen.                   der nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt.

                                                                      In erwartungsfroher Weggefährtenschaft!
                                                                      Ihr Peter Klasvogt

                                                                      Prälat Dr. Peter Klasvogt
                                                                      Akademiedirektor

Zur ück z um I n h a l t                                          2                                                                                        3
Aktion der Christen
                                                                                                                                                                                                                                              für die A
                                                                                                                                                                                                                                                      ­ bschaffung der Folter

                                                                                                                                                                                                                                               Die ACAT – Aktion der Christen für
                                                                                                                                                                                                                                               die Abschaffung der Folter (Torture)
                                                                                                                                                                                                                                              – ist eine internationale, christliche
                                                                                                                                                                                                                                               Menschenrechtsorganisation. In der
                                                                                                                                                                                                                                               ACAT engagieren sich gemeinsam
                                                                                                                                                                                                                                               Christen der verschiedenen Konfes-
                                                                                                                                                                                                                                               sionen für die Abschaffung der
                                                                                                                                                                                                                                               Folter. Wichtige Bausteine ihres
                                                                                                                                                                                                                                               Einsatzes sind Briefaktionen und das
                                                                            Mike Karst sprach über den Epochenwandel           Etwa 30 Teilnehmer*innen diskutierten angeregt die      Blogger und Rechtsanwalt Nguyen Van Dai (rechts)
                                                                                        der ­Digitalisierung.                          ­Auswirkungen der Digitalisierung.                      mit Übersetzer Ton-Vinh Trinh-Do                Gebet. Darüber hinaus engagieren
                                                                                                                                                                                                                                               sich die ACAT-Mitglieder in Deutsch-

                                                                                                                                                                                                                                                                                          Christliches ­M ensche nrechtsengagement im d igita len Z eital te r
Ch ris tl iches ­M ensche nrechtsengagement im d igitalen Zeitalter

                                                                                                                                                                                                                                               land für die weltweite Abschaffung
                                                                      Die Digitalisierung erfasst und verändert              Relevanz von Informationen zu beurteilen.              Ganz konkret konnte der Blogger und                        der Todesstrafe, in der Flüchtlings-
                                                                      alle Lebensbereiche. Der Zugang und die                Es komme ganz wesentlich darauf an, ob                 Rechtsanwalt Nguyen Van Dai aus Vietnam                    politik und setzen sich ein für die
                                                                      Verbreitung von Informationen und                      Informationen aus vertrauenswürdigen                   berichten, wie er nach seiner Freilassung                  Berücksichtigung der Menschenrechte
                                                                      Meinungen haben sich wesentlich verein-                Quellen kommen. Hier liege die besondere               aus dem Gefängnis versucht, über das                       in der Innen- und Außenpolitik.
                                                                      facht und demokratisiert. Davon profitieren            Aufgabe und Verantwortung von Organisa-                Internet Einfluss zu nehmen auf die Politik                    Die ACAT ist dadurch auch eine
                                                                      nicht zuletzt auch Vertreterinnen und                  tionen, die sich für die Menschenrechte                in seinem Heimatland. Er war in Vietnam                    politische Organisation, die außer-
                                                                      Vertreter der Zivilgesellschaft, die ihre Kritik       einsetzen. Karst verdeutlichte diesen                  Anwalt für Menschenrechte, wurde seit                      halb von Parteigrenzen für den
                                                                      an ungerechten Gesellschafts- und Herr-                Aspekt mit Beispielen aus der Arbeit von               2007 mehrmals verhaftet und kam 2018 auf                   Schutz von Menschen und die Einhal-
                                                                      schaftsstrukturen in den sozialen Medien               Amnesty International. In der anschließen-             Druck von NGOs und Politikern frei, mit                    tung der Menschenrechte arbeitet.
                                                                      äußern. Zugleich nutzen Staaten die digi-              den Diskussion mit den etwa dreißig                    der Auflage, das Land zu verlassen. Heute                  Die ACAT-Organisationen tun dies
                                                                      talen Überwachungsmöglichkeiten zur                    Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern                äußert er sich regelmäßig und erfolgreich                  auch in ihrem eigenen Land. Ein
                                                                      Unterdrückung kritischer Meinungsäuße-                 ging es u. a. um die konkreten Auswirkun-              von Deutschland aus über Facebook und                      weiteres Ziel der ACAT ist, die Christen
                                                                      rungen und zur Verfolgung von Kritikern                gen auf die Arbeit von ACAT.                           Youtube zu Menschenrechtsproblemen mit                     und ihre Kirchen zu einem glaub-
                                                                      und Whistleblowern.                                        Der Vortrag von Domdekan Dr. Chris-                einer großen Zahl von Followern in                         würdigen Engagement gegen Folter
                                                                          Vom 26. bis 27. September gab die Tagung           toph Kohl aus Speyer betonte vor allem die             Vietnam.                                                   und Todesstrafe zu ermutigen.
                                                                      »Christliches Menschenrechtsengagement                 biblischen Grundlagen der christlichen                     Zum Abschluss der Tagung wurde der
                                                                      im digitalen Zeitalter« einen Überblick zu             Menschenrechtsarbeit: die Gottebenbild-                Film »The Cleaners« von Hans Block und                    www.acat-deutschland.de
                                                                      den Auswirkungen des digitalen Wandels                 lichkeit des Menschen und die Identifikati-            Moritz Riesewieck gezeigt. Der 2019 mit
                                                                      auf das Menschenrechtsengagement und                   on Christi mit jedem Menschen aus dem                  dem Katholischen Medienpreis ausgezeich-
                                                                      fragte insbesondere nach den Herausfor­                Weltgerichtsgleichnis nach Matthäus.                   nete Dokumentarfilm erzählt von den
                                                                      derungen für einen spezifisch christlichen             Danach müsste es für jeden Christen eine               globalen Auswirkungen der Online-Zensur,
                                                                      Ansatz.                                                Selbstverständlichkeit sein, sich für die              zeigt wie Fake News und Hass durch die
                                                                          In den beiden einleitenden Vorträgen               Menschenrechte einzusetzen.                            Sozialen Netzwerke verbreitet und verstärkt
                                                                      hat der Digitalisierungsexperte und Politik-               Stefanie Hoffmann von der Stabsstelle              werden. Daraus ergeben sich teilweise
                                                                      wissenschaftler Mike Karst den Epochen-                Digitalisierung der EKD konnte Corona-­                verstörende Einblicke in die Maschinen­
                                                                      wandel herausgestellt, der sich derzeit                bedingt selbst nur virtuell anwesend sein              räume der sozialen Netzwerke mit ihren
                                                                      vollzieht. Nicht nur die Menschenrechts­               und medienethische Anmerkungen vortragen.              prekären Arbeitsbedingungen.
                                                                      arbeit ändert sich dadurch, auch die Politik           Die technische Ausstattung der Akademie
                                                                      und das gesellschaftliche Bewusstsein                  ermöglichte den Teilnehmerinnen und
                                                                      sind davon betroffen, positiv, weil (fast)             Teilnehmern, sich trotz der Distanz an der
                                                                      alle mehr wissen und reagieren können;                 Diskussion zu beteiligen – ein praktisches
                                                                      negativ, weil es immer schwerer wird, die              Beispiel für den »Epochenwandel«.

     Zur ück z um I n h a l t                                                                                            4                                                                                                                5
THEOLOGIE + PHILOSOPH IE

                   »Ich bin kein Atheist und
                   ich glaube nicht an Gott«
                           Offenes universitäres Blockseminar über
                               die Philosophie ­Albert Camus’
                                    Text: Markus Adolphs und Christian Pelz

                                                                                                                                                                                                           »Ich bin kein Atheist und ich glaube nich t an Got t «
         Die Welt ist absurd. Dies bildet nicht das          Das Seminar hatte das Ziel, zunächst das
         Ziel der Philosophie Albert Camus’, son-            Problem zu verstehen, dem sich Camus in       Camus leider nicht fertig gestellt werden,        1. Zyklus: Das Absurde
         dern ihren Ausgangspunkt. Die Frage kann            seiner Philosophie stellt. Was heißt »Die     da er 1960 plötzlich bei einem Autounfall         »Es gibt nur ein wirklich ernstes philoso­
         deshalb nur lauten: Wie ist ein Leben in der        Welt ist absurd«? Welche praktischen          starb. Jeder Zyklus setzt sich aus einem          phisches Problem: das ist der Selbstmord.
         Welt unter der Voraussetzung der Absur­             Konsequenzen zieht Camus daraus? Wie          Roman, einem philosophischen Werk und             Sich entscheiden, ob das Leben es wert
         dität dieses Lebens möglich?                        kann ein Leben im Bewusstsein der Absur-      einem Drama zusammen, was die Gelegen-            ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf
             Das Hauptseminar, das der Lehrstuhl für         dität aussehen? Und – was heißt das für       heit bot, sich auf verschiedenen Wegen            die Grundfrage der Philosophie zu ant­
         Religionsphilosophie und Wissenschafts-             intellektuelle Redlichkeit der Hoffnung,      mit dem Thema des Absurden auseinander­           worten.« 1 – Harte Worte, die Camus hier
         theorie und der Lehrstuhl für Fundamental-          die Christen trägt?                           zusetzen.                                         spricht. Wie kommt er darauf?
         theologie der Katholisch-Theologischen                  Diese Fragen stellten sich die 13             Methodisch wurde sich der Philosophie              Camus’ absurder Mensch schlechthin ist
         Fakultät der Ruhr-Universität Bochum                Teilnehmer*innen, Studierende, Akademie-      Camus’ auf zweierlei Wegen genähert:              Sisyphos. Dieser muss immer wieder aufs
         zusammen mit der Katholischen Akademie              publikum und Tagungsleitung. Vorausge-        Zum einen stellten die Studierenden in            Neue einen Stein den Berg hinaufrollen.
         Schwerte durchführte, fand vom 7. bis 9. Juli       setzt wurde dabei die Lektüre von Camus’      Kurz­referaten Forschungspositionen aus der       Dabei weiß er genau, dass dieser Stein den
         2020 in Schwerte statt und stellte für die          beiden bekanntesten Romanen: »Der             Sekundärliteratur vor. Zum anderen wurden         Berg hinunterrollen wird, sobald er oben
         Teilnehmer*innen aus Bochum die erste               Fremde« und – wie sollte es in Zeiten         gemeinsam im Plenum Camus’ Werke stu-             ist. So fängt all sein Handeln immer wieder
         »richtige« Lehrveranstaltung dar, nachdem           coronabedingter Isolation anders sein –       diert. Auf Initiative einer Studentin wurde       von vorne an. Sein Handeln ist schlechthin
         das Sommersemester bis dahin aufgrund               »Die Pest«.                                   Camus’ Motiv der Müdigkeit aus »Die Pest«         absurd, sinnlos, weil Sisyphos an seinem
         von Covid-19 rein digital stattfinden                   In der Struktur lehnte sich das Seminar   mit dem Lied »Müde« des Rappers Dende-            Ziel immer wieder scheitert. Meisterhaft
         musste. Natürlich ging es auch in der               an die Einteilung an, die Camus selbst        mann in Verbindung gesetzt. Durch eine            stellt Camus die absurde Existenz in »Der
         Akademie nicht ohne Abstand und Masken.             seinem Werk gegeben hat. Camus sprach         spon­tane Bühnendarbietung der beiden             Fremde« dar. Im Charakter von Mersault
         Der Abstand verhinderte jedoch in keiner            von drei Zyklen: dem »Zyklus des Absur-       Dozenten aus dem Drama »Das Missver-              artikuliert sich die vollkommene Gleichgül-
         Weise den äußerst intensiven Austausch              den« und dem »Zyklus der Revolte«. Der        ständnis« wurde das Denken Camus’ auch            tigkeit gegenüber starken Sinnansprüchen.
         auf intellektueller und existenzieller Ebene.       dritte »Zyklus der Liebe« konnte von          auf dramaturgische Weise verdeutlicht.            »Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden

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»Ich bin kein Atheist und ich glaube nich t an Got t «
                                                       Die beiden Dozenten: Markus Adolphs (l.) und Christian Pelz

                               Büro und Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier               letzten verzweifelten – aber illusorischen –
                               Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag,                Versuch dar, dem Leben einen Sinn zu
                               Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag,                geben. Die einzige Möglichkeit, dem
                               Samstag, immer derselbe Rhythmus – das                  menschlichen Anspruch nach Sinnhaftig-
                               ist meist ein bequemer Weg.« 2                          keit gerecht zu werden, besteht nach
                                   Wenn da nicht diese Momente wären,                  Camus darin, sich gegen das Absurde
                               in denen sich das Warum erhebt. Warum                   aufzulehnen, ohne es zu leugnen. Sisyphos
                               tue ich dies alles? Worin liegt der Sinn                triumphiert Camus’ Ansicht nach über das
                               meines Tuns? Und mit der Frage nach dem                 Schicksal, indem er sich seines Schicksals
                               Warum kommt ein Überdruss über das                      bewusst wird. Er macht die absurde
                               alltägliche Tun auf. Dies ist der Moment,               Situation zu seiner Sache: »Sein Schicksal
                               in dem die Absurdität ins Leben bricht.                 gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache« 3.
                               Und ist sie einmal da, wird man sie schwer              Der Stein muss jeden Tag aufs Neue den
                               wieder los.                                             Berg hinaufgerollt werden – jedoch in der
                                   Camus’ Interesse ist ganz praktischer               vollkommenen Klarheit und im vollen
                               Natur: Wie soll ich handeln? Ist der Selbst-            Bewusstsein, dass er niemals oben liegen
                               mord als Flucht aus dieser absurden Existenz            bleiben wird. »Der Kampf gegen den Gipfel
                               die einzige sinnvolle Möglichkeit? Selbst-              vermag ein Menschenherz auszufüllen.
                               mord als die Konsequenz der Einsicht,                   Wir müssen uns Sisyphos als einen glück­
                               dass der Stein immer wieder herunterrollt?              lichen Menschen vorstellen.« 4
                               Ist es nicht redlicher, den Anspruch auf
                               Sinn ganz aufzugeben, also das Leben sein               2. Zyklus: Die Revolte
                               zu lassen, wenn kein endgültiger Sinn zu                Im zweiten Zyklus weitet Camus seinen
                               erreichen ist?                                          Blick. Denn allein im Protest, in der Nega­
                                   Camus lehnt diese Option ab. Denn                   tion der Absurdität, lässt es sich nicht leben.
                               selbst der Selbstmord stellt noch einen                 Wie verhält sich der absurde Mensch in

Zur ück z um I n h a l t   8                                                       9
der Gemeinschaft anderer Menschen?                   Das Absurde und das Christentum
                                                           Kann es in der Absurdität eine Ethik geben?          Kann man sich aus der Perspektive des
                                                               In seinem Roman »Die Pest« spielt                christlichen Glaubens einer der Positionen
                                                           Camus diese Fragen durch. Wie soll in einer          anschließen? Lässt sich angesichts des
                                                           Stadt gehandelt werden, in der die Pest              sinnlosen Leidens noch an einen rettenden
                                                           wütet? Vor diese Frage sieht sich der Arzt           Gott glauben? Oder verhöhnt dies die
                                                           Dr. Rieux gestellt. Er stemmt sich mit aller         Opfer, da dadurch dem Leiden ein Sinn
                                                           Kraft gegen die sinnvernichtende Kraft               zugesprochen wird?
                                                           des Todes. Er eilt von Patient zu Patientin,              Ein Vorteil eines Seminars in der Katho-
                                                           immer kurz vor dem eigenen Zusammen-                 lischen Akademie in Schwerte liegt darin,
                                                           bruch. Zugleich schafft er es kaum, eine vor         dass nicht alle Fragen im Diskurs beantwor-
                                                           dem Pesttod zu retten – und das ist ihm              tet werden müssen. So konnten die vielen
                                                           vollkommen klar. Die Pest verneint den               Gedanken am Samstagabend in einen
                                                           Sinn seiner ärztlichen Profession. Sie bedeu-        kleinen Wortgottesdienst hineingenommen
                                                           tet für ihn »eine Niederlage ohne Ende« 5            werden und durch biblische Texte, Instru-
                                                           und führt ihm darin in drastischer Weise             mentalmusik und Stille in einen eigenen
»Ich bin ke in Athe ist und ich glaube nich t an G o tt«

                                                                                                                                                                                                                                                                           »Ich bin kein Atheist und ich glaube nich t an Got t «
                                                           die Absurdität seines Handelns vor Augen.            Kontext gestellt werden.
                                                               Dennoch revoltiert er gegen die Pest,                 Da dies für gute Theologie zwar ele­
                                                           indem er sich ihr mit ganzer Kraft entge­-           mentar, jedoch natürlich nicht ausreichend
                                                           gen­stellt – allerdings ohne Hoffnung darauf,        ist, wurde die Frage, wie theologisch mit
                                                           sie besiegen zu können. Der sinnlose Tod             der Problemanalyse Camus’ umgegangen            Die damit aufkommenden Folgefragen                 1.   Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, 2020, 15.
                                                           des Menschen führt sein Handeln ad absur-            werden kann, am Sonntagvormittag noch           können nicht ohne den Gedanken der                 2.   Ebd., 24 f.
                                                                                                                                                                                                                   3.   Ebd., 144.
                                                           dum – dennoch ist er verpflichtet, dagegen           weitergeführt. Der Anspruch bestand nicht       Menschwerdung Gottes behandelt werden.             4.   Ebd., 145.
                                                           zu revoltieren.                                      darin, eine umfassende Antwort auf die          Was bedeutet es, dass Gott Mensch wird?            5.   Albert Camus: Die Pest, 2020, 147.
                                                               Dr. Rieux stellt Camus den katholischen          Herausforderung Camus’ zu geben. Vielmehr       Inwiefern verändert sich die menschliche           6.   Ebd., 247.
                                                                                                                                                                                                                   7.   Ebd., 247.
                                                           Priester Paneloux entgegen. Zu Beginn der            ging es darum, die Teilnehmer*innen für zu      Wirklichkeit, besonders das weiterhin
                                                           Pest deutet Paneloux die Seuche als Strafe           leichte Antworten zu sensibilisieren. Die       sinnlose Leiden? Ist es denkbar, dass durch
                                                           Gottes, die die Bewohner aufgrund ihrer              Absurdität, in der der Mensch steht, kann       das Mitleiden Gottes mit den Menschen
                                                           Sünden heimsucht. Nachdem Paneloux                   nicht durch einfache Antworten aufgehoben       sich ein neuer Umgang mit der Absurdität
                                                           jedoch das sinnlose Leiden und Sterben eines         werden. Camus spricht sich mit Vehemenz         eröffnet, der zwar nicht den Protest gegen
                                                           Kindes erlebt, nimmt er von dieser Position          gegen eine Deutung der Welt aus, in der         die Absurdität erstickt, wohl jedoch den
                                                           Abstand. Auch er ist außerstande im Leiden           »alles einen Sinn hat«. »Ich habe eine andere   Menschen eine Hoffnung auf ein Ende des
                                                           des Kindes einen Sinn zu sehen. Doch                 Vorstellung von Liebe. Und ich werde mich       Leidens schenkt?
                                                           gibt er damit nicht den Anspruch auf, dass           bis zum Tod weigern, diese Schöpfung zu             Eine abschließende Antwort konnte
                                                           all das Leiden einen Grund hat. »Aber                lieben, in der Kinder gemartert werden« 7.      und wollte das Seminar darauf nicht geben.
                                                           vielleicht müssen wir lieben, was wir nicht          Ein Gott, der im Leiden unschuldiger Kinder     Denn gute Seminare zeichnen sich dadurch
                                                           verstehen können.« 6                                 einen Sinn sieht, ist aus Camus’ Perspektive    aus, dass man mit mehr, aber auch mit
                                                               Rieux bleibt in der Situation des sinn-          zynisch.                                        besseren Fragen nach Hause geht, als man
                                                           losen Leidens nur der unbedingte Protest                 Theologisch erzwingt dies eine Umkeh-       gekommen ist. Und für ein vertieftes Fragen
                                                           gegen das Leiden und Solidarität mit den             rung der Perspektive. Die Frage kann nach       stellt die Akademie in Schwerte immer
                                                           Leidenden. Auch Paneloux’ Weg führt in               Camus nicht mehr lauten, wie ein Sinn in der    wieder einen hervorragenden Ort dar.
                                                           die Solidarität mit den Leidenden. Aller-            Welt trotz der erlebten Absurdität gefunden
                                                           dings gibt er die Hoffnung nicht auf, dass           werden kann. Vielmehr stellt sich die Frage,
                                                           aus der Perspektive Gottes auch ein Leben            wie jeder Mensch in die Lage versetzt werden
                                                           in diesem Leiden lebens- und liebenswert             kann, sein eigenes Leben im Ganzen als letzt-
                                                           sein kann.                                           endlich sinnvoll und lebenswert zu bejahen.

    Zur ück z um I n h a l t                                                                               10                                                                                                 11
K UNS T + K ULTUR

                           Über das Aushungern                                                                gleich. Natürlich gibt es für Künstler*innen
                                                                                                              auch immer die Schaffensphase des
                                                                                                              kreativen Rückzugs – hier ist der zwischen-
                                                                                                                                                                  müssen unbedingt Alternativen für Kunst
                                                                                                                                                                  und Kultur gefunden werden, die ihr das
                                                                                                                                                                  Weiterbestehen sichern, denn sonst haben

                           von Kunst und Kultur                                                               menschliche Kontakt vielleicht nicht
                                                                                                              dringend notwendig –, aber spätestens,
                                                                                                                                                                  wir nach der irgendwann erfolgreichen
                                                                                                                                                                  Austrocknung des Virus unsere Kultur mit
                                                                                                              wenn es um ein Feedback und um die                  ausgehungert.
                             in Corona-Zeiten                                                                 Präsentation vor einem Publikum geht, ist
                                                                                                              der leibhaftige Austausch maßgeblich.
                                                                                                                                                                     In der Akademie startet ab Dezember
                                                                                                                                                                  2020 die Ausstellung »lebenszeichen« mit
                                                                                                              Davon lebt Kunst, und nur daran kann sie            Präsentation von Kunstwerken des
                           Statement und Ausstellungsankündigung                                              sich entwickeln. Wenn diese Prozesse                sogenan­nten Corona-Blogs auf der Home-
                                                                                                              immer wieder ausgebremst werden und                 page der Akademie, den wir bereits im
                                              Text: Stefanie Lieb                                             keine Perspektive am Horizont erscheint,            März 2020 eingerichtet haben und bei dem
                                                                                                              kann das zu einem Absterben der auto­               Künstler*innen der Akademie ihre Arbeiten

                                                                                                                                                                                                              Ü ber d as Au sh unge rn vo n Kunst und Kultur in Co r on a-Z eit en
                                                                                                              nomen Kunst- und Kulturszene in Deutsch-            zur Corona-­Krise zur Verfügung gestellt
                                                                                                              land führen, für die das Land bis jetzt             haben. Diese werden hoffentlich dann ab
                                                                                                              weltweit so gerühmt wurde. Für die Zeit             Dezember in einer Gruppenausstellung in
                                                                                                              nach dem derzeitigen Herunterfahren                 den Räumen der Akademie gezeigt.

         Der zweite Lockdown in Deutschland hat              Abstand an der Kasse oder schiebt sich
         begonnen – und wieder trifft es vor allem           durch die Fußgängerzonen Deutschlands.
         die Kunst- und Kulturbranche hart. Zwar             Und in den Museen und Kunstausstellungen
         ist die Entscheidung der Politik nachzuvoll-        besteht durch das System der Zeitfenster              » lebenszeichen «
         ziehen, dass man für eine bestimmte Zeit            und Größenbeschränkung von angemel­                   Künstler*innen
         wenn möglich jeden zwischenmenschlichen             deten Gruppen überhaupt nicht die Gefahr              der Akademie zur
         Kontakt kleinhalten will und die Gefahren           von geselligen Haufenbildungen!                       Corona-Krise
         der »Geselligkeit« auch im Konzertsaal, im              Die Corona-Krise legt vielleicht die schon        6.Dezember 2020
         Theater, Opernhaus, Museum und Kino                 länger vorhandene Schieflage zwischen                 – 18. April 2021
         wittert – aber besonders hier? Ist diese            Kultur und Kommerz offen: Die Einordnung
         Entscheidung der Totalschließung dieser             von Kulturveranstaltungen als reine Events             Vorläufige Ausstellungs-
                                                                                                                    dauer, Corona-Änderungen
         Einrichtungen wirklich angemessen? Zumal            des Freizeitvergnügens, die nebenbei auch             ­vorbehalten.
         viele dieser Institutionen seit dem ersten          noch viel Geld erwirtschaften müssen,                 Zeitnahe Informationen
         L0ckdown im März 2020 inzwischen                    damit sie ein Standing haben, greift viel zu          werden auf der Homepage
         akribisch konzipierte und gut funktionie-           kurz. Kultur ist eben auch, wie es ja                 der Akademie und in der
                                                                                                                   Presse bekanntgegeben.
         rende Hygienekonzepte erarbeitet haben?             momentan der weiterhin geöffneten Kirche
         Ich denke nicht. Wenn man dazu noch die             zugeschrieben wird, ein »Ort für die mensch-
         vergleichbaren Publikumszahlen betrachtet,          liche Seele«, die ja zurzeit weltweit tat­
         die bei Theatern, Konzerthäusern und                sächlich diese Krise irgendwie verarbeiten
         Kinos zuletzt bei im Schnitt 300 Personen           muss!
         lagen und auch noch weiter hätten herun-                Die Künstler*innen und Kulturschaffen-
         tergefahren werden können auf die nun               den selbst sind die großen Leidtragenden.
         vorgeschriebenen 100 Personen, ist das alles        Zwar haben sie im ersten Lockdown
         andere als einleuchtend. Denn so eine               Geldförderungen vom Staat erhalten und
         vergleichbare Menschenmenge steht                   auch für die zweite Schließung sind erneute
         momentan auch bei den weiterhin geöff­              Zahlungen angekündigt – dennoch kommt            Birgit Feike, Bin gleich zurück, B.
         neten Großmärkten mit manchmal weniger              die Situation für sie einem Berufsverbot         Siebdruck, 2020

Zur ück z um I n h a l t                                12                                                                                                   13
kir che + gesel l schaf t

                                WER,                                                                        »Die Kirche ist gerufen, über die
                                                                                                            besondere Art der Glaubenssuche junger
                                                                                                                                                               liche Entwicklungen beleuchten, sich über
                                                                                                                                                               individual- und sozialethische Fragen
                                                                                                                                                               austauschen und in einem geistlichen Klima

                           wenn nicht WIR?                                                                  Digital Natives nachzudenken und
                                                                                                            dementsprechend ihre Art der Evange­
                                                                                                                                                               auch persönliche Lebensthemen ansprechen.
                                                                                                                                                               Während viele Kirchengemeinden beklagen,
                                                                                                            liumsverkündigung an die Sprache der               dass gerade die Jugendlichen wegbleiben,
                                                                                                            neuen Generationen anzugleichen,                   entsteht hier ein intensiver Vernetzungs-
                             Campus Professional Dialogue –                                                 indem sie diese dazu einlädt, ein neues            prozess von engagierten jungen Leuten, die
                             ein innovatives B
                                             ­ ildungsformat                                                Gefühl gemeinschaftlicher Zugehörig­               sich aus christlicher Überzeugung für eine
                                                                                                            keit zu schaffen, das sich nicht in dem            Kultur der Wertschätzung in ihrem jeweili-
                                          Text: Peter Klasvogt                                              im Netz Erlebten erschöpft, sondern es             gen Lebensumfeld einsetzen und bereit
                                                                                                            mit einbezieht.« (370)                             sind, entsprechend den eigenen Möglich-
                                                                                                            »Aus der individualistischen, isolierten           keiten und Kompetenzen Verantwortung in
                                                                                                            Welt der sozialen Medien muss der                  Kirche und Gesellschaft zu übernehmen.
                                                                                                            Schritt in die kirchliche Gemeinschaft                 Was hier in einem innovativen Pilotpro-
                                                                                                            erfolgen, als Ort, an dem Gotteserfah­             jekt so unspektakulär begonnen hat, findet
                                                                                                            rung zum gemeinschaftlichen, gemein­               übrigens eine Aufwertung und Würdigung
                                                                                                            sam geteilten Erleben wird.« (372)                 von unverdächtiger Seite. Denn wenn
                                                                                                                                                               sich ein Einzelner, so Papst Franziskus in

                                                                                                                                                                                                                WER, wenn nich t WIR ?
                                                                                                            Aus: Direktorium für die Katechese, 370.372        seiner neuen Sozialenzyklika, »mit anderen
                                                                                                                                                               verbindet, um gesellschaftliche Prozesse zur
                                                                                                                                                               Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit für alle
                                                                                                         interdisziplinären Austauschs geschaffen.             ins Leben zu rufen, tritt er in das Feld der
                                                                                                         Denn mit der Berufseinstiegsphase, die                umfassenderen Nächstenliebe, der politischen
                                                                                                         oft auch mit der Familiengründung einher-             Nächstenliebe ein« (Fratelli tutti, 180). Ein
                                                                                                         geht, entsteht ein erhöhter Beratungs-                Grund mehr, den eingeschlagenen Weg
                                                                                                         und Begleitungsbedarf in beruflicher, gesell­-        weiter zu verfolgen. Die Teilnehmenden am
                                                                                                         schaftlicher und spiritueller Hinsicht.               Campus Professional Dialogue braucht man
                                                                                                         Aufgrund der räumlichen Distanz wie der               davon jedenfalls nicht mehr zu überzeugen.
                                                                                                         starken beruflichen Inanspruchnahme
                                                                                                         bedarf es dazu allerdings neuer digitaler
                                                                                                         Veranstaltungsformate. Und so dreht sich
                                                                                                         das Gespräch im Netz nicht nur um einen
                                                                                                         vorab abgestimmten Impuls zu einem
                                                                                                         individual- oder sozialethisch relevanten
         Christian aus Cambridge ist dabei. Sarah        Eine Videokonferenz von vielen, mag man         Thema. Im Zentrum des Meetings steht
         und Matthias sind aus ihrer Wohnung nahe        denken; aber bei dem monatlichen on-line        vielmehr der Austausch über einen Bibel-
         Frankfurt zugeschaltet. Friederike nimmt        Meeting handelt es sich um ein innovatives      text. So kann die Glaubensperspektive
         auch während ihres Bereitschaftsdienstes        digitales Bildungsformat, bei dem die           dazu beitragen, Orientierung für die
         in einem Kölner Krankenhaus – so gut es         Teilnehmenden zugleich auch Akteure sind.       persönliche Lebenspraxis wie das eigene
         eben geht – daran teil. Vier von rund 15        Mit dem Campus Professional Dialogue            berufliche Handeln zu geben.
         jungen Führungskräften, die am frühen           haben sich die Mitglieder der Campus-Weg-           Mit der Zeit entsteht so eine digitale
         Sonntagabend zu einem ungewöhnlichen            gemeinschaft e. V., einer Exzellenzinitiative   Community von Young Professionals, die auf
         Treffen im virtuellen Raum zusammen­            der Katholischen Akademie Schwerte, ein         der Grundlage des christlichen Menschen-
         kommen. Digital, aber real.                     Forum des persönlichen, beruflichen und         bildes aktuelle und relevante gesellschaft­

Zur ück z um I n h a l t                            14                                                                                                    15
GES CHICHTE + POLITIK

                           Lorenz Kardinal Jaeger                                                            in den Nachkriegsjahren Hilfsaktionen
                                                                                                            (Care-Pakete) für die deutsche Bevölkerung
                                                                                                            organisierten. Feststellen ließ sich eine
                                                                                                                                                                           zungszone, die häufig um Entlastungs­
                                                                                                                                                                           zeugnisse für Beamte, besonders für Lehrer,
                                                                                                                                                                           und Unternehmer angegangen wurde.

                            als Kirchenpolitiker                                                            Reise nach England, wo er neben kirchlichen
                                                                                                            Würdenträgern auch britische Parlamen­
                                                                                                                                                                           Bei der Prüfung der Fälle konnte er sich
                                                                                                                                                                           auf persönliche Bekanntschaften und auf
                                                                                                            tarier traf. Zu katholischen Orden in                          das Pfarreiennetz stützen. Wichtiges
                                                                                                            Großbritannien unterhielt Jaeger langjäh­                      Kriterium für eine nur oberflächlich-tak­
                 Tagung der Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte                                        rige Kontakte, die er zum Beispiel nutze,                      tische Parteimitgliedschaft war für ihn die
                              im Erzbistum Paderborn                                                        um seiner Cousine eine Unterkunft in                           lebendige katholische Glaubenspraxis. In
                                                                                                            England zu vermitteln.                                         einigen Fällen verweigerte er kämpferi-
                                          Text: Christian Kasprowski                                             Den zweiten Vortragsblock eröffnete                       schen Nationalsozialisten ein Zeugnis. Bei
                                                                                                            Prof. Dr. Klaus Unterburger (Regensburg).                      den Bestätigungen für ehemals deutsch-
                                                                                                            Erzbischof Jaeger stand der Entnazifzie-                       christliche protestantische Bischöfe
                                                                                                            rungspraxis – wie seine Mitbischöfe –                          spielten ökumenische Hoffnungen eine
                                                                                                            ­kritisch gegenüber, die meisten Partei­mit­                   wichtige Rolle, während Jaegers Fürsprache
                                                                                                            glieder, so seine Ansicht, seien keine                         für Wehrmachtsgeneräle sich wohl auch

                                                                                                                                                                                                                         Lo renz Kard inal Jaeger als Kirchenpo litike r
                                                                                                            überzeugten Nationalsozialisten gewesen.                       auf eigene Erfahrungen als Militärgeist­
                                                                                                            Dennoch wurde Jaeger bald zu einer                             licher stützte.
         Zur dritten Fachtagung des Forschungspro-           kaiserliche und deutsch-nationalstaatliche     wichtigen Instanz in der britischen Besat-
         jekts »Lorenz Kardinal Jaeger (1892–1975)«          Werte. Als Priester stand er in der Hierar-
         versammelten sich über 30 Historiker*in-            chie der Kirche und als Staatsbeamter
         nen und Theolog*innen aus ganz Deutsch-             (Geistlicher Studienrat) bzw. Lehrer im
         land in der Katholischen Akademie Schwerte.         höheren Schuldienst Preußens innerhalb
         Prof. Dr. Nicole Priesching (Paderborn)             der staatlichen Ordnung. Als Reserveoffizier
         leitete die Tagung in ihrer Funktion als            pflegte er die Verbindung zum Militär.
         Vorsitzende der Kommission für Kirchliche           Alle drei Bereiche konnte er im Bund
         Zeitgeschichte im Erzbistum Paderborn.              Neudeutschland durch seinen christlichen
         Nach »Jaeger als Theologe« (2018) und               Glauben und seinen Sinn für Kamerad-
         »Jaeger als Ökumeniker« (2019) war »Jaeger          schaft verbinden.
         als Kirchenpolitiker« das Thema der dritten             Im Anschluss berichtete Dr. Arnold Otto
         von insgesamt fünf Fachtagungen, die im             (Paderborn) über Jaegers Verbindungen zu
         Jahresabstand stattfinden.                          »den Briten«. Mit »Briten« wurde die bri-
             Dr. Giesela Fleckenstein (Speyer) sprach        tische Besatzungsmacht bezeichnet, mit der
         über die politischen Prägungen Lorenz               ein enger, fallbezogener Kontakt Jaegers
         Jaegers bis zum Ende der Weimarer Repu­             nachgewiesen werden konnte. Die Verbin-
         blik. Jaeger wurde in seiner Schulzeit in           dungen Jaegers zum Vereinten Königreich
         Halle, Olpe und Wipperfürth zu Patriotis-           waren jedoch vielschichtiger. Jaeger, der
         mus, Gehorsam und Kaisertreue erzogen.              in seiner schulischen Laufbahn keinen
         Er wurde kurz nach Beginn des Ersten                Englischunterricht hatte, geriet zum Ende
         Weltkriegs freiwillig Soldat. Aus englischer        des Ersten Weltkriegs in mehrmonatige
         Kriegsgefangenschaft kehrte er in ein               englische Kriegsgefangenschaft. Dort lernte
         neues Staatssystem zurück und konnte das            er vermutlich die englische Sprache, die
         Prestige seiner Offizierskarriere in den            er in seinen späteren Briefen als Erzbischof
         demokratischen Staat hinüberretten. Jaeger          gut beherrschte. Er stand auch im Aus-
                                                                                                                          Dr. Georg Pahlke referierte über das Verhältnis Jaegers zu den Katholikentagen seiner Zeit.
         war geprägt durch christliche, preußisch-­          tausch mit den britischen Bischöfen, die

Zur ück z um I n h a l t                                16                                                                                                            17
Prof. Dr. Reimund Haas (Köln) trug zur               Prof. Dr. Jörg Seiler (Erfurt) analysierte die
                                                                                                                                                                         Entstehung des Bistums Essen vor. Nach               dichte Korrespondenz zwischen Jaeger und
                                                                                                                                                                          ersten Überlegungen 1900 und 1918 wurde             seinem Weihbischof im Erzbischöflichen
                                                                                                                                                                         1925 der Plan für eine große »Industrie-­            Kommissariat Magdeburg, Friedrich Maria
                                                                                                                                                                         Diözese Essen« von Kleve bis Plettenberg             Rintelen. Er entwickelte eine deutsch-­
                                                                                                                                                                         (mit 2.229.000 Katholiken) entwickelt.               deutsche Geschichte unter Berücksichti-
                                                                                                                                                                         Doch die »Mutter-Bistümer« Münster und               gung des gemeinsamen Kampfes gegen den
                                                                                                                                                                         Paderborn waren nicht bereit, so große               Materialismus (Hirtenbrief 1956), der
                                                                                                                                                                         Anteile (z. B. Dortmund, Recklinghausen)             Reisemöglichkeiten, die bereits nach der
                                                                                                                                                                          dafür abzutreten, so dass nur das Bistum            Liboripredigt Jaegers von 1959 und nicht
                                                                                                                                                                         Aachen zur Entlastung des Erzbistums Köln            erst mit dem Mauerbau verboten wurden,
                                                                                                                                                                         1930 wiedergegründet wurde. Ab 1953                  und der Konkurrenz um den Priesternach-
                                                                                                                                                                          begannen neue Verhandlungen für ein                 wuchs. Zentral war Seilers These zum
                                                                                                                                                                          verkleinertes Ruhrbistum Essen, das 1958,           »Scheitern einer Bischofsgeneration«. Seit
                                                                                                                                                                          als schon die erste Zeche geschlossen               Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich aus
                                                                                                                                                                          wurde, mit nur noch 1.430.000 Katholiken            dem freundschaftlichen Verhältnis beider
                                                                                                                                                                         (bei 1.721.000 Nicht-Katholiken) und dem             auch eine Art Gefährtenschaft in ihrer
                                                                                                                                                                         Paderborner (Weih-)Bischof Dr. Franz                 Frustration über die Aufbruchsbewegungen
Lo renz Kard inal Jaeger als Kirchenpo litiker

                                                                                                                                                                                                                                                                               Lo renz Kard inal Jaeger als Kirchenpo litike r
                                                                                                                                                                         Hengsbach – als erstem »Ruhrbischof« –               nach dem Konzil. Rintelen befürchtete
                                                                                                                                                                         ­gegründet und Teil der Kirchenprovinz               einen negativen Einfluss aus dem Westen,
                                                                                                                                                                         Köln wurde.                                          Jaeger sehnte sich in die relativ heile
                                                                                                                                                                              Nach Dr. Georg Pahlke (Warburg) nahm            Kirchenwelt seines Magdeburger Diözes­
                                                                                                                                                                         Lorenz Jaeger an den zwölf K ­ atholikentagen        anteils.
                                                                                                                                                                          während seiner Amtszeit ausnahmslos teil.               Christian Kasprowski (Paderborn) behan-
                                                       Dr. Arnold Otto und Prof. Dr. Nicole Priesching bei der Präsentation des Tagungsbandes der letztjährigen Tagung
                                                                                                                                                                         Beim zweiten Nachkriegskatholikentag in              delte die Verbindung zwischen Erzbischof
                                                                                                                                                                         Bochum (1949), bei dem er als Ortsbischof            Jaeger und dem Paderborner Bundestagsab-
                                                                                                                                                                          in der Rolle des Protektors auftrat, rief er        geordneten, Bundesminister, Oppositions-
                                                 Prof. Dr. Olaf Blaschke (Münster) zufolge                       Der zweite Teil des Vortrags, der die                   zu staatlicher und kirchlicher Hilfe auf,            führer im Bundestag und CDU-Kanzlerkan-
                                                 hielt Jaeger es 1947 für »nutzlos, vergan­                      »gegenwärtigen Ungerechtigkeiten« der                    beklagte aber auch Glaubensverfall und              didaten Dr. Rainer Barzel. Nachgewiesen
                                                 gene Ungerechtigkeiten zu bekämpfen.                            Zeit ab 1945 behandelte, offenbarte starke              Säkularisierung im zerstörten Nachkriegs-            werden konnten regelmäßige Treffen und
                                                 Aber die gegenwärtigen Ungerechtigkeiten«                       Strukturanalogien zur Vergangenheits­                    deutschland. Darin zeigte sich ein Grund-           Briefwechsel, in denen beide über aktuelle
                                                 an unschuldigen Deutschen sollten                               deutung:                                                 muster, das er auch bei den weiteren                politische und gesellschaftliche Themen
                                                 »­gemildert werden.« Bei Jaegers Umgang                         1. den »anderen Dualismus«                              Laientreffen immer wieder aufgriff, bei              diskutierten. Thematisiert wurde dabei u. a.
                                                 mit dem vergangenen Nationalsozialismus                            (Christentum vs. Sozialismus),                        denen er seine Verkündigung schwerpunkt-            die sich reformierende SPD, welche beide
                                                 erwiesen sich fünf Elemente als entschei-                       2. ein neues Opfer- und                                  mäßig auf Frauenseelsorge und Ökumene               als für Katholiken nicht wählbar ansahen.
                                                 dend:                                                           3. Oppositionsnarrativ, beide gegen die                  richtete. Dem gesellschaftlichen und                Barzel war für Jaeger eine sichere Informa­
                                                 1. der Dualismus                                                   Alliierten gerichtet,                                 innerkirchlichen Auf- und Umbruch stand             tionsquelle für aktuelle bundespolitische
                                                      (Katholiken vs. Nationalsozialismus),                      4. instrumentalisierendes Sprechen über                  er zunehmend skeptischer und ablehnender            Themen. Im Gegenzug nutze Barzel das
                                                 2. das Opfernarrativ,                                              den Nationalsozialismus bis hin zu                    gegenüber. Hatte er den Bochumer Katho­             kirchliche Netzwerk Jaegers. Der Paderborner
                                                 3. das Oppositionsnarrativ,                                        Vergleichen zwischen alliierten und                   likentag noch als eine »Demonstratio                Kardinal vermittelte Barzel z. B. eine Privat-
                                                 4. die Problematisierung des Schweigens                            Gestapomethoden und schließlich,                      catholica« bezeichnet, so erlebte er den            audienz bei Papst Paul VI. im Jahr 1967.
                                                      und Sprechens im und über den                              5. die Rechristianisierung als Vergangen-               Essener Katholikentag (1968) eher als                1972 schaltete sich Jaeger in den Wahlkampf
                                                     ­Nationalsozialismus,                                          heitsbewältigungsangebot.                            »Demonstratio catholicorum« gegen Papst,             ein, indem er in seiner Allerheiligenpredigt
                                                 5. und dessen Erklärung mit Hilfe der                                                                                   Bischöfe und Lehramt, was nicht mehr                 den FDP-Gegenkandidaten Barzels, Rudolf
                                                      Entchristlichung.                                                                                                   seinem Verständnis eines Deutschen Katho-           Augstein, und dessen Buch »Jesus Menschen­-
                                                                                                                                                                          likentages entsprach.                               sohn« angriff.

   Zur ück z um I n h a l t                                                                                 18                                                                                                           19
Publikationshinweis                                      Wilhelm Grabe (Paderborn) fragte, wie
                                                                                                          Lorenz Kardinal Jaeger in »seiner« Bischofs-
                                                 Die Ergebnisse der zweiten Fachtagung »Lorenz            stadt Paderborn wahrgenommen wurde,
                                                 Jaeger als Ökumeniker« liegen inzwischen als
                                                 Buch vor. Der Band wurde am ersten Abend                 und wertete dazu die beiden einschlägigen
                                                 der diesjährigen Tagung von Prof. Dr. Nicole             Paderborner Lokalzeitungen aus. Erzbischof
                                                 Priesching und Dr. Arnold Otto als Herausgebe-           Jaeger wurde nach dem Ende des Zweiten
                                                 rin und Herausgeber vorgestellt. Sie dankten bei
                                                 dieser Gelegenheit dem Erzbistum Paderborn,              Weltkriegs zum Gesicht des Wiederaufbaus
                                                 namentlich Erzbischof Hans-Josef Becker und              und entwickelte sich zur überragenden
                                                 Generalvikar Alfons Hardt für die großzügige             Identifikationsfigur in der Paderstadt. In der
                                                 Förderung der Publikation und des gesamten
                                                 Forschungsprojektes. Msgr. Dr. Michael Bredeck,          Binnenwahrnehmung übertrug sich der
                                                 Leiter der Zentralabteilung Entwicklung im Ge-           »Abglanz des Konzils« auf die provinzielle
                                                                                                                                                           Für die meisten Teilnehmer*innen war die Schwerter Tagung            Prof. Dr. Nicole Priesching bei der Tagungseröffnung
                                                 neralvikariat und Mitglied der Kommission für            Mittelstadt Paderborn. Bis zum Beginn der         die erste große Fachtagung nach dem Frühjahrslockdown.
                                                 Kirchliche Zeitgeschichte im Erzbistum Pader-
                                                 born, dankte für das Erzbistum den Autorinnen            1990er Jahre gab es in der Lokalpresse keine
                                                 und Autoren sowie den Herausgebern.                      Kritik am Erzbischof. Nach 2000 hatte der
                                                 Die bewegte Biographie des Paderborner                   frühere Paderborner Oberhirte als regionale      zurückhielt. Unter diesen Prämissen war                           Politikern der Bundesrepublik, setzte
                                                 Erzbischofs Lorenz Kardinal Jaeger (1892–1975)           Identifikationsfigur ausgedient, doch erst       eine erfolgreiche christliche Friedensarbeit                      sich für gesellschaftspolitische Anliegen
                                                 wird unter Verwendung seines neu erschlos-
                                                 senen Nachlasses in einem interdisziplinären             2015 rückten seine umstrittenen Kriegshirten­-   von Pax Christi nur möglich, wenn sich                            der Kirche ein und war immer wieder
                                                                                                          briefe von 1941 / 42 erneut in den Fokus         Personen fanden, die sich »mit dem Segen                          als Informationsbeschaffer, Vermittler,
Lo renz Kard inal Jaeger als Kirchenpo litiker

                                                                                                                                                                                                                                                                                           Lo renz Kard inal Jaeger als Kirchenpo litike r
                                                 Forschungsprojekt anhand von Themenschwer-
                                                 punkten erarbeitet.                                      einer breiten Öffentlichkeit.                    des Erzbischofs« persönlich engagierten.                         ­Ansprechpartner und Netzwerker gefragt.
                                                 Seit seinem Amtsantritt als Erzbischof in Pader-             Bei der Podiumsdiskussion zum Thema              Dr. Barbara Vosberg (Schwerte) führte                         Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus
                                                 born engagierte sich Jaeger für die Ökumene.
                                                 Damit gehörte er zu den katholischen Pionieren           »Lorenz Jaeger im Nationalsozialismus«           aus, dass Jaeger über 16 Jahre hinweg als                         sowie möglicher eigener Verfehlungen
                                                 auf diesem Gebiet. Welches Verständnis er von            vertrat Prof. Dr. Joachim Kuropka (Vechta)       Großprior der Deutschen Statthalterei des                         stand weit hinter der Aufarbeitung gegen-
                                                 Ökumene hatte, wie sich sein Engagement ver-             die Position, Jaeger habe es »gut gemacht« 1.    Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jeru­                           wärtigen Unrechts, worin Jaeger aber
                                                 änderte, wie sich dieses auf diözesaner, nationa-
                                                 ler und internationaler Seite entwickelte, zeigen        Dagegen kritisierte Prof. Dr. Klaus Große        salem wirkte, deren strukturellen Aufbau                          durchaus typisch für den deutschen
                                                 die Beiträge im zweiten Band des Forschungs-             Kracht (Münster) Jaegers Nationalismus           und kirchenpolitische Ausrichtung er                              Episkopat war. Es blieb ein schillernder
                                                 projektes. Jaeger spielte eine wichtige Rolle für        und Antibolschewismus. Vor allem seine           maßgeblich mitprägte. Dabei verfolgte er                          Eindruck.
                                                 die Entstehung des Sekretariats der Einheit. Für
                                                 seine Verdienste auf diesem Gebiet wurde ihm             Äußerungen zum Krieg wurden unter-               zwei ineinandergreifende Konzepte: den                                Die Tagungsbeiträge werden in einem
                                                 die Kardinalswürde verliehen.                            schiedlich bewertet. Insgesamt wurden            Aufbau einer »Elitetruppe der Katholischen                        Sammelband publiziert. Die nächste Tagung
                                                                                                          erhebliche Lücken in der Quellenlage und         Aktion« in Deutschland, deren teils promi-                        des Projektes wird vom 26. bis 28. August
                                                                                                          methodische Interpretationsspielräume            nente Funktionsträger als Miles Christi in                       2021 zum Thema »Jaeger als Seelsorger«
                                                                                                          sichtbar.                                        Politik und Gesellschaft hineinwirken                             stattfinden.
                                                                                                              Dr. Daniel Gerster (Münster) ging auf das    sollten, und die übernationale Vernetzung
                                                                                                          Verhältnis von Jaeger zum Thema »Frieden«        der Ordensmitglieder im Sinne eines
                                                                                                          ein und unternahm eine Art Gegenprobe            internationalen »abendländischen Aposto-
                                                                                                          zu den Diskussionen um seine Person im           lates«. Obgleich die römische Ordenslei-
                                                                                                          Nationalsozialismus und im Krieg. Er             tung diesen Konzepten am Vorabend des
                                                                                                          zeichnete dazu Jaegers Friedensverständnis       Zweiten Vatikanischen Konzils letztlich
                                                                                                          von den 1940er Jahren bis zum Ende seines        die Unterstützung entzog, entfalteten sie
                                                                                                          Pontifikats nach und setzte es am Beispiel       eine Wirkungsgeschichte, die weit über
                                                 Nicole Priesching – Arnold Otto (Hg.):
                                                                                                          der Paderborner Pax Christi-Gruppe mit der       Jaegers Amtszeit hinausreichte.                                  1. Vgl. den jüngst in der Studie der Theologischen
                                                 Lorenz Jaeger als Ökumeniker                             Entwicklung katholischer Friedensaktivi­             In der abschließenden Diskussion wurde                          Fakultät Paderborn veröffentlichten Beitrag: ­Joachim
                                                 Eine Publikation der Kommission                          täten in Beziehung. Gerster kam zu dem           deutlich, dass Jaeger kein unpolitischer                            Kuropka: Lorenz Jaeger – Geistlicher Studienrat,
                                                 für Kirchliche Zeitgeschichte                                                                                                                                                 ­Divisionspfarrer, Erzbischof von Paderborn. Historisch-­
                                                                                                          Ergebnis, dass Jaegers Friedensverständnis       Bischof war. In der Nachkriegszeit agierte                           kritische Studien zur Kritik an Erzbischof Jaegers
                                                 im Erzbistum Paderborn
                                                                                                          in erster Linie theologisch begründet war        er als Vermittlungsinstanz mit den britischen                        Haltung zum National­sozialismus im Kontext der
                                                 Verlag BRILL – Ferdinand Schöningh                                                                                                                                             ­Kontroverse um die ­Ehrenbürgerschaft Jaegers, in:
                                                 VIII + 356 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag             und er sich mit Äußerungen zu konkreten          Besatzern, engagierte sich nicht unprob­
                                                                                                                                                                                                                                 Josef Meyer zu Schlochtern – Johannes W. Vutz (Hg.):
                                                 ISBN: 978-3-657-70499-6                                  Fragen und Ereignissen des politischen und       lematisch bei diversen Entnazifizierungs-                             Lorenz Jaeger: Ein Erzbischof in der Zeit des National­
                                                 79 €                                                     gesellschaftlichen Friedens in der Regel         verfahren, pflegte regen Kontakt zu                                   sozialismus, Münster 2020, S. 247 – 326.

   Zur ück z um I n h a l t                                                                          20                                                                                                                21
K u n s t + K u lt u r

                                                                                lebenszeichen
                                                                                 Das Jahresthema
                                                                    der Katholischen Akademie Schwerte 2021
                                                                                            Text: Stefanie Lieb

                                                      Lebenszeichen in Krisenzeiten – wie können           mit den Zeichen, die normalerweise von
                                                      diese aussehen? Zuerst sind es sicherlich            Kunst und Kultur ausgehen, zur Reflexion
                                                      erst einmal Signale, die anzeigen, dass das          und Prophetie des Lebens? Können sie
                                                      Leben an sich noch vorhanden ist, als eine           nach wie vor trotz absolut existenzieller
                                                      Art existentielle Selbstvergewisserung.              Notlage der Künstlerschaft ausgesendet
                                                      Und dann gibt es die (vermeintlich) alltägli-        werden – und werden sie von einem ver-
                                                      chen Lebensrituale, die in der Krise plötz-          unsicherten und verängstigten Publikum
                                                      lich nur noch schwer umsetzbar sind und              überhaupt noch wahrgenommen?
                                                      gerade deshalb einen besonderen Zeichen-                 Natürlich steht dem Menschen momen-
                                                      wert erhalten: das soziale Miteinander               tan nur allzu gut etwas Demut zu Gesicht,
                                                      mit Familie, Freunden und Kollegen; der              in Anbetracht der durch sein unverantwort-
                                                      Besuch von Kultur- und Bildungsveranstal-            liches Handeln gegenüber Erde und Natur
                                                      tungen, das Freizeitvergnügen bei Massen­            heraufbeschworenen derzeitigen Situation.
                                                      events, das Reisen, der wissenschaftliche,           Vielleicht sollte diese Haltung auch wieder
                                                      künstlerische und religiöse Austausch über           mehr zu einem grundsätzlichen Lebens­
                                                      Ländergrenzen hinweg.                                zeichen des Menschen werden: sich als
                                                          Das menschliche Leben im öffentlichen            vergängliches biologisches Lebewesen der
                                                      und sogar im privaten Raum ist durch die             eigenen Verletzlichkeit ebenso bewusst
                                                      Corona-Pandemie in kürzester Zeit so                 zu sein wie gleichzeitig der eigenen Würde,
                                                      heruntergefahren worden, dass die Frage              die gründet in der Achtung der und Verant-
                                                      berechtigt erscheint, worin die eigentliche          wortung für die über das rein Organische
                                                      Lebensqualität besteht. Dank der digitalen           hinausgehenden geistigen Werte.
                                                      Kanäle, die inzwischen weltweit vernetzt
                                                      sind, können zwar Kommunikation, Aus-
                                                      tausch, Verwaltung und Dienstleistungen
                                                      aufrechterhalten werden – aber ersetzen
                                                      sie langfristig die leibhaftige Begegnung
                                                      von Menschen und die nur sinnlich erfahr-
                                                      bare Vielfalt des menschlichen Zusammen-
                                Andreas Kuhnlein,
                                Stillstand,           seins an speziell dafür geschaffenen Orten
                                Außenskulptur, 2020   und in bestimmten Räumen? Und was ist

Zur ück z um I n h a l t   22                                                                         23
K unst + K ul tur

                                Tabita Cargnel
                      Preisträgerin des Artist in Residence-Stipendiums
                                        2020 und 2021
                                               Text: Stefanie Lieb

                                                               Noch müssen sich Kunstschaffende über
                                                               diesen Winter in Geduld üben – im Frühjahr
                                                               2021 besteht aber die berechtigte Hoffnung
                                                               für die Akademie sowie die Künstlerin
                                                               Tabita Cargnel, dass wieder eine spannende
         Die Preisträgerin für das Artist in Residen-          dreimonatige Artist in Residency mit
         ce-Stipendium der Katholischen Akademie               abschließender Einzelausstellung in den
         Schwerte 2020 stand bereits fest – und                Räumen der Akademie stattfinden kann.
         dann kam im März 2020 die Corona-Pande-               Wir freuen uns sehr darauf!

                                                                                                                                                                   Artist in Resid ence
         mie dazwischen und zwang aufgrund von
         Lockdowns und anderen Einschränkungen
         zu einer Verschiebung des Stipendienan-
         tritts um ein Jahr. Zwar ist jetzt im Winter
         2020 die Pandemie-Situation nach wie vor
         ernst, in der Akademie gehen wir aber
         momentan davon aus, dass die Künstlerin
         Tabita Cargnel ab Mai 2021 ihr Artist in
         Residence-Stipendium dann endlich starten
         kann!
              Die junge Künstlerin bewarb sich aus
         London, wo sie Anfang 2020 gerade ihr
         Studium der Kunst und Architektur
         erfolgreich abgeschlossen hatte. Mit einer            Tabita Cargnel

         faszinierenden Projektidee für eine interak-          geb. 1993 in Frechen (NRW)

         tive Klangskulptur bewarb sie sich auf die            Studium von Architektur, Design und Kunst an der
                                                               Scuola di Architettura Firenze, der ­Technischen Universität
         Artist in Residence-Ausschreibung, bei der            Darmstadt und The Bartlett, University Central London
         für 2020 das Thema »zwischen ton art«                 lebt und arbeitet in Köln
         gestellt wurde. Die Jury wählte Tabita Cargnel        www.tabitacargnel.com
         auch wegen ihres vielfältigen multikünst­
         lerischen Ansatzes aus, bei dem sie Fotogra-
         fie, Malerei, Objektkunst, Raumbilder und
         Musik miteinander verbindet und in unter-
         schiedlichen Konstellationen präsentiert.

                                                                                                                              Tabita Cargnel, Klangskulptur
Zur ück z um I n h a l t                                  24                                                                  Venus Smiles, 2019              25
K unst + K ul tur
                                                                                                  Bis Juni 2021 präsentiert die ökumenische         Filmkritik in Deutschland und der Schweiz
                                                                                                  Filmreihe »Kirchen und Kino. Der Filmtipp«        ausgezeichnet wurden. Zu sehen gibt es

                           Kirchen und Kino.                                                      wieder acht herausragende Filme in 25
                                                                                                  Orten Nordrhein-Westfalens und Nieder-
                                                                                                  sachsens. Neu dabei sind das JAC Kino in
                                                                                                                                                    überzeugende Filme, die unabhängig von
                                                                                                                                                    ihrer jeweiligen geistigen Beheimatung die
                                                                                                                                                    Sehnsucht nach dem Anderen, nach einem

                             Der Filmtipp                                                         Attendorn und der Pastoralverbund
                                                                                                  Attendorn. Die Filme der Reihe sind in
                                                                                                                                                    »Mehr des Lebens« aufrechterhalten.

                                                                                                                                                    Die Filme der Staffel 2020 / 2021 sind
                                                                                                  insgesamt über 250 Vorstellungen zu sehen.
                                                                                                      Die neue Staffel präsentiert vor allem        in folgenden Orten zu sehen:
                            Das ökumenische Filmprojekt                                           Filme, die von Menschen erzählen, die sich        – Nordrhein-Westfalen: Attendorn, Bad
                             startet in seine 18. Spielzeit                                       in existenziellen Krisensituationen befin-          Driburg, Bad Laasphe, Bad Oeynhausen,
                                                                                                  den und im Konflikt mit gesellschaftlichen          Brakel, Gütersloh, Hagen, Herne,
                                    Text: Markus Leniger                                          und politischen Mehrheitspositionen um              ­Hilchenbach, Iserlohn, Lage, Lüdenscheid,
                                                                                                  die Wahrung ihrer Identität kämpfen. Zwei            Paderborn, Schwerte, Unna und Warburg.
                                                                                                  Filme – Erde und Vergiftete Wahrheit –            – Niedersachsen: Gifhorn, Hameln,
                                                                                                  beziehen Stellung zum Thema Umweltzer-               ­Hannover, Hildesheim, Lingen, Osterholz-­
                                                                                                  störung.                                            Scharmbeck, Schneverdingen, Walsrode
                                                                                                      Die Programmauswahl lag bei einer                 und Wittingen.
                                                                                                  Jury aus Vertreter*innen der kirchlichen
                                                                                                  Bildungs- und Medienarbeit sowie der              Zum Auftakt wird Systemsprenger (Deutsch-

                                                                                                                                                                                                    Kirchen und Kino . Der Filmtipp
                                                                                                  beteiligten Kinos. Zur Wahl standen über          land 2019) von Nora Fingscheidt gezeigt.
                                                                                                  40 Filme, die im vergangenen Kinojahr von         Der in acht Kategorien mit dem Deutschen
                                                                                                  der evangelischen und katholischen                Filmpreis und mit einem Silbernen Bären

                                                              Alle Termine und weiterführende
                                                              Informationen zu den Filmen und
                                                              den Spielorten finden sich auf ­­
                                                              www.kirchen-und-kino.de

                                                              Aktuelle Kinotipps und Informa­
                                                              tionen rund um das Thema Kino
                                                              gibt es auf der Facebook-Seite
                                                              facebook/KirchenUndKino

                                                                                                                                        Systemsprenger

Zur ück z um I n h a l t                                                                                                                       27
Ein verborgenes Leben                                      Erde
Kirchen und Kino . Der Filmtipp

                                                 Vergiftete Wahrheit                                                                                      Erde

                                                                                      Die weiteren Filme sind:
                                                                                                                                                                                   Die örtlichen Kooperationspartner geben in der Regel
                                  der Berlinale ausgezeichnete Film erzählt           Erde                                           Porträt einer jungen Frau in Flammen          eine kurze Einführung zum jeweiligen Film, im Anschluss
                                  von einem neunjährigen Mädchen, das sich            Österreich 2019                                Frankreich 2019                               an die Vorführung besteht in zahlreichen Spielorten die
                                                                                                                                                                                   ­Möglichkeit zum Austausch. Zu ausgewählten Filmen
                                  radikal allen Normen verweigert. Ihr Verhal-        Regie: Nikolaus Geyrhalter                     Regie: Céline Sciamma
                                                                                                                                                                                    werden immer wieder auch vertiefende Angebote wie
                                  ten sorgt in allen pädagogischen Einrich-           Preis der Ökumenischen Jury,                   Cannes 2019, »Bestes Drehbuch«               ­Podiumsgespräche organisiert.
                                  tungen und Pflegefamilien für Wirbel.               Berlinale Forum 2019                                                                        »Kirchen und Kino. Der Filmtipp« ist eine Filmreihe der
                                  Hinter den Gewaltausbrüchen werden früh-                                                           Vergiftete Wahrheit                          ­Katholischen Akademie Schwerte in Zusammenarbeit mit
                                                                                                                                                                                   den örtlichen evangelischen und katholischen Bildungswer-
                                  kindliche Traumata vermutet, doch die               Sorry We Missed You                            USA 2019                                      ken, der Beauftragten für Kunst und Kultur der Evange-
                                  Helfer in allen Instanzen fühlen sich von           Großbritannien 2019                            Regie: Todd Haynes                            lischen Kirche von Westfalen, dem Institut für Religions­
                                  der Aggression überfordert. Der sorgfältig          Regie: Ken Loach                                                                             pädagogik und Medienarbeit im Erzbistum Paderborn, dem
                                                                                                                                                                                   Medienzentrum Haus Villigst im Pädagogischen Institut der
                                  recherchierte und in den Hauptrollen über-                                                         Bis dann mein Sohn                            Evangelischen Kirche von Westfalen, dem Haus kirchlicher
                                  ragend gespielte Film will weder anklagen           Ein verborgenes Leben                          China 2018                                    Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hanno-
                                  noch urteilen, sondern wirbt mit großer             Deutschland / USA 2019                         Regie: Wang Xiaoshuai                         vers (Arbeitsfeld Kunst und Kultur), dem Filmkulturellen
                                                                                                                                                                                   Zentrum im GEP – Forum der Evangelischen Kirche für Film
                                  Kraft um Verständnis für ein Kind, das mit          Regie: Terrence Malick                         Berlinale 2019, Silberne Bären                und Kino und dem Medienservice im Bistum Hildesheim.
                                  extremen Ausbrüchen nach Halt und                   Preis der Ökumenischen Jury Cannes 2019        »Beste Hauptdarstellerin« und »Bester         ­Unterstützt wird das Projekt vom Filmportal filmdienst.
                                  Geborgenheit sucht. Statt auf ein Sozial­                                                          Hauptdarsteller«                               de und der Filmzeitschrift epd-film sowie der Deutschen
                                                                                                                                                                                    Bischofskonferenz (Bereich Kirche und Gesellschaft).
                                  drama setzt die Inszenierung auf die                Gott existiert, ihr Name ist Petrunya
                                  Anteilnahme der Zuschauer*innen, die                Mazedonien 2019
                                  auch psychisch in das chaotische Erleben            Regie: Teona Strugar Mitevska
                                  der Protagonistin involviert werden.                Preis der Ökumenischen Jury, Berlinale 2019;
                                                                                      LUX-Filmpreis des Europaparlaments 2019

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