25 Jahre faunistische Untersuchungen im Streuobstgebiet "Wingert bei Dorheim" (Wetteraukreis)
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Praxisnahe Forschung 25 Jahre faunistische Untersuchungen im Streuobstgebiet „Wingert bei Dorheim“ (Wetteraukreis) Gerd Bauschmann Einleitung – Die Situation Neben dem Obstertrag wurde der Unter- anerkannt. Zur Begründung: „Streuobst- von Streuobstbeständen wuchs meist als Grünland (Wiese oder wiesen erhalten die Vielfalt an Obstsorten, heute Weide), seltener zum Ackerbau oder als sind ein Hotspot der Biodiversität, ein Gartenland genutzt (Abb. 1). prägender Teil der Kulturlandschaft und Zwischen 1938 und 1987 ging die Zahl Streuobstbestände sind Teil der hessischen ein Stück regionale Identität. Sie sind aus der Hochstamm-Obstbäume in Hessen Landeskultur, auf ihnen wird z. B. der weit einer landwirtschaftlich-kulturellen Ent- von über 12 Millionen auf 750.000 zurück bekannte „Äppelwoi“ gewonnen (Biodi- wicklung hervorgegangen und direkt an – ein Verlust von über 93 %. Geht man versitätsstrategie Hessen). Nach §13 menschliches Wissen gebunden. Dabei von einem Flächenanspruch von 100 bis Abs. 1 Nr. 2 des Hessischen Ausfüh- sind die arbeits- und zeitintensive Pflege 150 Bäumen pro Hektar aus, so müssen rungsgesetz zum Bundesnaturschutzge- und Bewirtschaftung, die Obstverarbei- 1938 noch ca. 800 bis 1.200 km² in Hes- setz in Verbindung mit § 30 Bundesna- tung, traditionelle Handwerkstechniken sen mit Obstbäumen bestanden gewesen turschutzgesetz unterliegen Streuobstbe- sowie verschiedene Feste und Bräuche sein. Im Rahmen der Hessischen Biotop- stände daher dem gesetzlichen Schutz. Teil der Kulturform. Doch mit dem an- kartierung wurden 1992 bis 2006 noch Handlungen, die zu einer Zerstörung haltenden bundesweiten Rückgang der 9,4 km² Streuobstflächen erfasst. Auch oder einer sonstigen erheblichen Beein- hochstammbesetzten Streuobstwiesen dro- flächenmäßig ist dies ein Verlust von trächtigung dieser Biotope führen können, hen die über Jahrhunderte entwickelten über 95 % in ca. 60 Jahren. sind verboten. Streuobstbiotope gehören Praktiken und das Wissen über die Kul- Streuobstflächen unterlagen einer regel- auch auf Bundesebene zu den Lebens- turform in Vergessenheit zu geraten.“ mäßigen extensiven Bewirtschaftung. Pflan- räumen, die von vollständiger Vernich- Auch heute noch werden in Hessen zahl- zenschutzmittel und Mineraldüngung tung bedroht sind und auf der „Roten reiche extensiv genutzte Hochstamm- fanden in der Regel keine Anwendung. Liste gefährdeter Biotoptypen Deutsch- Obstbestände zu Intensiv-Niederstamm- Zur nachhaltigen Nutzung waren viel- lands“ stehen (Finck et al. 2017). Plantagen umgewandelt (und mit „Alibi- mehr Baumschnittmaßnahmen und Nach- Im März 2021 wurde der Streuobstanbau Nistkästen“ aufgewertet) (Abb. 2). Und pflanzungen notwendig. Traditionell war in Deutschland von der Kultusminister- immer noch werden Streuobstgebiete, die Zwei-Etagen-Nutzung der Fläche. konferenz als Immaterielles Kulturerbe ganz oder teilweise, als Bauland und Ver- kehrswege genutzt. Neben diesen Total- verlusten geht der „Lebensraum Streuobst“ auch durch unterlassene Pflege einerseits (Verbuschung, Verbrachung) und durch falsche „Grünlandpflege“ (Mulchen, Gly- phosateinsatz) andererseits verloren. Und Blüten treibt das Ganze, wenn unter dem Begriff „Biodiversitätsförderung“ Grün- land umgebrochen und mit Blühmi- schungen eingesät wird – sogar mit öf- fentlichen Mitteln finanziert (Abb. 3). Untersuchungsgebiet Nordwestlich des Friedberger Stadtteils Dorheim (Wetteraukreis, Hessen) liegt der etwa 20,6 ha große „Wingert“. Wie der Name [Wingert = Weingarten] schon sagt, war er im Mittelalter ein Weinberg, der im Dreißigjährigen Krieg wieder auf- Abb. 1: Mit Rhönschafen beweidete Salbei-Glatthaferwiese am Wingert bei Dorheim gegeben und zu Acker wurde. Heute noch (Foto: G. Bauschmann) sind die Strukturen von Ackerterrassen Jahrbuch Naturschutz in Hessen Band 20 / 2021 119
25 Jahre faunistische Untersuchungen im Streuobstgebiet Gebiets kompensiert. Allerdings wurden einige ökologisch wichtige randliche He- cken gerodet. Die Straße führt in einem Einschnitt direkt am Wingert entlang, dadurch wirken sich neben dem Flä- chenverlust und der Trennwirkung auch geänderter Wasserhaushalt, Lärm, Licht, Stickstoff- und Feinstaubeinträge sowie Temperaturerhöhung auf das Gebiet aus. Untersuchungsmethoden Mit dem Beginn der Beweidungsaktivi- täten am Dorheimer Wingert wurde deren Einfluss auf Flora und Fauna wissenschaft- lich begleitet. Seit 1988 werden z. B. die Vögel regelmäßig kartiert. In den Jahren Abb. 2: In eine Plantage umgewandelter ehemaliger Streuobstbestand mit 1996 bis 2004 wurden – neben der Vege- „Alibi-Nistkästen“ (Foto: G. Bauschmann) tation – auch die bodenlebenden und blütenbesuchenden Insekten des Wingerts intensiv erforscht. Von Arbeitsgruppen der Hessischen Naturschutzakademie und der Universität Gießen wurden mit verschie- denen Methoden und Fallentypen bis 2019 302 Käferarten, 26 Tag- und 46 Nachtfalterarten, 72 Bienen- und 41 Wespenarten, 17 Ameisen-, 15 Heu- schrecken und 63 Wanzenarten nachge- wiesen. Die Ergebnisse sind in etlichen wissenschaftlichen Publikationen nach- zulesen (u. a. Bauschmann 2002, From- mer & Bauschmann 2020) und in Schmidt et al. (2005) zusammengefasst. Der Wingert ist somit eines der am besten untersuchten Streuobstgebiete Hessens. Ab 2020 haben die „Faunistische Lan- desarbeitsgemeinschaft Hessen (FLAGH)“ und „Weidewelt – Verein für natur- Abb. 3: Während links und rechts die Baumreihen gemulcht bzw. mit Totalherbiziden schutzkonforme Landnutzung durch Be- behandelt werden, sollen Wildbienenhotel und Blühbeet die Biodiversität retten. weidung“ das 20 Jahre alte Untersu- (Foto: L. Wichmann) chungsprogramm noch einmal aufge- nommen und ergänzt. Ziel ist es, zu erfahren, was sich inzwischen verändert und Wölbäckern zu erkennen (Bausch- ersten Rhönschafe auf dem Wingert ein, hat. Spannend ist z. B. die Frage, ob sich mann 2008). Mitte des 19. Jahrhunderts um der Verbrachung und Verbuschung der Insektenrückgang auch auf dem pflanzte man dann Hochstamm-Obst- entgegenzuwirken (Abb. 1). Heute werden Wingert bemerkbar macht. Dazu wurden bäume, und heute ist der „Wingert bei über 40 % des Wingerts beweidet. verschiedene Fallentypen ausgebracht, Dorheim“ ein ökologisch wertvolles Durch den Bau der B 455 Ortsumfah- deren Einsatz vom Hessischen Landesamt Streuobstgebiet. rung Dorheim, der bereits 2006 begann für Naturschutz, Umwelt und Geologie Noch in den 1970er und 1980er Jahren und erst 2012 beendet wurde, verkleinerte (HLNUG) genehmigt ist. Da sind z. B. wurde nicht nur das Obst genutzt, son- sich die Fläche des Streuobstgebiets von die bereits in den Untersuchungen 1996 dern auch das Grünland im Unterwuchs 22,2 um 1,6 ha auf heute 20,6 ha. 68 bis 2004 eingesetzten Bodenfallen, die zu Heu gemacht. Durch die Aufgabe der Hochstamm-Obstbäume gingen verlo- insbesondere dem Fang von Laufkäfern Viehwirtschaft wurde das Futter aber ren, ihr Verlust wurde aber durch Nach- und Ameisen an der Bodenoberfläche bald nicht mehr benötigt und Parzelle pflanzungen von ca. 160 Bäumen auf dienen. Farbschalen stellen übergroße für Parzelle fiel brach. 1988 zogen die ehemaligen Ackerflächen innerhalb des Blüten dar und locken blütenbesuchen- 120 Jahrbuch Naturschutz in Hessen Band 20 / 2021
25 Jahre faunistische Untersuchungen im Streuobstgebiet de Insekten an. Dazu kommen regelmä- Anzahl Arten ßige Transektbegehungen zum Nachweis 80 von Tagfaltern und Heuschrecken. Brutvogelarten Gastvogelarten Als neue Methoden sind 2020 ein 70 „Stammeklektor“ hinzugekommen, ein 60 Gerät, mit dem Insekten nachgewiesen werden können, die den Baumstamm hin- 50 auf und hinab laufen, weiterhin “Luftek- 40 lektoren“, mit denen Fluginsekten im Kronenbereich gefangen werden, sowie 30 eine „Malaisefalle“, quasi ein Zelt, in das 20 in und über der Vegetation fliegende In- 10 sekten hineingelangen und sich dann selbst fangen. 0 1988 – 90 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Beispielhafte Ergebnisse Jahr Vögel Abb. 4: Anzahl am Wingert bei Dorheim zwischen 1988 und 2020 festgestellter Vo- Parallel zur ersten Beweidung 1988 wur- gelarten den die Vogelarten des Wingerts kartiert. Aus etwa der Hälfte der Jahre liegen Er- gebnisse vor. Gastvogelarten (Nahrungs- 9 16 gäste im Sommer und Winter sowie Durchzügler) und die meisten Brutvogel- 8 Weideflächen (ha) 14 arten wurden qualitativ erfasst, wertbe- 7 Reviere Gartenrotschwanz 12 stimmende Streuobst-Arten (z. B. Stein- 6 kauz, Gartenrotschwanz, Wendehals) 10 Fläche (ha) quantitativ (Anzahl der Reviere). Als Brut- 5 Anzahl 8 vögel wurden nur solche Arten gewertet, 4 die nach Südbeck et al. (2005) die Kate- 6 3 gorien B = wahrscheinliches Brüten und 4 C = sicheres Brüten erreichten. In einigen 2 Jahren wurden alle Reviere als Siedlungs- 1 2 dichteuntersuchung ermittelt. Seit 2015 0 0 ist der Wingert eine Probefläche im Rah- 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 men des Monitorings seltener Brutvögel (MsB). Die Ergebnisse der Jahre 1988 bis 1990 sind in Bauschmann (2005) zusammen- Abb. 5: Mit Zunahme der Weideflächen nimmt auch die Zahl der Gartenrot- gefasst: „Nach der Arten-Arealbeziehung schwanzreviere zu. ist der Wingert als artenreich bis sehr ar- tenreich einzustufen, und nach dem Vor- kommen von Rote-Liste-Arten kommt Baumpieper und Gelbspötter Ende des und Pirol möglicherweise mit dem Bau ihm eine große Funktion als regional be- 20. Jahrhunderts und Kleinspecht, Trauer- der B 455 Ortsumfahrung Dorheim zu- deutendem Vogelbrutgebiet zu.“ Inzwi- schnäpper und Pirol zwischen 2006 und sammen, die das Streuobstgebiet vom schen konnten 104 Vogelarten am Win- 2010. Der Verlust der ersten drei Arten Auwald am Sauerbrunnen abtrennt. gert nachgewiesen werden, 62 davon als ist mit einem allgemeinen rapiden Rück- Auch interessante Einzelergebnisse sind Brutvögel und 42 als Gastvögel. Im Schnitt gang in den letzten Jahrzehnten zu erklä- zu verzeichnen: So ist z. B. in den über brüteten pro Jahr 44,5 Arten mit einer ren. So weist die Turteltaube nach Wer- 30 Jahren seit Einführung der Beweidung jährlichen Schwankung zwischen 40 und ner et al. (2014) in Hessen „extrem starke die Zahl der Gartenrotschwanzreviere 52. Die Zahl der Gastvogelarten lag im Bestandsrückgänge“ auf, der Baumpieper von drei auf 12 bis 15 gestiegen (Abb. 5). Schnitt bei 16,4 Arten mit einer Spanne „dramatische Bestandsabnahmen“ und der Das sind Dichten, die nur in wenigen von sieben bis 29 (Abb. 4). Gelbspötter ist „im lang- und kurzfristi- anderen Gebieten in Hessen erreicht Einige der zu Beginn der Untersuchungen gen Trend deutlich abnehmend“. Dage- werden. Dies liegt daran, dass Gartenrot- noch vorkommenden Brutvogelarten sind gen fällt das Verschwinden der drei „Au- schwänze hauptsächlich am Boden nach inzwischen verschwunden, so Turteltaube, waldarten“ Kleinspecht, Trauerschnäpper Insekten jagen und diese auf kurzgrasi- Jahrbuch Naturschutz in Hessen Band 20 / 2021 121
25 Jahre faunistische Untersuchungen im Streuobstgebiet gen Viehweiden häufiger und auch bes- ser zu erreichen sind als auf Mahdflä- chen. Das in anderen Streuobstgebieten praktizierte Mulchen ist der Tod für In- sekten und somit auch für den Garten- rotschwanz. Biomasse Bereits 2013 wiesen Sorg et al. auf starke Rückgänge der Insektenbiomasse hin. In einem etwa 100 ha großen Naturschutz- gebiet im Nordwesten von Krefeld hat- ten sie in den Monaten Mai bis Oktober der Jahre 1989 und 2013 mit Hilfe von jeweils zwei Malaisefallen die Biomasse erfasst und dabei 1117,1 g bzw. 1425,6 g Abtropfgewicht für 1989 und 257,3 g bzw. 294,4 g für das Jahr 2013 ermittelt. Das ist ein Verlust von über 75 %. Abb. 6: Malaisefalle im Streuobstgebiet Wingert bei Dorheim Eine im Jahr 2017 veröffentlichte Lang- (Foto: G. Bauschmann) zeitstudie zur Veränderung der Biomasse von Fluginsekten zeigt die negative Ent- Abtropfgewicht pro Fangperiode (in g) Abtropfgewicht in g pro Fangperiode wicklung in deutschen Schutzgebieten 160 in der Legende fehlt Abtropfgewicht pro Tag (in g) 10 Abtropfgewicht in g pro Tag auf (Hallmann et al. 2017). Dabei wur- 140 9 8 den Daten ausgewertet, die zwischen 120 7 1989 und 2014 an 63 verschiedenen 100 6 Standorten in Nordrhein-Westfalen, 80 5 Rheinland-Pfalz und Brandenburg mit 60 4 Hilfe von Malaisefallen gesammelt wur- 3 40 den. Die Forscher konnten zeigen, dass 2 20 1 die Gesamtbiomasse der Fluginsekten der 0 0 Monate April bis Oktober in 27 Jahren 26.04. – 10.05.2020 24.05. – 06.06.2020 20.06. – 04.07.2020 18.07. – 01.08.2020 29.08. – 12.09.2020 26.09. – 11.10.2020 31.10. – 15.11.2020 30.11. – 15.12.2020 31.12. – 15.01.2021 31.01. – 15.02.2021 28.02. – 15.03.2021 31.03. – 15.04.2021 10. – 24.05.2020 06. – 20.06.2020 04. – 18.07.2020 01. – 14.08.2020 14. – 29.08.2020 12. – 26.09.2020 11. – 31.10.2020 15. – 30.11.2020 15. – 31.12.2020 15. – 31.01.2021 15. – 28.02.2021 15. – 31.03.2021 15. – 26.04.2021 von anfangs noch über 1,6 kg Biomasse pro Falle und Jahr auf etwa 300 g zu- rückgegangen war, also um 77 % abge- nommen hatte. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Seibold et al. (2019). Deren Daten wurden Fangperiode im Rahmen des von der Deutschen For- schungsgemeinschaft finanzierten Pro- Abb. 7: Mit einer Malaisefalle im Streuobstgebiet Wingert bei Dorheim ermittelte jekts „Biodiversitäts-Exploratorien“ er- Biomasse hoben. Die Wissenschaftler analysierten Daten von mehr als einer Million Insekten und Spinnen aus ca. 2.700 Arten, die in Flächen (Extensivweiden, ungedüngte Wertes und etwa einem Niveau, das laut den Jahren 2008 bis 2017 mittels stan- Mähwiesen) deutlich höher als auf inten- dieser Studie vor etwa 30 Jahren erreicht dardisierter Kescherfänge auf 150 Grün- siv bewirtschafteten Flächen (gedüngte wurde. landflächen von Schwäbischer Alb (Baden- Mähwiesen, Standweiden). Württemberg), Hainich-Dün (Thüringen) Mit der im Jahr 2020 am Wingert bei Ameisen und Schorfheide-Chorin (Brandenburg) Dorheim betriebenen Malaisefalle (Ssy- Nicht nur die Biomasse ist deutschland- erfasst wurden. In den Grünlandstand- mank et al. 2018) (Abb. 6) konnte ein weit zurückgegangen, sondern auch die orten ging die Biomasse in neun Jahren Abtropfgewicht von 1261,61 g ermittelt Artenzahl, wie eine Analyse der Roten um 67 %, die Individuenzahl um 78 % werden mit Tagesmaxima von ca. 9 g Listen belegt (Ries et al. 2019). Neben und die Artenzahl um 34 % zurück. Der (Abb. 7). Davon entfallen auf die Mona- den Tagfaltern mit 64 % der Arten und Rückgang der Artenzahl nahm signifi- te April bis Oktober 1209,22 g. Das ent- den Ameisen mit 60 %, weisen auch die kant mit dem Anteil an Ackerland in der spricht etwa dem Vierfachen des von Heuschrecken mit 54 % und die Zika- Umgebung zu. Die Biomasse und Arten- Hallmann et al. (2017) in anderen (Na- den mit 52 % überdurchschnittlich viele zahl war auf extensiv bewirtschafteten turschutz-)Gebieten heute ermittelten Arten mit langfristig rückläufigem Trend 122 Jahrbuch Naturschutz in Hessen Band 20 / 2021
25 Jahre faunistische Untersuchungen im Streuobstgebiet auf. Ebenso sind die Bestände der Wild- bienen und die der Laufkäfer um jeweils 16 800 45 % der Arten zurückgegangen. Anzu- Artenzahl Individuenzahl nehmen, aber in keiner Untersuchung 14 700 bisher belegt, ist der Rückgang der Bio- 12 600 masse bei Nicht-Fluginsekten, insbeson- Individuenzahl 10 500 Artenzahl dere den epi- und endogäischen. Hierzu gehören auch die am Wingert untersuch- 8 400 ten Laufkäfer und Ameisen. 6 300 In den Jahren 1997 und 1998 wurde die 4 200 Ameisenfauna des Wingerts anhand der Bodenfallenfänge ermittelt. Ziel war es, 2 100 Unterschiede bei der Bewirtschaftung ver- 0 0 schiedener, zu unterschiedlichen Jahres- zeiten mit Schafen beweideter Flächen herauszuarbeiten (Bauschmann 2002). Die Untersuchungen wurden 2004 und aktuell 2020 wiederholt. Insgesamt konnten mit dieser Methode Abb. 8: Arten- und Individuenzahlen der am Wingert bei Dorheim mit Bodenfallen 4.977 Individuen aus 16 Ameisenarten nachgewiesenen Ameisen nachgewiesen werden, eine siebzehnte Art per Handaufsammlung. Im Durch- Temperaturzahl schnitt wurden pro Jahr und Fläche 10,4 Feuchtezahl (von 1 = extrem trocken bis 10 = sehr nass) Arten erfasst, wobei die Schwankung bei Stickstoffzahl (von 1 = extrem nährstoffarm bis 9 = hypertroph) der Schafweide W2, die in der Regel im 10 Juni erstmalig beweidet wird, mit neun 9 (1997) bis 14 Arten (2004) am größten 8 war. Bei den beiden anderen in allen vier 7 Zeigerwert Jahren beprobten Flächen (W1 mit Be- 6 5 weidungsbeginn im April und W3 mit 4 Beweidung ab August) lagen die Arten- 3 zahlen zwischen 10 und 12 (Abb. 8). 2 Etwas aus dem Rahmen fällt die Unter- 1 suchungsfläche W4, die ab 2007 als Aus- 0 gleichsfläche aus der ackerbaulichen Nut- zung genommen wurde, sich dann selbst begrünte und 2013 wieder umgebrochen Fallenstandort/Jahr wurde, um mit einer Standard-Saatmi- schung (Weißklee-Weidelgras) eingesät zu werden. Die Fläche wird seit 2009 Abb. 9: Ökologische Präferenzen (Temperatur-, Feuchte- und Stickstoffzahlen) der ebenfalls beweidet. Bei der Untersu- am Wingert bei Dorheim an den vier Standorten W1 bis W4 mit Bodenfallen nach- chung 2020 lag die Ackernutzung bereits gewiesenen Ameisen (Temperaturzahl = maximale an einem Standardstrahlungstag 13 Jahre zurück bzw. war das Ansaat- in 3,5 cm Bodentiefe erreichte Temperatur, korrigiert um meteorologische Lufttempe- Grünland sieben Jahre alt. Mit sieben ratur- und Sonnenscheinstandards der Monate Mai bis August der Jahre 1977 bis Ameisenarten (Abb. 8) war die Fläche 2006 in Deutschland; Feuchtezahl in Stufen von 1 = extrem trocken bis 10 = sehr zwar noch recht artenarm und die domi- nass; Stickstoffzahl in Korrelation mit dem im Boden vorhandenen Mineralstickstoff nante Art mit etwa 86 % der Individuen in Stufen von 1 = extrem nährstoffarm bis 9 = hypertroph) war die ubiquitäre Schwarze Wegameise (Lasius niger), es konnten aber bereits vier mehr oder weniger thermo- oder xerophile ben Ameisenarten gefunden, zwei davon mit anschließender Neueinsaat (egal ob Arten nachgewiesen werden. mehr oder weniger thermo- oder xero- Standardmischung, Regiosaatgut, Heu- Ein ähnliches Ergebnis brachte auch eine phil. Auch dort konnte sich längere Zeit drusch oder Blühmischung) die Ameisen- Untersuchung Ende der 1990er Jahre in nach Umwandlung von Acker in Grün- fauna so nachhaltig gestört, dass sie wie- einem zwei Kilometern Luftlinie ent- land nur langsam eine typische Ameisen- der Jahrzehnte für die Etablierung einer fernt liegenden Gebiet (Bauschmann et gemeinschaft magerer Wiesen und Weiden grünlandtypischen Gemeinschaft braucht. al. 2005). Auch hier wurden ca. 15 Jahre ausbilden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit Da insbesondere solche Ameisenarten, nach Einstellung des Ackerbaus nur sie- wird auch beim Umbruch von Grünland die individuenreiche Kolonien bilden Jahrbuch Naturschutz in Hessen Band 20 / 2021 123
25 Jahre faunistische Untersuchungen im Streuobstgebiet und solche, die in direkter Nähe der Fal- Fazit Streuobstgebiete im mittleren Hessen. Beitr. Na- turk. Wetterau 11: 137-150. len nisten, überproportional in die Indi- Bauschmann, G. (2008): Vor dem Streuobst gab´s den viduenzahl eingehen, wurden bei weiteren Im Streuobstgebiet Wingert bei Dorheim Wein – Betrachtungen aus der Wetterau. – Pomo- Betrachtungen nur die Arten, nicht je- wird das Grünland seit dem sukzessiven logen-Verein e. V. Jahresh. 2008: 108-109. doch die Individuen berücksichtigt. Ähn- Rückzug der Landwirtschaft ab 1988 mit Bauschmann, G. (2010): Die Pflege von Streuobst- wiesen durch Beweidung. Pomologen-Verein e. V. lich wie die Zeigerwerte bei Pflanzen Schafen beweidet. Parallel dazu wird der Jahresh. 2010: 38-53. wurde von Seifert (2007) eine Liste mit Ein fluss der Schafbeweidung wissen- Bauschmann, G.; Bretz, D.; Buschinger, A.; ökologischen Präferenzen von Ameisen- schaftlich untersucht. 2020 wurde auch Dorow, W. (2006): Rote Liste der Ameisen Hessens. arten entwickelt. Mit Hilfe dieser Tabelle die Baumschicht in das Untersuchungs- Hessisches Ministerium des Innern und für Land- wirtschaft, Forsten und Naturschutz. Wiesbaden. wurden die untersuchten Flächen an- programm einbezogen, um das gesamte Bauschmann, G.; Schmidt, A.; Hetzel, B. (2005): hand ihrer Ameisenvorkommen bewer- Gebiet im Hinblick auf den Rückgang Untersuchungen zur Entwicklung von Grünland tet (Abb. 9). Dabei wurden die Faktoren von Insekten (Biodiversitätsverlust) be- aus Ackerbrachen unter dem Einfluss von Mahd und Temperatur, Feuchte und Stickstoff be- werten zu können. Nach den bisherigen Beweidung am Roten Berg bei Bauernheim (Wetterau / Hessen). Beitr. Naturk. Wetterau 11: 13-66. rücksichtigt. Die auf den einzelnen Flä- Ergebnissen weist der Wingert bei Dor- Biodiversitätsstrategie Hessen: Biologische Viel- chen anhand der gefundenen Ameisen- heim noch eine überdurchschnittliche In- falt auf Streuobstwiesen. https://biologischevielfalt. arten ermittelten Werte liegen alle recht sekten-Biomasse und einen hohen Arten- hessen.de/de/lebensraum-streuobstwiese.html (ab- gerufen 20.4.2020) dicht beieinander. Sie sprechen für ein reichtum auf. Dies ist insbesondere fol- mäßig thermophiles, trockenes bis mä- genden Faktoren zu verdanken: Finck, P.; Heinze, S.; Raths, U.; Riecken, U.; Ssymank, A. (2017): Rote Liste der gefährdeten Bio- ßig trockenes sowie nährstoffarmes bis • extensive Schafbeweidung auf über 40 % toptypen Deutschlands – dritte fortgeschriebene mäßig nährstoffarmes Gebiet. Dabei ist des Gebiets (durch Wechselkoppeln Fassung 2017. Natursch. Biol. Vielf. 156: 1-637. die früh beweidete Schafweide über all großes Nutzungsmosaik) Frommer, U.; Bauschmann, G. (2020): Die Stech- immenfauna des Wingerts bei Friedberg-Dorheim, die Jahre die wärmste, trockenste und • weiteres Nutzungsmosaik von intensiv Wetterau, Hessen (Hymenoptera, Aculeata). Hess. nährstoffärmste Fläche. (Mulchen) bis extensiv (Altgrasstreifen) Faun. Br. 38(1-3): 25-43. Da mit Bodenfallen nur die sich auf dem • kein Pestizideinsatz (auch keine Drift Hallmann, C. A.; Sorg, M.; Jongejans, E.; Siepel, Boden bewegenden Ameisen erfasst wer- von außerhalb) H.; Hofland, N.; Schwan, H.; Stenmans, W.; Müller, A.; Sumser, H.; Hörren, T.; Goulson, D.; den können, Streuobstweiden aber aus • kein Kunstdüngereinsatz (nur klein- De Kroon, H. (2017): More than 75 percent decline den zwei Etagen Grünland und Bäume räumig organischer Dünger) over 27 years in total flying insect biomass in protec- ted areas. PLoS ONE 12(10): e0185809. https://doi. bestehen, wurde 2020 auch der erstmalig • gemischte Alters- und Artenstruktur org/10.1371/journal.pone.0185809 im Gebiet eingesetzte Stammeklektor bei den Obstbäumen (inkl. Wildobst Ries, M.; Reinhardt, T.; Nigmann, U.; Balzer, S. zum Nachweis der an und auf Bäumen und Hutebäumen) (2019): Analyse der bundesweiten Roten Listen zum lebenden Arten herangezogen. Weitere • hoher Totholzanteil (stehendes und Rückgang der Insekten in Deutschland. Natur & Landsch. 94(6/7): 236-244. drei Ameisenarten wurden gefunden, liegendes Totholz) Schmidt, A.; Bauschmann, G.; Hetzel, B. (2005): darunter die nach Bauschmann et al. • meist unbefestigte Wege (nur Zentral- Abschlußbericht „Dauerbeobachtungen zum Ein- (2006) in Hessen als vom Aussterben be- weg betoniert) fluß des Zeitpunktes der Beweidung auf die Fauna droht geltende Stöpselkopfameise (Cam- • Erhalt randlicher Hecken und Flora des Grünlandes am Wingert bei Dorheim (Wetteraukreis/Hessen)“. – Unveröff. 121 S. ponotus truncatus). Somit erhöht sich die Seibold, S.; Gossner, M. M.; Simons, N. K.; Blüth- Artenzahl der Ameisen am Wingert bei gen, N.; Müller, J.; Ambarhi, D.; Ammer, C.; Bau- Dorheim auf 20. Kontakt hus, J.; Fischer, M.; Habel, J. C.; Linsenmair, K. E.; Nauss, T.; Penone, C.; Prati, D.; Schall, P.; Schul- ze, E.-D.; Vogt, J.; Wöllauer, S.; Weisser, W. W. Sonstige Insekten Gerd Bauschmann (2019): Arthropod decline in grasslands and forests is Die Untersuchungen laufen zwar weiter, Weidewelt e. V. – Verein für naturschutz- associated with landscape-level drivers. Nature 574: 671- 674. https://doi.org/10.1038/s41586-019-1684-3 eine erste grobe Sichtung der Nachweise konforme Landnutzung durch Bewei- Seifert, B. (2007): Die Ameisen Mittel- und Nord- hat aber ergeben, dass einige, meist wärme- dung und Faunistische Landesarbeitsge- europas. Tauer. liebende Arten in den letzten 20 Jahren meinschaft Hessen e. V. (FLAGH) Sorg, M.; Schwan, H.; Stenmans, W.; Muller, A. am Wingert hinzugekommen sind. Zu Salzgrafenstraße 13 (2013): Ermittlung der Biomassen flugaktiver Insek- nennen sind die Schwarze Holzbiene 61169 Friedberg-Dorheim ten im Naturschutzgebiet Orbroicher Bruch mit Malaise Fallen in den Jahren 1989 und 2013. Mitt. (Xylocopa violacea), die Delta-Wespe (Delta Weidewelt@aol.com Entomol. Verein Krefeld 1: 1-5. unguiculatum), die Gefleckte Ameisen- Südbeck, P.; Andretzke, H.; Fischer, S.; Gedeon, K.; jungfer (Euroleon nostras), die Heuschre- Schikore, T.; Schröder, K.; Sudfeld, C. (2005): Metho- ckenarten Weinhähnchen (Oecanthopus Literatur denstandards zur Erfassung der Brutvögel Deutsch- lands. Max-Plank-Institut für Ornithologie; Radolfzell. pellucens), Südliche Eichenschrecke (Me- Bauschmann, G. (2002): Die Beweidung des Streu- Ssymank, A.; Sorg, M.; Doczkal, D.; Rulik, B.; Mer- conema meridionale) und Zweifarbige Beiß- obstgebietes „Wingert bei Dorheim“ (Wetteraukreis / kel-Wallner, G.; Vischer-Leopold, M. (2018): Prak- schrecke (Bicolorana bicolor) sowie die Hessen) mit Koppelschafen – Erfahrungen mit der tische Hinweise und Empfehlungen zur Anwendung Verwendung verschiedener Tierartengruppen (insbes. von Malaisefallen für Insekten in der Biodiversitätserfas- Schmetterlinge Schwalbenschwanz (Papilio sung und im Monitoring. Series Naturalis 1: 1-12. Käfer, Ameisen und Heuschrecken) im Rahmen der machaon), Zwerg-Bläuling (Cupido mini- Erfolgskontrolle. NZH Akademie-Ber. 3: 61-98. Werner, M.; Bauschmann, G.; Hormann, M.; mus) und Leguminosen-Weißling (Leptidea Bauschmann, G. (2005): Untersuchungen über die Stiefel, D. (2014): Zum Erhaltungszustand der sinapis / juvernica). Vogelwelt dreier unterschiedlich strukturierter Brutvogelarten Hessens. Vogel & Umwelt 21: 37-69. 124 Jahrbuch Naturschutz in Hessen Band 20 / 2021
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