3 Bildkritik 3.1 Der Status des Netzwerk-Bildes bei Castells - Wilhelm Fink Verlag
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BILDKRITIK 263 Rolle. Methodologische Auswirkungen des Netzwerk-Bildes finden sich in der Vor- gabe, verbindend und Zusammenhänge herstellend vorzugehen. Allerdings greift er die bildliche Vorlage eines selbstreflexiven Zugangs ebenso wenig auf, wie den bild- lichen Anschluss, dass Netzwerke komplexe Erklärungen nahelegen. Die empirisch- objektivistische Haltung lässt sich mit der technischen Semantik des Netzwerk-Bil- des in Verbindung bringen. 3 Bildkritik 3.1 Der Status des Netzwerk-Bildes bei Castells Dass Castells die wichtige und wirklichkeitskonstituierende Rolle der Bilder in der heutigen ‚realen Virtualität‘ zwar inhaltlich konstatiert, seine eigenen Beschreibun- gen aber als sekundäre Abbildungen einer bestehenden sozialen Realität versteht,110 wurde bereits herausgearbeitet. Das, was er über kulturelle Codes und Bilder schreibt, bestätigt sich weitgehend, wenn man seine Aussagen zur Wirksamkeit von Metaphern hinzunimmt. Einerseits versteht Castells Metaphern als ‚bloße Meta- phern‘, die durch soziologische Analysen und spezifischere Ausführungen ersetzt werden sollen. Er „spezifiziert […] die Bedeutung dieser Thesen, so dass die sozio- logische Analyse […] eine Chance hat, die metaphorischen Aussagen zu ersetzen.“ (490) Andererseits spricht Castells – Neil Postman zitierend – den Metaphern eine wirklichkeitskonstituierende Funktion zu: „‚Unsere Metaphern schaffen den Inhalt unserer Kultur.‘“ (376) Hier zeigt sich ebenfalls – wie bei der Frage nach der Wirk- samkeit der Bilder – der Unterschied von Metaphern als Gegenstand und als Medi- um der eigenen Untersuchung. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Castells beschreibt, erkennt er die konstitutive Rolle, die Metaphern spielen an; was seine eigenen Beschreibungen betrifft, blendet er sie aus bzw. geht davon aus, dass er Me- taphern umgehen kann und sie vermeiden sollte. Allerdings gibt es eine interessante Ausnahme: die Metapher der ‚schwarzen Lö- cher‘. Im dritten Band führt Castells bewusst diese ‚kosmische Metapher‘ ein: „Da ist auch die Exklusion von Menschen und Territorien, die aus Perspektive der herr- schenden Interessen im globalen, informationellen Kapitalismus in eine Lage strukturel- ler Irrelevanz geraten. Dieser weit verbreitete, vielförmige Prozess der sozialen Exklusion führt zur Bildung von etwas, was ich mit der Freiheit, mich einer kosmischen Metapher zu bedienen, als die schwarzen Löcher des informationellen Kapitalismus bezeichne.“111 Er benennt also, woher die Metapher stammt und was er mit ihr beschreiben will. Im Folgenden malt er das Bild weiter aus und schreibt vom „Universum“, und dass 110 Castells 2003, S. 401. 111 Ebd., S. 171. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
264 DAS BILD DER VERNETZUNG BEI MANUEL CASTELLS die schwarzen Löcher sich durch eine konzentrierte „Dichte“112 auszeichneten. Er zeigt aber auch die Grenze und die Differenz der Metapher gegenüber dem auf, was er mit ihr ausdrücken möchte: „[…] da anders als bei den kosmischen Mächten, zielbewusstes Handeln durchaus die Regeln der Gesellschaftsstruktur verändern kann, auch diejenigen, die zu sozialer Exklusion führen.“113 Castells setzt hier die Metapher der schwarzen Löcher sehr bewusst ein, weiß woher sie kommt, weitet sie stimmig aus, sieht dabei aber auch ihre Grenze und den Unterschied zu dem, was er sagen möchte – allerdings alles im Rahmen eines oberflächlichen und populären Wissens über schwarze Löcher. Der bewusste Umgang wird auch dadurch begüns- tigt, dass die Metapher der schwarzen Löcher in seinem Text, in seiner Theoriebil- dung eine geringe Reichweite besitzt und sein Selbstverständnis nicht so stark prägt. Die interbildliche Verbindung zum Netzwerk-Bild scheint Castells hingegen wiederum nicht aufgefallen zu sein. Netze haben eben auch Löcher, ihre Maschen lassen Freiräume. Es liegt von daher nahe, dass Castells, dessen ganzer Ansatz vom Bild des Netzwerks geprägt ist, auf das Bild der schwarzen Löcher kommt, um sozi- ale Exklusion zu beschreiben, auch wenn er selbst die schwarzen Löcher nicht di- rekt mit den Netzwerken in Verbindung bringt.114 In einem anderen Text schreibt Castells über die Unangemessenheit geographischer Metaphern: „Geographische Metaphern können die Komplexität und Geschwindigkeit globaler Kapital- und Handelsströme nicht mehr angemessen wiedergeben. Nicht mehr Län- der oder Wirtschaftszonen sind die Architekten der neuen globalen Wirtschaft, son- dern Netzwerke.“115 Zunächst reflektiert Castells über die Möglichkeiten und vor allem die Grenzen der geographischen Metaphorik. Den zweiten Satz schließt er dann so an, dass man die Netzwerk-Metaphorik als die angemessenere Metapher verstehen könnte. Dieser In- terpretationsschritt wird aber dem Leser oder der Leserin überlassen. So kommt es, dass Castells eben nicht von der Metapher des Netzwerks schreibt, sondern hier schon wieder die Netzwerke in einem ganz unmetaphorischen Sinn gemeint sein könnten. Bis auf die seltenen Ausnahmen, in denen sich Castells über den Einsatz von Meta- phern Gedanken macht, schreibt er in einem empirisch-objektivistischen Duktus. Zu dieser Haltung gehört, dass er die soziale Wirklichkeit als zu beschreibenden Gegen- stand versteht, auf den die Beschreibungen keinerlei Auswirkungen haben. Denn in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind Netzwerke bei Castells der Gegenstand der Untersuchung – und werden von ihm weder als Metapher noch als 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Dabei spielt auch eine Rolle, dass es sich hier um eine einzige Stelle im dritten Band handelt, das Bild der schwarzen Löcher aber bereits viel früher und relativ häufig auftritt. Die Men- schen in den schwarzen Löchern sind manchmal untereinander verbunden und dann durch- aus in (allerdings kriminelle) Netzwerke eingebunden. Vgl. ebd., S. 172. 115 Castells 2001a, S. 77f. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
BILDKRITIK 265 Bild verstanden. Sie stellen die äußere soziale Wirklichkeit dar, der er sich als sozio- logischer Beobachter gegenüberstellt. Es handelt sich dabei um konkrete, empiri- sche Netzwerke. „Was ein Knoten konkret ist, hängt von der Art von konkreten Netzwerken ab, von denen wir sprechen.“ (528) Im Anschluss an dieses Zitat zählt Castells dann unterschiedlichste konkrete Netzwerke auf. Es gibt aber auch den „Begriff des Netzwerks“ (ebd.), der ihm dazu dient, sich die soziale Welt zu er- schließen. Dabei stellen soziologische Begriffe und Theorie keinen Selbstzweck dar, sondern dienen dem Verständnis der empirischen Phänomene: „Da ich Theorie le- diglich als Instrument und nicht als Endprodukt von Forschung begreife“116. Für einen Begriff, der so zentral wie der des Netzwerks ist, der ja die unterschiedlichs- ten Phänomene und Veränderungen weltweit fassen soll, leistet Castells, wie oben gezeigt worden ist, allerdings kaum Definitionsarbeit. Vielmehr stehen die kurzen sporadischen Definitionen, die er aus einem anderen Kontext übernommen zu ha- ben scheint, dem Bild des Netzwerks gegenüber, das immer wieder seine Wirkung entfaltet bzw. auf das er sich implizit und als Selbstverständlichkeit bezieht. Da Castells die Netzwerke als gegenständliche Wirklichkeit und dabei vor allem als eine Technik versteht,117 ist es lohnenswert, sich noch einmal genauer anzu- schauen, welche Rolle er der Technik in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu- spricht. Er führt die sozialen Transformationen in erster Linie auf die neuen tech- nologischen Entwicklungen zurück. Bei der Analyse der Technologien und ihrer Auswirkungen steht Castells in einer langen, weit verbreiteten Theorietradition, in der Technologien anhand von rationalen und ökonomischen Kriterien untersucht werden. Diese Tradition geht davon aus, dass eine Technik entwickelt wird und sich durchsetzt, weil sie ein praktisches Problem löst, effektiver ist usw.118 Diese Herangehensweise steht ganz im Zeichen aufklärerischer Ansätze, die die Moderne in erster Linie – und vor allem, was den Umgang mit Technologie betrifft – als rati- onal motivierte beschreibt. Die moderne wissenschaftliche Weltauffassung steht hier im Gegensatz zu den mythischen und religiösen Motivationen vormoderner Gesellschaften. Jeffrey Alexander und Philip Smith weisen zu Recht darauf hin, dass auch der moderne Umgang mit Technologie von Mythen – wir würden sagen: Bildern – ge- prägt ist:119 „We suggest that a model which acknowledges the autonomy of culture and the role of the mythological, the sacred and the profane in technological dis- 116 Castells 2001, S. 423. 117 Anthony Giddens kritisiert: „Castells does allocate too much influence to information tech- nology in the scenarios he sketches out.“ Giddens 1996, S. 18. 118 Eine Kritik dieses Ansatzes fomuliert Blumenberg in Hans Blumenberg, „Einige Schwierig- keiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben“, in: Ders., Geistesgeschichte der Technik, Frankfurt a.M. 2009, S. 7-47. 119 Stäheli spricht an dieser Stelle von „Mediensemantiken“. Urs Stäheli, „Inklusionsmedien der Börsenkommunikation. Medienutopien und Inklusionsvorstellungen“, in: Stefan Kauf- mann (Hg.), Vernetzte Steuerung. Soziale Prozesse im Zeitalter technischer Netzwerke, Zürich 2007, S. 83-94, hier: S. 85. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
266 DAS BILD DER VERNETZUNG BEI MANUEL CASTELLS courses enables a more satisfactory understanding of the social dynamics“120. So werden neue Technologien meist als Heils- oder Unheilsbringer wahrgenom- men.121 In den neuen Informationstechnologien liegt für Castells eindeutig ein Heilsversprechen. Diese Technologien zerstören nicht die Natur – wie es in vielen ökologischen Visionen dargestellt wird, die die Technik als unheilvoll beschreiben. Da das Prinzip des Netzwerks sowohl in der neuen Technik als auch in der Natur wirkt, geht Castells vielmehr von einer Homomorphologie aus. Alexander hat auch gezeigt, dass Computern als ‚sakralen Objekten‘ oftmals eine überirdische, heils- bringende Kraft zugesprochen wird.122 Auf die utopische Dimension, die die Netz- werke und insbesondere die neuen Informationstechnologien für Castells besitzen, wird noch genauer einzugehen sein. Hier geht es zunächst einmal darum, festzu- halten, dass bei ihm die Ausblendung der imaginären Aspekte von Technologien mit einer objektivistischen Haltung einhergeht. Die Techniken werden als „an ob- jective fact, both ontologically, in the sense that it exists as such, in a cold, hard, and material way, and epistemologically, in the sense that these objective facts are per- ceived directly and accurately“123 verstanden. Im Gegensatz dazu können solche so- zialwissenschaftlichen Theorien selbst als „translations of technological myth into social scientific forms“124 angesehen werden. Damit lässt sich dann auch die Popu- larität von Konzepten wie Ulrich Becks ‚Risikogesellschaft‘ oder Castells’ ‚Netz- werkgesellschaft‘ erklären. Denn sie setzen an populären Bildern an und ‚überset- zen‘ oder übertragen diese in soziologische Theorien. Dadurch können sich viele Menschen mit ihrem Selbstverständnis darin wiedererkennen. 3.2 Bildkonsistenz, Artikulationsgrenzen des Bildes der Vernetzung und Bildfunktionen Inkonsistenzen und Artikulationsgrenzen des Vernetzungs-Bildes Es ist auffällig, dass Castells neben dem Bild der Vernetzung keine weiteren Bilder verwendet, die ebenfalls eine wichtige Rolle spielen – vorausgesetzt, man rechnet das Bild des Strömens und Fließens mit zum Netzwerk-Bild. Jedenfalls finden sich nicht noch häufiger auftretende, selbständige Bilder wie das Bild der Atomstruktur 120 Jeffrey C. Alexander und Philip Smith, „Social Science and Salvation: Risk Society as Myth- ical Discourse“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, H. 4, August 1996, S. 251-262, hier: S. 251f. 121 Ulrich Becks Konzept der ‚Risikogesellschaft‘, das Alexander und Smith in ihrem Artikel analysieren, ist ihnen zufolge ein „environmentalist manifesto replete with apocalyptic imagery.“ Ebd., S. 251. 122 Vgl. Jeffrey C. Alexander, „The Promise of a Cultural Sociology. Technological Discourse and the Sacred and Profane Information Machine“, in: Neil J. Smelser und Richard Münch (Hg.), Theory of Culture, Berkeley, Los Angeles 1993, S. 293-323. 123 Alexander und Smith 1996, S. 255f. 124 Ebd., S. 259. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
BILDKRITIK 267 und das Theater-Bild bei Moreno. Folglich ist die Reichweite des Vernetzungs-Bil- des noch weiter als bei Moreno und bildet noch häufiger den Hintergund für Argu- mentationen. Die Auslegung des Netzwerk-Bildes wird dabei inkonsistent, und es wird auch immer wieder die Grenze dessen erreicht, was sich in diesem Bild theore- tisch ausdrücken lässt. Da sind einerseits die Beschreibungen, in denen die Vernet- zung als spontan, unorganisiert, vielfältig, friedlich und flexibel beschrieben wird, wie im folgenden Zitat deutlich wird: „Aber die Kapazität des Netzwerks der Netzwerke (des Netzes) ist so groß, dass ein erheblicher Teil der Kommunikation, die im Internet stattfindet, noch immer spon- tan, unorganisiert und vielfältig je nach Zweck und Mitgliedschaft ist. In der Tat fal- len kommerzielle und staatliche Interessen zusammen, um eine immer weiter ausgrei- fende Nutzung des Netzwerkes zu begünstigen: je größer die Vielfalt der Botschaften und Teilnehmenden, desto umfangreicher die kritische Masse im Netzwerk und desto höher der Wert. Die friedliche Koexistenz diverser Interessen und Kulturen im Netz hat die Form des world wide web (www) angenommen, eines flexiblen Netzwerkes von Netzwerken innerhalb des Internet, wo Institutionen, Unternehmen, Vereini- gungen und Einzelpersonen ihre eigenen sites einrichten, auf deren Grundlage jeder mit Zugang eine eigene Homepage herstellen kann, die aus einer variablen Collage von Texten und Bildern besteht“. (403) Die Vernetzung wird aber andererseits gerade im dritten Band als eine globale Dy- namik beschrieben, die unaufhaltsam alles und alle erfasse und nach ihrer eigenen Wertung ein- oder ausschließe: „Dieser Prozess führt zu einer extrem ungleichmäßigen Geographie sozialer und terri- torialer Exklusion und Inklusion, der große Segmente von Menschen hilflos macht, während er mittels der Informationstechnologie trans-territoriale Verbindungen zwi- schen was und wem auch immer schafft, was und wer im Rahmen der globalen Netz- werke, in denen Reichtum, Information und Macht akkumuliert werden, Wert bietet.“125 Diese sehr unterschiedlichen Beschreibungen spielen sich beide im Rahmen des Vernetzungs-Bildes ab. Eine der Eigenschaften von Bildern ist, dass sie vieldeutig und auf unterschiedliche Weise auslegbar sind. Aber bei Castells führen diese un- terschiedlichen Auslegungen zu einer bildlichen Inkonsistenz. Wenn man also zu- nächst nur auf das Bild achtet, gehen dessen Eigenschaften weit auseinander, sind teilweise untereinander unvereinbar oder widersprechen sich. Bei den vielen Eigen- schaften der Vernetzung, die in Castells’ Beschreibungen auftauchen – dass er sie et- wa als dynamisch, flüssig, flexibel, offen, verbindend, horizontal, dezentral, selbst- organisierend, wertschöpfend, räumlich, aber auch expandierend, ein- und aus- schließend auffasst –, ist es umso bemerkenswerter, dass er das Trennen oder Auflö- sen von Verbindungen kaum thematisiert. Sowohl die bildliche Inkonsistenz als auch das Fehlen eines Gegenbildes haben Auswirkungen auf die Theoriebildung – 125 Castells 2003, S. 77f. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
268 DAS BILD DER VERNETZUNG BEI MANUEL CASTELLS erstere unterstützt eine inkonsistente Argumentation und letzteres führt mit dazu, dass bestimmte Fragestellungen nicht thematisiert werden. Ein Beispiel dafür ist Castells’ Konzeptualisierung von Exklusionsprozessen. Ers- tens ist Exklusion im Sinne der Vernetzung, wie sie in weiten Teilen des ersten Ban- des beschrieben wird, nicht vorstellbar. Die Vernetzung ist hier ein offener, verbin- dender, horizontaler, dezentraler und für alle vorteilhafter Prozess. Im Grunde ist die Exklusion, wenn man diesem Verständnis des Vernetzungs-Bildes folgt, kein Thema. Im Fokus steht das Verbinden. Im horizontalen dezentralen Netzwerk gibt es keine hierarchischen Unterschiede oder Machtgefälle. Diese sozialen Differen- zen können nach der Auffassung des Vernetzungs-Bildes, wie es sich in erster Linie im dritten Band artikuliert, durchaus vorhanden sein. Hier wird die Vernetzung als eine Dynamik verstanden, die alles erfasst und nach ihren Werten sortiert und auch aussortiert. Exklusionsprozesse werden im Rahmen des Netzwerk-Bildes als ein Durch-die-Maschen-Fallen, als schwarze Löcher des Elends beschrieben – und Lö- cher stellen ja ein wichtiges Element von Netzwerken dar. Die bildliche Inkonsis- tenz geht in diesem Fall also auch mit theoretischen Inkonsistenzen – zwischen ers- tem und drittem Band – einher. Das Verständnis des Vernetzungs-Bildes im Sinne des ersten Bandes blendet die Exklusionsthematik weitgehend aus.126 Ein weiteres Beispiel für bildliche Inkonsistenzen, die mit theoretischen Wider- sprüchen einhergehen, ist Castells’ Beschreibung der globalen Einheit der Finanz- märkte. Auf die problematische Konzeption der ‚Einheit in Echtzeit‘ wurde oben bereits hingewiesen. Diese Problematik kann nun noch einmal mit den Inkonsis- tenzen des Vernetzungs-Bildes in Verbindung gebracht werden. Vernetzung ist bei Castells einerseits ein sukzessiver Prozess, der Schritt für Schritt verläuft. Anderer- seits sind die Finanzmärkte als ein globales Netzwerk rund um die Welt vernetzt. Das Netzwerk besteht hier bereits, und es könnte auch keine Einheit geben, wenn die Vernetzung nicht bereits die Welt umspannen würde. Diese unterschiedlichen bildlichen Auslegungen spiegeln sich in den unterschiedlichen theoretischen Argu- 126 Darüber hinaus stellt das Thema der Exklusion einen theoretischen Aspekt dar, der sich zwar einerseits als Löcher im Netzwerk und damit im Rahmen des Vernetzungs-Bildes beschreiben lässt, dessen Entweder-Oder von Inklusion und Exklusion sich aber nicht in das Bild der Vernetzung fügt, zu diesem also in einer gewissen Spannung steht. Hier geht Castells aber weiter von einem Entweder-Oder von Inklusion und Exklusion aus, das eher zu holistischen Gesellschaftstheorien passt. Denn diese gehen von einer einheitlichen Gesellschaft aus, aus der ein Ausschluss erfolgen kann. Netzwerke besitzen aber keine sol- chen klaren Außengrenzen. So lässt sich im Rahmen des Netzwerk-Bildes auch nicht klar beschreiben, wann eine Person innerhalb und wann außerhalb des Netzwerks steht. Stattdessen sind die graduellen Abstufungen viel üblicher, mit denen man bezeichnet, wie viele und vielleicht auch ob mehr oder weniger starke Verbindungen jemand hat. Die binäre Konzeptualisierung von Inklusion und Exklusion passt insofern nicht in den Rahmen des Netzwerk-Bildes. Hier sind die Artikulationsgrenzen genauso erreicht, wie bei der Frage nach der Einheitsbildung. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
BILDKRITIK 269 menten, die Castells anbringt, die in sich aber theoretisch nicht konsistent sind, wie unten zu zeigen sein wird. An einigen Stellen vermischt Castells das Bild der Vernetzung, wenn es an seine Artikulationsgrenzen stößt, mit dem Bild der sozialen Schichten. Da sich diese bei- den Bilder jedoch nicht reibungslos aneinander anschließen lassen oder ineinan- der übergehen, ergeben sich Reibungen und ein Bildbruch: in Ausdrücken wie „dreischichtiges Netzwerk von Zulieferern“ (180), „vielschichtige Verbindungs- struktur“ (52), oder einer längeren Stelle, an der „mit dem Internet verknüpf- te Branchen“ „in vier Schichten eingeteilt werden“ (159f.). Netzwerke lassen sich nur schwerlich in klar voneinander geschiedene Schichten einteilen. Anders ge- fasst: Wenn in den Netzwerken nach den Verbindungen gefragt wird, geht es im Bild der Schichten ums Unterteilen. An dieser Stelle zeigt sich nicht nur die Reibung zwischen den beiden Bildern, sondern auch das Manko, Trennungen und Unterteilungen nicht innerhalb des Netzwerk-Bildes beschreiben zu können – wes- wegen Castells hier auf ein anderes – das Bild der (geologischen) Schichten – zu- rückgreift. Die Funktionen des Vernetzungs-Bildes Was die Funktionen des Vernetzungs-Bildes und des Bildes des Strömens und Flie- ßens betrifft, so ermöglichen sie Castells zunächst, im Sinne der Benennungsfunk- tion das Soziale überhaupt zu benennen und zu adressieren. Sie machen den Gegen- stand der soziologischen Beschreibung aber nicht nur greifbar, sondern setzen ihn auch auf eine ganz bestimmte Weise ins Bild. Wie der zweite Teil des Kapitels aus- führlich herausgearbeitet hat, legen diese Bilder bestimmte Problemlagen und Fra- gestellungen genauso nahe wie auch bestimmte Lösungsansätze und methodische Vorgehensweisen. Diese konstitutive Rolle, die das Bild der Vernetzung (zusammen mit dem Bild des Strömens und Fließens) in Castells’ soziologischer Theoriebildung spielt, habe ich oben als ‚Innovationsfunktion‘ bezeichnet. Das Vernetzungs-Bild übt aber auch eine Konsolidierungsfunktion aus. Die Breite an Themen, die Cas- tells in den drei Bänden behandelt, die Menge an Daten, die er auswertet und die unterschiedlichen Argumente, die er in seiner Trilogie anführt, würden ohne das Bild der Vernetzung, das alle Bücher durchzieht und den bildlichen Hintergrund fast aller Argumentationen darstellt, noch weniger zusammenhalten. Über das Bild wird ein vermeintlicher Zusammenhang der unterschiedlichen Phänomene unter- stellt, die als Netzwerke beschrieben werden, und im Rahmen des Bildes wird den unterschiedlichen theoretischen Argumentationen eine Kohärenz verliehen. Die Trilogie hat teilweise einen patchworkartigen Charakter und der thematische Fokus verschiebt sich vom ersten zum dritten Band. Aber durch das Bild der Vernetzung werden dennoch ein Zusammenhang und eine gewisse Einheitlichkeit des Ansatzes bildlich gestiftet. Castells’ ‚große Erzählung‘ hat somit den Vorteil, dass sie unter- schiedlichste Dynamiken in einem Bild zusammenführt und ‚auf einen Schlag‘ er- Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
270 DAS BILD DER VERNETZUNG BEI MANUEL CASTELLS klärt – das betrifft synchron unterschiedlichste regionale Entwicklungen, aber auch diachron die wichtigsten Ereignisse der letzten Jahrzehnte. Die interessanteste Funktion des Vernetzungs-Bildes bei Castells ist die Darstel- lungsfunktion. Bei der Konzeption dieser Funktion wurde darauf hingewiesen, dass eine soziologische Theorie auch darüber an Plausibilität gewinnt, dass sie im Rahmen desjenigen Bildes des Sozialen geschrieben ist, das sowohl in anderen fach- wissenschaftlichen Disziplinen eine Rolle spielt, als auch gesellschaftlich etabliert ist. Das Bild generiert dann Plausibilität und erlaubt Kommunikationen über Fachgrenzen hinweg, genauso wie es zwischen wissenschaftlichem und öffentli- chem Diskurs vermittelt. Bei Castells sind diese Wechselwirkungen so ausgeprägt, dass hier von einer wechselseitigen Verstärkung von Castells’ soziologischen Be- schreibungen und dem öffentlichen Diskurs gesprochen werden kann. 3.3 Einflüsse auf Castells’ Auffassung des Vernetzungs-Bildes Zu den Einflüssen aus Castells’ wissenschaftlich-intellektuellem Umfeld – François Bar, Fritjof Capra und Kevin Kelly Im Folgenden soll nun zunächst gezeigt werden, auf welche Weise Castells’ Verständ- nis des Vernetzungs-Bildes mit dem von Kollegen anderer Fachrichtungen korrespon- diert. Dann wird in einem zweiten Schritt die Wechselwirkung seines Verständnisses von Vernetzung mit dem breiten gesellschaftlichen Kontext in Verbindung gesetzt. Zunächst einmal erwähnt Castells François Bar.127 Dieser ist zu der Zeit, in der Castells an seiner Trilogie arbeitet, ebenfalls in Kalifornien als Assistant Profes- sor of Communications an der Stanford University (1995–2003). Sie nehmen beide am Berkeley Roundtable on the International Economy teil. Bar befasst sich mit der Rolle der neuen Informationstechnologien in der wirtschaftlichen Ent- wicklung und spricht sich dabei für einen ungehinderten Marktwettbewerb aus, in dem Netzwerke dann ihre ganze Produktivität entfalten können.128 Zu den In- formationstechnologien, der ökonomischen Ausrichtung und der Annahme, dass Netzwerke eine besonders produktive Organisationsform seien, kommt als Schnitt- punkt zwischen Bar und Castells noch die Annahme des libertären Charakters der Netzwerke hinzu. Bar schreibt bereits 1987, dass die Pharaonen der Compu- ternetzwerke gestürzt seien und das Volk befreit sei und die Vernetzung selbst in die Hand nehme.129 127 „Für meine begriffliche Bestimmung von Netzwerken bin ich dem andauernden intellektu- ellen Dialog mit François Bar verpflichtet.“ (528, FN 1) 128 Vgl. dazu Bar und Borrus 1997. 129 Vgl. dazu François Bar und Michael Borrus, „From Public Access to Private Connections: Network Policy and National Advantage“, [1987], Berkeley 2005, S. 1. Paper des Berkeley Roundtable on the International Economy. URL: http://escholarship.org/uc/item/24c3q9sx. Zuletzt abgefragt am 14.10.2013. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
BILDKRITIK 271 Ein zweiter Bezug, den Castells explizit angibt, ist ein Kollege an der University of California in Berkeley: der theoretische Physiker und Ökologe Fritjof Capra. Das zeigt bereits, dass in dieser Zeit in Berkeley das Bild des Netzwerks ‚in der Luft lag‘. Castells hebt vor allem Capras Buch The Web of Life hervor, und schreibt von dem „bemerkenswerten Lebensnetz.“ (81)130 Capra entwickelt darin eine Theorie leben- der Systeme, die er als Netzwerke konzipiert: „Da lebende Systeme auf allen Ebe- nen Netzwerke sind, müssen wir uns das Netz des Lebens als lebende Systeme (Netzwerke) vorstellen, die auf netzartige Weise mit anderen Systemen (Netzwer- ken) verknüpft sind.“131 In der Welt sind alle und alles wechselseitig miteinander verbunden. Diesen Ausgangs- und in gewisser Weise auch Zielpunkt teilen Capra und Castells. Beide gehen davon aus, dass damit eine neues Paradigma einhergeht. Für Capra ist es der Wechsel „vom mechanischen zum ökologischen Paradigma“132. Von den Bereichen, die Capra zufolge davon betroffen sind – wie das Aufkommen des Feminismus, die Umweltbewegung – finden sich einige auch bei Castells, gera- de was die alternativen sozialen Bewegungen betrifft.133 Felix Stalder verortet Castells’ Netzwerk-Verständnis in der Nähe der Komplexi- tätstheorien – und das eben auch über Capra.134 Allerdings finden sich sehr schnell zentrale Aspekte von Castells’ Ansatz, die den Grundannahmen der Komplexitäts- theorie und den Kriterien des Systemdenkens, wie es Capra entwickelt135, entgegen- gesetzt sind. Von ‚Emergenz‘ oder ‚Autopoiesis‘ kann im strengen Sinne bei Castells nicht gesprochen werden, wenn Netzwerke gesteuert und programmiert werden können; die Annahme, dass kleine Ursachen große Wirkung und umgekehrt große Ursachen kleine Wirkungen haben können, trifft auf die Gesamtdynamik der glo- balen Vernetzung bei Castells nicht zu; und die streng beobachtergebundene Pers- pektive und Erkenntnis ist für Castells kein Thema, der sich als neutraler Beobach- ter außerhalb des Geschehens positioniert.136 Ungeachtet dessen ruft Castells auch immer wieder populäre Theoreme der komplexitätstheoretischen Ansätze auf. Ca- 130 Fritjof Capra, The Web of Life, New York 1996; dt. Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt, Darmstadt 1996. 131 Ebd., S. 49. 132 Ebd., S. 29. 133 Vgl. Castells 2002, Kap. 3 „Das Ergrünen des Ich: die Umweltbewegung“; Kap. 4 „Das Ende des Patriarchalismus“. 134 Stalder 2006, S. 170-175. Den zweiten wichtigen Einfluss auf Castells sieht Stalder in der Organisationssoziologie. Auch wenn er selbst betont, dass diese beiden Forschungstraditio- nen einen guten Einstieg in Castells’ Netzwerk-Auffassung böten, „without suggesting any direct dependence“, scheinen diese beiden Bezüge überbetont. Ebd., S. 171. Denn Castells setzt sich an keiner Stelle eingehender damit auseinander – er nennt sie allenfalls. Diese Auf- arbeitung von Stalder scheint mir doch eher aus der Not geboren zu sein, dass es bei Castells einfach sehr wenig systematische Hinweise und Ausführungen zur Netzwerktheorie gibt. 135 Vgl. dazu Capra 1996, S. 51ff. 136 Interessanter Weise schreibt Capra immer wieder vom „Systembild“ (ebd., S. 10), dem „Weltbild“ (ebd., S. 16), dem „Bild der Wirklichkeit“ (ebd., S. 17) oder dem „Bild des Wis- sens“ (ebd., S. 54) – und unterscheidet sich darin auch von Castells, der zwar von Bildern ‚da draußen‘ schreibt, aber nicht von den Bildern, die er selbst hat. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
272 DAS BILD DER VERNETZUNG BEI MANUEL CASTELLS pra scheint ihn eher noch einmal darauf hinzuweisen, wie produktiv und universell gültig Netzwerke oder die Logik der Vernetzung als ‚Schlüssel zur Welt‘ ist. Außerdem bezieht sich Castells an einer zentralen Stelle, an der es um die Netz- werklogik geht, auf Kevin Kellys Out of Control (vgl. 76, FN 87).137 Das Buch er- schien 1994, also genau zu der Zeit, als Castells an der Ausarbeitung des ersten Bandes sitzt.138 Kelly zeichnet darin die Grundzüge einer „neobiologischen Zivilisation“139, die er im Entstehen sieht. Sie ist für ihn dadurch charakterisiert, dass die technologische Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass Maschinen – in erster Linie Computer – so komplex geworden sind wie die Natur und sich in ih- rer Entwicklung und Organisation verselbständigen. Kultur und Natur, ‚Gemach- tes und Geborenes‘140, aber auch die Metaphern der Maschine und des Or- ganismus141, gehen immer mehr ineinander über, werden ununterscheidbar und von Kelly beide zu den ‚Vivisystemen‘ gerechnet.142 Diese komplexen Systeme zeichnen sich durch eine bestimmte Struktur und eine sie bestimmende Logik aus: die des Netzwerks. Die „Logik des Netzwerks“143, die zentrale Rolle der neuen In- formationstechnologien als Verwirklichung der Vernetzung, aber auch die wirt- schaftlichen Perspektiven, die sich daraus ergeben, stellen offensichtliche Gemein- samkeiten von Castells und Kelly dar. Es lohnt sich, einige Passagen genauer in den Blick zu nehmen. Die Stelle, die Castells zitiert, stammt aus dem zweiten Kapitel des Buches, in dem es um ‚Schwarmdenken‘ geht.144 Zum einen ist gerade hier – wenn man die herausgekürzten Passagen hinzunimmt – immer wieder vom „Bild“145 des Netz- werks die Rede – wohingegen gezeigt wurde, dass Castells die Netzwerke nicht als Bild bezeichnen würde. Zum anderen könnte Castells die Idee, seine Trilogie an- hand des Gegensatzes von ‚Netz und Ich‘ aufzuziehen, von hier übernommen ha- ben. Denn Kelly stellt hier das Atom als „Metapher für Individualität“146 dem „Netzsymbol“147 gegenüber. „Das Netz ist ein Emblem der Vielheiten. Aus ihm entsteht das Dasein des Schwarmes – des verstreuten Seins –, der das Selbst über 137 Kevin Kelly, Out of Control. The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World, Menlo Park, CA 1994; dt.: Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirt- schaft, Technik und Gesellschaft, Mannheim 1997. 138 Kelly wohnt als Herausgeber des Technikmagazins Wired ebenfalls in San Francisco. 139 Ebd., S. 8. 140 Vgl. ebd., Kap.1, S. 7-12. 141 Vgl. ebd., S. 8. 142 Vgl. ebd., S. 10. Wie viele andere, die im Rahmen des Netzwerk-Bildes denken und schrei- ben, hebt auch Kelly die Trennung von Mensch und Technik, Natur und Kultur, auf. 143 Ebd., S. 263. 144 Vgl. ebd., S. 13-48. Die von Castells zitierten Stellen befinden sich in der deutschsprachigen Ausgabe auf den Seiten Kelly 1997, S. 44-46. 145 Ebd., S. 44. 146 Ebd., S. 43. 147 Ebd., S. 44. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
BILDKRITIK 273 das ganze Netz hinweg verteilt, so daß kein Teil ‚Ich bin das Ich‘ sagen kann.“148 In jedem Fall hätte es ein Kapitel gegeben, das Castells’ Thesen inhaltlich noch viel näher liegt: „Netzwerkökonomie“149. Denn dort sind teilweise fast wörtlich Cas- tells’ zentrale Aussagen zu finden. So werden beispielsweise bei Kelly die Unterneh- men zu Netzwerken, die sich dann durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen: „Man kann sich die zukünftige Gestalt von Unternehmen so vorstellen: Sie dehnen sich aus, bis sie zu echten Netzwerken geworden sind. Ein Unternehmen, das ein ech- tes Netzwerk darstellen würde, hätte folgende Eigenschaften: verteilt, dezentralisiert, auf Zusammenarbeit bedacht und anpassungsfähig.“150 Castells schreibt vom ‚Netzwerk-Unternehmen‘ und charakterisiert es auf ganz ähnliche Weise. Kelly setzt wie Castells auf die Produktivität der Netzwerke: „Der Wert eines Netzwerks wächst schneller als die Zahl der hinzukommenden Mit- glieder.“151 Bei Castells steigt „der Wert eines Netzwerkes im Quadrat der Anzahl seiner Knoten“ (76). Auf diese Weise ließen sich noch einige Parallelen ziehen, die sich gerade in Kellys Kapitel zur ‚Netzwerkökonomie‘ zeigen. Ob Castells es deswe- gen nicht zitiert hat, lässt sich nicht sagen. In jedem Fall geht er nicht explizit auf die hier von Kelly benannten „Kennzeichen der aufkommenden Netzwerk- ökonomie“152 ein. Sie hätten, genauso wie die im Schwarmkapitel von Kelly ange- führten ‚Vor- und Nachteile von Schwarmsystemen‘153, eine systematischere Ausei- nandersetzung mit dem Konzept des Netzwerks ermöglicht. Dabei zeigt sich, dass es Aspekte in Kellys Bild des Netzwerks gibt, die Castells nicht übernimmt und die die beiden voneinander unterscheiden. Für Kelly gehört zum Beispiel zu den Netz- werken, dass diese immer auch Fehler produzieren.154 Er betont ferner die „Nicht- verstehbarkeit“155 von Netzwerken. Insgesamt überwiegen die Gemeinsamkeiten beider Ansätze. Mit Bar, Capra und Kelly hat man es also mit drei Autoren (Bar und Capra sind Kollegen) zu tun, die in Castells’ unmittelbarem Umfeld arbeiten und die alle im Netzwerk ein verheißungsvolles Organisationsprinzip sehen, dessen Potential noch nicht ausgeschöpft ist. Bar und Kelly sehen außerdem wie Castells in den neuen in- formationstechnologischen Entwicklungen die Chance, dass sich dieses Potential der Vernetzung nun entfalten kann. Wiederum ganz in ihrer Nähe befindet sich ein 148 Ebd., S. 44f. 149 Ebd., S. 259-287. 150 Ebd., S. 267. 151 Ebd., S. 285. Interessant ist in dieser Hinsicht noch eine andere Stelle: „Aus dem Nullsum- menspiel, bei dem jeder Gewinn des einen den Verlust eines anderen bedeutet, wird ein Spiel mit einer positiven Endsumme, bei dem die wirtschaftlichen Gewinne an jene gehen, die in der Lage sind, das System als einheitliches Ganzes zu behandeln.“ Ebd., S. 284. 152 Kelly 1997, S. 283. 153 Vgl. ebd., S. 39ff. 154 Vgl. ebd., S. 276ff. 155 Ebd., S. 41 und S. 287. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
274 DAS BILD DER VERNETZUNG BEI MANUEL CASTELLS Ort, an dem genau zeitgleich dieses Potential der Vernetzung bereits genutzt wird und der für sie in dieser Hinsicht vorbildlich ist: Silicon Valley. Wechselseitige Verstärkung von soziologischer Theoriebildung und gesellschaftlichem Kontext Dass für Castells – ebenso wie für einige Autoren in seinem Umfeld – die Vernet- zung durchweg positiv konnotiert ist und geradezu utopische Züge trägt, kann mit den Entwicklungen erklärt werden, die sich im breiteren gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit abspielen. Castells schreibt The Rise of the Network Society 1994/95; es erscheint im November 1996. Zu dieser Zeit arbeitet er an der University of California in Berkeley, und damit nur einige Kilometer entfernt von Silicon Valley, dem Zentrum der Informationstechnologien und der New Economy. Außerdem beginnt in diesem Zeitraum ab Mitte der 1990er Jahre die New Economy, die Wel- le der Neugründungen (‚Start-Ups) von Internetfirmen, die bis zur Krise im Jahr 2000/2001 anhält. Castells kommentiert diesen wirtschaftlichen Aufschwung in seinem Buch auch in einer erstaunlichen Passage. Darin fragt er sich, ob die „aben- teuerlich“ (162) hohe Bewertung der Internet-Aktien „die Illusion einer finanziellen Seifenblase“ (ebd.) sei. Er verneint dies deutlich und konstatiert, dass die Bewertung „einer rationalen Erwartung über die neuen Quellen des Wirtschaftswachstums“ (ebd.) folge. Und selbst „wenn es also eine Seifenblase an der Börse gegeben haben sollte – oder auch immer noch gibt –, so war und ist dies eine produktive Seifenblase, die vor dem Platzen das Wirtschaftswachstum in der ‚realen‘ Internet-Wirtschaft beschleunigt und so teilwei- se die Nebenwirkungen ihrer Spekulationsspirale wieder aufhebt.“ (Ebd.) Er hält also die Erwartungen – so irreal sie zunächst auch sein mögen – selbst für produktiv und also auch für rechtens, weil sie das nach sich ziehen, was sie verspre- chen. Deswegen hat Niels Werber nicht ganz unrecht, wenn er konstatiert, dass vie- le Passagen aus Castells’ Werk „so klingen, als entstammten sie einem Börsenbrief der Ultra-Hausse-Phase“156. Kurz nach dem Erscheinen von Castells’ letztem Band wird genau diese Blase platzen. Doch gerade der erste Band wird zu einer Zeit ver- fasst, die sich euphorisch auf die Vernetzung und die neuen Möglichkeiten der In- formationstechnologien bezieht. Der technologische und wirtschaftliche Aufschwung, den Castells in dieser Zeit di- rekt ‚vor seiner Tür‘ mitbekommt, ist sicherlich der wichtigste Grund dafür, dass er sich euphorisch auf die Vernetzung bezieht. Aber es gibt neben dem intellektuellen Umfeld und dem wirtschaftlich-technologischen Kontext noch weitere gesell- 156 Niels Werber, „Die Kultur der kreativen Zerstörung. Der US-Soziologe Manuel Castells entdeckt die Netzwerk-Unternehmen der New Economy als gesellschaftliches Leitmodell“, in: Frankfurter Rundschau, vom 2.2.2002. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
BILDKRITIK 275 schaftliche Zusammenhänge, die wahrscheinlich zu seiner positiven Auffassung von Vernetzung beigetragen haben. Dazu gehört, dass Castells sich als Marxist in den alternativen Bewegungen der 70er Jahre engagiert und dort die Vernetzung be- reits als politisches Organisationsmodell kennengelernt hat. Vernetzung bedeutet in diesem Zusammenhang eine hierarchie- und herrschaftsfreie, basisdemokrati- sche und horizontale Organisationsform.157 Dass diese Form nun zugleich die neu- esten technologischen Entwicklungen und mit ihnen die Wirtschaft bestimmt, be- stärkt Castells darin, die Vernetzung zum zentralen Charakteristikum einer neuen Epoche zu machen. Es ist deutlich geworden, wie stark Castells’ Verständnis und Bewertung des Ver- netzungs-Bildes durch den gesellschaftlichen Kontext und die populäre Auffassung von Vernetzung geprägt und beeinflusst sind. Der breitere öffentliche oder popu- läre Diskurs hat hier gerade über die Bildebene eine Auswirkung auf die soziologi- sche Theoriebildung. Es lässt sich aber auch eine Wirkung in der umgekehrten Richtung ausmachen – also von der soziologischen Beschreibung auf andere gesell- schaftliche Bereiche. Deswegen kann man hier von der wechselseitigen Verstärkung von populärem Diskurs und wissenschaftlicher Theoriebildung sprechen. Denn – wie Castells selbst nicht ohne Stolz berichtet158 – sein Konzept der ‚Netz- werkgesellschaft‘ wird bereits wenige Monate nachdem der Band 1996 erschienen ist, im Januar 1997 als das zentrale Thema auf dem Davoser Weltwirtschaftsgipfel verhandelt. Die Eröffnungsrede des Gipfels beginnt folgendermaßen: „Unser Symposium steht unter dem Motto Building the Network Society. Es geht da- bei letztlich um die Frage, ob die heute vorhersehbaren Entwicklungen bei der Verar- beitung und Übermittlung von Informationen eine Wende bewirken werden, die vergleichbar ist mit den Folgen der Erfindung des Rades vor 10000 Jahren oder mit der industriellen Revolution des letzten Jahrhunderts.“159 Dem Selbstverständnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gipfels ent- sprechend, wird das Thema ‚Netzwerkgesellschaft‘ aktiv angegangen – ‚Building the Network Society‘. Hier sitzen diejenigen, die sich in dieser Beschreibung als die zentralen Akteure verstehen. Von Castells wird außerdem die Einordnung in einen großen historischen Rahmen übernommen, der mit der Erfindung des Rades und der industriellen Revolution aufgemacht wird.160 Das Beispiel des Davoser Weltwirtschaftsgipfels zeigt, wie das von Castells ge- prägte soziologische Konzept der Netzwerkgesellschaft in einem politisch-ökono- 157 Vgl. Straus 2010, S. 16. 158 Vgl. Castells 2010. 159 Auszug aus der Rede von Bundespräsident Arnold Koller an der Eröffnung des Manage- ment-Forums Davos am 30. Januar 1997. URL: http://www.admin.ch/cp/d/1997Jan30. 174348.7236@idz.bfi.admin.ch.html. Zuletzt abgefragt am 14.10.2013. 160 Castells selbst macht einen solchen weiten historischen Bezugsrahmen auf. Allerdings ist es bei ihm neben der industriellen Revolution nicht die Erfindung des Rades, sondern des Alphabets bzw. des Buchdrucks, die als Bezüge dienen (vgl. 375f.). Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
276 DAS BILD DER VERNETZUNG BEI MANUEL CASTELLS mischen Kontext aufgenommen wird. Es verdeutlicht, dass Castells’ Beschreibun- gen eine Nähe zu den ökonomischen Selbstbeschreibungen besitzen und leicht in diese übertragbar sind. Aber auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen haben Castells’ Beschreibungen eine enorme fachliche Anerkennung und Popularisierung erfahren, wie oben anhand einiger Rezensionen dargelegt worden ist. Der Erfolg seiner soziologischen Beschreibungen lässt sich darauf zurückführen, dass Castells das Bild der Vernetzung mit den seinerzeit aktuellen Prägungen auf- greift und im Rahmen dieses Bildes seinen Ansatz entwickelt und formuliert. Die soziologischen Argumente erhalten über das Bild der Vernetzung, das gesellschaft- lich etabliert ist, eine Evidenz, weil es diese strukturiert und ihren konsolidierenden Hintergrund bildet. Darüber hinaus plausibilisiert es dahingehend, dass die sozio- logischen Beschreibungen der sozialen Wirklichkeit gerecht werden und diese tref- fend abbilden, eben weil sie in dem gesellschaftlich etablierten Bild der Vernetzung geschrieben sind. 3.4 Zentrale Motive und Kritik Da Castells eine Auffassung des Netzwerk-Bildes vertritt, die eng mit einem popu- lären Verständnis von ‚Netzwerk‘ und ‚Vernetzung‘ verbunden ist, bietet das für uns die Gelegenheit, auf einige gängige Annahmen und Motive einzugehen, die oftmals mit dem Bild des Netzwerks einhergehen. Die Reichweite der Bildkritik wird auf diese Weise über die Grenzen der soziologischen Theoriebildung hinaus erweitert. Dazu gehört der euphorische Bezug auf Netzwerke oder Vernetzung, den Castells mit den meisten seiner westlichen Zeitgenossen teilt. Netzwerkeuphorie Man kann Castells als ‚Netzwerkeuphoriker‘ bezeichnen.161 Netzwerke haben für ihn das Potential, alle Menschen weltweit zu befreien: durch ihre Produktivkraft für die materiellen Grundlagen des Lebens zu sorgen und gleichzeitig den Fokus auf das Wissen und die geistige Weiterentwicklung zu setzen, durch ihre Horizon- talität die Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse abzubauen, als Kommunika- tionstechnik eine universale, transnationale Kommunikation zu ermöglichen, die zusammen mit den Verkehrs- und Transportnetzwerken eine neue multikultu- relle Welt erschafft usw. – die Liste ließe sich fortsetzen. Eine konsequente Ver- netzung würde ins „Reich der Freiheit“ und in den „allgemeinen Überfluß“162 füh- 161 Jürgen Osterhammel und Niels Petersson schreiben von „Globalisierungseuphoriker[n]“. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson, Die Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 11. 162 Manuel Castells, „Der Beginn der Geschichte“, in: Die Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte. Der Sozialismus der Zukunft, Sonderheft 2, Jg. 38, 1991, S. 52-63, hier: S. 53. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
BILDKRITIK 277 ren; sie sei der „Übergang zu einem Weltgeist“163. Dies hebt das Konzept der Ver- netzung in den Rang einer Utopie.164 Allerdings ist die Vernetzung für Castells keine ausstehende, jenseitige Vision. Er sieht sie in den neuen Informationstechno- logien adäquat umgesetzt und bereits verwirklicht. Diese informationstechnologi- schen Netzwerke böten die materielle Grundlage für eine neue Gesellschaft. Eine solche historische Chance, die sich durch diese revolutionäre technologische Ent- wicklung ergebe und die nur mit der Erfindung des Alphabets oder des Buch- drucks vergleichbar sei, stimmt Castells euphorisch. Zu Castells’ Netzwerkeuphorie muss man aber noch hinzufügen, dass sich die Bewertung der Vernetzung von Band eins zu den beiden folgenden Bänden seiner Trilogie verändert hat. Bezieht sich Castells im ersten Band noch euphorisch auf die – in erster Linie: informationstechnologische – Vernetzung, hört sich das im zweiten und vor allem dritten Band erst einmal anders an. Am Ende des dritten Bandes und damit am Ende seiner Trilogie konstatiert Castells: „[E]s wird den meisten Menschen auch nicht all das Gute bringen, das die außerordentlichste technologische Revolution der Geschichte verheißen hat.“165 Abwertend schreibt er von der „Verehrung der Technologie“166 und ihrer „Verführungskraft“167 – und beschreibt damit vielleicht auch ein Stück weit seine eigene Erfahrung. Die veränderte Bewertung der Vernetzung hängt mit dem inhaltlichen Perspek- tivwechsel zusammen, den Castells in den Bänden zwei und drei vollzieht. Dort nimmt er die Perspektive derer ein, die sich gegen die globale techno-ökonomische Vernetzung stellen. Damit verwirft er das Prinzip der Vernetzung nicht, denn, wie oben gezeigt worden ist, gilt auch hier das Bild der Vernetzung: Die sozialen Bewe- gungen vernetzen sich, organisieren sich in Netzwerken und nutzen oft auch die informationstechnologischen Netzwerke. Aber zumindest beschreibt er hier be- stimmte Formen der Vernetzung als ausgrenzend; und an dieser Ausgrenzung sind auch die informationstechnologischen Netzwerke beteiligt: „Die neuen Informati- onstechnologien statten diesen globalen Wirbelwind der Akkumulation von Reich- tum und der Ausbreitung von Armut mit den notwendigen Werkzeugen aus.“168 Castells revidiert damit nicht seine Hoffnungen, die er in das Potential der Ver- netzung setzt – die Vernetzung könne an diesen Fehlentwicklungen letztlich nicht schuld sein.169 Schuld daran seien vielmher die mangelnden sozialen Fähigkeiten 163 Ebd., S. 60. 164 Zur Geschichte der Vernetzungsutopien vgl. Rainer Fischbach, Mythos Netz. Kommunika- tion jenseits von Raum und Zeit?, Zürich 2005, S. 21-66. 165 Castells 2003, S. 409. 166 Ebd., S. 402. 167 Ebd., S. 403. 168 Ebd., S. 170. 169 Dass Castells bis heute vom Potential der Netzwerke überzeugt ist, belegt eine Aussage, die er in seiner Einführung zu einem Seminar zur Netzwerk-Theorie 2010 gemacht hat: „I truly believe in the promise of network theory.“ Castells 2010. Er ergänzt, dass er Netzwerk-The- orie betreibe, weil sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit heute überall Netzwerke fän- den. Um diese zu verstehen, müsse man dann eben Netzwerk-Theorie betreiben. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
278 DAS BILD DER VERNETZUNG BEI MANUEL CASTELLS der Menschen. Diese Einschätzung bringt er in der erstaunlichen Schlusspassage des dritten Bandes zum Ausdruck: „Das Versprechen des Informationszeitalters besteht in der Entfesselung einer nie da gewesenen produktiven Fähigkeit durch die Macht des Geistes. Ich denke, also pro- duziere ich. Dabei werden wir die Muße haben, mit Spiritualität zu experimentieren und die Gelegenheit, uns mit der Natur auszusöhnen, ohne das materielle Wohlerge- hen unserer Kinder zu opfern. Der Traum der Aufklärung, dass Vernunft und Wissen- schaft die Probleme der Menschheit lösen, ist greifbar nahe. Es besteht jedoch eine außerordentliche Kluft zwischen unserer technologischen Überentwicklung und un- serer sozialen Unterentwicklung.“170 Angesichts dieses euphorischen Bezugs auf das Bild der Vernetzung muss man sich noch einmal vor Augen führen, dass Netzwerke nicht nur etwas Positives darstellen können und nicht immer derart positiv besetzt waren. Netzwerke sind in der Anti- ke als Waffen eingesetzt worden, waren also gefährlich und man konnte mit ihnen gefangen werden; auch Spinnennetze sind affektiv wohl eher negativ besetzt. Wie dieses Versprechen der informationstechnologischen Vernetzung, das es einzulösen gilt, und der Traum der Aufklärung, der wahr werden könnte, Castells zufolge aussehen, soll anhand einiger zentraler Motive nachgezeichnet werden. Dazu gehören die Netzwerke als Quellen von Wert, das Konzept der ‚Information‘, die damit verbundene Vorstellung einer Universalsprache und nicht zuletzt der Ort, an dem das alles bereits Wirklichkeit geworden ist: Silicon Valley. Kritik der Netzwerke als wertschöpfender Form Mit Netzwerken oder der Vernetzung ist häufig die Annahme verbunden, dass sich durch sie in besonderer Weise Wert generieren ließe. Die zentrale Vorstellung ist dabei, dass jede Verbindung, die geknüpft wird, neue Ressourcen erschließt. Cas- tells hebt diesen Aspekt in mehrfacher Hinsicht hervor: zunächst durch das Bild der Quelle, das bildlich an das Strömen und Fließen im Netzwerk anschließt und immer wieder auftaucht, wenn es um die Produktivität der Netzwerke geht. Das Bild der Quelle zeigt die Netzwerke als Ursprung von Werten, Informationen, In- novationen usw. Das Erschließen von Ressourcen mittels Verbindungen steigern die Netzwerke in Castells’ Verständnis aber auch dadurch, dass sie durch ihre Ei- gendynamik Wert generieren können.171 Mit jeder neuen Verbindung potenziert sich der Gesamtwert eines Netzwerks und nimmt „im Quadrat der Anzahl seiner Knoten“ (76) zu. „Die Formel lautet V= n(n-1), wobei n die Anzahl der Knoten im Netzwerk ist.“ (Ebd.) Außerdem können Netzwerke aus sich heraus Neues generie- ren. Hier ist es vor allem die informationstechnologische Vernetzung, die in einem 170 Castells 2003, S. 411. 171 Zu einer Kritik der vermeintlichen Produktivität einer dezentralen, vernetzten Unterneh- mensstruktur vgl. Harald Wolf, „Das dezentrale Unternehmen als imaginäre Institution“, in: Soziale Welt, Jg. 48, 2, 1997, S. 207-224. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
BILDKRITIK 279 ‚circulus virtuosus‘ produktiv ist: „Informationstechnologie, um die Produktion von Wissen und Information in einem sich selbst erweiternden circulus virtuosus zu steigern und zu beschleunigen.“172 Castells hat besonders die werterschließenden Verbindungen und die wertgenerieren- de Eigendynamik der Netzwerke im Blick. Dabei denkt er ‚Wert‘ hier rein ökono- misch – entweder direkt als ‚Reichtum‘ oder aber als ‚wertschöpfende Infor- mation‘.173 Das passt zu dem ökonomischen Schwerpunkt, den seine Analysen insge- samt haben und die in erster Linie die wirtschaftlichen Auswirkungen des neuen Para- digmas der Netzwerkgesellschaft aufzeigen. Diese ökonomische Ausrichtung teilt Castells mit vielen Autoren der Sozialen Netzwerkanalyse. Der Fokus auf wertschöpfende Verbindungen blendet die ‚Kosten‘ solcher Verbin- dungen aus. Im engeren Sinn geht es darum, dass nur auf das Erschließen von Res- sourcen und das Generieren von Wert geachtet wird und nicht darauf, woher diese genommen werden, oder wie ein Wert zustande kommt. Die Rechnung ist also eine reine Gewinnbilanz. Nur so ist erklärbar, wie im Netzwerk Wert exponentiell gestei- gert werden kann. Das passt zu der allgemeinen Tendenz, im Bild der Vernetzung nur die Verbindungen im Blick zu haben, und die Trennungen, Ausschlüsse, Grenzzie- hungen auszublenden. Diese Tendenz betrifft vor allem den ersten Band seiner Trilo- gie. Im zweiten und dritten beschreibt Castells dann vermehrt Exklusionsvorgänge. Insgesamt geht es allerdings vor allem um Verbindungen, Zusammenschlüsse und ge- lungene Kommunikation – nicht um Grenzen, Trennungen und Kommunikations- barrieren; genauso, wie er eben auch beschreibt, auf welche Weise Netzwerke Wert er- schließen und generieren – und nicht, was eine Verbindung kostet und an Aufwand bedeutet. In diesem Verständnis werden die ‚Kosten‘ des Netzwerks nicht mitgerech- net. Zum einen gibt es Verbindungen nicht, ohne dass ein Aufwand betrieben wird – ein Punkt, den Latour sehr stark betonen wird; und zum anderen geht mit der Berei- cherung, der Machtfülle im Netzwerk eine Armut und Machtlosigkeit in den Löchern des Netzes einher.174 Letzteres hat Castells zwar im Blick, aber er geht dennoch davon aus, dass ein Netzwerk, das richtig eingesetzt wird, allen Gutes bringen müsste. Eine weitere Einschränkung der Wertschöpfung von Netzwerken besteht darin, dass sie nicht auf Dauer immer neue Verbindungen knüpfen und damit neue Res- sourcen erschließen können. Im Fall der globalen Vernetzung ist die Grenze spätes- tens dann erreicht, wenn sich die Netzwerke global ausgebreitet haben. Aber Cas- tells’ Verständnis von Vernetzung zufolge gehört diese expansive Tendenz und das 172 Castells 2001, S. 427. 173 Auch das Bild der Zirkulation stellt einen Bezug zur Ökonomie her. Denn das Bild des Blut- kreislaufs wird aus der Physiologie in den Bereich des Ökonomischen übertragen. 174 Eine der ganz wenigen Stellen, an der Castells die Wertschöpfung und Produktivität der Netzwerke mit deren gegenteiligem Effekt zusammendenkt, ist folgende: „Die Fähigkeit von Netzwerken, nützliche Arbeitskräfte und Territorien zu verbinden und entbehrliche Arbeitskräfte und Territorien auszuschließen, wobei sie ihre Leistungsfähigkeit durch Rekonfiguration verbessern, führt zu kumulativem Wachstum wie kumulativem Nieder- gang.“ Castells 2001, S. 434. Tobias Schlechtriemen - 9783846756263 Downloaded from Fink.de10/16/2021 09:36:01PM via free access
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