Adam benennt die Tiere - Ferdinand Schöningh

 
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Adam benennt die Tiere - Ferdinand Schöningh
Adam benennt die Tiere
Von der Bedeutung der Namen für die Kenntnis der Dinge: Genesis 2,19–20 als
ein Erkenntnisdispositiv der Frühen Neuzeit

Anne-Charlott Trepp

Unter Verweis auf die Benennung der Tiere durch Adam in Gen 2,19–20 wird in der Ver-
bindung von jüdisch-christlichen mit neuplatonischen Rezeptionssträngen ein besonde-
rer Konnex zwischen Benennen und Erkennen, zwischen Wort, Ding und Sinnerfassung
hergestellt, der sich, so die These dieses Beitrags, in der Frühen Neuzeit bis zur Mitte
des 18. Jahrhunderts zu einer wissensgeschichtlich zentralen Epistemologie entfaltet. Im
Akt der Benennung evoziert Adam zugleich mit den Namen das vollkommene, göttli-
che Wissen um die Dinge, weshalb dem Menschen mit dem Fall (Gen 3) und dem Ver-
lust der einen, absoluten Sprache (Gen 11) auch die (vollkommene) Kenntnis der Dinge
abhandenkommt. Aus diesem Wissensverlust wird ein soteriologisch legitimierter Er-
kenntnis- bzw. Forschungsauftrag abgeleitet, der über die stete Verhandlung spezifischer
Wort-Ding-Relationen den Zugang zu Gottes Wort und Plan in der postlapsarischen
Schöpfung zu erkennen sucht. In dieser Spannung von zugleich rückwärts als auch vor-
wärts gerichteter Erkenntnissuche entwickelt die Dechiffrierung des ‚Buchs der Natur‘
bis hin zu Carl von Linné eine Dynamik und Produktivität, die angesichts der Persistenz
der klassischen Modernisierungstopoi auch die Frage der ‚Verzeitlichung‘ respektive des
Stigmas des ‚Statischen‘ frühneuzeitlicher Wissensgenerierung noch einmal neu zu stel-
len vermag.
                                           Nomina enim si pereunt, perit rerum cognitio
                                                    Carl von Linné, Systema Naturae, 1758, S. 7

In seinem Kommentar zur Fauna Suecica von Carl von Linné in den Göttingi-
schen Zeitungen von Gelehrten Sachen von 1746 kritisiert Albrecht von Haller
den schwedischen Naturforscher mit scharfen Worten. Es werde vielen „zuwi-
der“ sein, prophezeit Haller, dass sich Linné „die unumschränkte Herrschaft
[...] über die Thiere angemaßt“ habe; denn er habe „sich selbst als einen zwei-
ten Adam angesehen, und alle Thiere nach ihren Kennzeichen benennet, ohne
sich um seine Vorgänger zu bekümmern“.1 Nach Reisen durch Schweden hatte

1 Albrecht von Haller, „Kommentar zur Fauna Suecica“, in: Göttingische Zeitungen von gelehr-
  ten Sachen, Göttingen 1746, S. 670f.; vgl. fast wortgleich auch Albrecht von Haller, Tagebuch
  seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst: Zur Karakteristik [!] der Philoso-
  phie und Religion dieses Mannes, Bern 1787, S. 200f. Für wichtige Hinweise und inspirierende
  Diskussionen sei Hartmut Bleumer (Göttingen) und meinen Kasseler KollegInnen Ilse Müll-
  ner und Kristian Köchy gedankt.

© VERLAG FERDINAND SCHÖNINGH, 2019 | DOI:10.30965/9783657782239_008                  Renate Dürr - 9783657782239
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Linné Mitte der 1740er Jahre ausführliche Beschreibungen der hiesigen Tier-
und Pflanzenwelt veröffentlicht, die wichtige Schritte zur Fertigstellung und
Vollendung seiner bedeutendsten Werke, der Species Plantarum von 1753 und
des Systema Naturae in seiner 10. Auflage von 1758, darstellten. Mit der binären
­Nomenklatur, welche sowohl den Gattungs- als auch den Artnamen systema-
 tisch fasst, und einer hierarchischen Klassifikation der Flora und Fauna führte
 Linné ein neuartiges Ordnungssystem ein, das schon bald als maßgebend ange-
 sehen wurde. Die strikte Befolgung des Linnéschen Systems wurde zur Grund-
 lage jeglichen Arbeitens auf dem Gebiet der Naturgeschichte erhoben.2 Seit der
 Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr diese Einschätzung eine grundlegende Revi-
 sion. Die binäre Nomenklatur stellte zwar ein praktikables ­Ordnungssystem
 bereit, wurde jedoch als Relikt einer auf platonischer und aristotelischer Me-
 taphysik fußenden Wissenschaftstradition a­bgelehnt.3 Linnés Natursystem
 entsprang einem – nun als überholt geltenden – ­essentialistischen, das heißt
 einem am Wesen der Dinge orientierten Klassifikationsbegriff in der Tradi-
 tion vorangegangener Generationen von Botanikern von Andrea Cesalpino
 über Joseph Pitton de Tournefort und John Ray.4 Demgemäß ging Linné von
 der jeweils wahren „Natur“ einer Art, einer Gattung oder eines höheren Taxo-
 noms aus. Jede Ordnung oder Klasse war gemäß der ihr zugrunde liegenden
 Essenz gemäß geschaffen worden und konnte im Prinzip als solche anhand
 bestimmter Merkmale auch erkannt und klassifiziert werden.5 Daher bestand

2 Staffan Müller-Wille, Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines natürlichen Sys-
  tems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–1778), Berlin 1999, S. 30 Anm. 24 mit Belegen zur
  Rezeption; vgl. Ernst Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und
  Vererbung, Berlin u.a. 1984, S. 133; Karl Mägdefrau, Geschichte der Botanik. Leben und Leistung
  großer Forscher, 2. Aufl., Stuttgart 1992, S. 78f.
3 Zur Entwicklung des Klassifikationsbegriffs ausführlich James L. Larson, Reason and Experi-
  ence. The Representation of natural Order in the Work of Carl von Linné, Berkeley 1971; Arthur
  J. Cain, Logic and Memory in Linnaeusʼs System of Taxonomy, London 1958; Mayr, Biologische
  Gedankenwelt, S. 159–161; Müller-Wille, Botanik, S. 30.
4 William T. Stearn, „The Background of Linnaeus’s Contribution to the Nomenclature and
  Methods of Systematic Biology“, in: Systematic Zoology 8 (1959), S. 4–22; Nils Ekedahl, „Col-
  lecting flowers: Linnean Method, Species Plantarum and the Humanist Art of Reading“,
  in: Species Plantarum 250 Years: Proceedings of the Species Plantarum (Uppsala, 22–24 Au-
  gust 2003), hg. v. Inga Hedberg, Uppsala 2005, S. 47–60; Mayr, Biologische Gedankenwelt,
  S. 206–208.
5 Carl von Linné, Philosophia Botanica, Stockholm/Amsterdam 1751, in der er seine Prinzipi-
  en und Methoden ausführlich dargelegt hat, v.a. in den Thesen 159 und 186–209, hier These
  186: „CHARACTER est Defintitio Generis; itaque triplex datur: Facticius [...], Essentialis [...], &
  Naturalis“; zuvor ders., Systema Naturae, Stockholm 1740, „Oberservationes in Regnum Vege-
  tabile“, § 14, S. 72: „Genus omne est naturale, in ipso primordio tale creatum“; ders., Critica
  Botanica, Leiden 1737, u.a. § 240: „Nomina Genera, quae Characterem essentialem, vel faciem

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die Aufgabe des Taxonomen darin, die O   ­ rdnungskategorien entsprechend der
ihnen zugrunde liegenden und sie charakterisierenden Essenzen zu erkennen
oder sie aus schöpfungstheologischer Sicht wieder zu entdecken.6 Vor diesem
Hintergrund beanspruchte Linné zwar nicht, ein „Natürliches System“ geschaf-
fen zu haben, welches die wesenhafte, göttliche Natur der Dinge tatsächlich
wiedergab, allerdings war er von seiner tendenziellen Annäherung überzeugt.
Während es ihm gelungen war, gattungs- bzw. arteigentümliche, das heißt
seiner Auffassung nach wesensspezifische Definitionen zu finden, scheiterte
Linné damit an der Bestimmung der Sexualorgane der Pflanzen auf den hö-
heren Ebenen seines Systems. Das daraus erwachsene systemische Defizit
reflektierte er, indem er „Künstliche Systeme“ von dem „Natürlichen System“
differenzierte. Auch wenn es das äußerste Ziel („ultimus finis“) war, eine „na-
türliche“, hinsichtlich ontischer Ordnungsformen kongruente Klassifikation zu
finden, verteidigte er das vor allem in seiner Systema Naturae entwickelte Se-
xualsystem als angesichts seiner problematischen Artifizialität bestmögliches,
solange kein durchgängig „Natürliches System“ gefunden worden sei7 – damit
jedoch könne in seiner Zeit noch nicht gerechnet werden.8

  plantae exhibent, optima sunt.“ Vgl. Stearn, „Background“, S. 16–18; Mayr, Biologische Gedan-
  kenwelt, S. 141–143, S. 159–161; Larson, Reason and Experience, bes. Kap. III, Genera, S. 73–75;
  Cain, Logic and Memory; kritisch zur Bedeutung essentialistischer Ordnungsmuster bei
  Linné siehe Mary P. Winsor, „The Creation of the Essentialism Story: An Exercise in Metahis-
  tory“, in: History and Philosophy of the Life Sciences 28 (2006), S. 149–174; Staffan Müller-Wille/
  Isabelle Charmantier, „Natural history and information overload. The case of Linnaeus“, in:
  Studies in History and Philosophy of Science. Part C. Studies in History and Philosophy of Biolo-
  gical and Biomedical Sciences 43 (2012), S. 4–15.
6 Siehe auch Sten Lindroth, „The Two Faces of Linnaeus“, in: Linnaeus. The man and his
  work, hg. v. Tore Frängsmyr, Canton 1994, S. 1–62, hier S. 30f.; Cain, Logic and Memory, bes.
  S. 154–156; Ilse Jahn/Konrad Senglaub, Carl von Linné, Leipzig 1978, S. 52–54.
7 „Interim tamen Systema artificalia, in defectu Naturalis, omnino necessaria sunt.“ Carl von
  Linné, Systema Naturae, Halle a.d. Saale 1740, „Obs. Regn. Veg.“, § 12, S. 72; ders., P­ hilosophia
  Botanica, übers. v. Stephen Freer, Oxford 2005, § 160, S. 114f.; Jahn/Senglaub, Carl von Linné,
  S. 52–54; Mägdefrau, Botanik, S. 71f.; Müller-Wille, Botanik, S. 50–52, v.a. in Bezug auf Larson,
  Reason and Experience, dessen Position er allerdings ablehnt. Der religiöse Hintergrund der
  Linnéschen Taxonomie und seiner Beschäftigung mit der Naturgeschichte spielt bei Staffan
  Müller-Wille keine Rolle.
8 Zum bislang weitestgehend außer Acht gelassenen eschatologischen Erkenntnishorizont
  Linnés siehe bes.: „Multa etenim sunt quae esse audivimus, qualia autem sint ignoramus!
  quamque multa hoc primum cognovimus seculo! & quidam multa venientis aevi populus, ig-
  nota nobis, sciet! multa saeculis tunc futuris, cum memoria nostri exoleverit, reservantur; ve-
  niet tempus, quo ista quae nunc latent, in lucem dies extrahat & longioris aevi diligenetia. [...]“,
  Carl von Linné, Systema Naturae, 10. Aufl., Stockholm 1758, „Introitus“. Siehe dazu auch die
  Ausführungen am Ende dieses Beitrags. Der endzeitlichen Perspektivierung der Perfektio-
  nierung und Akkumulation des Wissens widerspricht auch nicht die ­Hochschätzung seines

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     Linnés grundlegendes Ziel bestand darin, den verborgenen Plan Gottes in
der Natur nachzuvollziehen und nachzuzeichnen, wozu es eines Denomina-
tionssystems bedurfte, welches mit den Taxa zugleich auch die unveränderli-
chen Essenzen der Dinge abbildete. Im Idealfall spiegelte sich in den Taxa „die
gottgegebene reale Einheit der Vielfalt“.9 Die für dieses Systematisierungsver-
fahren notwendigen Operatoren stellten divisio und denominatio, Unterschei-
dung und Benennung: „nam nomina nosce oportet qui rem scire velit.“10 Die
­Benennung erforderte jedoch keine beliebigen, sondern die ihrem Wesen bzw.
 ihrem essentiellen Charakter entsprechenden Namen zu geben,11 so wie es
 zuerst und vor allem Adam im Paradies getan hatte: „Nominum […] ­impositio
 ­primi hominis in aurea aetate actio erat.“12 Worauf Linné sich hier bezieht, ist
  die in der Genesis 2,19–20 bezeugte Benennung der Tiere durch Adam:

      Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle
      die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er
      sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde,
      so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel un-
      ter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; [...].13

In Fortführung der göttlichen Weltschöpfung erfolgt die Benennung der Tiere
durch Adam gleichsam in einem zweiten Schöpfungsakt, wobei der Zuspruch
der Namen analog zur göttlichen Denomination zur Bestätigung der Schöp-
fung dient. Als Gottes Ebenbild macht der Mensch es so, wie Gott es gemacht

      eigenen künstlichen Systems, im Gegenteil; siehe Jahn/Senglaub, Carl von Linné, S. 53; erst
      wenn die Natur – nach seinem artifizialen System – in ihrer ­Gesamtheit erforscht sei,
      lässt sich auch der ihr zugrunde liegende Schöpfungsplan erkennen; auch Staffan Mül-
      ler-Wille, „Systems and how Linnaeus looked at them in retrospect“, in: Annals of Science
      70 (2013), S. 305–317, hier S. 311–313.
9     Mayr, Biologische Gedankenwelt, S. 142.
10    Linné, Systema Naturae, 1758, „Imperium Naturae“, S. 7f.; ders., Philosophia Botanica,
      übers. v. Stephen Freer, § 152, S. 110/111.
11    Cain, Logic and Memory; Stearn, „Background“, S. 6; zur Funktion der Gattungsnamen
      schreibt Linné in seiner Critica Botanica, Leiden 1737, § 240, S. 97: „Nomina Genera, quae
      Characterem essentialem, vel faciem plantae exhibent, optima sunt“; auch: „Usum dein
      quam eximium ex hac observata regula reporto: nominat enim planta aliqua, ex solo no-
      mine in memoriam revoco characterem, attributa, usum affinum.“ (Linné, Critica Botanica,
      1737, § 213, S. 8).
12    Linné, Systema Naturae, 1758, „Imperium Naturae“, S. 8; vgl. Peter Harrison, „Linnaeus as a
      Second Adam? Taxonomy and the religious vocation“, in: Zygon 44 (2009), S. 879–893, der
      den „theological background“ Linnés und seiner Wissenschaft im Hinblick auf Gen 2,19f.
      zwar thematisiert, aber letztlich sehr allgemein bleibt.
13    Lutherbibel 1984.

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hat und doch nicht gleich. Den Unterschied zwischen göttlicher Namens-
schöpfung und menschlicher Namensgebung verdeutlicht Hans Blumenberg
mit einem Zitat von Walter Benjamin:

     In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, und Gottes Wort ist er-
     kennend, weil es Name ist. ,Und er sah, daß es gut war‘, das ist: er hatte es
     erkannt durch den Namen [...] Das heißt: Gott machte die Dinge in ihren
     Namen erkennbar. Der Mensch aber benennt sie maßen der Erkenntnis.

Die Geschöpfe werden dem Menschen im Paradies dadurch begreiflich, dass
er sie „bei ihren Namen zu nennen weiß“.14 Mit der Benennung der Tiere durch
Adam wird ein genealogisch unverbrüchlicher Zusammenhang zwischen
Wort, Namenschöpfung und Erkenntnis hergestellt. Den Menschen nach dem
Sündenfall (Gen 3) und der Diversifizierung der Sprache (Gen 11) infolge des
Turmbaus zu Babel wird ein unmittelbarer Zugang zum Schöpfungswissen
auf der Grundlage der Sprache aber nicht mehr oder nur mehr ­eingeschränkt
­gewährt. Es bleibt die zur heilsgeschichtlichen Aufgabe überhöhte Hoffnung
 am Ende der Zeiten, wieder in den Besitz der richtigen Namen zu gelangen,
 während sich umgekehrt das Streben nach der Wiederherstellung der Got-
 tesebenbildlichkeit im Menschen mit der prospektiven Restituierung des
 ­Paradieses bzw. mit dem Wiederfinden der ursprünglichen Namen verknüpft.
  Im Streben nach Erneuerung, nach einer umfassenden „Reformation“ von
  ­Wissenschaft und Religion in der Frühen Neuzeit spielt das Vermessen der
   Relation zwischen Worten, Dingen und Erkenntnis auf der Suche nach den
   wahren Namen, wie sie Adam im Paradies gehabt hat, daher eine kaum zu
   überschätzende Rolle. Nicht zuletzt mit Blick auf Gen 2,19f. erhellt sich im
   steten Ringen um den ‚richtigen‘ Zusammenhang von Benennen und Erken-
   nen, von Wort, Ding und dessen innerem Sinn die enge Verschränkung von
   Wissenschaft und Religion – auch in den Zusammenhängen respektive in den
   Zeiträumen, die üblicherweise mit der „wissenschaftlichen Revolution“ und
   der Aufklärung in Verbindung gebracht werden.15 Angesichts der kaum zu

14   Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1996, S. 44.
15   Zur Verknüpfung von Wissenschaft und Religion, Natur- und Gotteserkenntnis siehe
     insbesondere Peter Harrison, The fall of man and the foundations of science, Cambridge
     2007; ders., The territories of science and religion, Chicago 2015; Anne-Charlott Trepp, Von
     der Glückseligkeit alles zu wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der frü-
     hen Neuzeit, Frankfurt a.M. u.a. 2009; Philipp Senn/Silvia Flubacher/Kasper von Greyerz,
     Wissenschaftsgeschichte und Geschichte des Wissens im Dialog, Connecting Science and
     Knowledge. Schauplätze der Forschung, Scenes of Research, Göttingen 2013.

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überschauenden Fülle an Rezeptionssträngen16 soll im Folgenden nach einer
kurzen Einführung zur Figur Adams an einigen wenigen, bisher in dieser Wei-
se jedoch nicht zusammenhängend betrachteten prominenten Akteuren der
Wissenschafts- und Religionsgeschichte vertiefend gezeigt werden, in welchen
Wissens- und Religionszusammenhängen vor allem des 16. und 17., aber auch
des 18. Jahrhunderts die Suche nach den (richtigen) Namen als Erkenntnis-
dispositiv fungierte,17 welche spezifischen Wort-Ding-Relationen mit welchen
Argumenten diskutiert und – mit Blick auf Adam und seine ‚erkennende‘ Be-
nennung der Tiere – welche Zugänge des gefallenen Menschen zu Gottes Wort
und dessen Schöpfungsplan damit zugleich verhandelt wurden.

1        Adam und die Benennung der Tiere (Gen 2,19–20): Der ‚herrliche
         Adam‘ als namensschöpfender Akteur

Von Bedeutung ist die Figur Adams in der (christlich-)kirchlichen Traditi-
on vor allem als Urtypus der sündigen Menschheit. Durch seinen Fehltritt
ist das menschliche Geschlecht verdorben worden und da alle Menschen
von diesem gefallenen Adam abstammen, tragen sie seine Sünde von Gene-
ration zu Generation weiter. Mit Adam wird ein historisch-genealogischer
­Zusammenhang menschlicher Sündhaftigkeit von der Schöpfung an bis in die
 Gegenwart begründet.18 „Durch Adams Sündenfall haben alle Menschen ihre

16    Auf einen separaten Forschungsbericht muss angesichts Platzbegrenzung verzichtet
      werden. Da hier keine rezeptionsgeschichtliche Studie beabsichtigt ist, werden an sich
      zentrale Verhandlungsstränge zum Verhältnis „Namen und Dinge“ außer Acht gelassen,
      wie vor allem der Universalienstreit; ebenso wenig kann hier die hermetische Überlie-
      ferungstradition eigens Berücksichtigung finden, die allerdings mit Paracelsus und der
      Rezeption der Signaturenlehre indirekt mit behandelt wird.
17    Zentral für die folgende Darstellung sind außer den Arbeiten von Hans Blumenberg v.a.
      die Untersuchungen von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historical
      Outlines of Western Spirituality in Ancient, Medieval and Early Modern Thought, Dordrecht
      2004; James J. Bono, The Word of God and the Languages of Man. Interpreting Nature in
      Early Modern Society and Medicine, Madison u.a. 1995; Harrison, Fall of Man, und Wolf-
      gang Kayser, „Böhmes Natursprachenlehre und ihre Grundlagen“, in: Euphorion 31 (1930),
      S. 521–562.
18    Otto Betz, Art. „Adam I. Altes Testament, Neues Testament und Gnosis“, in: Theologische
      Realenzyklopädie, hg. v. Gerhard Müller, Berlin 1977, S. 414–424, hier S. 417f.; Michael
      Ernst, „Adam – Die Rezeption eines alttestamentlichen Motivs in neutestamentlichen
      Texten“, in: Alttestamentliche Gestalten im Neuen Testament. Beiträge zur Biblischen Theo-
      logie, hg. v. Markus Öhler, Darmstadt 1999, S. 27–39, hier S. 29–31. In ätiologischer Hinsicht
      werden Adams (und Evas) Fall als Begründung für grundlegende Menschheitsprobleme,

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­ rsprüngliche Herrlichkeit verloren“ (Röm 3,23). Während Adam „in typologi-
u
scher Hinsicht einerseits als Urbild des Sünders“ gilt, verkörpert er zugleich
auch ­Ursprungsideal und Hoffnung des menschlichen Daseins.19 Denn Adam
lebt als der von Gott vorgesehene Mensch vor dem Sündenfall in Einklang mit
seinen tierischen Mitgeschöpfen und ist nach seinem Ebenbild geschaffen
bzw. trägt das Bild Gottes in sich.20 Im Unterschied zu den vielfachen neutes-
tamentlichen Referenzen hat die Gestalt Adams jenseits der Genesis im wei-
teren Alten Testament kaum Resonanz gefunden. Das ändert sich mit der seit
ca. 200 v.Chr. einsetzenden frühjüdischen Adam-und-Eva-Literatur, welche
die Geschichte des ersten Menschenpaares fortschreibt und die Autoren des
Neuen Testamentes wie auch die Kirchenväter des 2. bis 5. Jahrhundert be-
einflusst.21 Texte zur Vita Adae et Evae ­entwickeln sich zu einer eigenen Text-
gattung und werden bis in die Frühe Neuzeit fortgeschrieben;22 Fragen, die
die alttestamentlichen Berichte oder vielmehr Erzählungen unbeantwortet
ließen, beispielsweise, wie lange Adam und Eva im Paradies gewesen waren,
ob sie Geschlechtsverkehr gehabt hatten oder ob Sexualität überhaupt in den
Zustand der Vollkommenheit passte, werden beantwortet und führen somit
über die biblische Erzählung hinaus.23

     wie U­ nfriede, Krankheit und Tod, herangezogen werden, dazu Thomas Knittel, Das grie-
     chische „Leben Adams und Evas“. Studien zu einer narrativen Anthropologie im frühen Ju-
     dentum, Tübingen 2002, S. 203–205.
19   Thomas Knittel, Art. „Adam (NT)“, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, 2010
     (Zugriffsdatum: 20.05.2016), online zugängl. unter: https://www.bibelwissenschaft.de/
     stichwort/48947/.
20   Betz, „Adam“, S. 418–420, auch zur pneumatisch vermittelten Gottesebenbildlichkeit; vgl.
     auch Kurt Flasch, Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, München 2004, S. 20; knapp
     zum Wandel von der leiblich gedachten Nachbildung zum Geistverständnis. Die histo-
     risch-kritische Trennung der beiden Schöpfungserzählungen Gen 1 (mit der Vorstellung
     der Gottebenbildlichkeit) und Gen 2 (mit der Figur des Adam) spielt für die Rezeptions-
     geschichte bis zur historisch-kritischen Exegese keine Rolle.
21   Knittel, „Adam“; zu den verschiedenen Überlieferungen und ihren Forschungsproblema-
     tiken siehe ders., Leben Adams und Evas, S. 1–30, S. 31–46; ebenso Michael E. Stone, A
     History of the Literature of Adam and Eve, Atlanta 1992.
22   Insb. die nur lateinisch erhaltene Version Vita Adae et Evae, hg. u. erl. v. Wilhelm Meyer,
     München 1879, S. 185–250 und die griechisch überlieferte Apokalypsis Mosis, hg. v. Karl
     von Tischendorf, Leipzig 1866 [= Neudr. Hildesheim 1966], S. 1–23; darüber hinaus existie-
     ren verschiedene frühe Versionen zum ‚Adambuch‘, dazu Knittel, Leben Adams und Evas,
     S. 9–24, zur späteren Adam- und Eva-Literatur S. 24–34.
23   Außer den oben angeführten Studien von Thomas Knittel und Michael E. Stone v.a. Gary
     A. Anderson, The Genesis of Perfection. Adam and Eve in Jewish and Christian Imagination,
     Louisville 2001; Philipp C. Almond, Adam and Eve in Seventeenth Century Thought, Cam-
     bridge 1999; Flasch, Eva und Adam, S. 72–74.

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   Zu diesem Prozess der Fortschreibung der alttestamentlichen Überlieferung
gehört auch die Überhöhung Adams und seiner Fähigkeiten vor dem Sünden-
fall, die jene Rezeptionsstränge charakterisiert, in denen jüdisch-christliche
Deutungstraditionen mit Platonischer Philosophie zusammengeführt wer-
den. Dies findet sich insbesondere bei dem jüdischen Gelehrten Philo von
Alexandrien des 1. nachchristlichen Jahrhunderts, ohne dessen Interpretation
die biblische Erzählung von der Benennung der Tiere vermutlich nie die über
Jahrhunderte hinweg andauernde wissensgeschichtliche Bedeutung erlangt
hätte. In Philos allegorischer Auslegung des Alten Testaments symbolisiert
Adam die Vernunft, die mit seinen Sinnen harmonisiert, während Eva für die
ordnungssprengende Kraft unkontrollierter Sinne steht, die dem ersten Men-
schenpaar zum Verhängnis werden.24 Adam vor dem Fall wird in äußerster
Herrlichkeit gezeichnet, er ist im Besitz vollkommener göttlicher Weisheit.
Seine überragenden Fähigkeiten bezeugt Adam vor allem in dem Moment, in
dem er die Tiere benennt, die Gott vor ihm erscheinen lässt:

      Er sagte also, dass Gott alle Tiere zu Adam hinführte, da er sehen woll-
      te, welchen Namen er jedem beilegen würde (1 Mos 2,19), nicht weil er
      in Zweifel darüber war [...], sondern weil er wusste, dass er die Denk-
      kraft im Menschen mit selbständiger Bewegung ausgestattet hatte, um
      nicht selbst Anteil am Bösen zu haben. Er prüfte ihn, wie ein Lehrer den
      Schüler, indem er die in der Seele ruhende Fähigkeit erweckte und sie zu
      einem der ihr obliegenden Geschäfte berief, damit er aus eigener Kraft
      die Namen gebe, nicht ungehörige und unpassende, sondern solche,
      die die Eigenschaften der Dinge sehr gut zum Ausdruck bringen. Denn
      da die Denkkraft in der Seele noch ungetrübt war und noch keine Schwä-
      che oder Krankheit oder Leidenschaft eingedrungen war, so nahm er die
      Vorstellungen von den Körpern und Gegenständen in voller Reinheit in
      sich auf und gab ihnen die zutreffenden Namen, da er gut erriet, was sie
      bezeichneten, so dass an ihrer Benennung zugleich auch ihr Wesen er-
      kannt werden konnte. So war er in allem Schönen ausgezeichnet und ge-
      langte bis hart an das Endziel menschlicher Glückseligkeit.25

24    Peter Schäfer, Art. „Adam II. Im Judentum“, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v.
      ­ erhard Müller, Berlin 1977, S. 424–427, hier S. 424–426; Ernst, „Adam“, S. 29; Eric Osborn,
      G
      „The excellence of Adam in second century Christian thought“, in: Cahiers de Biblia Patri-
      stica 2 (1989), S. 35–59, hier S. 44; John R. Levison, Portraits of Adam in Early Judaism: from
      Sirach to 2 Baruch, Sheffield 1988, S. 84.
25    Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. Leopold Cohn u.a., Bd. 1,
      2. Aufl., Berlin 1962, S. 80f., „Über die Weltschöpfung“, S. 52.

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Adam benennt die Tiere                                                                          151

Adam kennzeichnet mit den Namen zugleich auch das Wesen, den Sinn der
Dinge, weil er von Gott mit einem außerordentlichen Erkenntnisvermögen
ausgestattet ist, was Philo als Erkenntnis der göttlichen Ideenwelt beschreibt.26
Im Moment der Namensgebung weiß Adam von den wahren Essenzen al-
ler Lebewesen, wonach Adam, die Dinge und die Namen in einem geradezu
magischen Akt verschmelzen.27 Mit der Vergabe der wesenskongruenten No-
menklatur erweist sich Adam gleichermaßen als Träger und Mittler göttlicher
Weisheit.28 In den folgenden Jahrhunderten wird die außerordentliche Er-
kenntnisfähigkeit des paradiesischen Adam zum theologischen Gemeingut;
„Quantum mare cognitionis et sapientiae in hoc uno homine fuit!“ wird später
auch Luther in seiner Vorlesung zu Gen 2,19f. bewundernd äußern.29
   Die Benennung der Tiere durch Adam ist seit Philo eine Schlüsselstelle; sei es
in den patristischen Schriften oder in der nachfolgenden geistlichen oder welt-
lichen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, vereinzelt noch bis
in das 19. Jahrhundert, dient Gen 2,19f. als Referenz für Adams vollkommenes,
göttliches Wissen wie auch für sein sprachbildendes Vermögen.30 Im 17. und
beginnenden 18. Jahrhundert wird dieser Zusammenhang in der Suche nach

26   Vgl. dazu Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 222: „Seine (Adams) Namen be-
     nennen die Signaturen der Dinge, die auf die Archetypen der Schöpfung zurückweisen,
     wie sie in den Dingen verwirklicht sind und deren Kraft mit den Namen evoziert werden
     kann;“ darüber hinaus besonders seine Ausführungen zu „Philos kosmischem Adam“,
     S. 217–223.
27   Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, S. 87f.
28   Philo schreibt in diesem Zusammenhang von der „Weisheit und der Königswürde Adams“;
     Philo, hg. v. Cohn, S. 80; Adam wird zum historisch-genealogischen Ausgangspunkt und
     zum Gewährsmann für die Translatio sapientiae; zur Genealogie der Weltenweisheit und
     ihrer Vermittlung siehe insbesondere Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 650:
     „Philo von Alexandrien hat diese Geschichte der Namengebung als adamitische Erkennt-
     nis der göttlichen Ideenwelt interpretiert und dadurch die Möglichkeit der Philosophia
     perennis (Konzept von der christlichen Weltweisheit) von Adam an eröffnet;“ traditions-
     bildend besonders durch Augustinus (S. 650–656).
29   Martin Luther, Vorlesungen über 1. Mose von 1535–1545, in: Weimarer Ausgabe, Bd. 42, hier
     S. 90. Luther betont die besonderen Fähigkeiten des paradiesischen Adam, obgleich
     dies nicht von zentraler Bedeutung für seine Theologie ist. Im Tenor äußert sich Luther
     nochmals ähnlich: Wir stehen „in der Morgenröthe des künftigen Lebens, denn wir fahen
     an wiederum zu erlangen das Erkenntniß der Creaturen, die wir verloren haben durch
     Adams Fall“; ders., Tischreden, Weimarer Ausgabe, Bd. 1, S. 573f.
30   Die Überlieferungen sind weit verzweigt und unübersichtlich; dazu mit unterschiedli-
     chen Akzenten bes. Kayser, „Böhmes Natursprachenlehre“, S. 533–535; als Beginn der sa-
     pienta perennis bei Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, auch Harrison, Fall of Man,
     S. 26.

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der verloren gegangenen Ursprache virulent31 – verbunden mit der Hoffnung,
dass das Auffinden der ursprünglichen adamischen Sprache, der adamica
lingua, auch zur Durchsetzung einer erneuerten Wissenschaft und Religion
führen wird.32 Denn bekanntermaßen verliert Adam seine Herrlichkeit, sein
Wissen und die Menschheit ihre eine ursprüngliche Sprache. Auf Adams Un-
gehorsam folgt der Verlust des ursprünglichen Schöpfungswissens;33 die Tiere,
denen Adam eben noch, wie es Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert formuliert
hat, seinen Stempel zugleich mit den Namen eingeprägt hat,34 sind wild ge-
worden, seiner Kenntnis und Autorität nicht mehr zugänglich.35 Auch Adams
göttlich inspirierte Sprache geht dem Menschengeschlecht in der Genesis ver-
loren. Zur Strafe für den Turmbau zu Babel verhängt Gott die Sprachverwir-
rung und zerstreut die Menschen über die Erde (Gen 11).36 Mit dem Verlust der
adamischen Ursprache sind auch die Namen verloren und mit diesen auch die
vollkommene Kenntnis der Dinge. Dieser Wissensverlust gilt jedoch nicht als
unwiederbringlich, jeweils in Abhängigkeit davon, wie spätere Generationen
ihren Zugang zum göttlichen Wort und dessen Schöpfungspräsenz, sei es in
Dingen und/oder in Worten, bemessen.

31    Die Menge der in erster Linie literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Suche nach
      der Ur- und auch Universalsprache ist nicht leicht zu überblicken, genannt seien hier nur:
      Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein, München 2006;
      Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1994; Gerda Hassler/
      Cordula Neils, „Ursprung, Entstehung, Entwicklung“, in: dies., Lexikon sprachtheoretischer
      Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 2009, S. 451–582; Allison P. Coudert (Hg.),
      The Language of Adam [= Die Sprache Adams], Proceedings of a conference held at the
      Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, May 30–31, 1995, Wiesbaden 1999.
32    Zu diesem Zusammenhang in wissensgeschichtlicher bzw. wissenschaftshistorischer
      Hinsicht siehe zuletzt Harrison, Fall of Man, S. 191–198; darüber hinaus Jürgen Trabant,
      Europäisches Sprachdenken; skeptischer hingegen (zumindest im Hinblick auf englisch-
      sprachige Autoren) Philipp C. Almond, Adam and Eve, S. 136–140.
33    Dennoch geht das Wissen Adams und seine paradiesische Erkenntnisfähigkeit nicht ganz
      verloren; sie wird von Generation zu Generation zwar weniger, ohne aber gänzlich ver-
      loren zu gehen; zur Genealogie der Weisen auch unter Einbeziehung hermetischer Tra-
      ditionen siehe Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 646ff.; Jean-Patrice Boudet,
      „Adam, premier savant, premier magicien“, in: Adam, le premier homme, hg. v. Agostino
      Paravicini Bagliani, Florenz 2012, S. 277–296; Florian Ebeling, Das Geheimnis des Hermes
      Trismegistos. Geschichte des Hermetismus von der Antike bis zur Neuzeit, 2., durchges. Aufl.,
      München 2009, S. 110–112.
34    Nach Harrison, Fall of Man, S. 26.
35    Zur Auflehnung der Tiere siehe dazu die Stellen bei Knittel, Leben Adams und Evas, S. 84,
      S. 90, S. 102–113.
36    Siehe dazu immer noch v.a. Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen
      über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 2 Bde., unveränd. Nachdr., M   ­ ünchen
      1957–1963.

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Adam benennt die Tiere                                                                          153

2       Die Sprache der Dinge – dinglich codiertes Schöpfungswissen

Mit den Schriften von Paracelsus und deren intensiver Rezeption seit dem
ausgehenden 16. Jahrhundert verdichtet sich eine bis weit in das Mittelalter
zurückreichende semiotische Sicht auf die Welt, in der alle Erkenntnis an Zei-
chen und deren Verknüpfungen gebunden ist.37 Der theologische Ursprung
dieses zeichenhaften Weltzugangs geht auf die augustinische Unterschei-
dung der zwei Offenbarungsbücher Gottes zurück, nach der sich Gott sowohl
in der Bibel als auch im ‚Buch der Natur‘ offenbart hat. Analog zur Heiligen
Schrift lässt sich die Natur als Textbuch verstehen, dessen verborgener gött-
licher Sinn in seiner Zeichenhaftigkeit zu dechiffrieren ist.38 „Also bleibt got
in allen dingen der obrist scibent, der erst, der höchst und unser aller text,“
wie Paracelsus es in seinem Labyrinthus medicorum errantium formuliert.39

37   Friedrich Ohly, Zur Signaturenlehre der frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterli-
     chen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur
     und Kunst, Stuttgart 1999, S. 15–17; zu Kennzeichen, Hintergrund und Verbreitung der
     zeichenhaften Weltsicht siehe die Einleitung zu Oswaldius Crollius, „‚De signaturis rer-
     um‘. Die lateinische ‚Editio princeps‘ (1609) und die deutsche Erstübersetzung (1623)“,
     in: Ausgewählte Werke Oswald Crollius, Bd. 1, hg. u. eingl. v. Wilhelm Kühlmann/Joachim
     Telle, Stuttgart 1996, S. 1–40; Wilhelm Kühlmann, „Paracelsismus und Hermetismus: Do-
     xographische und soziale Positionen im postreformatorischen Deutschland“, in: Antike
     Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit, hg. v. Anne-Charlott
     Trepp/Hartmut Lehmann, Göttingen 2001, S. 17–40; Michel Foucault, Die Ordnung der
     Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 13. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, S. 56–58;
     Hartmuth Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt a.M. 1988, S. 56; Stephan Meier-Oeser, Die
     Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und
     der frühen Neuzeit, Berlin u.a. 1997, S. 337–339. Zum zeichenhaften Verständnis der Natur
     vgl. allgemein Ian Maclean, Logic, signs and nature in the Renaissance. The case of learned
     medicine, Cambridge 2002, S. 99f.
38   Siehe Blumenberg, Lesbarkeit, S. 88; Erich Rothacker, Das „Buch der Natur“. Materialien
     und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, hg. u. bearb. v. Wilhelm Perpeet, Bonn
     1979; zur Entstehung der Buchmetapher siehe auch Ruth Groh, „Theologische und phi-
     losophische Voraussetzungen der Rede vom Buch der Natur“, in: Zwischen Literatur und
     Anthropologie. Diskurse, Medien, Performanzen, hg. v. Aleida Assmann/Ulrich Gaier/Gise-
     la Trommsdorff, Tübingen 2005, S. 139–146; dies., Art. „Buch der Natur“, in: Enzyklopädie
     der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart 2005, Sp. 478–485; Dieter Groh, „Die Entstehung der Schöp-
     fungstheologie oder der Lehre vom Buch der Natur bei den frühen Kirchenvätern in Ost
     und West bis zu Augustin“, in: Zwischen Literatur und Anthropologie. Diskurse, Medien,
     Performanzen, hg. v. Aleida Assmann/Ulrich Gaier/Gisela Trommsdorff, Tübingen 2005,
     S. 147–160.
39   Paracelsus, „Labyrinthus medicorum errantium. Vom Irrgang der Ärzte (1537/38)“, in:
     Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke. 1. Abteilung. Medizinische,
     naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. XI, hg. v. Karl Sudhoff, München/
     Berlin 1928, S. 161–221, hier S. 203. Vgl. dazu Böhme, Natur und Subjekt, S. 54.

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In Abgrenzung zur aristotelischen Schulwissenschaft setzen Paracelsus und
die dem paracelsisch-hermetischen Denken nachfolgenden Gebildeten den
„toten Buchstaben“ der von ihnen bekämpften Scholastik die lebendigen,
kreatürlichen Buchstaben in der Natur entgegen.40 Denn im Unterschied zu
den von Menschenhand verfassten Schriftzeichen liege im ‚Buch der Natur‘
die wahre Bedeutung in den Dingen selbst. Gott als der Autor des Naturbuchs
hat, wie Paracelsus schreibt, „einem ieden“ Ding ein „schellen und zeichen
(angehenkt).“41 Jedes Ding, jede Kreatur ist für ihn ein Buchstabe göttlicher
Urschrift: „dan alle creata seind buchstaben und bücher, des menschen herko-
men zu beschreiben.“42 Grund und Urbild der kreatürlichen Dingschrift bildet
das Firmament, die himmlische Primordialwelt („dieweil der mensch gleich
ist gemacht dem gestirn und das gestirn vor ime und er aus ime“),43 von der
alle Weisheit auf die irdische Welt und auf den Menschen ausstrahlt:44 „Erst-
lich muß ich loben die sagacem [Weisheit], von wegen das got dem menschen
durch das firmament alle kunst und was natürlich ist geben hat und gibt, also
das das firmament das natürlich liecht ist und der mensch vom firmament das
natürlich hat.“45 Einem Textgewebe gleich sind himmlischer Makrokosmos

40     Paracelsus, Labirinthus medicorum, hg. v. Karl Sudhoff, Bd. XI, S. 201; Zur Ablehnung
      der scholastischen Zugänge in der Medizin siehe Heinrich Schipperges, Paracelsus. Der
      Mensch im Licht der Natur, Stuttgart 1974, S. 24–26; zu den „toten Buchstaben“ als Topos,
      der die Skepsis gegenüber der Heiligen Schrift zum Ausdruck bringen sollte; siehe Wolf
      Peter Klein, Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente
      frühneuzeitlichen Sprachbewusstseins, Berlin 1992, S. 161; Schmidt-Biggemann, Philosoph-
      ia Perennis, S. 288; zur Problematik der eindeutigen Grenzziehung zwischen Paracelsis-
      mus und Aristotelismus – auf der Ebene der Selbstpositionierung wie auch auf der der
      Forschung – siehe bes. Maximilian Bergengruen, Nachfolge Christi – Nachahmung der
      Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Ba-
      rockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen), Hamburg 2007, S. 15–17.
41     Paracelsus, „Liber de Imaginibus“, in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämt-
      liche Werke. 1. Abteilung. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schrif-
      ten, Bd. XIII, hg. v. Karl Sudhoff, München/Berlin 1931, S. 359–386, hier S. 376f.
42     Paracelus, „Astronomia Magna“, in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtli-
      che Werke. 1. Abteilung. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften,
      Bd. XII, hg. v. Karl Sudhoff, München/Berlin 1929, S. 1–444, hier S. 32.
43     Paracelsus, „Vorrede und ersten beide Bücher des Paragranum (1530)“, in: Theo-
      phrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke. 1. Abteilung. Medizinische,
      ­naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. VIII, hg. v. Karl Sudhoff, München
       1924, S. 31–113, hier S. 98.
44     Zum komplexen Verhältnis von Mensch, Welt und Gestirn bei Paracelsus siehe bes. Kurt
       Goldammer, Paracelsus. Natur und Offenbarung, Bonn 1953, S. 43–50; Schipperges, Para-
       celsus, S. 46–48, S. 52–54, S. 112–114; Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, S. 287f.
45     Paracelsus, „Astronomia Magna“, S. 3; vgl. Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis,
       S. 288.

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Adam benennt die Tiere                                                                             155

und irdischer ­Mikrokosmos über unendliche Harmonie- und Konkordanzbe-
ziehungen sinnhaft miteinander verknüpft.46
   Diese materiellen als auch immateriellen Bedeutungszusammenhänge
erschließen sich dem Menschen wiederum über eine unendliche Zahl von
Zeichen, in denen die Affinität zwischen menschlicher Sprache und Ding-
medien, mithin auch zwischen Menschen und Dingen am größten ist.47 Die
Zeichen oder Signaturen liegen an der (gedachten) Grenze zwischen Innen
und Außen, Sichtbarem und Unsichtbarem und führen zum eigentlichen, we-
senhaften Kern im Innern der Dinge.48 Das verborgene innere Ding formt und
kontrolliert die äußere Gestalt, über die allein die von Gott gegebene Dinglich-
keit zu entschlüsseln ist.49 In seiner 1537/38 erschienenen Schrift Astronomia
magna führt Paracelsus dazu aus:

     Also hat die natur verordnet, das die eußern zeichen die innern werk und
     tugent anzeigent, also hat es got gefallen, das nichts verborgen bleibe,
     sonder das durch die scientias geoffenbart würde, was in allen geschöp-
     fen ligt. es möcht manchen verwundern, warumb got solches verordnet
     hat, das der mensch durch die kunst das verborgene sol erfaren? so ist es
     doch alein die ursach, das der leib des menschen sein ubung habe oder
     dergleichen, und das erfare, was got in die körper spiritualisch gelegt und
     verschaffen hat. darumb hat er nicht geordnet, das die scientia unerkant-
     lich sei, sonder alle heimlikeit seind in ir und alle tugent seind dem scien-
     tiis underworfen in der erkantnus, durch sie zu erfaren was spiritualisch
     in allen dingen ligt.50

Über die Entschlüsselung der Signaturen werden die einzelnen Buchstaben
von Gottes Sprache in der Natur lesbar; sie sind Codierungen des ursprüng-
lichen Schöpfungswissens, Zeichen der natürlichen Weisheit – und als solche

46   Zur Bedeutung von Konkordanz- und Analogiebeziehungen zwischen Himmel und
     Mensch siehe Goldammer, Paracelsus, S. 41–43; Foucault, Ordnung der Dinge, S. 46–48.
47   Böhme, Natur und Subjekt, S. 56, in Referenz auf Michel Foucault; vgl. Bono, Word of God,
     S. 136.
48   Schipperges, Paracelsus, S. 117–119.
49   „allein die eußern ding geben die erkantnus des inneren, sonst mag kein inner ding erkant
     werden.“ (Paracelsus, Vorrede und ersten beide Bücher des Paragranum, hg. v. Karl ­Sudhoff,
     Bd. VIII, S. 97); ebd., S. 96f. „Nun weiter, so wissent ir das der himel in uns wirkt [...] also
     sollen ir auch wissen, das ein ding im leib und im himel ist. [...] allein die eußern ding
     geben die erkantnus des inneren, sonst mag kein inner ding erkant werden [...] sonder
     das gestirn im menschen das ist in der hand gottes verordnet nachzutun, das der himel
     eußerlich anhebt und gebirt, darumb muß“; dazu insbesondere Bono, Word of God, S. 136.
50   Paracelsus, „Astronomia Magna“, S. 177.

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stellen sie das Bindeglied zwischen dem post- und dem praelapsarischen Wis-
sen dar, zwischen dem gefallenen Menschen und dem paradiesischen Adam.51

      die sich der kunst signata berümen und signatores wöllen geheißen wer-
      den, das ir uns hierin wol und recht verstanden. [...] da sollen ir erstlich
      wissen, das die kunst signata leret die rechten namen geben allen din-
      gen. die hat Adam unser erster vater volkomlich gewußt und erkantnus
      gehabt. dan gleich nach der schöpfung hat er allen dingen eim iedwe-
      dern seinen besondern namen geben, den tieren einem ieden besondern
      namen, also den beumen einem iedem seinen besondern namen, den
      kreutern ire besondere underschitliche namen, den wurzlen ire beson-
      dere namen, also auch den steinen, erzen, metallen, wassern und andern
      früchten der erden, des wassers, lufts und feurs eim ieden sein namen.
      und wie er sie nun tauft und inen namen gab, also gefiel es got wol, dan
      es geschach aus dem rechten grunt, nit aus seinem gut gedunken, sonder
      aus einer praedestinirten kunst, nemlich aus der kunst signata, darumb
      er der erst signator gewesen.52

In seiner vollkommenen Einsicht hat Adam die Dinge im Paradies ihrem We-
sen nach bezeichnet; denn Gott hat ihm, so lässt sich Paracelsus an dieser Stelle
lesen, die „kunst signata“ als Erkenntnismedium zur Verfügung gestellt, die er
aufgrund seiner reinen und unschuldigen Natur richtig anzuwenden gewusst
und mit Hilfe derer er die verborgenen Eigenschaften hinter der sichtbaren
Oberfläche der Dinge und damit die wahre Natur der Dinge erkannt hat. Erst
auf der Grundlage dieser naturgemäßen Erkenntnis hat Adam allen Dingen
die wahren Namen geben können.53
   Im Unterschied zu den auf Konventionen beruhenden textuellen Zeichen
führt die direkte Untersuchung der Natur – über die Kenntnis und Dechiffrie-
rung der Signaturen – auch den gefallenen Menschen zu den ursprünglichen
adamischen Namen, denn „die kunst signata lernet die rechten namen geben

51    Vgl. Bono, Word of God, S. 130f.
52    Paracelsus, „Die 9 Bücher de Natura rerum, an Johannsen Winkelsteiner zu Freiburg im
      Üchtland, angeblich Villach 1537“, in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämt-
      liche Werke. 1. Abteilung. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schrif-
      ten, Bd. XI, hg. v. Karl Sudhoff, München/Berlin 1928, S. 307–403, hier S. 397.
53    Vgl. Schmidt-Biggemanns Interpretation Philos zu Adams Namensgebung der Tiere, Phi-
      losophia Perennis, S. 222: „Seine Namen benennen die Signaturen der Dinge, die auf die
      Archetypen der Schöpfung zurückweisen, wie sie in den Dingen verwirklicht sind und
      deren Kraft mit den Namen evoziert werden kann.“

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Adam benennt die Tiere                                                                            157

einem ieglichen, wie im angeboren ist.“54 In den Signaturen der Dinge hat
Adams Wissen den Sündenfall und die babylonische Sprachkonfusion über-
dauert. Während der Mensch im paradiesischen Zustand aber dafür vorgese-
hen war, zu wissen, wie „alle ding beschaffen“ waren „in irem wesen. solches
zu nießen und zu gebrauchen“, da ihn „got in das paradeis gefürt hat“,55 muss
der gefallene Mensch sich diese Einsicht mithilfe der Erfahrung und „Vernunft
bzw. Verstandeserkenntnis“56 erst erarbeiten. „Experientia ac ratio“ bilden
die epistemische Grundlage, die Signaturen auch in der postparadiesischen
Welt zu dechiffrieren. Die „Erfahrenheit“, die auf dem experimentellen, sin-
nesorientierten Zugang zur Natur beruht, stellt sich jedoch erst ein,57 wenn
sie zugleich von dem „natürlichen Licht“ im Menschen erhellt wird;58 wobei
das wahrhaft erkennende lumen naturae wiederum nur den Erleuchteten zu-
teil wird, die mit Gottes Gnade die geistliche Wandlung vom alten sündhaften
Menschen zum „Adam der neuen geburt“ in sich vollzogen haben;59 denn „so

54    Paracelsus, „Astronomia Magna“, S. 92; vgl. auch Bono, Word of God, S. 140.
55    Paracelsus, „Astronomia Magna“, S. 34.
56    Kurt Goldammer, „Einleitung“, in: Paracelsus, Vom Licht der Natur und des Geistes. Eine
     Auswahl aus dem Gesamtwerk, hg. v. Kurt Goldammer, Stuttgart 1984, S. 3–32, hier S. 22;
     ders., Der göttliche Magier und die Magierin Natur: Religion, Naturmagie und die An-
     fänge der Naturwissenschaft vom Spätmittelalter bis zur Renaissance mit Beiträgen zum
     ­Magie-Verständnis des Paracelsus, Stuttgart 1991, S. 55.
57    Teil der „erfahrenheit“ ist die sinnenbasierte Wahrnehmung, das „experimentum“; genau-
      er dazu in den Tartarischen Krankheiten, Kap. 6, „von dem buch der arznei, so experien-
      tia heißt, wie der arzt daselbige erfaren sol“, in: Paracelsus, Labirinthus medicorum, hg. v.
      Karl Sudhoff, Bd. XI, S. 190–195; siehe auch u.a. Anton Dyk, „Scientia und Experientia bei
      Paracelsus im Rahmen der abendländischen Naturwissenschaft“, in: Paracelsus in der Tra-
      dition. Vorträge (Paracelsustag 1978), hg. v. Verband der Wissenschaftlichen Gesellschaft
      Österreichs, Wien 1980, S. 67–93, hier S. 87f.
58    Zum „natürlichen Licht“ als „Erkenntnisposition“ siehe Goldammer, Der göttliche Magier,
      S. 53f.; auch Bono, Word of God, S. 37 Anm. 27; zum Zusammenhang zwischen „experien-
      tia“ und dem „Licht der Natur“ in der Dimension eines inneren Lichts siehe auch Schip-
      perges, Paracelsus, S. 61–63, bes. S. 66f.
59    Zur (Natur-)Erkenntnis in der geistlichen Geburt siehe: „also müssen wir philosophiam
      adeptam coelestem erkennen, das sie uns nicht lernet aleine das irdische zuverstehen,
      sonder si lernet uns auch das ewige zu verstehen, das ist ewige speis essen mit den töt-
      lichen im tötlichen hie im tötlichen leben. und was wir hie auf diesem tötlichen leben
      essen von dem ewigen, das selbige bleiben wir in Christo und Christus in uns als der
      ander Adam, das ist der Adam der neuen geburt. so wir nun trachten in allen dingen,
      was uns das natürliche liecht gibt, so finden wir nichts anderst, als alein ein irdisch ding.
      nun ist im irdischen gar nichts, aber im wort ist es. [...] damit das auch etwas zum ewigen
      betracht werde, von des wegen sol philosophia coelestis fürgenomen werden von uns und
      nicht irdisch von kreutern schreiben, sonder auch schreiben das ewig, das himlisch, das
      ist von dem, in des hant alle ding stehen. dan so einer schreibt von der camillen ir kreft,
      vergißt des, der sie gemacht hat, der leugt von ir, [...] er betracht nicht, das die camilla

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das ist, so ist das natürliche liecht nichts, sonder es muß aus got gehen, dan so
ist es genug.“60
    Durch die gnadenhalber erfolgte Wiedergeburt wird der gefallene Mensch
wieder zum „signator“, der mit der Entschlüsselung der Signaturen zu den wah-
ren Namen der Dinge vordringt und dem zugleich Gottes Wort in der Schöp-
fung gegenwärtig wird. Die Erkenntnis aus den Signaturen erfolgt damit nur
scheinbar ‚von außen‘, sondern ‚von innen‘ aus der Erleuchtung61 und führt zur
Einsicht in elementare göttliche Wahrheiten, wie sie ehedem nur Adam zu-
teil geworden sind. Tatsächlich kann die Signaturenlehre in dieser Weise aber
überhaupt nur gedacht werden, weil sie gewissermaßen als praelapsarischer
Brückenschlag mit Gen 2,19f. in Verbindung gebracht und damit auch in einen
zeitlichen bzw. heilsgeschichtlichen Horizont gerückt wird.62
    In der Adaption paracelsisch-hermetischer Vorstellungen findet sich dieser
Zusammenhang von geistiger Wiedergeburt und schöpfungsunmittelbarer
Gotteserkenntnis als Teilhabe an der adamischen Weisheit bei allen weite-
ren zentralen Autoren zur Signaturenlehre, die wiederum die naturtheologi-
sche Deutung zwischen dem ausgehenden 16. bis weit in das 17. Jahrhundert
maßgeblich bestimmt; zu diesen Autoren zählen insbesondere Mediziner wie
Heinrich Kunrath und sein Amphitheatrum sapientiae von 1598, Oswald Croll

      in der hant gottes stehet, wie er wil, nicht wie die natur wil“ (Paracelsus, „Astronomia
      Magna“, S. 398). Das natürliche Licht der Vernunft wird dabei mit dem Heiligen Geist
      nahezu gleichgesetzt: „Und der heilig geist und die natur sind eins, das ist, teglich ist die
      natur ein liecht aus dem heiligen geist und lernt von im.“ Paracelsus, Fragmente zum Liber
      de fundamento scientiarum sapientiaeque, in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracel-
      sus, Sämtliche Werke. 1. Abteilung. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische
      Schriften, Bd. XIII, hg. v. Karl Sudhoff, München/Berlin 1931, S. 325–334, hier S. 325; vgl.
      dazu Goldammer, Paracelsus, S. 56; ebenso Paracelus’ Äußerungen im Paragranum: „und
      alle künst auf erden sind götlich, sind aus got und nichts aus anderm grund. dan der heilig
      geist ist der anzünder des liechts der natur, darumb niemants lestern mag die astronomei,
      niemants die alchimei, niemants die medicin, niemants die philosophei, niemants die
      theologei [...] und ander all.“ Paracelsus, „Das Buch Paragranum. Letzte Bearbeitung in
      vier Abschnitten (1530)“, in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Wer-
      ke. 1. Abteilung. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. VIII,
      hg. v. Karl Sudhoff, München 1924, S. 133–221, hier S. 208. Zum inwendig erfahrenen Glau-
      ben wie auch zur Bedeutung der biblischen Schrift bei Paracelsus vgl. Ute Gause, Paracel-
      sus (1493–1541). Genese und Entfaltung seiner frühen Theologie, Tübingen 1993, S. 108.
60    Paracelsus, „Astronomia Magna“, S. 397; auch „das liecht der natur ein schüler ist des hei-
      ligen geists“; ders., Fragment zum Liber de fundamento scientiarum, S. 325.
61    Vgl. auch Hermann Geyer, Verborgene Weisheit, Bd. 3: Lumen gratiae et naturae coniunge-
      re. Spiritualistisch-hermetische Theologie, das theosophische Programm der ‚Vier Bücher‘,
      Berlin 2001, S. 339 Anm. 11.
62    Vgl. Kayser, „Böhmes Natursprachenlehre“, S. 42–44, demzufolge Paracelsus erstmals die-
      se Verbindung zwischen Signaturenlehre und Adams Ursprache zieht.

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