Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 - Kenia Indien - Ulrich Wickert Stiftung
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Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 Kenia Sabine Bohland Perlenmädchen Indien Anuradha Nagaraj Für 7$ verkauft – Kindersklavin Bolivien Rincón Juvenil Radio gegen sexuelle Gewalt Nordirak Claas Relotius Löwenjungen
Inhalt Seite 20 Seite 4 Ulrich Wickert erinnert sich an seinen Freund und großen Reporter Peter Scholl-Latour, der in der Welt unterwegs Preis Deutschland/Österreich: Junge Krieger des kenia- war und zu den Gründern von Plan International Deutsch- nischen Samburu-Volkes schenken Mädchen Perlenket- land gehörte. ten und bekommen dafür Sex, wann immer sie wollen. Sind die Mädchen 15 Jahre alt, werden sie beschnitten und mit älteren Männern verheiratet. In einer Fotoreporta- ge erzählen wir Sabine Bohlands Weltspiegel-Reportage. Seite 22 Peter-Scholl-Latour-Preis: Der 12-jährige Nadim, vom IS indoktriniert, soll sich vor einer Moschee in Kirkut in die Seite 10 Luft sprengen: Er zögert im entscheidenden Moment und wird überwältigt. Claas Relotius besucht den verstörten Preis International Ein Vater verkauft seine kleine Nadim im Gefängnis und erzählt seine Geschichte. Tochter Badaik für sieben Dollar. Nur wenige wie Badaik befreien sich selber nach vielen Jahren. Anuradha Naga- raj berichtet über das Leiden der Kindersklaven in Indien. Plan-Leuchttürme Seite 14 31 Renovierung von Wasser- und Sanitäranlagen Sonderpreis Kinder/Jugend: 15 Jugendliche machen an 50 Schulen im indischen Pune. Radio in Bolivien, diskutieren über sexuelle Gewalt und 32 Kinderschutz und bessere Ernährung für rund Themen wie Verhütung und Diskriminierung. 45 000 Binnenflüchtlinge in Myanmar. 33 Fortbildung für Flüchtlingshelfer und Hilfe für Flüchtlingskinder in Deutschland. 33 Simbabwe: Aufklärung und Schutz von Mädchen vor Kinderehen. 34 Bau und Ausstattung eines neuen Kindergartens in Ruanda. 35 Engagement für Kinder: Plan-Aktionsgruppen in Leipzig und Mönchengladbach. 36 Ehrenamtliche übersetzen die Briefe von Plan-Paten und ihren Patenkindern. 36 1400 Schülerinnen aus Würzburg laufen für Seite 16 Plan-Projekte in Guatemala und Tansania 37 Der Plan-Preis des Schulwettbewerbs „alle für Ulrich Wickert berichtet im Interview von den Anfängen EINE WELT für alle“. seines Preises und über das Handwerk der Journalisten. 38 Die Arbeit des vor fünf Jahren gegründeten Er kritisiert die Inflation des „Ich“ in Reportagen und den Plan-Jugendbeirates. moralisierenden Zeigefinger. 39 Wie Sportler Plan International unterstützen. 2 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018
Editorial Respekt vor den Menschen Menschen mögen Perlen. Sie verschenken prächtige Ketten, schauen in strahlende Augen und schaffen, gerne mit zärtlicher Musik, eine romantische Atmosphäre. Zeigen die Perlenketten die stolze Tradition Afrikas? Nein, wenn ein Viehzüchter der Samburu einer Neunjährigen die Kette schenkt, macht er das junge Mädchen gefügig und darf jederzeit Sex mit ihr haben, bevor es mit 15 Jahren beschnitten und an einen älteren Mann verheiratet wird. Sabine Bohland erzählt die Geschichte der Perlenmädchen und zerstört idyllische Bilder von Afrika. Die WDR-Reporterin gewinnt eine der vier Auszeichnungen des Ulrich Wickert Preises für Kinderrechte und beweist, wie wichtig die Arbeit von Journalisten ist: Sie schildern schonungslos, wie in dieser Welt die Rechte von Kindern missachtet werden. Plan International braucht Journalisten, die in den verges- Dr. Werner Bauch senen ärmeren Regionen dieser Welt unterwegs sind und auf ist Mitglied der Jury, die Situation von Kindern hinweisen – nicht mit erhobenem Gründungsmitglied Zeigefinger, wie Ulrich Wickert im Interview sagt, sondern mit und Vorstands- Respekt vor den Menschen und mit Achtung vor den Men- vorsitzender von schenrechten, die überall gelten. Plan International Deutschland mit über Diesen Respekt zeigte der legendäre Reporter Peter Scholl- 200 Mitarbeiterinnen Latour, einer der Gründer von Plan International Deutschland: und Mitarbeitern; Reportern, die wie er die Welt erklären, verleiht eine Jury den das Kinderhilfswerk Preis, der an ihn erinnert. Wer die Geschichte des jungen ist in 52 Ländern Nadim liest, zum Selbstmord-Attentäter abgerichtet, beginnt die Afrikas, Asiens und Welt zu verstehen und die Menschen, die Leid ertragen oder Lateinamerikas tätig. verursachen. Den Reporter Claas Relotius stellt die Jury mit Foto: Morris Mac- Hochachtung in die Nachfolge Peter Scholl-Latours. Matzen Die Jury 2018 n Ulrich Wickert n Rudi Klausnitzer Vorsitzender der Jury und Stifter des Journalisten- Journalist und Medienmanager, Vorstandsmitglied von preises Plan International Deutschland n Werner Bauch n Christoph Lanz Vorstandsvorsitzender Plan International Deutschland Journalist, Berater für Medienentwicklung und Treuhän- n Karl Günther Barth der der Thomson Foundation Autor, ehemaliger stellvertretender Chefredakteur n Markus Lanz des Hamburger Abendblatts ZDF-Moderator und TV-Produzent n Alice Bota n Charlotte Maihoff Auslandskorrespondentin Die Zeit in Moskau Moderatorin der Nachrichtensendung RTL aktuell und Buchautorin n Renate Meinhof n Marko Brockmann Redakteurin der „Seite drei“ der Süddeutschen Zeitung Projektmanager des Kindersenders RadiJojo n Jürgen Merschmeier n Karen Heumann Politikberater, ehemaliger Parlaments-Korrespondent Gründerin und Vorstandssprecherin der Kölnischen Rundschau der Agenturgruppe thjnk n Paul-Josef Raue n Brigitte Huber Autor und Redaktionsberater, ehemaliger Chefredakteurin der Frauenzeitschrift Brigitte Chefredakteur diverser Regionalzeitungen Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 3
Die Perlenmädchen von Kenia Siegerin Preis Deutschland / Österreich 2018: Sabine Bohland mit ihrem Weltspiegel-Beitrag Erstsendung 29. Juli 2017 Der prächtige Perlenschmuck gehört zur Tradition der Samburu-Frau Josephine Kulea ist selbst beschnitten Samburu, einem Volk von Viehzüchtern im Norden und weiß, welche Schmerzen und Belastungen mit der Kenias. Die Halsketten der Mädchen sind Geschenke weiblichen Genitalverstümmelung einhergehen. Sie hat der jungen Krieger, die dafür mit den 9- bis 15-Jäh- 2012 eine Organisation gegründet, die Mädchen ihrer rigen Sex haben dürfen, wann immer sie wollen. Volksgruppe davor schützen soll, sexuell missbraucht, Werden die Mädchen schwanger, müssen sie abtrei- beschnitten oder viel zu früh verheiratet zu werden. ben. Mit 15 Jahren werden die Mädchen mit älteren Männern verheiratet – und obligatorisch als Teil der ARD-Korrespondentin Sabine Bohland hat Josephine Hochzeitzeremonie beschnitten, obwohl Genitalver- Kulea mit der Kamera begleitet. Während viele Mädchen stümmelung und Kinderehe in Kenia verboten sind. im Dorf noch immer der Überzeugung sind, dass sie 4 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 · Preis Deutschland/Österreich
durch Beschneidung und die Heirat mit einem älteren Mann den richtigen Weg gehen, gibt es aber auch Mäd- chen, die diese Erfahrung bereits gemacht haben und nie wieder eine Zwangsehe führen wollen. Sie leiden unter den Folgen der Genitalverstümmlung und kämpfen für Bildung, die Anerkennung und das Ver- ständnis ihrer Familien. Die Reportage lässt den langen Weg erahnen, der noch vor den Mädchen und Wegberei- tern wie Josephine Kulea liegt. Preis Deutschland/Österreich · Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 5
Ariti hat den jungen Krieger, der ihr die Perlen ge- Gemeinsam mit ihrer Mutter fertigt Ariti den Hoch- 01 schenkt hat, lange nicht gesehen. Er ist mit seinen 02 zeitsschmuck. Ariti freut sich auf die Hochzeit und Rindern unterwegs. Bald soll sie mit einem anderen, ihr zukünftiges Leben. „Es ist eine große Schande, wenn älteren Mann verheiratet werden. ein Mädchen nicht beschnitten wird. Deswegen freue ich mich darauf.“ Der Gynäkologe Hillary Ma- An das Krankenhaus, in dem die verstümmelten 04 beya hilft Frauen, die unter den 05 Frauen medizinische Hilfe erfahren, ist ein Schutz- Folgen der Verstümmelung leiden, haus für Frauen angegliedert. Hier hat Chacha eine Aus- in seinem Krankenhaus. Der Arzt bildung zur Schneiderin gemacht, um sich eine Zukunft hat auch Chacha geheilt. Kostenlos, ohne den Ehemann aufzubauen. Auf dem Foto bereiten denn den meisten fehlt das Geld. sich die Frauen für den Besuchstag von Verwandten vor. Der Vater der neunjährigen Rosila hatte sie einem alten Mann versprochen. „Ich 08 wusste gar nicht, was Heirat bedeutet. Ich war völlig unschuldig. Frühmorgens bin ich dann beschnitten worden. Ich habe stark geblutet.“ Auf einem Markt traf sie zufällig Josephine Kulea, die sich mit ihrer Stiftung „Samburu Girls Foundation“ für die verstümmelten Mädchen einsetzt. Der Vater kam wegen Kindesmissbrauchs ein Jahr ins Gefängnis. Der Ehemann verschwand. Inzwischen ist Rosila 14 Jahre alt und geht ins Internat. Sie ist Klassenbeste und möchte Ärztin werden. 6 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 · Preis Deutschland/Österreich
Chacha leidet unter den Folgen der Verstümmelung und 03 hat seit der Geburt ihres Sohnes ein Fistelproblem. Bei der Geburt reißen die inneren Organe und viele Frauen haben keine Kontrolle mehr über Urin und Stuhl. Ihr Ehemann hat Der Ehemann von Chacha möchte, Chachas Vater ist ein traditionell denkender Sam- 06 dass sie zu ihm zurückkehrt. Das lehnt 07 buru. Das Schicksal seiner Tochter hat ihn aber sie aber ab. Chacha möchte aber unbedingt verändert. Seiner Chacha verspricht er: „Meine jüngeren ihren Sohn sehen. Chachas Vater arran- Töchter werden erst heiraten, wenn sie erwachsen sind. giert ein Treffen mit dem Ehemann. Nach Sie werden nicht beschnitten und sollen alle zur Schule langer Zeit kann Chacha ihren Sohn in die Arme schließen. Nach dem Treffen nimmt der Ehemann seinen Sohn wieder mit. Ihre Ferien verbringt Rosila mit anderen Die Samburu-Frau Josephine Kulea kämpft für die 09 jungen Frauen im Schutzhaus der „Samburu 10 Rechte der Perlenmädchen: „Ich bin selber be- Girls Foundation“. Zu groß ist die Gefahr, dass sie schnitten worden. Ich möchte nicht, dass andere Mäd- von ihren Verwandten wegen der Mitgift entführt chen dieses Schicksal erleiden.“ 2012 gründete sie die werden. Denn für eine Braut bekommt eine Familie Stiftung „Samburu Girls Foundation“. sieben Kühe. Preis Deutschland/Österreich · Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 7
Unermüdlich ist Josephine Kulea unterwegs, um Couragiert versucht Josephine Kulea, auch 11 Mädchen und Frauen über die Perlengeschenke 12 die Samburu-Männer über die Folgen der Perlen- und die Folgen der Beschneidung aufzuklären. geschenke und die Verstümmelung aufzuklären. Die Samburu-Männer 13 Geoffrey und Maayo sind seit Kurzem im heirats- fähigen Alter. Mit etwa 30 Jahren sind sie junge Männer, im Vergleich zu einer 15-jährigen Braut dennoch alt. Verheiratete Frauen haben sich um Haus und Kinder zu kümmern. Geoffrey: „Wir Männer genießen großen Respekt, weil wir unsere Gemeinschaft gegen alles Feindliche verteidigen.“ die Autorin Laudatio Ein schreckliches Schicksal Ulrich Wickert für die Jury Hier geht es nicht um die Schönheit von Perlenumhän- gen, sondern hier geht es um ein schreckliches Schicksal von Mädchen und jungen Frauen. Mit den Perlenge- schenken machen die Männer die Mädchen gefügig. Dieser Beitrag von Sabine Bohland zeigt, wie die Mäd- Sabine Bohland chen den Männern völlig hilflos ausgeliefert sind. Aber volontierte beim WDR und ist seit 2014 Leiterin des ARD- es gibt Frauen, die dagegen ankämpfen. Es wird aber Fernsehstudios in Nairobi. Ihr Berichtsgebiet reicht von wahrscheinlich noch lange dauern, diese Tradition zu Mauretanien bis Madagaskar, von Äthiopien bis zum verändern. Kongo. Für sie stehen nicht nur Kriege und Katastrophen im Mittelpunkt, sondern ihre Reportagen zeigen auch die schönen Seiten des Kontinents mit Landschaften wie aus dem Märchen … Den Beitrag im Internet: tinyurl.com/yca2dzj9 8 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 · Preis Deutschland/Österreich
Preis Deutschland / Österreich: Fast Preisgekrönt Stefanie Appel (freie Journalistin und Dokumentarfilmerin) „Fatema, das Surfergirl von Cox‘s Bazar“ KIKA „Schau in meine Welt“, 2. April 2017 Der Beitrag im Internet: tinyurl.com/yba548kp Die zehnjährige Fatema hat ein ungewöhnliches Hobby: das Surfen. In Cox’s Bazar, im Süden des muslimisch geprägten Landes Bangladesch, ist das sehr ungewöhn- lich. „Anständige Mädchen gehen nicht ins Wasser“ – das bekommt sie oft zu hören. Stefanie Appel zeigt in ihrer Reportage den Alltag des jun- gen Mädchens. Sie begleitet sie in die Schule, nach Hau- se, zeigt die Familie, aber vor allem ihre große Leiden- schaft für das Surfen. Die jungen KiKA-Zuschauer lernen Fatema und ihr Leben kennen – ein Mädchen, das trotz vieler Vorurteile weiter für ihren großen Traum kämpft. Margarete Blümel (freie Hörfunkjournalistin) „Sie behandeln uns wie Dreck! Straßenkinder in Indien“ SWR 2 Tandem, 30. Januar 2017 Der Beitrag im Internet: tinyurl.com/y93cmbbf Für die Straßenkinder von Delhi gibt es meist kein Zurück. Die vierzehnjährige Yoti hat es dennoch von der Straße geschafft und ermutigt inzwischen andere Kinder, das Betteln aufzugeben und etwas zu lernen. Sie arbeitet bei der Organisation „Chetna“, die den Straßenkindern auch beibringt, wie sie Drogenverkäufer und sexuelle Belästi- gung abwehren können. Margarete Blümels Hörfunkbeitrag verdeutlicht, welche Umstände Minderjährige zu einem Leben auf der Straße zwingen und welchen vielfältigen Gefahren sie in Delhi ausgesetzt sind. Impressum Herausgeber Redaktion Art Direktor Werner Bauch, Paul-Josef Raue (verantwortlich), Norbert Küpper Vorstandsvorsitzender Bastian Borregaard, Plan International Deutschland Willhelm Klümper, Druck Bramfelder Straße 70 Antje Schröder Flyeralarm 22305 Hamburg Alfred-Nobel-Straße 18 97080 Würzburg Preis Deutschland/Österreich · Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 9
Für 7 $ verkauft: Kindersklavin offenbart Leben als indisches Dienstmädchen Siegerin Preis International 2018: Kinderhändlern genutzt werden, gelangte sie von einem Bundesstaat in den nächsten und fand schließlich ihre Anuradha Nagaraj aus Indien Mutter und ihr altes Zuhause wieder. mit ihrem Online-Artikel „Ich müsste jetzt 16 oder vielleicht auch 17 Jahre alt sein”, erzählte sie der Thomson Reuters Foundation bei einem Gespräch im Dorf New Purubari im Herzen einer Als Badaik noch so klein war, dass sie ihrem Vater gerade Teeplantage im Biswanath-Distrikt in Assam. bis übers Knie reichte, nahm dieser sie mit auf eine Rei- Obwohl sie hier geboren wurde, hat sie kaum Erinne- se. Sie gingen durch üppige Teegärten, stiegen in einen rungen an den Ort. „Ich verließ diesen, als ich noch sehr Bus und kamen „irgendwo” an. Während Badaik die noch klein war und kehre jetzt als Erwachsene zurück. Ich hatte neue Umwelt in Augenschein nahm, ließ der Vater sie an meine Familie vergessen, meine Sprache, mein Zuhause. Aber so ganz allmählich finde ich mich wieder ein.“ Dorfbewohner berichten Familien aus Arunachal Pradesh fahren davon, wie froh sie ist, zurückgefunden zu in die Teeplantagen, greifen sich haben. „Mittelsmänner und manchmal sogar irgendein Kind und sind auf und davon. Familien aus Arunachal Pradesh fahren in die Teeplantagen, greifen sich irgend- ein Kind und sind auf und davon”, erzählt der Tür eines „schönen Hauses” zurück und verschwand. Moni Darnal von der Non-Profit-Organisation Jagriti Er hatte sie für 500 Rupien (6,20 Euro) in die Sklaverei Samiti, die Aufklärungskampagnen zum Kinderhandel verkauft. durchführt. Badaik wuchs als Dienstmädchen im nordostindi- „Die Kinder werden schon im zarten Alter von drei schen Bundesstaat Arunachal Pradesh auf. Das liegt nur oder vier Jahren entführt, um sie für Hausarbeiten auszu- etwa 50 Kilometer von ihrem Elternhaus im Nachbarstaat bilden. Dies ist zu einer akzeptierten Norm geworden – es Assam entfernt. passiert einfach so.” Nach einem zufälligen Treffen mit einem anderen Indiens Volkszählung von 2011 verzeichnet mehr als Dienstmädchen 2016 – einer Leidensgenossin, die eben- vier Millionen Kinderarbeiter im Alter von 5-14 Jahren. falls verkauft worden war – machte sie sich auf den Weg Weltweit sind es 168 Millionen. Aktivisten zufolge sind zurück nach Hause. Auf Nebenwegen, die häufig von jedoch Millionen weitere Kinder durch Armut gefährdet. 10 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 · Preis International
Badaik in ihrem Dorf in Assam. Als Kind wurde sie als Sklavin verkauft. Mehr als die Hälfte von ihnen schuftet in landwirt- von Teeplantagen-Arbeitern einsetzt. Die im indischen schaftlichen Betrieben. Jedes vierte Kind ist in Fertigungs- Bundesstaat Assam gelegene weltgrößte Tee-Industrie stätten tätig. Andere arbeiten in Häusern und Hotels, befindet sich seit Jahren in einer Krise. Vorwürfe von spülen Geschirr, hacken Gemüse, putzen oder schrubben Sklavenarbeit und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen Fußböden. haben zu Arbeitskonflikten geführt, die einige Plantagen Laut Kinderrechtsaktivisten werden Kinder mitunter zur Schließung zwangen. für ein paar Hundert Rupien von ihren verzweifelten und Sunita Changkakati, Leiterin der Assam-Kommission verarmten Eltern verkauft. Manchmal werden sie dann für zum Schutz der Kinderrechte, glaubt, dass das Risiko mehr als 100.000 Rupien (1242 Euro) von profitgierigen für Sklaverei zunimmt. „Hier werden viele Kindheiten Mittelsmännern weiterverkauft. zerstört”, sagt sie der Thomson Reuters Foundation. „Wir „Kürzlich befreiten wir ein Kind aus dem Haus eines arbeiten mit Hochdruck daran, hierfür ein Bewusstsein zu früheren Ministers”, sagt Jumtum Minga, der in Itangar, schaffen, um Kinderhandel und Kinderarbeit verhindern der Hauptstadt des Bundesstaats Arunachal Pradesh, ein zu können. Es ist eine sehr schwierige Aufgabe.“ Notfalltelefon für Kinder eingerichtet hat. „Wie er sind die meisten Arbeitgeber einflussreiche Per- sonen, viele sind in der Regierung tätig. Sie alle Es gibt Kinder, die vergessen haben, beschäftigen Kinder, weil sie ihnen nichts zahlen wo sie eigentlich herkommen. müssen. Kinder stellen keine Forderungen, wes- halb sie als Privateigentum angesehen werden.” Sie sind einfach nur Das Itanagar-Notfalltelefon registrierte 91 noch „Teeplantagen-Kinder“. Fälle von Kinderarbeit in der Stadt und brachte 26 Kinder nach Hause zurück. Es gibt Kinder, die vergessen haben, wo sie eigentlich Baidaks Fall ist ein seltener Bericht aus erster Hand herkommen. Sie sind einfach nur noch „Teeplantagen- über das Leben als Kindersklave. Denn man weiß noch Kinder”, und ihre Chefs sorgen laut Kinderrechtsaktivis- zu wenig darüber, was mit den Kindern passiert, nachdem ten dafür, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern sie verkauft wurden. haben. „Zuerst machte ich gar nichts und spielte nur im Haus „Die Bedingungen werden immer schlechter”, sagt herum”, erinnert sich Badaik. „Dann wurde mir gezeigt, Stephen Ekka von der in Assam ansässigen Wohltä- wie man Knoblauch pellt. Etwas später, wie man fegt und tigkeitsorganisation PAJHRA, die sich für die Rechte den Boden wischt, dann wie man Geschirr spült und Wä- Preis International · Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 11
Eine Gemüsehändlerin auf einem der Wochen- märkte in Assam. Fotos: Anuradha Nagaraj sche macht. Das geschah alles nach und nach, aber mit Arbeitgeber um Unterstützung. Sie weigerten sich und acht Jahren konnte ich das alles.” sperrten sie ein. Sie arbeitete 17 Stunden täglich, durfte das Haus „Meine Chefin hatte mir gesagt, sie würden mich als nicht verlassen und hatte keine Freunde. Badaiks Lohn Mitglied der Familie ansehen. Doch als ich älter wurde, betrug 100 Rupien (1,54 EUR) monatlich. „Meine Chefin begriff ich, dass das nicht stimmte”, so Badaik. „Ich sagte sagte, sie würde das Geld zur Bank bringen, um es zu meiner Chefin, dass ihre Tochter in den Ferien immer nutzen, sollte ich krank werden oder mal etwas benöti- nach Hause komme, ich aber sei die letzten 10 Jahre gen.” nicht zu Hause gewesen. Schließlich gab sie nach.“ Viele Arbeitgeber meinen, dass die Bereitstellung von Als Badaik letztes Jahr in das Dorf New Purubari kam, Kost und Unterkunft ausreicht, sagt eine leitende Beamtin wusste sie nur noch, wo die Kirche ist. in Arunachal Pradesh, die anonym bleiben möchte. „Wir „Mein Onkel trug mich, meine Mutter umarmte mich können nicht abstreiten, dass der Bedarf gegeben ist. Vie- und weinte, während mein Vater in einer Ecke stand. le Familien sehen es nicht als gesetzeswidrig an. Und uns Ich verpasste ihm eine Ohrfeige. Wie hatte er mich dort erreichen nur wenige Beschwerden, die uns zum Handeln einfach zurücklassen können, ohne sich jemals nach mir auffordern.” zu erkundigen? Ich war zwar kein Waisenkind, hatte mich Nach der zufälligen Begegnung mit ihrer Dienstmäd- aber immer so gefühlt.” chen-Kollegin suchte Badaik nach Hinweisen, um irgend- Um eine letzte Aufgabe in Arunachal Pradesh zu wie nach Hause zu finden. Auf einem ausgeliehenen lösen, muss Badaik jetzt erneut die Nebenwege abgehen. Mobiltelefon wählte sie eine Nummer nach der anderen, Diesmal besteht ihre Mission darin, ihre jüngere Schwes- bis sie einen Onkel ausfindig gemacht hatte. Fest ent- ter aufzuspüren. Auch sie war von ihrem Vater verkauft schlossen, nach Hause zurückzukehren, bat Badaik ihre worden, um als Dienstmädchen zu arbeiten. die Autorin Laudatio Die Alltäglichkeit des Schreckens Christoph Lanz für die Jury Im Vergleich zu dem, was wir hier oft an Beiträgen erle- ben, war das gar nicht so schockierend in seiner Bru- talität, sondern es war so schockierend in seiner quasi Normalität, dass Kinder dort für lächerliche Summen verkauft werden. Es war eigentlich die Alltäglichkeit des Anuradha Nagaraj Schreckens, die uns berührt hat. Das Schöne an diesem ist Korrespondentin von Thomson Reuters Foundation, Beitrag, so schrecklich er war, ist aber auch, dass das der gemeinnützigen Organisation der Nachrichtenagentur Kind den Weg raus aus dieser verkauften Situation Reuters. Sie veröffentlichte ihren Beitrag auf den Online- gefunden hat. Portalen der Nachrichtenagentur Reuters und der indi- schen Tageszeitung Mail Today. Der Beitrag im Internet: tinyurl.com/ybqdkz7k 12 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 · Preis International
Preis International: Fast Preisgekrönt José Alberto Mojica Patiño (Redakteur der Tageszeitung El Tiempo, Bogotá/Kolumbien) „Elternschaft, die neue Front der FARC“ (Original: “Paternidad, el nuevo frente de las FARC”) El Tiempo, veröffentlicht am 17 Mai 2017 Der Beitrag im Internet: tinyurl.com/ybcsg6ll In Zeiten des bewaffneten Konflikts war es Kämpferinnen der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) strengstens untersagt, Nachwuchs zu bekom- men. Nach dem Friedensabkommen 2016 zwischen der FARC und der kolumbianischen Regierung brach in den Entwaffnungszonen des Landes ein regelrechter Baby- boom aus. Der Journalist José Alberto Mojica Patiño sprach mit jun- gen Eltern, die sich endlich ihren Kinderwunsch erfüllen konnten. Doch die Lebensbedingungen trüben das Glück. Es mangelt an medizinischer Versorgung, kindgerechter Nahrung, Trinkwasser und Hygiene. Shreejana Shrestha (Redakteurin der Wochenzeitung Nepali Times in Kathmandu/Nepal; jetzt für BBC News tätig) „Eingesperrte Grenzgänger“ (Trapped in transition“) Nepali Times, 24. März 2017 Der Beitrag im Internet: tinyurl.com/y97keeh2 Die politische und wirtschaftliche Instabilität bewegt viele Kinder im nepalesischen Tiefland Terai, im benachbarten Indien Arbeit zu suchen. Dabei leisten sie oft körperlich schwere Arbeit und werden auch von Arbeitgebern miss- braucht. Zudem nutzen Menschenhändler die weit ver- breitete Armut im Tiefland und locken Kinder zum Arbeiten nach Indien. Werden sie aus diesen Verhältnissen befreit, landen viele von ihnen in heruntergekommenen Heimen. Die Rettung von 33 nepalesischen Kindern aus prekären Arbeitsverhältnissen im indischen Bihar sorgte 2017 für große Medienaufmerksamkeit in Nepal. Die Journalistin Shreejana Shrestha recherchierte für ihre einfühlsame Reportage intensiv vor Ort und sprach mit den Kindern. Preis International · Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 13
Die 16-jährige Paola moderiert die Livesendung „Rincón Juvenil“. Foto: Plan International/Jhordan Sivila Bolivien: Jugendliche machen Radio gegen sexuelle Gewalt Sonderpreis für wie sie eine Radio-Sendung gestalten und die Studiotech- nik nutzen können. Jeden Samstag um 17 Uhr sprechen „Rincón Juvenil (Jugendecke)“, neun Mädchen und sechs Jungen ins Mikrofon, dann läuft die wöchentliche Radio-Sendung eine 90-minütige Livesendung „Rincón Juvenil“. in Tarija, Bolivien Die Sendung beginnt immer mit einem aktuellen Song, dessen Text die Jugendlichen analysieren: Wel- In keinem Land Lateinamerikas leiden Frauen so unter che Rollen nehmen Frauen und Männer in dem Lied sexueller Gewalt wie in Bolivien, sie werden meist in der ein? Diskriminiert der Text Frauen? Oder lädt er ein, alle Familie oder von Lehrern geschlagen, vergewaltigt und Menschen zu respektieren? Im zweiten Teil der Sendung getötet. Das Thema Sexualität ist ein Tabu, so dass diskutieren die Jugendlichen mit einem Gast über ihre Mädchen und Frauen die Täter meist nicht anzeigen. Tun Rechte, sexuelle Gewalt und ähnliche Themen. Im letzten sie es doch, setzen sie sich neuer Gewalt aus. Freunde Teil des Programms kann das Publikum telefonisch oder und Familie wenden sich ab und sie trauen sich nicht per What’sApp Fragen stellen oder kommentieren. mehr in die Schule. Besonders dramatisch wird das Leben der Mädchen, die nach einer Vergewaltigung schwanger werden. Plan Laudatio International erweitert für neunzehn Mädchen und ihre Kinder eine sichere Unterkunft in Tarija, einer ländlichen Traurig und ernst Region im Süden Boliviens. Die 13- bis 18-Jährigen können im Frauenhaus einen Beruf erlernen, um später Charlotte Maihoff für die Jury eine Bäckerei zu gründen oder Schmuck herzustellen und Mich als altes Radiogesicht freut besonders, dass jun- zu verkaufen. Darüber hinaus bietet Plan Workshops an: ge Menschen eine 90-minütige Radiosendung auf die In den kommenden drei Jahren sollen 1.400 Jugendli- Beine stellen über ein sehr trauriges und ernstes Thema, che und Eltern sowie Mitarbeiter von Behörden geschult über häusliche Gewalt gegen Mädchen und Kinder. Wir werden. unterstützen gerade dies Projekt, weil es ein Ansporn für die jungen Leute sein wird. Sie sollen wissen: Da gibt es Im Landkreis Padcaya sind Jugendliche besonders Leute am anderen Ende der Welt, die interessieren sich engagiert: Moderatoren des Lokalsenders zeigten ihnen, dafür, was sie in Bolivien machen. 14 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 · Sonderpreis Kinder/Jugend
Die Preisträger aus Nepal, Ruanda, Indonesien und Deutschland stellen sich 2013 zum obligatorischen Sieger- foto mit Ulrich Wickert, Werner Bauch, dem Plan-Jugendbeirat und Gästen. Preisträger 2012-2017 2012 „Die Welt der Jungen und Mädchen“ Radioprojekt in Cajamarca, Peru Carolin Emcke, freie Autorin: Golineh Atai, ARD-Korrespondentin: „Der lange Weg zur Gerechtigkeit“ (Zeit-Magazin) „Ukraine: Quo Vadis?“ Patience Chiyangwa, freie Journalistin: (ARD Weltspiegel, Peter Scholl-Latour Preis) „Childline Simbabwe“ (JUST ICT Magazine) „Girls Making Media“ Radioprogramm in Ghana, Liberia, Sierra Leone und Togo 2016 Joanna Michna, Filmemacherin: 2013 „Marleny - und es gibt mich doch!“ (KiKA) Yefferson Ospina Bedoya, Andreas Boueke, freier Journalist in Guatemala: Redakteur der kolumbianischen Tageszeitung El País: „Patti und ihre 13 Geschwister“ (SWR 2 Tandem) „Cxha Cxha Wala F.C. – der Fußball und der Krieg im Gloriose Isugi und Noella Nbihogo, Reporterinnen Norden von Cauca“ in Ruanda: „Sugar daddies prey on female students „Laahiru Children’s Media Federation“ headed home for holiday“ Filmprojekt in Medawachchiya, Sri Lanka „Bal Sansar“ (Die Welt der Kinder) Radioprogramm Erika Harzer, Reporterin: in Makwanpur, Nepal „Wenn Kinder nur noch weg wollen – der mittelamerikanische Exodus” 2014 (Bayern 2, Peter Scholl-Latour Preis) Marian Blasberg, Zeit-Reporter: „Wir wollen arbeiten!“ (Die Zeit) 2017 Jorge Enrique Rojas, Redakteur der kolumbianischen Linda Tutmann, freie Autorin: Tageszeitung El País: „Glasjunge“ „Töchter gehören in die Schule“ (Chrismon) „Radio Pocolá“ in Alta Verapaz, Guatemala Kadiatou Touré, TV-Reporterin von Radio Télévision Guinéenne, Guinea: 2015 „Kolian Toly: Weibliche Genitalverstümmlung im Land der Kissi“ (Seit 2015 wird auch der Peter Scholl-Latour Preis “Girls Empowerment Club”, vergeben.) Plan-Projekt in Epworth, Simbabwe Nicola Albrecht, ZDF-Korrespondentin: Naima El Moussaoui / Lukas Roegler: „Philippinen: Pädophilen Tätern auf der Spur“ „Der Traum von Sicherheit. Was Frauen auf der Flucht (ZDF Mona Lisa) erleiden” (WDR Die Story, Peter Scholl-Latour Preis) Sigfredo Ramírez, Redakteur der Tageszeitung La Prensa Gráfica in El Salvador: „Das Land der Waisen“ Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 15
Ulrich Wickert im Interview Warum sind die Menschen anders? Es gibt in Deutschland unzählige Journalistenpreise. Sie haben für den Preis eine Stiftung bei „Plan Warum haben Sie noch einen ins Leben gerufen? International“ gegründet. Welchen Sinn hat diese Kooperation? Wickert: Diese Frage habe ich mir anfangs auch gestellt. Mittlerweile weiß ich, wie wirkungsvoll dieser Preis ist. Wir würdigen Journalisten, die in ihren Beiträgen Kindern Die renommiertesten Magazine und Journalisten, ob eine Stimme geben, denen ihre Rechte verweigert wer- vom „Spiegel“, der „Zeit“ oder von der ARD, reichen den. Für mich war entscheidend, mit Plan International bei uns ihre Beiträge ein, manche haben sich mehrfach einen Partner zu haben, der sich besonders für Mädchen beworben. Es ist wohl eine Ehre, gerade diesen Preis zu einsetzt in Ländern, wo die Kinderrechte missachtet wer- bekommen. den. Die Idee für diesen Preis kam auch nicht von mir, die hatte der Plan-Vorstandsvorsitzende Dr. Werner Bauch. Sie vergeben neben dem deutschsprachigen Preis Ich habe spontan zugesagt. einen für Journalisten in Entwicklungsländern. Wird der in Staaten wie Nepal oder El Salvador oder Kenia Zum vierten Mal sucht Ihre Jury in diesem Jahr auch überhaupt wahrgenommen? den Sieger für den Peter Scholl-Latour Preis. Warum noch ein Preis? Gerade der zeigt enorme Wirkungen. Eine Preisträgerin aus Ruanda erzählte: Als ihr Artikel über sexuelle Ge- Wir wollten einfach das Spektrum erweitern und Berich- walt gegen junge Mädchen nominiert wurde, haben ihn te auszeichnen, die Schicksale von Menschen in Kri- Medien in Ruanda überall veröffentlicht; als sie aus Berlin sen- und Konfliktgebieten erzählen – wie beispielsweise zurückkam, erwartete sie die gesamte Presse von Ruan- das des 12-jährigen Nadim, der im Irak von der IS zum da am Flughafen und griff das Thema noch einmal auf. Selbstmord-Attentäter abgerichtet worden ist. Gäbe es für Fast alle internationalen Preisträger erzählen Ähnliches: solch einen Preis einen besseren Namensgeber als den Ein Preis in Deutschland – das ist ein nationaler An- und legendären Peter Scholl-Latour? positiver Aufreger! Dazu kommt das Preisgeld von 6000 Euro, das in Afrika, Asien oder Lateinamerika viel Geld ist. Der Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte ist einer der wenigen Journalistenpreise, der international ausge- richtet ist, der Journalisten und auch Jugendliche für Zur Person ihre Medienarbeit in Entwicklungsländern auszeich- net. Spielt das Ausland bei uns immer weniger eine Ulrich Wickert war ARD-Korrespondent in Washington Rolle? und Paris, moderierte 15 Jahre lang die „Tagesthemen“, schrieb Bücher über Ethik wie den Bestseller „Der Ja, was mir auffällt: Die Berichterstattung ist seit der Wen- Ehrliche ist der Dumme“ und Krimis mit dem Pariser de deutscher geworden. Deutschland guckt viel mehr auf Richter Ricou. seinen Nabel, meines Erachtens zu viel. Zu meiner Zeit Unter dem Dach der „Stiftung Hilfe mit Plan“ gründete haben die Redaktionen gefragt: Wie sehen die Engländer Wickert mit seiner Frau die Ulrich Wickert Stiftung, die oder Franzosen beispielsweise einen „Gipfel“. Da gab es den Journalistenpreis verleiht. mehr Sichtweisen, und die würde ich gerne wieder lesen 16 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018
Paul-Josef Raue (links) spricht mit Ulrich Wickert im Garten von Plan in Hamburg über seinen Preis, die Welt und unser Bild von ihr, über Journalisten, Journalismus und Ethik. Foto: Kathrin Hartkopf/Plan International und sehen. Andererseits sind deutsche Medien überall Ja, zwei Dinge nerven mich besonders. Erstens die Be- in der Welt vertreten, über dreißig Auslandsbüros mit langlosigkeit vieler Artikel, selbst in Magazinen wie dem mehreren Korrespondenten von ZDF und ARD allein fürs „Spiegel“. Da lamentiert einer darüber, dass bei einem Fernsehen, dazu kommen noch viele für den Hörfunk, großen Ereignis sein Handy geklaut worden ist oder sein dazu die Korrespondenten von FAZ, Süddeutscher und Koffer nach einem Flug aus New York zwei Tage später „dpa“. kam. Wen interessiert das? Ich will etwas über das Land erfahren, was Substanz hat, was mir erklärt, warum die Was noch auffällt: Journalisten nehmen gerne Mel- Menschen so und nicht anders denken und handeln. dungen auf, wenn im Ausland kritisch oder negativ über Deutschland berichtet wird. Und zweitens? Ja, das ist eine Eigenart in Deutschland, etwas, das wir Die klare Wertung in den Beiträgen, die sofort verrät, was sonst nur noch in Japan erleben. Wir wollen dauernd der Autor denkt, ob er etwas gut findet oder schlecht. geliebt werden. Franzosen oder Engländern ist völlig Ich will mir selber meine Gedanken machen, mein Urteil schnurz, was andere denken. selber finden, dafür brauche ich Fakten. Woran liegt das? Nutzen Sie in Ihren Reportagen nicht auch das „Ich“? Ist nicht der subjektive Faktor grundlegend für die Wir haben ein Riesen-Problem mit uns selber, mit unserer Qualität einer Reportage? Identität. Wir haben das nie geklärt, quälen uns mit dieser Frage – ohne Ende, ohne Ergebnis. Das führt dazu, dass Ich habe das „Ich“ selten gebraucht, nur wenn es ganz viele Menschen, denen es so gut wie nie zuvor geht, persönlich war. Grundsätzlich hält man sein „Ich“ raus, es keine Hoffnung mehr haben – und Medien diese Apoka- geht ja nicht um einen selbst. lypse-Sehnsucht auch noch bedienen. Kommt das „Ich“ zu oft im Journalismus vor? Sie haben sich nie gescheut, Journalisten und ihre Beiträge öffentlich zu kritisieren, was in dieser emp- Ja, absolut. Im Fernsehen, besonders in den dritten findsamen Branche nicht gern gesehen wird. Ist die Programmen, führt immer ein Journalist durch die gesam- journalistische Qualität in den letzten Jahren insge- te Reportage, das „Ich“ führt, das soll eine Verbindung samt schwächer geworden? vom Autor zum Zuschauer bringen. Das funktioniert nur Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 17
Ulrich Wickert bei der Preisverlei- hung 2016 mit Hashini (17, links) und Sureka (22) aus Sri Lanka: Sie gewannen den Sonderpreis mit einem Film über die Wasserqualität und Sauberkeit in ihren Dörfern rund um die Kleinstadt Medawach- chiya. Foto: Alexander Schumann/Plan International bei wenigen wie Peter Scholl-Latour, weil der Zuschauer weiß, wofür der steht und was der weiß. Ist das neue „Ich“ ein Reflex auf die „Lügenpresse“- Angriffe oder auf den Verlust des Vertrauens? Nein, dies hat viel früher angefangen, dieses Ich-Ich-Ich. Journalisten irren, wenn sie glauben, dass die Leute das mögen. Mit der Kritik an den Medien hat das nichts zu tun. Die ist auch schon deutlich leiser geworden. Um- fragen zeigen: Das Vertrauen in seriöse Medien und die Glaubwürdigkeit ist wieder sehr hoch. Die Auseinander- Wie findet ein Korrespondent eine Geschichte, die setzung über „Lügenpresse“ hat zu einer Reaktion bei den Zuschauer oder Leser in der Heimat überrascht? den Journalisten geführt: Wir müssen offener mit den Lesern und Zuschauern umgehen. Das ist gut. Er hört genau hin, wenn ein Gast aus Deutschland kommt. Ich will ein Beispiel aus New York erzählen: Mein Sie haben die halbe Welt bereist, kennen viele Men- Intendant Friedrich Wilhelm von Sell kam zu Besuch und schen, Länder und Kulturen. Ist es Aufgabe von Jour- fragte, ob ich ihm die Wall Street zeigen könnte. Er war nalisten, gerade von Korrespondenten, sie zu ver- überrascht: „Diese kleine Straße ist die Wall Street, ist gleichen mit unseren Maßstäben? Oder erst einmal das Finanzzentrum der Welt?“ Da habe ich mir gesagt: herauszufinden, wie andere Menschen leben? Du musst ein Porträt der Wall Street drehen. Wie funkti- oniert die? Ich zeigte die Partner einer großen Bank, die Ich habe mir oft die Frage gestellt: Warum sind die alle in einem großen holzgetäfelten Raum zusammen sa- Menschen anders? Als mich der WDR-Chefredakteur ßen – mit eigenem Koch. Und um das zu zeigen, braucht Theo M. Loch nach Paris schickte, in meine erste große man kein „Ich“. Korrespondentenstelle, habe ich die Klassengesellschaft bei unseren Nachbarn geschildert: Da ist die Bourgeoi- Aber muss ein Korrespondent wirklich alles verste- se die bestimmende Schicht; es gibt auch eine starke hen und erklären? Auch Donald Trump? Arbeiterklasse, eine richtige Arbeiterklasse mit radikalen Gewerkschaften und 20-Prozent-Kommunisten – also Ja, das ist seine Aufgabe. Er muss nicht unbedingt eine Gesellschaft, die anders formiert war als unsere. Wer Trump gut finden, aber er muss erklären, warum die Frankreich verstehen will, sollte das wissen – ohne sofort Menschen ihn gewählt haben. Du verstehst Amerika nicht, zu sagen: Das ist gut, das ist schlecht. wenn Du nur auf die klugen Menschen an der Ostküste schaust, wo es so großartige Zeitungen wie die „New York Times“ gibt oder die „Washington Post“ und Schriftsteller wie Philipp Roth oder John Updike. 18 Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018
Nun ist Trump ein Phänomen, das viele überrascht Fällt Ihnen noch ein eigenes Stück ein, eine hat, etwas völlig Neues in einer großen westlichen Geschichte über das andere Amerika? Demokratie. Ich drehte einen Film über einen Streik in Kentucky, der Nein, das ist nicht neu. Ich erinnere mich genau an die schon über ein halbes Jahr lief. Da lagen sich die Strei- Reagan-Zeit: Das war auch ein Präsident, den die Deut- kenden und die Leute der Kohlenminen-Besitzer mit schen überhaupt nicht verstanden haben. Gewehren gegenüber, buchstäblich in Schützengräben. Da bin ich zum Sheriff gegangen: „Was sagen Sie denn Wie erklärt ein Korrespondent eine Gedankenwelt, die dazu?“ Er holte unter seinem Tisch eine riesige Kiste uns fremd erscheint – erst recht in einer Gesellschaft, raus: „Das sind alles Maschinenpistolen, die habe ich die unserer sehr ähnlich ist? denen weggenommen. Die Waffen sind dafür da zu töten; die anderen, die ich ihnen gelassen habe, sind nur da, Ich habe Washington, die Hauptstadt, hinter mir gelas- um sich zu verteidigen.“ Ich habe auch einen Streikenden sen, bin rausgefahren und habe Geschichten erzählt. Es zu Hause besucht, der wohnte mit seiner Frau und zwei begann mit der Frage: Wo kann ich am besten entdecken, Kindern in einem Holzhaus im Wald. Der sagte mir: „Ich wie Reagans Amerika denkt? Einer sagte mir: Fahr nach ernähre mich unter anderem, dass ich ab und zu mal ein Wyoming, da beginnen die Rocky Mountains, da ist noch Reh schieße. Ich kann von dem Lohn nicht leben, deswe- der Wilde Westen! Fahr nach Cody, Ende des 19. Jahr- gen muss ich streiken.“ Das ist plötzlich ein Amerika, das hunderts von Buffalo Bill gegründet! Ich habe seine Enkel wir nicht kennen, das wir nicht verstehen, aber das ein getroffen, beide um die siebzig, einer hatte ein Bärtchen Reporter nahebringen sollte. genau wie Buffalo Bill. Da habe ich ein Amerika gefunden, das wir überhaupt nicht verstehen. Das ist ein Amerika, Sie gelten als Moralist … das will vom Staat nichts wissen: „Wir regeln alles unter uns!“ Einer der Enkel erzählte: „Ich bin Anwalt, aber als … der als Tugendbold tituliert wurde, als mein Buch „Der Anwalt hatte ich keinen großen Erfolg; Mordprozesse zum Ehrliche ist der Dumme“ zwei Jahre lang an der Spitze Beispiel gibt es nie, die Sache regeln wir vorher.“ der Bestsellerliste stand. Aber die Menschen wollen einfach wissen: Welche Regeln gelten? Warum gibt es Sind die Enkel von Buffalo Bill auch die Menschen, so viele Regelbrüche? Was passiert, wenn die Regeln die Trump gewählt haben? verletzt werden? Warum sind die Regeln so verschieden in anderen Ländern? Ja, ich habe geschaut: Wie haben die Menschen in Cody bei der letzten Wahl gestimmt? 70 Prozent für Trump. Der Sie zitieren dazu gerne einen alten Philosophen, der Sheriff von Cody hat übrigens zu Zeiten der Tea-Party vor zwei Jahrhunderten in Königsberg gelehrt hat. Kurse für die Bürger gegeben, wie sie ihre Waffen be- Warum berufen Sie sich auf diesen alten Mann? nutzen können. So etwas verstehen wir nicht, erst recht nicht: Warum ist das so? Und weil es uns so fremd ist, Sie meinen Immanuel Kant. Er hat einen einfachen Satz verstehen wir auch nicht, warum Trump gewählt worden geschrieben, der heute noch gültig ist, auch und gerade ist. für Journalisten: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstan- des zu bedienen!“ Das ist der Wahlspruch der Aufklärung Wenn Sie das so darstellen, sagen viele Leser: Der – und das ist auch meiner. Wickert ist verrückt, der verteidigt Trump! Aber was taugt dieser Satz, wenn die Strukturen Das werden nicht viele denken. Sie verstehen schon, schlecht, gar falsch sind? dass es falsch ist, die Welt nur nach unseren Maßstäben zu beurteilen. Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir müssen nicht die Strukturen ändern, sondern das Denken. Welches Buch würden Sie den Lesern heute empfeh- len, um das andere Amerika für sich zu entdecken? Auch das Denken stößt an Grenzen. Noch einmal: Müssen wir denn wirklich alle Kulturen und Länder Es ist ein älteres Buch. Ich habe ja auch ein Jahr in den und Nationen verstehen? USA studiert und viel amerikanische Literatur gelesen, unter anderem Sinclair Lewis: Der schrieb 1935 „It can’t Verstehen bedeutet ja nicht, alles gutzuheißen. happen here“. Dieses Buch wird zurzeit unglaublich oft in Amerika gelesen: Kann Faschismus auch bei uns passie- Wo liegt dann die Grenze des Verstehens? ren? Ja, sagt Lewis, und erzählt von den Amerikanern, die völlig anders sind als die, die wir unentwegt in den Die Grenze liegt bei den Menschenrechten. Dahinter liegt „Tagesthemen“ sehen. das Unrecht. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Solange dieser alte Dreiklang stimmt, geht es allein ums Verste- hen. Darum müssen sich Journalisten bemühen – und: Sie sollten den Zeigefinger öfter mal nicht erheben. Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte 2018 19
Ulrich Wickert erinnert sich an Peter Scholl-Latour „Selten finden wir so ausgeprägte Identitäten: Er sagte, wie es ist“ Peter Scholl-Latour (1924-2014) war einer der be- der bedeutendste Reisende Arabiens war und in Büchern kanntesten, aber auch umstrittenen Journalisten in über seine Erlebnisse berichtete. Und er ähnelte seinem Deutschland, dessen Indochina-Buch „Der Tod im Lieblingsintellektuellen Ibn Chaldun, der einer spanisch- Reisfeld“ rund 1,5 Millionen Mal verkauft wurde. Er arabischen Familie entstammte und als erster Gelehrter war auch Gründungs- und Kuratoriumsmitglied von vor bald sieben Jahrhunderten eine Soziologie der islami- Plan International Deutschland. Zum vierten Mal wird schen Welt entwickelte und eine Weltgeschichte schrieb. in diesem Jahr der Journalistenpreis vergeben, der seinen Namen trägt. Ulrich Wickert war ein Freund Selten finden wir in der Gesellschaft so ausgeprägte des Weltreporters Scholl-Latour und erinnert sich. Identitäten wie Peter Scholl-Latour, nach denen wir uns richten können. Er tat, was nur noch wenige sich trauen: In den Internet-Lexika der Neuzeit könnte über Peter Er sagte, wie es ist. Manch einer hat ihm immer wieder Scholl-Latour stehen: Seit Mitte des 20. Jahrhunderts fin- seine direkte Sprache übel genommen. Das störte ihn den seine Analysen über Politik nicht. „Ich habe mich eigentlich und Weltgeschichte im Abend- nie geirrt“, sagte er. So etwas land außerordentliche Beach- kann man häufig erst mit einer tung. Denn spätestens seit den gewissen Distanz sagen. fünfziger Jahren war er immer dort, wo die Welt brannte. In Diese Distanz hatte Peter arabischen Ländern war sein Scholl-Latour von Anfang wichtigster Ausweis ein Foto, an. Er war darin der Meister. auf dem neben ihm Ayatollah Distanz bedeutet: Ich bin kein Chomeini zu sehen ist. Ideologe; ich verschreibe mich keiner Partei; ich habe Eine Reihe von Schlüssel- mein eigenes Urteil. Scholl- erlebnissen mag diesen Mann Latour war unabhängig in jeder erklären: Er kannte fast alle Hinsicht, er ließ sich nieman- Schurken dieser Welt. Das dem zurechnen und hing von Interesse dafür hat seinen niemandem ab. Seine Statur Ursprung in seiner Jugend: Als wuchs aus seinem Werk statt er Kind war, hatte die Familie aus einem Netzwerk, wie es einen Chauffeur aus Polen. heute leider gang und gebe ist. Diesen Mann hat Peter über Redakteure, selbst gegensätz- alles geliebt. Später hat sich licher Printprodukte, sprechen dann herausgestellt, dass der sich heute auf gemeinsame Chauffeur seine Frau umge- Linien ab und tun sich ge- bracht hat. genseitig Gefallen, statt wie Ulrich Wickert (rechts) hielt 2005 die Laudatio, Scholl-Latour einen fruchtba- Scholl-Latours Koordi- als Peter Scholl-Latour den Henri-Nannen-Preis ren oder auch, was gar nicht natensystem bestand aus für sein Lebenswerk bekam. falsch wäre, einen furchtbaren bekannten Namen, auch sie Meinungsstreit zu führen. alle Abenteurer. Seine Lieb- lings-gestalt hieß: Odysseus – obwohl der Listige sich Gut – dafür muss man erst einmal eine Meinung ha- in Frauenkleidern vor dem Krieg drücken wollte, während ben. Dafür aber stand Peter Scholl-Latour. In seiner Ge- „Scholl“ als französischer Oberleutnant ein Fallschirm- dankenwelt fand „Political correctness“ nicht statt. Seine kommando im Indochina-Krieg anführte. Position entwickelte er aus seiner Überzeugung: Ihm ging es eben nicht darum, Gefälligkeiten auszutauschen. Er reiste auf dem Kamel wie Sven Hedin durch die Wüste. Er suchte das „Herz der Finsternis“ wie Joseph Ich bin stolz, dass wir großartigen Journalismus mit Conrad. Er schrieb ein klares Wort wie Ernest Heming- seinem Namen ehren und gemeinsam mit dem Ulrich way. Er bewunderte Ibn Battuta, der im 14. Jahrhundert Wickert Preis für Kinderrechte verleihen dürfen. 20 Peter Scholl-Latour Preis 2018
„Ich möchte, dass diese Welt etwas friedlicher wird“ Peter Scholl-Latour ist Mitgründer von Plan International Deutschland Im Dschungel mit Regenum- hang, im Reisfeld mit dunklem Hemd und offenem Kragen, neben Chomeni sitzend mit eleganter Krawatte: Peter Scholl-Latour haftet im Ge- dächtnis als vornehm geklei- deter Mann, ob er von der Front berichtete, aus einem Palast oder der Hütte eines Soldaten. Er war geradezu eine Parade-Besetzung für das Fernsehen, in dem es immer auch aufs Äußerliche ankommt. Ulrich Wickert, ein Freund Scholl-Latours, erinnert sich: Das Gründungsfoto von Plan International Deutschand 1989 mit Peter Scholl- „Meine Frau kritisierte manch- Latour (2.von rechts) und Alberto Neri (von links), Rudolf Stilcken, Alt-Bundes- mal mein modisches Selbst- präsident Walter Scheel, Prof. G. Mensching, Werner Bauch, Marianne M. Raven, verständnis, besonders wenn Max Kullmann, Rainer Funke, Christian Graf von Bassewitz und außen Horst sie Peter Scholl-Latour im Gobrecht. Fernsehen sah. Einmal mein- te sie: Was Jörg Kachelmann im Studio nicht schafft, das Schicksals zu beteiligen. Das gilt auch für Kinder. Das schafft Peter Scholl-Latour sogar in der Wüste: einfach Konzept Hilfe zur Selbsthilfe hat mich von Anfang an gut und elegant aussehen.“ überzeugt. Die Art und Weise, wie Plan es umsetzt, ist vernünftig und der Erfolg zeigt, dass Plan gut organisiert Scholl-Latour konnte sich auf jedem Parkett und in ist und hervorragend arbeitet.“ jedem Land souverän bewegen. So sehen wir ihn auch auf dem Plan-Gründungs-Foto im eleganten Jackett, als Die Gründungs-Idee dürfte Scholl-Latour auch ge- komme er gerade von einem Gespräch mit dem Bundes- fallen haben. Der damalige PR-Manager Werner Bauch präsidenten. Der ist übrigens auch auf dem Foto, zumin- saß bei einem Geschäftsessen in New York neben dem dest ein ehemaliger: Walter Scheel. holländischen Kollegen einer Public Relations-Agentur; der suchte geeignete Personen für den Aufbau einer Scholl-Latour war keiner, der sich in Organisatio- Plan-Organisation in Deutschland. 1988 war Plan Holland nen und Bürokratien wohl fühlte, seine Orte waren eher mit Abstand die größte Organisation im internationalen ein Beduinenzelt als ein Ballsaal in Hamburg: Dennoch Plan-Verbund und sollte Plan Deutschland initiieren. brauchte es keine Überredungskünste, ihn für die Grün- dung von Plan vor rund drei Jahrzehnten zu gewinnen. Werner Bauch recherchierte und fing Feuer. Ihm als „Ich bin kein Mäzen oder Gönner, ich möchte einfach, PR-Profi war klar, dass die Gründung einer Spenden- dass diese Welt etwas friedlicher wird“, sagte er zu Wer- organisation nur mit Fortune und Beziehungen möglich ner Bauch, der die Gründung vorangetrieben hatte und sein würde. Im kommenden Jahr 2019, wenn Plan das heute den Vorsitz führt. Jubiläum des 30-jährigen Bestehens feiert, dürfte davon oft und lange erzählt werden: Mit Alt-Bundespräsident Peter Scholl-Latour wurde auch Mitglied des Plan- Walter Scheel und Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt als Kuratoriums und begründete zum 10. Plan-Geburtstag Schirmherren und bekannten wie gut vernetzten Grün- rückblickend sein Engagement: dern begann die Plan-Erfolgsgeschichte – zu der am Anfang eben auch Peter Scholl-Latour zählte, der große „Vor Ort erlebe ich immer wieder, wie wichtig es Reporter, der die Armenviertel dieser Welt kannte wie kein ist, die Menschen an einer möglichen Gestaltung ihres anderer. Peter Scholl-Latour Preis 2018 21
Löwenjungen Sieger des Peter Scholl-Latour Preises 2018: Claas Relotius mit einer Reportage aus dem Nordirak, Der Spiegel, 20. Februar 2017 (8/2017). Der IS verschleppt die Brüder Nadim und Khalid, 12 und 13 Jahre alt, foltert sie, indoktriniert sie zu Mördern und schickt sie mit Sprengstoffwesten nach Kirkuk im Nordirak. Nadim, den Bombengürtel unter einem großen Messi-Trikot, schreckt im letzten Moment zurück, lässt sich schreiend festnehmen; sein Bruder sprengt sich und andere zur gleichen Zeit in die Luft. Der Reporter Claas Relotius besuch- te für den „Spiegel“ Nadim im Hochsicherheitsgefängnis von Dschamdschamal. Die Brüder Nadim und Khalid sind 12 und 13 Jahre alt, als Nadim atmete schnell und heftig. Über seiner Brust sie der IS verschleppt. Sie werden gefoltert, umerzogen kreuzten sich zwei Drähte, verbanden vier Taschen voll und mit Sprengstoffwesten nach Kirkuk geschickt. Einer Dynamit mit einem Knopf an seiner Hüfte. Zum Eingang der beiden schreckt im letzten Moment zurück. Dies ist der Moschee, seinem Ziel, waren es nur noch wenige ihre Geschichte. Meter. Vier Minuten bevor Nadim, Kind mit geröteten Augen, Über das, was dann geschah, gibt es heute viele den Auslöser an seiner Weste ergriff, um sich mit neun- Erzählungen. Es gibt Zeugen, die erinnern sich, Nadims einhalb Kilo Sprengstoff in den Tod zu reißen, riefen die Blick sei „voller Hass“ gewesen, und es gibt andere, die Muezzine von Kirkuk über Lautsprecher in alle Viertel sprechen nur von „blanker Angst“. Ein Ziegenmilchhändler der Millionenstadt zum Abendgebet. Es war ein Sonn- am Marktplatz sagt, der Junge sei ganz plötzlich losge- tagabend im August, noch immer laut und heiß, genau rannt, schreiend in die Menge. Zwei Schuhputzer behaup- sieben Uhr. Die Sonne über dem Nordirak war gerade ten, er habe laut gerufen „Allahu akbar“, Gott ist groß. Der Polizist, der Nadim packte und im letzten Moment stoppte, gab noch am Nadim wehrte sich kaum, Abend, vor Fernsehkameras, zu Pro- er rief nur den Namen seines Bruders: tokoll: „Er wollte jeden von uns töten.“ „Khalid, Khalid!“ Doch keiner dieser Zeugen, kein Vielleicht habe er sie warnen wollen. Mensch in Kirkuk ahnte, dass Nadim, das Kind mit der Bombe um den Bauch, nicht allein gekommen war. untergegangen, Hunderte Gläubige strömten zur blauen Niemand rechnete damit, dass Nadims Bruder, Khalid, ein Moschee neben dem Marktplatz, da näherte sich, unbe- Junge von 13 Jahren, im Augenblick von Nadims Fest- merkt, aus einer der engen Backsteingassen, ein dünner nahme auf eine zweite Moschee zulaufen würde, nur in Junge mit schwarzem Haar und schmalen Schultern. einem anderen Viertel, mit einem weißen Trikot am Leib und der gleichen Sprengweste darunter. Ihre Explosion, Nadim, 12 Jahre alt, ging vorbei an Imbissläden und so beschwören es Einwohner noch Wochen danach, war Handyshops, an Gemüseständen und Schmuckgeschäf- in der ganzen Stadt zu hören, sie hallte durch Kirkuk wie ten, überall standen Menschen. Er sah alte Männer, die ein Donner. vor den Teestuben Pfeife rauchten, junge Frauen, die Gewürze oder Kleider kauften, Kinder in seinem Alter, die Die Brüder Nadim und Khalid, heißt es dort heute, auf der Straße Fußball spielten. Er selbst trug ein viel zu kamen aus Mossul, um zu morden, als kaltblütige Killer, großes rot-blaues Trikot des FC Barcelona, Rückennum- Kämpfer des „Kalifats“. Dabei waren sie einmal einfach mer 10, Aufdruck „Messi“. Die Ärmel, so sollte später im nur Jungen, die Söhne eines Bauern, geboren im Irak. Terrorbericht der Polizei von Kirkuk stehen, reichten über seine Hände, der Schnitt auffällig weit für seinen Körper; Die Geschichte von Nadim und Khalid ist die Ge- „weit genug, um etwas Schweres darunter zu verstecken“. schichte zweier Kinder, die als Waffen benutzt wurden. 22 Peter Scholl-Latour Preis 2018
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