30 Jahre Sächsische Impfkommission
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MEDIZINGESCHICHTE 30 Jahre Sächsische Impfkommission Vor 30 Jahren, am 31. Juli 1991, wurde die Sächsische Impfkommission ge gründet. Bis heute ist sie mit ihrem Aufgabenprofil die einzige Impfkom mission auf Landesebene in Deutsch land. Auch im aktuellen „Handbuch der Impfpraxis“ [1] wird sie als einzige Impfkommission neben der „Ständigen © SLUB/Deutsche Fotothek/Weber, Gerhard Impfkommission am RKI (STIKO)“ ge nannt. Deren 30. Gründungsjubiläum sowie die Diskussionen über Masern- oder Corona-Schutzimpfungen sind ein guter Anlass, die Entwicklung dieses wichtigen sächsischen Beratungsgre miums für die Prophylaxe von Infekti onskrankheiten und den gesamten Abb. 1: Grippeschutzimpfung in der Wasserglasfabrik Wurzen, 1984. Öffentlichen Gesundheitsdienst Sach sens vorzustellen. Öffentlicher Gesundheitsdienst sowie persönlichen Entscheidungsfreiheit ge nichtmedizinischen Vertretern. Die sehen (Abb. 1). Strafrechtliche Verfol Impfempfehlungen nichtmedizinischen Vertreter des MfGe gung von Impfverweigerung kam kaum In der DDR hat eine Beraterkommission haben die Vorlagen nicht wesentlich vor (Handbuch der Impfpraxis, 2020). des „Ministeriums für Gesundheits geändert oder gar verhindert. wesen“ (MfGe) fachlich-inhaltlich wie In der BRD (alt) galten von 1972 bis sprachlich Impfgesetze und Durchfüh Die „Anordnung zur Durchführung von 1990 andere Gesetze nach den Emp rungsbestimmungen formuliert. Diese Schutzimpfungen“ vom 1. Juni 1949 fehlungen der „Ständigen Impfkommis Kommission bestand aus zehn vom (Zentralverordnungsblatt, Teil 1-Jahr sion“ (STIKO) am Bundesgesundheits MfGe berufenen B-promovierten Ärz- gang 1949) war die erste Impfverfü amt (BGA). Pflichtimpfungen gab es, außer ten der Fachrichtungen Mikrobiologie, gung in der DDR. Es gab danach wei für die Pockenimpfung bis 1983, nicht. Pädiatrie, Infektiologie, Hygiene und tere gesetzliche Regelungen alle zwei bis fünf Jahre mit Neuerungen und Politische Wende 1989/1990 Erweiterungen. Sehr viele Impfungen Zwischen dem Tag des „Mauerfalls“ in waren in der DDR Pflichtimpfungen Berlin vom 9. zum 10. November 1989 nach den gesetzlichen Vorgaben, wie bis zum Tag der Wiedervereinigung zum Beispiel in der „Anordnung über Deutschlands am 3. Oktober 1990 Schutzimpfungen im Kindes- und waren die gesellschaftspolitischen Jugendalter vom 3. August 1984“ (Ge Strukturen, besonders auch im Öffent setzblatt der DDR Teil I, Nr. 25 vom lichen Gesundheitsdienst in der DDR, 18. September 1984). Dem zuständigen wegen vieler Um- beziehungsweise Ministerium für Gesundheitswesen der Wegzüge in die BRD oder Entlassungen DDR (MfGe) wurden diese Impfempfeh unübersichtlich und eingeschränkt. Ein lungen wissenschaftlich begründet von Beispiel: Der Autor wurde als damaliger der „Beraterkommission für Impffra „Leiter der Abteilung Mikrobiologie und gen“ vorgelegt. Die Pflicht zur Impfung Virologie“ am Bezirks-Hygiene-Institut © Archiv galt in der DDR als Ausdruck staatlicher Karl-Marx-Stadt wegen einer „Auffor Gesundheitsfürsorge und wurde von derung zur Stellungnahme an den Abb. 2: 1. Staatsminister für Gesundheit, Soziales und Familie des Freistaates Sachsen, der Bevölkerung weitgehend akzeptiert FDGB“ (FDGB = Freier Deutscher Ge Dr. rer. nat. Hans Geisler und weniger als Einschränkung der werkschaftsbund) seiner 50 Mitarbeiter Ärzteblatt Sachsen 8|2021 37
MEDIZINGESCHICHTE am 1. Oktober 1989 wegen „staats feindlicher Haltung“ am 7. Oktober 1989 mündlich vom Bezirksarzt seiner „leitenden Stellung als Bezirksepide miologe“ entbunden [2]. Da jedoch kein anderer verantwortlicher Mediziner zur Verfügung stand und laut Bezirksarzt „kein Gefängnisplatz mehr frei“ war, arbeitete er in seiner Stellung einfach weiter. 1990 kam die schriftliche Aufforderung an die Abteilung für Gesundheit und Soziales im Bezirk Chemnitz die Impf empfehlungen der „Ständigen Impf kommission“ (STIKO) am Bundesge sundheitsamt (BGA) zu übernehmen. Das wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, das die Impfanweisungen der DDR moderner waren. Nach langer Kontroverse mit den Vorsitzenden und Juristen der Bezirksverwaltungsbehör de Chemnitz urteilten diese, dass in der föderativen Bundesrepublik Schutz impfungen nur durch das jeweilige Bundesland und nicht durch den Bund selbst empfohlen werden können (BSeuchG §14 [3], jetzt IfSG §20 [3]). Gründung der „Sächsischen Impfkommission“ (SIKO) Dies war der Grund, weshalb nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 auch auf Drängen und Bitten vieler praktisch tätigen Ärzte im neuen Frei staat Sachsen eine Regelung mit dem neuen Staatsminister für Soziales, Gesundheit und Familie, Dr. rer. nat. Hans Geisler (Abb. 2), gefunden werden musste (Brief vom 28. Januar 1991 „Dringlichkeit einer eigenen Empfehlung für staatlich empfohlene Impfungen im Freistaat Sachsen“, Abb. 3). Bereits am 31. Juli 1991 wurde dann die „Sächsi sche Impfkommission“ (SIKO) berufen (Abb. 4). Die konstituierende Sitzung der SIKO fand unter Leitung des Vertre © Privatarchiv ters des Sächsischen Staatsministeri ums für Soziales, Gesundheit und Abb. 3: Brief vom 28. Januar 1991 zur „Dringlichkeit einer eigenen Empfehlung für staatlich empfohlene Familie (SMS), Dipl.-Med. Albrecht Ein Impfungen im Freistaat Sachsen“ bock, am 12. November 1991 in Dres 38 Ärzteblatt Sachsen 8|2021
MEDIZINGESCHICHTE den statt. Berufen wurden auf Initia tive des Autors Vertreter aus allen Fachdisziplinen und Wissenschaftsbe reichen, den beiden sächsischen Uni versitäten und allen Fachgesellschaf ten, die sich mit Schutzimpfungen wis senschaftlich beschäftigen und für die Durchführung zuständig waren. Nur so war und ist eine umfassende Regelung und Akzeptanz von Infektionsprophy laxe durch Impfungen für alle Perso nenkreise realisierbar. Und so ist es im Gegensatz zur STIKO bis heute. Geschäftsordnung der STIKO und SIKO Während die STIKO bis 2008 ohne eine eigene Geschäftsordnung und nur auf Basis der gesetzlichen Regeln des Bun desgesundheitsamtes tätig war, hat die SIKO bereits seit 1993 eine eigene Geschäftsordnung (Aufgaben, Mitglied schaft, Berufungen, Sitzungen, Be schlüsse et cetera). Durch den Staatsminister berufene Mitglieder der I. SIKO von 1991 bis 1995 waren: • Doz. Dr. sc. med. Siegwart Bigl, Landesuntersuchungsanstalt (LUA) © Privatarchiv Sachsen, Institut Chemnitz, • Dipl.-Med. Albrecht Einbock, SMS Dresden, Abb. 4: Brief vom 31. Juli 1991 zur Berufung in die Sächsische Impfkommission • Dr. med. Wolf-Dietrich Kirsch, Krankenhaus St. Georg, Infektionsklinik Leipzig, Sekretariat: Unterschiede in den • Dr. med. habil. Hans-Jürgen • Dr. med. Dagmar Kluge, LUA Chemnitz, Impfempfehlungen von Nentwich, Städtisches Krankenhaus • Dr. med. Gerlinde Fellmann, LUA SIKO und STIKO Kinderklinik Zwickau, Leipzig. Die Unterschiede in den Impfempfeh • Prof. Dr. med. habil. Wolfgang Raue, lungen der STIKO und SIKO haben sich Universitäts-Kinderklinik Leipzig, Die Vorsitzenden der SIKO: seit der Wiedervereinigung Deutsch • Dr. med. Günter Schaarschmidt, • 1991 bis 2008 Prof. Dr. med. habil. lands 1990 bis heute teilweise aufge Klinik für TBC und Lungenkrank Siegwart Bigl, hoben, dennoch gibt es sie noch. Diese heiten, Chemnitz, • 2009 bis 2020 Dr. med. Dietmar sind aus Vergleichen der jährlichen Ver • Doz. Dr. med. habil. Horst Todt, Beier und öffentlichungen der STIKO im „Epide Medizinische Akademie Carl-Gustav- • seit 2021 Dr. med. Thomas Grünewald. miologischen Bulletin“ und der SIKO Carus, Kinderklinik Dresden, „Empfehlungen der Sächsischen Impf • Dr. med. Wilfried Oettler, SMS Entsprechend der Geschäftsordnung kommission zur Durchführung von Dresden (für Dipl.-Med. Einbock werden alle vier Jahre die Mitglieder Schutzimpfungen im Freistaat Sachsen“ ab 1993). neu berufen. für jeden Fachmann ablesbar. Ärzteblatt Sachsen 8|2021 39
MEDIZINGESCHICHTE Die wichtigsten Unterschiede sind: • vor 1990 grundsätzlich zweimalige PROF. DR. MED. HABIL. SIEGWART BIGL Masernimpfung als Pflichtimpfung (Pflicht zur Wende abgeschafft). • 1964 bis 1968 Facharztweiterbildung am „Hygiene-Institut Masernimpfpflicht erst wieder neu Karl-Marx-Stadt“ (heute Chemnitz) zum „Facharzt für Mikrobiologie seit 2021, und Infektionsepidemiologie“ • eine generelle Impfempfehlung • Tätigkeit in Hygienedisziplinen, wie Trink- und Abwasserunter gegen Pertussis, Hepatitis A und suchungen, Lärm und Geruchsbelästigungen, Hygiene in Influenza in jedem Alter für Kinder Kindereinrichtungen und Schulen uns so weiter und Erwachsene (entsprechend der • 1978 bis 1990 als „Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin“ und Impfstoffzulassung), „Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie“ mit • seit dem 1. Januar 2008 Rotavirus anderen medizinischen Fachspezialisten (Prof. Dr. Dittmann, impfung für Kinder (STIKO erst seit Prof. Dr. Ocklitz, Frau Prof. Dr. Thilo, Dr. Müller, Frau Dr. Hülse und Juli 2013), anderen) fachlicher Berater des „Ministeriums für Gesundheits • Meningokokkenimpfung Typ B und wesen“ (MfGe) der DDR und ab 1987 in der „Beraterkommission” Meningokokkenimpfung Typ A, C, W des MfGe und Y für alle Kinder statt nur C, • Initiator und Mitbegründer der Sächsischen Impfkommission (SIKO) • simultane Tetanusimpfung gegen sowie deren Vorsitzender von 1991 bis 2008 Tetanus bei allen Verletzungen • 1998 bis 2007 Berufenes Mitglied der Ständigen Impfkommission Ungeimpfter und anderer. (STIKO) • 1990 bis 2003 Abteilungsdirektor Humanmedizin bei der Die Unterschiede führten zu verschie Landesuntersuchungsanstalt Sachsen, Institut Chemnitz denen Erkrankungsraten [3] aber im • 1992 bis 2003 Vizepräsident und von 1992 bis 1993 sowie von 1997 gegenseitigen fachlichen Verhalten zu bis 1999 Präsident der Landesuntersuchungsanstalt Sachsen keinen ernsthaften Folgen. Die SIKO- Empfehlungen waren fast immer um fangreicher und oft einige Jahre früher B-Impfungen und Meningitis A, C, W135, 30 Jahren ist zurückzuführen auf die als die STIKO-Empfehlungen, außer zur Y-Impfung statt nur monovalent berufenen Mitglieder aus Praxis und Wende, wo es im Osten einzelne Meningitis C-Impfung. Dies waren aber Wissenschaft sowie den Organisatoren moderne Impfstoffe noch nicht genü keine echten Widersprüche. Die Unter der zahlreichen Impffortbildungsveran gend gab, wie zum Beispiel Hepatitis B schiede zwischen den Impfempfehlun staltungen, besonders auch dem jährli oder Mumpsimpfstoff. Dies ist doch gen STIKO und SIKO wurden zudem chen Leipziger Impftag. baldigst behoben worden. immer auf Impftagungen besprochen. Die eingangs beschriebenen Unter Die SIKO war fast immer im Impfum So zum Beispiel auf dem 20. Sächsi schiede im Öffentlichen Gesundheits fang der STIKO voraus. Sie hat sich von schen Impftag in Leipzig 2016. dienst zwischen Ost- und West- Anfang an an die USA-Angaben als Deutschland sind trotz gesamtdeut quasi Vorgaben gehalten (siehe „VACCI Schlussbemerkung scher Bemühungen („Fulda-Resolution“ NES“ Handbücher von Plotkin und Oren Die erfolgreiche Prophylaxe und Be von 1995) [4] leider bis heute nicht stein, 1988, 1994, 1999, 2004, 2008, kämpfung von Infektionskrankheiten behoben worden. Dies wird aktuell bei 2013, 2017) und die Jahresberichte. Dies bedarf einer komplexen wissenschaft der Bewältigung der Corona-Pandemie wurde von allen unterschiedlichen lich begründeten und staatlich koordi besonders deutlich. ärztlichen Berufsgruppen in der SIKO nierten und kontrollierten Vorgehens Alle Einzelheiten der Unterschiede in im Detail besprochen. Konsequenzen weise. Dies ist im Freistaat Sachsen den Impfempfehlungen SIKO/SIKO in den gab es gelegentlich von manchen nach der Wiedervereinigung 1990 mit Jahren seit 1990 können auf Anfrage vom Krankenkassen wegen der Bezahlung. der Gründung einer „Sächsischen Impf Autor nachgeliefert werden [3, 5 – 7]. Widersprüchlich waren diesbezüglich kommission“ (SIKO) am 31. Juli 1991 vor allem die oft jahrelangen früheren trotz oder gerade wegen der politi Literatur unter www.slaek.de ➝ Standardimpfempfehlungen der SIKO schen Wirren in der Wiedervereini Presse/ÖA ➝Ärzteblatt gegenüber den nur Indikationsimpfun gungszeit 1990/1991 gelungen. Die Prof. Dr. med. habil. Siegwart Bigl, Chemnitz gen der STIKO, zum Beispiel Meningitis erfolgreiche Entwicklung der SIKO seit E-Mail: siegwart@bigl.de 40 Ärzteblatt Sachsen 8|2021
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