5/2020 Evangelische Zentralstelle für ...

Die Seite wird erstellt Wolfger Wunderlich
 
WEITER LESEN
5/2020
                                                    www.ekd.de
                                               www.ezw-berlin.de                 Materialdienst

                                                                                 Zeitschrift für Religions-
                                                                                 und Weltanschauungsfragen
             Materialdienst 5/2020                                               83. Jahrgang

             Thich Nhat Hanh: Vom vietnamesischen Reform-
             buddhismus zur weltweiten Intersein-Bewegung
             Die Gebetshausbewegung
             Hundert Jahre Yoga im Westen
             Antisemitismus bei „Black Lives Matter“
             Ein bremischer Pastor und die Grenzen der Toleranz
             Stichwort: Christlicher Zionismus (historisch)

                                                       ISSN: 0721-2402 H 54226

MdEZW_5_2020_Umschlag.indd Alle Seiten                                                                                 15.09.20 11:59
INHALT

            IM BLICKPUNKT
            Liane Wobbe
            Thich Nhat Hanh und sein Sangha
            Vom vietnamesischen Reformbuddhismus zur
            weltweiten Intersein-Bewegung                                   331

            BERICHTE
            Michael Müller
            Die Gebetshausbewegung
            Entstehung und Praxis                                           345

            Alexander Benatar
            1920 bis 2020: Ein Jahrhundert im Zeichen
            des Kriya Yoga?                                                 352

            Kai Funkschmidt
            Der Antisemitismus in der „Black Lives Matter“-Bewegung
            und seine Ursprünge                                             358

            INFORMATIONEN
            Evangelikale Bewegung
            Vorwurf Volksverhetzung:
            Der bremische Pastor Olaf Latzel und die Grenzen der Toleranz   367

            Interreligiöser Dialog
            „Toleranz tut immer auch ein bisschen weh“:
            Juden und Muslime in interreligiösen Ehen                       371

            Esoterik
            Mit Virenkiller-Pendel und Zahlencodes gegen das Coronavirus    373

            Gesellschaft
            Erfolgreicher Protest gegen Antisemitismus auf Twitter          375
            Berliner Neutralitätsgesetz in der Kritik                       376

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 329                                                      15.09.20 11:58
Jehovas Zeugen
            Schweizer Gericht erlaubt grundlegende Kritik an Jehovas Zeugen   378

            Psychotherapie
            Erfahrungsbericht einer Patientin von Traumatherapie
            bei „Ritueller Gewalt“                                            379

            Evangelisations- und Missionswerke
            Family Broadcasting Corporation stößt Kurzwellenstation ab,
            eine andere Radiomission macht weiter                             382
            Radiomission: „Word of Deliverance“                               383

            In eigener Sache
            Friedmann Eißler scheidet aus der EZW aus                         384

            STICHWORT
            Jeannine Kunert
            Christlicher Zionismus (historisch)                               386

            BÜCHER
            Matthias Roser
            „Schöpfungswissenschaft“ an evangelikalen Bekenntnisschulen
            Eine religionspädagogische Analyse                                395

            Julia Bernstein
            Antisemitismus an Schulen in Deutschland
            Befunde – Analysen – Handlungsoptionen                            397

            Victoria Hegner
            Hexen der Großstadt
            Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin                       400

            Rebecca Moore
            Beyond Brainwashing
            Perspectives on Cult Violence                                     403

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 330                                                        15.09.20 11:58
Kai Funkschmidt
            Der Antisemitismus in der „Black Lives Matter“-
            Bewegung und seine Ursprünge

            Anders als in Deutschland wird in englisch- und französischsprachigen Medien
            zunehmend Kritik an starken antisemitischen Zügen der „Black Lives Mat-
            ter“-Bewegung (BLM) laut. Die BLM-Proteste, die nach dem Tod des Afroameri-
            kaners George Floyd bei seiner Verhaftung Ende Mai in Minneapolis begannen,
            führten unter anderem wegen der aktiven Unterstützung der „Antifa“ vielerorts
            zu Gewaltausbrüchen, bei denen in den USA nicht nur viele Menschen ermordet
            wurden, darunter eine ganze Reihe (auch schwarzer) Polizisten und eine junge
            Mutter, die den Slogan „Black Lives Matter“ mit „All Lives Matter“ beantwortet
            hatte.1 In ihrem Verlauf artikulierte sich auch Judenhass, und jüdische Einrich-
            tungen wurden angegriffen.

            BLM wurde 2013 von drei schwarzen Aktivistinnen gegründet. Auslöser ihres
            Protests war der Freispruch eines Nachbarschaftswächters, der einen unbewaff-
            neten schwarzen Jugendlichen erschossen hatte. Der Protest richtet sich gegen
            einen ihrer Ansicht nach systemischen, weit verbreiteten Rassismus und gegen
            rassistisch motivierte Gewalt der amerikanischen Polizei speziell gegen Schwarze.
            Denn nur Rassismus könne erklären, dass schwarze Amerikaner, bezogen auf
            ihren Bevölkerungsanteil, häufiger von der Polizei getötet werden als Weiße,
            Latinos und Asiaten. Diese Schlussfolgerung ist allerdings aus mehreren Gründen
            nicht stichhaltig, wie viele Studien zeigen.2

            1 Vgl. Alexander Wendt: Sucht ihre Namen, PublicoMag, 30.7.2020, www.publicomag.com/
              2020/07/sucht-ihre-namen (Abruf der Internetseiten: 10.9.2020).
            2 Die vermeintlich überproportionale Todesrate von Schwarzen ist eher eine einzelfallba-
              sierte „gefühlte Wirklichkeit“ als statistisch belegt. (George Floyd vergleichbare Fälle ex-
              zessiver Polizeigewalt gegen Weiße wie z. B. Tony Timpa erfahren weit weniger Aufmerk-
              samkeit, was die Wahrnehmung verzerrt.) Zahlreiche seit den 1970er Jahren unabhängig
              durchgeführte Studien staatlicher und universitärer Einrichtungen widersprechen der
              Annahme, die Polizei töte unverhältnismäßig mehr Schwarze (zuletzt Universitäten Was-
              hington 2015, Maryland 2019, Minnesota 2019). Der Unterschied verschwindet bzw. ver-
              wandelt sich sogar ins Gegenteil, wenn man ihn sinnvollerweise nicht in Beziehung zum
              Bevölkerungsanteil, sondern zur schwarzen Gewaltkriminalitätsrate und den häufigeren
              Polizeikontakten setzt. Logisch: Die Polizei tötet auch mehr Männer als Frauen und mehr
              Junge als Alte – aber nicht aus Männer- und Jugendhass. Einige Studien kommen sogar
              zur gegenteiligen Einschätzung: Polizisten (insbesondere weiße) sind, möglicherweise aus
              Sorge vor Rassismusvorwürfen, beim Schusswaffeneinsatz gegen Schwarze zögerlicher als
              gegen Weiße, ein als „reverse racism“ bezeichnetes Phänomen (Lois James, Uni Washing-

358          Materialdienst der EZW. Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen, 83/5 (2020), 358-366

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 358                                                                                      15.09.20 11:58
Zuletzt war die BLM-Bewegung in Straßenprotesten 2016 nach einem weiteren
            Todesfall aufgeflammt. Im Sommer 2020 erfährt sie erstmals eine große gesell-
            schaftliche, auch kirchliche Unterstützung und verbreitet sich auch international.

            Angriffe und Parolen gegen Juden

            Die meisten antisemitischen Vorfälle fanden in den USA statt. In Los Angeles
            wurden jüdische Geschäfte zerstört und geplündert und die Statue des schwedi-
            schen Judenretters Raoul Wallenberg (1912 – 1947) geschändet. Mehrere Syna­
            gogen wurden beschädigt und mit „Free Palestine! Fuck Israel!“ besprüht.3
            Am 1. Juli mischten sich bei Demonstrationen in Washington Hasschöre gegen
            Israel, das „Kinder ermordet“, mit den BLM-Parolen, während in San Diego jüdi-
            sche Einrichtungen wie das Haus der Studentenorganisation Hillel angegriffen
            wurden.4 Der populäre Rapper Ice Cube bekannte sich zu BLM, indem er unter
            großem digitalen Beifall eine antisemitische Karikatur im Stil des „Stürmers“
            postete und dazu schrieb: „All we have to do is stand up [against them] and
            their little game is over.“ Ice Cube feierte auch Louis Farrakhan, den Gründer
            der „Nation of Islam“ (auch „Black Muslims“ genannt), einer von Judenhass und
            antiweißem Rassismus geprägten neureligiösen Gruppe. Zahlreiche Stimmen
            innerhalb von BLM sehen Parallelen zwischen dem „Genozid“ und den „Lyn-
            chings“ der amerikanischen Polizei an Schwarzen und Israels Behandlung der
            Palästinenser, die sie ebenfalls als Völkermord bezeichnen.

            Viele Medien übernahmen die Behauptung, in der Ausbildung amerikanischer
            Polizisten durch israelische Kollegen werde auch die „Methode“ gelehrt, an der

              ton 2015). Der selbst im Schwarzenghetto aufgewachsene Harvard-Ökonom Roland Fryer
              kommentierte sein Forschungsergebnis so: „Das ist das überraschendste Resultat meiner
              Karriere“ (An Empirical Analysis of Racial Differences in Police Use of Force, NBER Working
              Paper No. 22399, July 2016, www.nber.org/papers/w22399). Inzwischen erheben eine Reihe
              schwarzer Intellektueller öffentlich ihre Stimme gegen BLM. Vgl. Marc Neumann: Denkt
              genauer nach! Warum sich auch afroamerikanische Intellektuelle gegen den modischen An-
              tirassismus stellen, 30.6.2020, www.nzz.ch/feuilleton/afroamerikanische-intellektuelle-
              gegen-black-lives-matter-ld.1563701. Unabhängig davon sind die Fragen nach der Härte
              der amerikanischen Polizei und danach, wie viel Rassismus es dort gibt. Statistiken zeigen
              Unterschiede, keine Motivationen.
            3 Kosher stores, synagogues, vandalized and looted in LA protests, Jerusalem Post, 2.6.2020,
              www.jpost.com/diaspora/kosher-stores-synagogues-vandalized-and-looted-in-ongoing-
              la-protests-629895.
            4 Vgl. Ari Hoffman: Anti-Israel demonstrations are ruining Black Lives Matter, 2.7.2020,
              https://forward.com/opinion/450089/anti-israel-demonstrations-are-ruining-black-
              lives-matter.

            5/2020                                                                                                 359

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 359                                                                                15.09.20 11:58
George Floyd bei seiner Verhaftung gestorben sei (ein Polizist hatte minutenlang
            auf dessen Hals gekniet). Sogar die Evangelisch-Lutherische Kirche der USA
            (ELCUSA) habe dies in offiziellen Dokumenten verbreitet, bemängelt die „Jeru-
            salem Post“.5 Teilweise wird allein die Tatsache der Kooperation von israelischer
            und amerikanischer Polizei als Kritikpunkt angeführt. Dies impliziere, dass die
            israelische Polizei routinemäßig menschenrechtswidrige, ja mörderische Gewalt
            anwende. Durch diese Behauptung wird, kritisiert die Zeitung, eine jüdische
            Mitverantwortung für die Härte der amerikanischen Polizei insinuiert – eine
            Variante des alten Gerüchts über die jüdische Weltverschwörung, die hinter
            allem Übel stecken soll. Die amerikanische Polizei bestreitet im Übrigen, dass
            ein Verhalten, das in diesem Fall zu einer Mordanklage führte, in der Ausbildung
            gelehrt werde.

            Die Allianz von BLM und BDS

            Auch international zeigten sich antisemitische Züge von BLM. Sie sind teils auf
            den Schulterschluss mit arabischer Israelkritik und deren linksextremen Unter-
            stützern zurückzuführen, die mit dem Slogan „Palestinian Lives Matter“ auf den
            „Black Lives Matter“-Zug aufsprangen. In Paris schwenkten Demonstran­ten im
            Juni auf einer Antirassismus-Kundgebung Palästinenserflaggen und zeigten
            Plakate mit den Aufschriften „Israel, Laboratorium der Polizeigewalt“, „Wer
            ist der Terrorist?“, „Palästina den Palästinensern! Boykottiert Israel“. Über den
            Place de la République scholl wie in den letzten Jahren immer häufiger der Ruf
            „Dreckige Juden!“. Der Chef der linksextremen Partei „La France Insoumise“,
            Jean-Luc Mélenchon (mit fast 20 % Stimmenanteil dritter Platz bei der Präsi-
            dentschaftswahl 2017), erklärte zum wiederholten Male in solchen Fällen, dies
            sei nicht antisemitisch zu verstehen.

            Neben der engen Verbindung zur Antifa und zur linken Szene fördert auch das
            Zusammengehen mit der israelfeindlichen BDS-Kampagne (Boycott, Divestment,
            Sanctions) die antisemitischen Züge von BLM. Die beiden Bewegungen erklären
            sich seit Jahren gegenseitig ihre Solidarität und marschieren in den Demos der
            jeweils anderen mit. Die deutsche BDS-Bewegung setzt den mutmaßlichen Mord
            an einem wehrlosen Schwarzen mit dem angeblich üblichen Umgang Israels mit
            Arabern gleich:

            5 Celia Jean: Evangelical Lutheran Church implicates Israel in George Floyd death, 2.7.2020,
              www.jpost.com/israel-news/evangelical-lutheran-church-implicates-israel-in-george-flo
              yd-death-633706.

360                                                                                             MdEZW

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 360                                                                               15.09.20 11:58
„So, wie die israelischen Besatzungstruppen dazu dienen, das Apartheidsystem gegen
                die Palästinenser*innen weiter zu verfestigen, so dienen die US-Polizeikräfte nur
                dazu, das System der Vormachtstellung und Privilegien der US-amerikanischen
                Weißen weiter zu verfestigen … An unsere schwarzen Brüder und Schwestern: Eure
                Widerstandsfähigkeit angesichts der brutalen Entmenschlichung ist uns eine Quelle
                der Inspiration für unseren eigenen Kampf gegen das israelische Besatzungsregime,
                den Siedlerkolonialismus und die Apartheid.“
            Dabei würde „Israels Unterdrückungsregime“ die „indigene Bevölkerung Paläs-
            tinas mit bedingungsloser Unterstützung der US-Regierung … enteignen [und]
            ethnisch … säubern“.6

            Antisemitismus bei BLM ist dabei kein neues Phänomen. BLM-Mitgründerin
            Patrisse Cullors war schon 2015 Mitunterzeichnerin der Erklärung „Black for
            Palestine“. Darin werden „Solidarität mit dem palästinensischen Kampf um
            Befreiung“ und ein Ende von Israels „Besatzung Palästinas“ gefordert. Außer-
            dem wird um Unterstützung für die Boykottbewegung BDS geworben.7 Am
            1.8.2016 publizierte BLM eine Programmschrift8, in der man uneingeschränkte
            Unterstützung für die „Befreiung Palästinas“ und für BDS sowie die Ablehnung
            des „Apartheidstaats Israel“ erklärte. Dieser verübe mit US-amerikanischer
            Unterstützung einen „Genozid“ am palästinensischen Volk. „Black Lives Mat-
            ter and Palestine: A historic alliance“ titelte der New Yorker Professor Hamid
            Dabashi dazu auf Al-Jazeera und identifizierte die „Siedlerkolonie in Israel“ mit
            den amerikanischen Juden in ihrem „imperialen Lebensraum“.9 Dieses BLM-Pa-
            lästina-Bündnis bezeichnet sich teilweise als „Weaponized Intersectionality“
            (bewaffnete Intersektionalität); seine Forderungen laufen in ihrer Konsequenz
            auf eine Auflösung des Staates Israel hinaus.

            Das BLM-Manifest zog 2016 scharfe Kritik jüdischer Organisationen auf sich.
            Amerikanische Juden waren von der Entwicklung auch deshalb enttäuscht, weil

            6 BDS Minneapolis: Wir können nicht atmen, bis wir frei sind! Palästinenser*innen ste-
              hen in Solidarität mit den Schwarzen in den USA, 30.5.2020, http://bds-kampagne.
              de/2020/05/30/wir-koennen-nicht-atmen-bis-wir-frei-sind-palaestinenserinnen-stehen-
              in-solidaritaet-mit-den-schwarzen-in-den-usan.
            7 www.blackforpalestine.com/read-the-statement.html#.
            8 The Movement for Black Lives. Policy Demands for Black Power, Freedom & Justice, 2016.
              Das Dokument ist in seiner ursprünglichen Gestalt heute nicht mehr in der damaligen
              Quelle auffindbar (https://policy.m4bl.org/platform), wird aber in vielen zeitgenössischen
              Texten zitiert.
            9 Hamid Dabashi, 6.9.2016, www.aljazeera.com/indepth/opinion/2016/09/black-lives-mat
              ter-palestine-historic-alliance-160906074912307.html. Der Autor ist Iranistik-Professor
              in New York.

            5/2020                                                                                                361

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 361                                                                               15.09.20 11:58
das organisierte Judentum ebenso wie viele einzelne Juden jahrzehntelang zu
            den aktivsten Unterstützern der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings,
            ihrer Vorläufer und später von BLM gehört hatten.10

            Juden zwischen den Stühlen

            Paradoxe Auswirkungen hat die Entwicklung auf schwarze Juden, die sich
            plötzlich zwischen den Fronten wiederfinden. Sie sind bei BLM unerwünscht,
            unter anderem, weil Juden angeblich die Medien kontrollieren. Als die englische
            Journalistin Nadine Batchelor-Hunt einen antisemitischen Tweet der britischen
            BLM-Bewegung kritisierte, schrieb sie explizit im Duktus der BLM-typischen
            Identitätspolitik „as a Black Jewish woman“. Sie erklärte ihre grundsätzliche
            Unterstützung von BLM, war aber mit einer bestimmten Äußerung nicht einver-
            standen.11 Daraufhin wurde sie als „white supremacist zionist whore“ beschimpft.
            Als sie darüber berichtete, nahmen die Beschimpfungen zu. Ähnliches erlebte die
            bekannte Reformrabbinerin Susan Talve aus St. Louis. Sie unterstützt prominent,
            sogar bei religiösen Feiern im Weißen Haus, BLM und viele andere politisch kor-
            rekte Anliegen (gegen Rassismus, „Islamophobie“, „Transphobie“ usw.). Aber als
            sie sich in Kommentaren zu BLM weigerte, das Existenzrecht Israels infrage zu
            stellen, wurde ihr aus der Bewegung Unterstützung von Genozid und Apartheid
            vorgeworfen, und sie erhielt Todesdrohungen.12 Trotz solcher Vorfälle halten
            viele Juden an ihrer öffentlichen Unterstützung von BLM fest.

            Die lange Geschichte jüdisch-schwarzer Spannungen

            Für Teile der BLM-Bewegung sind Juden jeder Hautfarbe immer schon „Wei-
            ße“ und damit der natürliche Feind. Sie knüpfen dabei an ältere Traditionen
            von Israelfeindschaft und Antisemitismus in der amerikanischen schwarzen
            Community an.

            10 Vgl. AJC: Movement for Black Lives Disparages Jews, Israel, 5.8.2016, www.ajc.org/news/
               ajc-movement-for-black-lives-disparages-jews-israel.
            11 As a Black Jewish woman, here’s why I thought that Black Lives Matter UK tweet was an-
               tisemitic, Glamour, 3.7.2020, www.glamourmagazine.co.uk/article/black-lives-matter-
               antisemitic-tweet.
            12 Vgl. Nathan Guttman / Britta Lokting: Can Jews Back #BlackLivesMatter and Be Pro-Is-
               rael?, Forward, 21.12.2015, https://forward.com/news/327466/can-jews-back-black-lives-
               matter-and-be-pro-israel. Trotzdem unterstützt sie BLM weiter (Susan Talve / Sarah Ba-
               rasch-Hagans: 10 Rules for Engagement for White Jews Joining the #BlackLivesMatter
               Movement, 2020, www.truah.org/resources/10-rules-for-engagement-for-white-jews-joi
               ning-the-blacklivesmatter-movement.

362                                                                                            MdEZW

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 362                                                                             15.09.20 11:58
Das antiisraelische Bündnis schwarzer und arabischer Aktivisten begann mit-
            ten im „Civil Rights Movement“ 1967 mit dem Sechstagekrieg. Damals fingen
            schwarze Bürgerrechtler an, die Araber als „People of Color“ zu betrachten und
            sich deswegen mit ihnen im Nahostkonflikt solidarisch zu erklären. Martin
            Luther King kritisierte wenige Tage vor seinem Tod diese Haltung, die einen
            politischen Konflikt im Nahen Osten zu Unrecht in Rassekategorien fasse:

                „The responses of the so-called young militants does not represent the position of the
                vast majority of Negroes. There are some who are color consumed and see a kind of
                mystique in being colored, and anything non-colored is condemned.“13

            Ebenfalls 1967 hatte James Baldwin – ein Klassiker der amerikanischen Literatur
            des 20. Jahrhunderts, der heute zum Schulkanon gehört – knapp konstatiert:
            „Negroes Are Anti-Semitic Because They‘re Anti-White.“14 Ausdrücklich recht-
            fertigte er in einem langen, mit antisemitischen Stereotypen durchsetzten Artikel
            in der linksliberalen New York Times den schwarzen Hass (sic!) auf Juden, da
            Juden die Ausbeuter und Kapitalisten seien. Er erklärt „den Juden“ zum Teil
            des allgemeinen Feindes, der „Weißen“. Zugleich aber richtet sich dann auf den
            Juden ein ganz spezieller Hass innerhalb dieses allgemeinen Hasses auf Weiße.

                „He is singled out by Negroes not because he acts differently from other white men, but
                because he doesn’t ... And he is playing in Harlem the role assigned him by Christians
                long ago: he is doing their dirty work.“

            Besonders wirft Baldwin den Juden vor, den Holocaust und ihr eigenes Leiden
            zu instrumentalisieren, ein bis heute verbreitetes antisemitisches Motiv:
                „The Jew does not realize that the credential he offers, the fact that he has been despised and
                slaughtered, does not increase the Negro’s understanding. It increases the Negro‘s rage.“

            Juden seien sogar dann hassenswert, wenn sie die schwarze Bürgerrechtsbewe-
            gung unterstützen, denn sie seien ja Teil des weißen kapitalistischen Systems –
            eine Argumentation, die sich in der BLM-Bewegung wiederholt.

            Die gespannten Beziehungen zwischen Schwarzen und Juden in den USA boten
            gelegentlich auch Anlass für gewaltsame Konflikte. In den „Crown Heights

            13 „Conversation with Martin Luther King”, in: Conservative Judaism. The Rabbinical As-
               sembly 22/3 (1968). Vgl. Maurianne Adams / John Bracey (Hg.): Strangers and Neigh-
               bors. Relations between Blacks and Jews in the United States, Cambridge 2000.
            14 James Baldwin: Negroes Are Anti-Semitic Because They’re Anti-White, New York
               Times, 9.4.1967, https://movies2.nytimes.com/books/98/03/29/specials/baldwin-anti
               sem.html. Nächste Zitate ebd.

            5/2020                                                                                                       363

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 363                                                                                      15.09.20 11:58
Unruhen“ im August 1991 griffen schwarze Mobs in einem schwarz-jüdisch
            gemischten Stadtteil Brooklyns drei Tage lang fast ungehindert orthodoxe Juden,
            jüdische Einrichtungen und Geschäfte an, zwei Männer wurden gelyncht.

            Baldwins Haltung wirkt bis heute fort. Die „Anti-Defamation League“, die Anti-
            semitismus dokumentiert, resümierte noch 1998 aufgrund von Umfrageergeb-
            nissen, dass ausgeprägter Antisemitismus unter Schwarzen viermal stärker
            verbreitet sei als unter Weißen, wobei auch hier wieder ökonomische Faktoren
            eine Rolle spielen: je niedriger der ökonomische Status und der Bildungsgrad,
            desto ausgeprägter der Antisemitismus – allerdings immer höher als bei ver-
            gleichbaren Weißen.15

            In einer nachdenklichen Kolumne fragte kürzlich der amerikanische jüdische
            Historiker Gil Troy, warum nun auch BLM zu einem „jüdischen“, zu einem
            Antisemitismusthema geworden sei. Beide Gruppen hätten Diskriminierungs-
            erfahrungen gemacht und stünden einander politisch nahe, nämlich fest im
            Lager der Demokratischen Partei. Er führt also genau jene Parallele ins Feld, die
            Baldwin 1967 den Juden so vehement vorgeworfen hatte, weil Juden damit zu
            Unrecht eine Leidenserfahrung beanspruchen, die sie den Schwarzen gleichstel-
            len solle. Troy fragt selbstkritisch auch nach jüdischen blinden Flecken bei der
            Wahrnehmung des „schwarzen Antisemitismus“ und nach jüdischem Rassismus
            gegen Schwarze. Er konstatiert aber einen wesentlichen Unterschied: Schwarzer
            Antisemitismus gehöre zum Mainstream und werde von einflussreichen Eliten
            gestützt. Beides könne man vom jüdischen Rassismus nicht sagen. Dieser gelte
            gesamtgesellschaftlich und innerhalb der jüdischen Gemeinde als inakzeptabel.16

            Neureligiöse Quellen des schwarzen Antisemitismus

            Neben der rassisch und ökonomisch fundierten Tradition gibt es einen eigen-
            ständigen religiös begründeten schwarzen Antisemitismus, der die üblichen
            antijüdischen Vorwürfe um spezifische Elemente ergänzt und sich von anderen
            Formen unterscheidet.

            15 www.jewishvirtuallibrary.org/adl-survey-finds-anti-semitism-high-in-black-commu
               nity.
            16 „Black antisemitism is mainstreamed – and validated by some influential elites; Jewish
               racism isn’t“ (Gil Troy: How today’s black and white issue became a Jewish issue, too,
               Jerusalem Post, 17.6.2020, www.jpost.com/opinion/how-todays-black-and-white-issue-
               became-a-jewish-issue-too-631710).

364                                                                                           MdEZW

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 364                                                                            15.09.20 11:58
Neureligiöse Bewegungen wie Farrakhans „Nation of Islam“ (muslimisch inspi­
            riert, gegründet 1930) und die „Black Hebrew Israelites“ (jüdisch-christlich
            inspiriert, um 1900 entstanden) entwickelten jeweils eine eigenständige ideolo-
            gische Grundlage dieser besonderen Form des Antisemitismus. Sie behaupten
            unter anderem, die aschkenasischen (westeuropäischen) weißen Juden hätten
            ihnen, den Schwarzen, ihr kulturelles Erbe gestohlen. Denn die eigentlichen
            Nachfahren der alten Israeliten des Nordreichs, der „verlorenen zehn Stämme
            Israels“ (2. Kö 17,6), also die wahren Semiten, seien sie selbst – eine Form einer
            Substitutionstheologie.17 Teilweise erheben sie Anspruch auf den Besitz des
            Landes Israel bzw. Palästinas.

            Die Nation of Islam publizierte 1991, 2010 und 2016 eine dreibändige pseudo-
            wissenschaftliche Studie „The Secret Relationship Between Blacks and Jews“, in
            der unter anderem behauptet wird, Juden hätten den transatlantischen Sklaven-
            handel überproportional dominiert und steckten hinter einer Wiedergeburt des
            Ku-Klux-Klan. Beides ist nachweislich falsch; insbesondere die Rolle von Juden
            im Sklavenhandel und in der Sklavenhaltung im amerikanischen Süden ist von
            Historikern seit den 1960er Jahren untersucht worden, ohne dass Unterschiede
            zum Durchschnitt feststellbar waren.

            Während die Nation of Islam in militanter Tradition steht, sind die Black Hebrews
            eigentlich eine eher zurückgezogene Gemeinschaft. Nicht immer jedoch: Aus
            ihrem Umfeld kam der Anschlag auf ein koscheres Lebensmittelgeschäft in Jer-
            sey City im Dezember 2019, bei dem ein Ehepaar vier Menschen erschoss. Der
            Zusammenhang ist hierzulande wenig bekannt, weil fast alle Medien da­rauf ver-
            zichteten, den Bezug zu den Black Hebrews zu erwähnen, die Täter zu beschrei-
            ben oder Bilder zu zeigen, sodass der Eindruck entstehen konnte, es habe sich
            um einen rechtsextremen Anschlag gehandelt.18 Der Journalist Dov Hikind
            interviewte und filmte in der schwarzen Menschenmenge, die sich unmittelbar
            nach den Morden vor dem betroffenen Geschäft versammelte. Mehrere aufge-

            17 Die Black Hebrews bzw. Black Hebrew Israelites sind eine in den USA und Israel verbrei-
               tete jüdisch-christliche Neureligion, die weder von Christen noch von Juden als zugehö-
               rig anerkannt wird. Sie leben vegan und polygam und vertreten teilweise eine Ideologie
               von „black supremacy“. Die jüdische „Anti-Defamation League“ und die schwarze Bür-
               gerrechtsorganisation „Southern Poverty Law Center“ betrachten die Gemeinschaft als
               teilweise offen antisemitisch und rassistisch.
            18 Typisch etwa Zeit Online, 11.12.2019: Jüdischer Supermarkt wurde offenbar gezielt an-
               gegriffen, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-12/jersey-city-schiesserei-juedi
               sches-geschaeft-angriff.

            5/2020                                                                                              365

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 365                                                                             15.09.20 11:58
regte Stimmen äußerten sich schreiend und hasserfüllt über „die Juden“, gaben
            ihnen selbst die Schuld an dem Anschlag und schienen die Morde zu bejubeln.19

            Schluss

            Bei alledem darf man nicht aus dem Blick verlieren, dass es beim Antisemitis-
            mus in BLM um einen extremistischen Flügel innerhalb der Bewegung und der
            schwarzen Community insgesamt geht. Ein Teil davon geht dem Augenschein
            nach eher auf das Konto weißer linksextremer BLM-Unterstützer. Sie sind eine
            substanzielle Gruppe, aber vermutlich doch eine Minderheit unter den schwarzen
            BLM-Aktivisten. Denn auch unter Afroamerikanern sympathisieren fast doppelt
            so viele mit Israel (48 %) wie mit den Palästinensern (27 %), was freilich deutlich
            unter den Werten für weiße christliche Amerikaner liegt.20 Diese vermutliche
            Mehrheit steht in der Tradition Martin Luther Kings, dessen Bewegung auf
            Gewaltfreiheit setzte und den viele Juden unterstützten. Wiederholt hatte er sich
            gegen Judenhass ausgesprochen und den jüdischen Beitrag zur Bürgerrechts-
            bewegung betont:

                „It would be impossible to record the contribution that the Jewish people have made
                toward the Negro’s struggle for freedom – it has been so great.“21

            Wie evangelikale weiße Christen fühlen sich auch viele Afroamerikaner aufgrund
            ihres Glaubens nicht zuletzt religiös mit Israel verbunden (vgl. das Stichwort
            „Christlicher Zionismus“ in diesem Heft, 386-394). Viele jener Schwarzen, die
            Israel und Juden hassen, neigen entweder zum Islam oder zum Linksextremis-
            mus. Ihr Leitbild ist nicht mehr Martin Luther King, sondern sind schwarze
            Antisemiten wie Malcolm X und Louis Farrakhan. Deren Bilder und Anden-
            ken werden auch 2020 noch von BLM-Demonstranten hochgehalten. Auch in
            Deutschland.

            Bis heute steht eine Distanzierung der BLM-Bewegung von ihren lautstarken und
            gewalttätigen antisemitischen Anteilen sowie von ihren BDS-Unterstützern aus.
            „Black Lives Matter“ ist eine ambivalente Bewegung, deren breite gesellschaftliche
            Akzeptanz nicht unproblematisch ist.

            19 Der Film: https://twitter.com/HikindDov/status/1204806510762741760.
            20 Vgl. https://news.gallup.com/opinion/polling-matters/247937/americans-views-israel-re
               main-tied-religious-beliefs.aspx; https://news.gallup.com/poll/189626/americans-views-
               toward-israel-remain-firmly-positive.aspx. Rate unter weißen Amerikanern: ca. 68 %.
            21 Martin Luther King: A Testament of Hope. The Essential Writings and Speeches of Mar-
               tin Luther King, Jr., New York 1990, 370.

366                                                                                           MdEZW

MdEZW_5_2020_Inhalt.indd 366                                                                            15.09.20 11:58
Sie können auch lesen