5 Gallipoli in der Erinnerungskultur - De Gruyter

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5 Gallipoli in der Erinnerungskultur
Warum ist die Schlacht von Gallipoli, die bereits Zeitgenossen als Nebenkriegs-
schauplatz oder unnötige „Sideshow“ betrachteten, nach nun mehr als hundert
Jahren immer noch von Bedeutung? Was wird warum von wem erinnert und wie
äußern sich die unterschiedlichen Narrative in den jeweiligen nationalen Kon-
texten der teilnehmenden Kombattanten bzw. deren heutiger Nachfahren? Diesen
Fragen muss eingehender nachgegangen werden, um die Tragweite und Bedeu-
tung, die Gallipoli heute offensichtlich noch besitzt, verstehen zu können. Wäh-
rend unumstritten scheint, dass die zu schnellen britischen Planungen und die
Unterschätzung des Gegners, Faktoren also, die oben bereits ausführlich ge-
schildert wurden, für die Niederlage des Britischen Empire verantwortlich waren,
wurden die Ereignisse auf der Halbinsel per se zur Basis ganz eigener Mythen, wie
etwa die Legendenbildung in Australien sowie in der Türkei, die ebenfalls ein-
gehender betrachtet werden müssen. Gerade in Australien hat die Begehung des
ANZAC-Tages am 25. April jeden Jahres eine ganz besondere Bedeutung, wobei
2015, also zum hundertsten Jubiläum der Landung australisch-neuseeländischer
Truppen auf der Halbinsel mehr als 10.000 Touristen aus diesen Ländern an den
Feierlichkeiten in der Türkei teilnahmen.¹ Darüber hinaus besitzen die Ereignisse
der Jahre 1915/16 einen ganz anderen historiographischen Stellenwert als etwa in
Deutschland und zahlreiche Untersuchungen halten das Interesse an Gallipoli als
Forschungssujet aufrecht.² Zudem wurde das Drama der ANZAC-Soldaten in der
Kunst und im Theater, wie etwa dem Stück „Einst auf Chunuk Bair“ (Once on
Chunuk Bair) von Maurice Shadbolt³, das in Neuseeland im April 1982 Premiere
feierte und 1992 verfilmt wurde, verarbeitet.
     Einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Entstehung solcher romanti-
sierenden Deutungen des Krieges hat im Falle Gallipolis vor allem die Beschaf-
fenheit des ehemaligen Kriegsschauplatzes selbst. Gerade die fälschlicherweise
angesteuerte ANZAC-Landungszone war von einem schwierigen Terrain geprägt,
in dem es keine Rückzugsmöglichkeiten für die Soldaten gegeben hatte, wodurch
eine extreme Gedrängtheit, dadurch aber auch ein Übermaß an Kameraderie,
sozusagen ein australisch-neuseeländisches „Wir-Gefühl“ angesichts der Enge
des Raumes und der geteilten Gefahren – etwa beim Schwimmengehen von einem
osmanischen Scharfschützen getötet zu werden – entstand.⁴ Ähnliche Entwick-

   Macleod, Gallipoli, S. 3 f.; Macleod, Reconsidering Gallipoli, S. 3 f.
   Genannt sei hier beispielsweise Frances, Gallipoli.
   Siehe dazu Wilson, Chunuk Bair.
   Macleod, Gallipoli, S. 2 f.

  OpenAccess. © 2020 Frank Jacob, publiziert von De Gruyter.             Dieses Werk ist lizenziert unter
der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.
https://doi.org/10.1515/9783110694772-005
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lungen sind gleichfalls auf osmanischer Seite nachzuweisen, wobei hier beson-
ders die Person Mustafa Kemals im Mittelpunkt der Legendenbildung steht. Mi-
litärisch betrachtet spielte die Erfahrung Gallipoli in der Zwischenkriegszeit in
strategietheoretischen Diskussionen, aber auch konkreten Landungsoperationen
wie etwa im Rifkrieg (1920 – 1926) bei Alhucemas in Marokko am 8. September
1925⁵ eine nicht zu unterschätzende Rolle.
     Im Hinblick auf die Auswirkungen Gallipolis darf ferner eine Auseinander-
setzung mit Winston Churchill und dessen Planungen und Abwägungen im
Zweiten Weltkrieg nicht fehlen, denn schließlich dürften seine Entscheidungen,
gerade wenn es um die alliierten Landungen in der Normandie geht, nicht un-
wesentlich von den Ereignissen der Jahre 1915/16 —und der anschließenden Er-
fahrung der öffentlichen Anprangerung für die britische Niederlage – geprägt
gewesen sein. Warum Gallipoli im Gegensatz dazu in Deutschland und der Türkei
heute wesentlich weniger im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, muss
ebenfalls diskutiert werden.

5.1 Frankreich

Der amerikanische Historiker und Experte für die Geschichte des Ersten Welt-
krieges, Jay Winter, bringt es auf den Punkt, wenn er feststellt, dass Gallipoli in der
französischen Historiographie lediglich eine „Nebenattraktion“ (sideshow) ist.⁶
Französische Historiker, wie etwa Max Schiavon, sprechen hingegen vom „De-
saster bei den Dardanellen“⁷ und stehen damit in einer Traditionslinie, die sich bis
in die Zwischenkriegszeit zurückverfolgen lässt.⁸ Dabei wurde die Bedeutung der
„Orientalischen Armee“ Frankreichs in der Öffentlichkeit lange vernachlässigt, da
die Westfront des Ersten Weltkrieges klar im Fokus der Aufmerksamkeit rangierte
und die Operationen bei den Dardanellen lediglich als koloniale Expedition
wahrgenommen wurden, die zudem nur eine enttäuschende und ebenso blutige
Erfahrung der französischen Soldaten während des Ersten Weltkrieges darstellte.⁹
Die Landungsoperation wird bis heute eher als eine „tragische Intervention“¹⁰
betrachtet, weshalb sie in der französischen Wahrnehmung nicht an prominenter

 Zu dieser Landungsoperation und der Rolle Gallipolis siehe Alvarez (Gallipoli).
 Winter, Divergences, S. 172.
 Schiavon (Front).
 Deygas, L’Armée, S. 9.
 Schiavon, Front, S. 17.
 Cochet, L’armée, S. 91.
5.1 Frankreich          119

Stelle steht, wenn es darum geht, sich mit dem Ersten Weltkrieg auseinanderzu-
setzen.¹¹
     In englischsprachigen Darstellungen wird die Beteiligung französischer
Truppen an den Landungen oft – bis auf eine kurze Erwähnung – ausgeklammert.
Dabei darf die Bedeutung des Misslingens des Gallipoli-Planes für die französi-
sche Diplomatie nicht unterschätzt werden, denn der nicht erfolgte Durchbruch
durch die Meerengen verhindert die Möglichkeit, das Zarenreich mit Waren zu
versorgen und es für die militärische Allianz mit Frankreich zu stabilisieren. Aus
Perspektive der europäischen Diplomatiegeschichte und den sich am Ende des
Ersten Weltkrieges wandelnden politischen Gegebenheiten in Europa, müsste der
Gallipoli-Kampagne, gerade im Hinblick auf ihre Langzeitwirkungen mehr Auf-
merksamkeit geschenkt werden. In der französischen Historiographie werden die
Ereignisse dagegen eher als vollkommenes und unvermeidbares Desaster ge-
schildert. Im Gegensatz zur britischen Geschichtsschreibung, die sich immer
wieder mit der Plausibilität der Kampagne und der Frage nach ihren Erfolgs-
chancen befasst hat, standen derlei Überlegungen in Frankreich gar nicht zur
Diskussion.
     Schon die zeitgenössischen französischen Kommentatoren waren nur wenig
davon überzeugt, dass eine Landungsoperation bei den Meerengen eine echte
Alternative zur Konzentration der Truppen an der Westfront bieten konnte. Diese
Meinung, setzte sich in den historischen Betrachtungen fort, sodass französische
Historiker nur selten bereit waren, den Anteil Frankreichs an den Operationen zu
betonen und Gallipoli zu „einem Opfer wissenschaftlicher Vernachlässigung“¹²
werden musste. Vielmehr war das Bemühen der Untersuchungen darauf ausge-
legt, die britische Schuld zu unterstreichen, um das Misslingen des Planes ganz
auf die Schultern des ehemaligen Bündnispartners zu laden. Nach dem Ende des
Großen Krieges wurde schließlich nur ein Denkmal gestiftet, das in Marseille der
französischen Soldaten gedenkt, welche an den Operationen beteiligt waren.
Aufgrund dieser geographischen sowie gedächtnispolitischen Randstellung ver-
wundert es nicht, dass Gallipoli kaum Einzug in die Erinnerungskultur der
Franzosen halten konnte.
     Die französischen Veteranen der Gallipoli-Expedition wurden meist nicht
beachtet und ihre Aufopferung für den Ruhm des Vaterlandes blieb ungewürdigt.
Lediglich in zwei Vereinigungen, der Association nationale d’anciens combatants
des Dardanelles und der Association des Poilus d’Orient wurde die Erinnerung an

 Dutton, Supernumerary, S. 86. Die weitere Betrachtung folgt, sofern nicht explizit anders
ausgewiesen, Dutton (Supernumerary).
 Ebd.
120           5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

die französischen Soldaten der Operationen bei den Dardanellen wachgehalten.
Das Gros der Franzosen interessierte sich mehr für den Krieg, der in ihrer un-
mittelbaren Nähe stattgefunden hatte. Allem, was nicht direkt Frankreich selbst
betraf, kam lediglich eine Nebenrolle zu. Gerade Gallipoli, für das die Initiative
von den Briten ausgegangen war, schien vernachlässigbar zu sein. General Joseph
Joffre (1852– 1931), der Befehlshaber der französischen Armee, war explizit gegen
den Einsatz französischer Truppen außerhalb Frankreichs, da sie dort nicht dem
Interesse des Heimatlandes dienten. Ähnliche Kritik wurde noch in den 1990er
Jahren von französischen Historikern angeführt, wenn es um die Operationen bei
den Dardanellen ging.¹³ Vielmehr wäre es im Sinne der französischen Führung
gewesen, die Truppen gegen den deutschen Feind zu konzentrieren und nicht für
sinnlose Manöver am östlichen Rand des Mittelmeeres zu verschwenden. Be-
sonders im Hinblick auf die Bewertung der Offensiven Frankreichs bei Artois und
in der Champagne wurde stets darauf verwiesen, dass dieselben hätten erfolg-
reich verlaufen können, wenn die Soldaten, die die politische Führung zur Un-
terstützung der Briten abgeordnet hatten, verfügbar gewesen wären. Die Zer-
splitterung der französischen Kräfte, die gerade in dem Moment erfolgte, als eine
große deutsche Offensive an der Westfront zu erwarten war, wurde deshalb gerade
aus militärischen Kreisen immer wieder kritisiert.

5.2 Großbritannien

Die Erinnerung an Gallipoli in Großbritannien ist in der Regel eine stille, in der der
zahllosen Opfer der Kampagne gedacht wird, etwa wenn am Kenotaph im Lon-
doner Stadtteil Westminster am Tag der Landung des britisch-australischen Ex-
peditionskorps Kränze niedergelegt und an die Diversität des Britischen Empire
sowie die heutige Einheit des Commonwealths, repräsentiert durch die ver-
schiedenen Kontingente der Landungstruppen und die diese heute repräsentie-
renden Staaten, erinnert wird.¹⁴ Dort wurde Gallipoli zudem zu einem Emblem
britischen Versagens und gerade weil es sich um ein militärisches Desaster
handelte, setzten, schon während das Unternehmen noch in vollem Gange war,
erste Diskussionen über die Verantwortung und die Durchführung der militäri-
schen Operationen ein. Dabei spielten die Berichte der Dardanellen Kommission,
die oben bereits geschildert wurden, eine nicht unbedeutende Rolle, da sie erst-

 Siehe dazu Jauffret (Perspective) und ders. (Perspective, Part 2).
 BBC (Gallipoli).
5.2 Großbritannien       121

mals für eine öffentlich breit rezipierte Untersuchung der Ereignisse sorgte.¹⁵ Des
Weiteren entstanden nach dem Ersten Weltkrieg, wie in den anderen National-
staaten auch, offizielle Abhandlungen zu den Kriegsjahren, in denen Gallipoli
selbstverständlich ebenfalls umfassend diskutiert wurde.¹⁶ In der Dardanellen-
Diskussion spielten zudem die Schilderungen der journalistischen Begleiter des
Unternehmens, wie etwa Ellis Ashmead-Bartlett eine große Rolle, da sie als ver-
briefte Kenner der Ereignisse galten.¹⁷ Hinzu kommen schließlich die Schilde-
rungen der Teilnehmer selbst, die die Ereignisse unter den wachsamen Augen des
öffentlichen Lesepublikums Revue passieren ließen und dazu beitrugen, einen
britischen Gallipoli-Mythos zu schaffen, der sich scheinbar bis heute sehr hart-
näckig gehalten hat.
     Folgt man den Betrachtungen der britischen Historikern Jenny Macleod ba-
siert dieser Mythos auf drei Säulen: „Die erste ist eine romantische Sicht von
Kriegsführung im Allgemeinen und dieser Operation im Speziellen. Die zweite ist
eine Hervorhebung des Heldentums der an der Operation Beteiligten, das für
gewöhnlich deren Teilnehmer gegen die Kritik des Versagens verteidigt. Die dritte
Säule ist eine spezifisch britische Betonung der Strategie der Operation.“¹⁸ Der
Mythos per se ist dabei durchweg melancholisch, was, so Macleod, nicht ver-
wundere, schließlich sei der Landungs- bzw. Invasionsversuch ja gescheitert.¹⁹
Dabei war es gerade die Tatsache, dass es sich bei Gallipoli um eine Niederlage
handele, die zur Romantisierung der Gallipoli-Rezeption beigetragen hat. Im
Gegensatz dazu erscheint eine Verteidigung der für die Dardanellen-Operationen
gewählte Strategie unnötig und intellektuell betrachtet, eine Zeitverschwendung
zu sein.²⁰ Deshalb ist Macleod zuzustimmen, dass vor allem die beiden ersten
Säulen des Mythos zu seiner Langlebigkeit beigetragen haben, denn „sie formen
eine emotionale Verteidigung, einen Zuckermantel für die bittere Pille der Nie-
derlage.“²¹
     Schon diejenigen, die selbst auf der Gallipoli-Halbinsel gekämpft hatten,
waren ausgebildet genug, um mit den Klassikern der Literatur, etwa den Ge-
schichten um Achilles, König Artus, oder Richard Löwenherz, in Berührung ge-
kommen zu sein, sodass sie bereits mit einer bestimmten Auffassung von Rit-

   Macleod, Reconsidering Gallipoli, S. 25 – 56.
   Ebd., S. 57– 102.
   Ebd., S. 103 – 146.
   Ebd., S. 7.
   Ebd.
   Ebd., S. 10 u. S. 12.
   Ebd., S.10.
122           5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

terlichkeit sowie einem romantisierten Kriegsbild in denselben zogen.²² Diese
Präkonditionierung in Verbindung mit der geographischen Andersartigkeit des
Kriegsraumes, die schon durch die Entfernung von den europäischen Fronten
entstehen musste, sorgte dafür, dass Gallipoli schon von denen, die um die Ein-
nahme der Halbinsel bzw. der Dardanellen fochten, als „der Krieg, wie er sein
sollte“, nämlich „nobel, wagemutig, phantasievoll, ritterlich und tragisch“²³
wahrgenommen wurde. Aufgrund dieser Wahrnehmungsebene war der Kampf
um die Gallipoli-Halbinsel auch anti-modern und eben nicht hoch technisiert wie
der Krieg, der Europa zerfleischte, sondern vielmehr eine Möglichkeit des Sol-
daten, Ruhm zu erwerben und durch seinen persönlichen Einsatz in schwierigem
Terrain den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage zu schaffen.
     Das letztliche Scheitern war dabei nur schwer zu erklären und in den meisten
Schilderungen, gerade denen der Verantwortlichen, wurde versucht, die Schuld
möglichst anderswo abzuladen. Während Hamilton auf zu wenig Unterstützung
durch die Politik und den Mangel an Munition und Männern verwies, kritisierten
andere eben diesen Befehlshaber, der aufgrund mangelnder Führungsqualitäten
für die schlussendliche Niederlage zur Verantwortung zu ziehen war. Der Galli-
poli-Mythos beruht bis heute deshalb darauf, die Schuld an der Niederlage mit der
Idee zu verknüpfen, der Erfolg der Operation sei durch den Verrat der Politik
entstanden, weshalb man durchaus versucht ist, von einer britischen Version der
Dolchstoßlegende zu sprechen, denn die Politiker hätten den Sieg der im Felde
ungeschlagenen Soldaten verspielt. Zugleich basiert der Mythos auf der Ideali-
sierung des Krieges, durch Betonung von Kameradschaft, Ehre und anderen
identitätsstiftenden Momenten des Frontalltags, also auch des gemeinsamen
Leidens.²⁴
     Um dieses Konglomerat an Faktoren etwas eingehender zu analysieren, sol-
len im Folgenden einige der Schilderungen von Gallipoli-Veteranen und zeitge-
nössischen Kommentatoren, die noch während oder direkt im Anschluss an den
Ersten Weltkrieg publiziert worden waren, ein wenig näher betrachtet werden. Der
bereits oben zitierte englische Dichter und Poet John Masefield hatte selbst nicht
an der Schlacht um Gallipoli teilgenommen, aber nach einer Lesereise in die
Vereinigten Staaten, wo er mit Fragen zu den Ereignissen konfrontiert worden war,
beim Foreign Office in London um Erlaubnis gebeten, eine Gegendarstellung zu
kursierenden deutschen Berichten schreiben zu dürfen, die die britische Per-
spektive auf die Ereignisse aufzeige. Das Buch wurde zu einem Erfolg und schon

 Ebd.
 Ebd., S.13.
 Vgl. ebd., S. 14.
5.2 Großbritannien       123

innerhalb eines Monats war die Erstauflage vergriffen. Dass Masefield sein Buch
Ian Hamilton und den Männern unter seinem Kommando widmete, belegt, dass er
keine „Verurteilungsschrift“ vorgelegt hatte. Vielmehr bediente die Darstellung
den romantischen Mythos, der eben auf der Interpretation, welche die militäri-
schen Operationen „nicht als Tragödie, nicht als Fehler, sondern als großen
menschlichen Einsatz“²⁵ beschreibt. Zudem sei vieles Famose in der Militärge-
schichte gerade das, was gescheitert war, schließlich gab es solcher Dinge und
gescheiterter Nobelmänner viele in der Geschichte.²⁶ Am Ende muss, so Mase-
field, ungewiss bleiben, ob nicht noch ein weiterer britischer Angriff zum Sieg
über die von der Hitze ausgelaugten Osmanen ausgereicht hätte, das Blatt noch
einmal zu wenden.²⁷ Der Poet wählt als Ursache des Scheiterns am Ende
schließlich die Variante, die den Gallipoli-Mythos so lange befeuerte: Es war die
Entscheidung der Politiker in London, die einen Sieg vor Ort vereitelte. Zu früh
hätte man aufgegeben, an die Kraft und das Durchhaltevermögen der eigenen
Truppen zu glauben. Am Ende bliebe nichts als die Spuren, die die Soldaten auf
der Halbinsel hinterlassen hatten und die sich in den zahlreichen Gräben und
Verschlägen, die Deckung spendeten, widerspiegelten. Masefield geht davon aus,
dass in ferner Zukunft nach den verbliebenen Überresten der Operation und der
Gefallenen gegraben werden würde. Bedenkt man die touristische Entwicklung
im Zusammenhang mit dem Gallipoli-Mythos, hatte er nicht gänzlich Unrecht.²⁸
Die immer noch sichtbaren Schützengräben und Verhaue wären zwischen April
1915 und Januar 1916 das „zu Hause Tausender unserer Soldaten“ gewesen und
„[d]ort lebten sie, haben gekocht und gewaschen, ihre Witze erzählt und ihre
Lieder gesungen. Dort schwitzten sie unter ihren Lasten, und schliefen, und fielen
nieder um zu sterben. […] dort lagen sie in ihren dreckigen Lumpen und warteten
auf den Tod; und dort liegen sie […] zu Tausenden begraben, in kleinen einsamen
Gräbern […] oder in den Gruben der großen Schlachten.“²⁹ Wenn nicht gerade eine
dieser Schlachten tobte, dann waren es, so Masefield, „sonderbare, sonnenver-
brannte, halbnackte Männer, die sich während ihrer Arbeiten mit den bronzenen
Körpern von Göttern bewegten“³⁰ und wie die alten Ägypter eine Stadt errichteten
und während der Staub ihre Uniformen mit der umliegenden Landschaft ver-
schmolzen hätte, verlieh ihnen ihre Nacktheit eine Größe, die man kaum bei ei-
nem Bekleideten hätte ausmachen können. „Nur wenige von ihnen,“ so der

   Masefield, Gallipoli, S. 3.
   Ebd., S. 4.
   Ebd., S.159.
   Ebd., S.160 f.
   Ebd., S.161.
   Ebd., S.165.
124             5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

Schriftsteller, „waren weniger als schön“ und in ihrer Gesamtheit bildeten ge-
samte Bataillone die Krönung der Schöpfung ab.³¹ Kritisch muss hier sicherlich
bemerkt werden, dass das Bild, welches vom Poeten Masefield gezeichnet wird,
ein geschöntes ist, das aber eben wesentlich zur Etablierung des Gallipoli-Mythos
beigetragen haben dürfte.
     John Graham Gillam, ein Veteran der Gallipoli-Landungen und der weiteren
Kämpfe, publizierte 1918 sein überarbeitetes Tagebuch, in dem die oben ange-
sprochenen romantischen Vorstellungen der aktiven Kombattanten selbst deut-
lich werden. Wie viele andere hatte Gillam geglaubt, dass der Große Krieg eine
noble Angelegenheit wäre, in der sich Männer beweisen könnten, ebenso wie er
annahm, dass die Soldaten die Gallipoli-Halbinsel heraufwanderten, während
ihnen die Royal Navy den Weg freischoss. Konstantinopel wäre umgehend ge-
fallen, die britischen Truppen hätten sich mit denen des Zaren vereint und die
Mittelmächte durch eine Zangenbewegung in die Knie gezwungen.³² Ehrlicher-
weise gesteht er aus der Retrospektive aber auch, dass die Soldaten ihre Aufgabe
mit zu wenig Ehrfurcht betrachteten.³³ „Gallipoli, die Dardanellen, Konstantino-
pel“; das klang einfach zu „romantisch und voller Abenteuer“.³⁴ Nachdem die
Evakuierung im Januar 1916 erfolgte, wandelte sich die Perspektive des Chronisten
der Ereignisse, der gleichzeitig erklärte, wie das Kriegserlebnis die Veteranen
verband:

      den Horror der Halbinsel ließ ich für immer hinter mir.Von denen, die im März so leichtherzig
      von England aus in See gestochen waren, sind nur wenige übrig, aber diejenigen, die ver-
      bleiben, sind durch unsichtbare Fesseln aneinander gebunden. Diese merkwürdigen Monate
      – langweilig und aufregend, tragisch und humorvoll, verbracht unter den Augen des Feindes
      an einer fremden Küste – formen ein gemeinsames Band zwischen uns.³⁵

Ebenso wie Masefield betont Gillam, dass die alliierten Truppen „geschlagen
wurden – weniger vom Feind als vom Klima und den geographischen Gegeben-
heiten; aber geschlagen sind wir, und es bleibt nichts als die Niederlage wie
Sportsmänner zu akzeptieren.“³⁶
    Eine ähnliche Haltung der Soldaten, also den Krieg als Sport zu begreifen,
beschreibt William Ewing, der die Truppen als Kaplan während der Gallipoli-
Kampagne begleitete. In seinem Buch Von Gallipoli nach Bagdad (From Gallipoli

   Ebd., S. 165 f., Zitate von S. 165.
   Gillam, Gallipoli, S. 5 – 6.
   Ebd., S.6.
   Ebd.
   Ebd., S. 325.
   Ebd.
5.2 Großbritannien           125

to Baghdad) beschreibt er den Zustand der Soldaten, als diese sich auf den
Schiffen der feindlichen Küste näherten. Alle wurden ernster, aber alle schienen
sich auf die bevorstehenden Aufgabe zu freuen,³⁷ eine gewisse Schlachteneu-
phorie in der Hoffnung sicher geglaubter Siege kann den Teilnehmern der Dar-
danellen-Expedition nicht abgesprochen werden. Dabei war die bevorstehende
Aufgabe alles andere als leicht. Zu Beginn des Krieges war sich nicht allein die
osmanische Führung darüber bewusst, dass eine Landung auf der Gallipoli-
Halbinsel schwierig war, zumal die Befestigungen der Meerengen eine ungestörte
Durchfahrt schier unmöglich machten und deshalb zwangsläufig eine Lan-
dungsoperation erfolgen musste. Ungeachtet dieser schwierigen Ausgangslage
weist Ewing allerdings darauf hin, dass der durchschnittliche Soldat ein Sports-
mann sei, den eine ganz besondere Abenteuerlust auszeichne.³⁸ Nachdem dieser
an einen gerechten Grund für sein Tun glaube und von der Bevölkerung des ei-
genen Nationalstaats moralisch gestützt würde, war für den Autor sowie ver-
mutlich ebenso viele seiner Leser klar, dass die britischen Soldaten den Erfolg
verdienten, auch wenn dieser ihnen am Ende verwehrt bleiben würde. Darüber
hinaus stellt Ewing fest, dass der „Soldat ein gefühlvoller Mann“ sei, der „die Tiefe
und Zärtlichkeit seiner Liebe und Freundschaft“³⁹ nicht verbergen könne.
Schließlich sei der Soldat „tapfer und ritterlich“ wobei bemerkt wird, dass es sich
nicht um „Tapferkeit, die keine Angst kennt, sondern um die, welche die Angst
kennt und sie überwindet“⁴⁰ handelt. Ewings Darstellung, ähnlich wie die von
Gilam und Masefield vor ihm, trägt folglich dazu bei, die Kriegsromantik im
Hinblick auf die Darstellung der britischen Soldaten zu betonen, indem deren
Tugenden und Stärken hervorgehoben werden. Der Leser gewinnt stets den Ein-
druck, dass es eine unvergleichlich schöne Erfahrung gewesen sein muss, dieser
Gruppe von Männern angehört zu haben, die ihr Ziel nur aufgrund widriger
Umstände, die außerhalb ihres eigenen Kontrollvermögens lagen, nicht erreichen
konnten.
    Bryan Cooper veröffentlichte ebenfalls 1918 die Geschichte der 10. (Irischen)
Division und ihrer Erlebnisse im Zuge der Kämpfe auf der Gallipoli-Halbinsel.
Bezüglich der Frage, woran man denke, wenn man auf die Ereignisse zurück-
schaue, konstatiert der Autor:

      Ein Menge von Erinnerungen häufen sich zusammen: trockene, sandgeflutete Schluchten,
      durstige Männer, die sich um eine Quelle scharen, Inder die ihre Mulis putzen, geschmei-

   Ewing, Gallipoli, S. 7.
   Ebd., S. 299.
   Ebd., S. 300.
   Ebd., S. 301.
126            5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

      dige, halb-nackte Australier, ausgetrocknetes, sonnenverbranntes Gestrüpp, aber über alle
      Maßen erinnert man sich an die Gräber. Nicht ein Mann kehrte von der Halbinsel heim, ohne
      nicht einen Freund dort zurückgelassen zu haben, und es ist bitter daran zu denken, dass die
      letzte Ruhestätte derer, die wir geliebt haben, in den Händen unserer Feinde ist.⁴¹

Erwähnenswert schien Cooper zudem zu sein, dass der „Tod komische Bettge-
nossen“ schuf, da die britischen Truppen kreuz und quer begraben worden und
beispielsweise ein Waliser sein Grab neben dem eines Maori finden konnte.⁴²
Männer unterschiedlicher Herkunft und Religion waren aus allen Ecken des
Britischen Empire auf die Halbinsel gebracht worden, um zusammen für dieselbe
Sache zu kämpfen und fanden zusammen ihr Grab.⁴³ Dabei gab es für viele be-
dauerlicherweise noch nicht einmal ein Begräbnis, denn nur diejenigen, die im
Lazarett starben, wurden mit den entsprechend notwendigen Riten und in Würde
beerdigt. Cooper erklärt deshalb, dass das „ganze Land ein einziger Schrein ist,
geheiligt durch die Erinnerung und Hingabe an Pflicht und Selbstaufopferung,
und kein Mann könne wünschen anderswo begraben zu sein als in der Erde, die er
dem Feind abgerungen hat.“⁴⁴ Die Darstellung bedient also wie die meisten an-
deren die Schaffung des Gallipoli-Mythos, im Zuge dessen die letzte Ruhestätte
der Helden des Britischen Empire mystisch verklärt und sakral aufgeladen wird.
Die Gemeinschaft der Truppe sei dabei so stark gewesen, dass selbst die Unter-
schiede zwischen Offizieren und einfachen Soldaten verwischt worden wären und
diese durch ein „spirituelles Band“⁴⁵ miteinander verbunden gewesen wären.
     Dieses Soldatenbild floss in die britische Erinnerungskultur des Ersten
Weltkrieges ein, nach dessen Ende gerade diesen Helden, die sich zum Wohle der
Nation selbst geopfert hatten – und das nicht nur auf der Gallipoli-Halbinsel –
gedacht wurde.⁴⁶ Dabei war der Gallipoli-Mythos zwar nur eines der identitäts-
bildenden Narrative der britischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg,⁴⁷ aber
sicherlich eines der langlebigsten.

 Cooper, Division, S. 243.
 Ebd., S. 244.
 Ebd.
 Ebd., S. 245.
 Ebd., S. 246.
 Die Erinnerungskultur im Vereinigten Königreich konnte dabei ganz unterschiedliche Formen
annehmen bzw. in die jeweils regional vorherrschenden Kontexte eingebunden werden.Vgl. etwa
Calder (War Memorial); D’Arcy (Remembering); Gaffney (Aftermath); Switzer (Unionists).
 Vgl. dazu Macleod (Britishness).
5.2 Großbritannien          127

     Die britischen Historiker deren Schaffensphase in der Zeit in den knapp zwei
Jahrzehnten nach 1945 lag,⁴⁸ betrachteten den Ersten Weltkrieg schließlich, und
das oft in Abstraktion zum Zweiten Weltkrieg, als Großbritanniens „Großen Pa-
triotischen Krieg“.⁴⁹ Es wurde im Zuge dessen darauf hingewiesen, dass die Di-
mension des Weltkrieges eine wesentlich größere Auswirkung auf die britische
Psyche hatte, als die des Krieges gegen Hitler und Nazideutschland. Zwischen
totaler Selbstaufgabe im Angesicht der technisierten Materialschlachten, aber
auch durchaus Ereignissen, wie eben denen um Gallipoli, die zur Selbst-Gratu-
lation und -Glorifizierung gereichten, bot der Große Krieg somit ganz ambivalente
Deutungsmuster für Historiker und Erinnerungswelten für die nachfolgenden
Generationen an.⁵⁰ Neben diesen unterschiedlichen Interpretationsansätzen
wurden die Ereignisse im Zuge der historischen Aufarbeitung nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges oft im Vergleich oder in Abstraktion zu den Ereignissen
zwischen 1939 und 1945 gesetzt, wobei eine komparative Analyse zwischen den
Landungen britischer Soldaten auf der Gallipoli-Halbinsel 1915 und den alliierten
Landungen in der Normandie 1944 häufig auftauchen. Die beiden Ereignisse
wurden zudem mitunter so in Relation zueinander gesetzt, dass die mediterrane
Strategie des Empire und Churchills erst in den 1940er Jahren umgesetzt werden
konnte, nachdem sie im Ersten Weltkrieg gescheitert war.⁵¹ Dessen ungeachtet
gab es Stimmen, wie beispielsweise die von John Terraine (1921– 2003), Correlli
Barnett (*1927) und Cyril Falls (1888 – 1971), die den Tenor der militärischen
Mehrheit der Kriegsjahre wiederholten und darauf verwiesen, dass der Krieg
tatsächlich nur in Frankreich entschieden werden konnte und deshalb besonders
Churchills Agieren für die Eröffnung einer zweiten Front bei den Dardanellen
kritisierten.⁵² Barnett kritisierte in Großbritannien und seine Armee (Britain and
Her Army, 1970) besonders den Einsatz vieler britischer Kontingente im Mittleren
Osten, für deren Entsendung Churchill in beiden Fällen verantwortlich gewesen
sei und damit zur Schwächung der britischen Truppen an den Punkten, an denen
sie eigentlich gebraucht worden wären, also Europa, beigetragen habe. Selbst
eine erfolgreiche Gallipoli-Kampagne wäre deshalb nur von zweifelhaftem stra-
tegischen Wert für das Britische Empire gewesen.⁵³ Doch nicht nur historiogra-

 Etwa Marder (Dreadnought; Guinn, Strategy; Home, Price; Roskill, Hankey; Woodward, Great
Britain).
 Campbell, War, S. 688.
 Ebd., S. 690.
 Ebd., S. 697.
 Ebd.
 Barnett, Britain, S. 425 f.
128            5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

phisch, sondern auch militärisch wurden die Ereignisse um Gallipoli seit dem
Scheitern der Operation immer wieder diskutiert.
     Die britische Royal Navy hatte im Ersten Weltkrieg drei entscheidende Er-
fahrungen gemacht: Die Schlachten von Jutland, Gallipoli und im Atlantik. All
diese Ereignisse hatten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Ge-
schicke der Marine während des Krieges selbst, aber nicht alle von ihnen führten
zu langfristigen Veränderungen.⁵⁴ Nachdem die militärischen Operationen im
Zuge der Gallipoli-Kampagne als Desaster rezipiert wurden, zerstörte die Erfah-
rung die britische Sicht auf eine durchaus wichtige Form der Kriegsführung,
nämlich der umfangreichen Landungsoperationen im Zusammenspiel von Heer
und Marine für die kommenden 25 Jahre, wobei der amerikanische Marinehisto-
riker Arthur J. Marder (1910 – 1980) in seiner Aussage, dass die amphibische
Kriegsführung völlig diskreditiert worden sei, zu weit ging.⁵⁵ Nicht diskreditiert,
aber doch zumindest verzerrt, so der Militärhistoriker David MacGregor.⁵⁶ Er
konstatiert weiter, dass die britischen Planer zu sehr über amphibische Opera-
tionen nachdachten und sich im Zuge dessen dem seit der „Schlappe von Galli-
poli“ grassierenden Pessimismus ergaben. In ihrer Furcht, die Fehler von 1915 zu
wiederholen, scheiterten sie daran, dieselben zu überwinden.
     Dabei war es nicht so, dass man dem Problem der Gallipoli-Operationen in
den militärischen Kreisen Großbritanniens nach dem Ende des Ersten Weltkrieges
keine Beachtung geschenkt hätte. Die Admiralität hatte schon 1919 der Aufstel-
lung des Mitchell Committee zugestimmt, das die Ereignisse um Gallipoli unter-
suchen und einen umfassenden Bericht darüber zu verfassen hatte. Ebenfalls
bereits 1919 veranstaltete das Army Staff College (Camberley) eine Übung, an der
Veteranen der Dardanellen-Operationen beteiligt waren und der Kommandant
der Bildungseinrichtung, Warren Hastings Anderson (1872 – 1930) sprach sich in
seinem Bericht dafür aus, ein von allen Waffengattungen beschicktes Komitee zu
etablieren, dass die Doktrinen der amphibischen Kriegsführung diskutieren und
gegebenenfalls revidieren sollte.⁵⁷ Die Mitglieder des Gremiums empfahlen, eine
tiefgehendere Analyse der kombinierten amphibischen Kriegsführung durchzu-
führen und erstellten auf Basis derselben 1925 ein Handbuch für gemeinschaft-
liche Operationen des Heeres und der Marine (Combined Operations Manual), von
dem überarbeitete Neuauflagen in den 1930er Jahren – 1931 und 1938 – erschie-
nen. Zudem wurde in Vorlesungen am Royal Navy’s War College in Greenwich in
der Zwischenkriegszeit die Geschichte der kombinierten Marine-Heer-Operatio-

   MacGregor, Use, S. 603.
   Marder, Dardanelles, S. 52.
   MacGregor, Use, S. 606.
   Ebd.
5.2 Großbritannien       129

nen bei Gallipoli analysiert und diskutiert. Das Navy Staff College führte darüber
hinaus immer wieder theoretische und praktische Übungen durch, bei denen es in
den 1920er und 1930er Jahren darum ging, die mögliche Zusammenarbeit zwi-
schen Armee, Marine und der Marineinfanterie zu eruieren und exerzieren. Um
den Erfolg solcher Operationen in der Zukunft besser gewährleisten zu können,
richteten die Stabschefs 1938 ein Inter-Service Training and Development Centre
(ISTDC) ein, an denen Angehörige der entsprechenden Waffengattungen sich mit
solchen Vorhaben in ihrer ganzen Tragweite vertraut machen konnten.⁵⁸ Auf-
grund der umfangreichen Studien gingen die britischen Planer davon aus, dass
zukünftige amphibische Operationen kleiner und einfacher angelegt sein und
zwingend auf strikter Geheimhaltung, um den Überraschungseffekt nicht zu ge-
fährden, bestehen müssten. Deshalb hätten Landungen in einem möglichen Krieg
der Zukunft auch in der Nacht stattfinden sollen. Etliche der Studierenden kamen
allerdings zu dem Schluss, dass amphibische Angriffe überhaupt nicht prakti-
kabel seien. Die Entwicklung neuer Waffentechniken – vor allem Maschinenge-
wehr, Artillerie und Flugzeuge –, die eine einfachere Verteidigung ermöglichten
und gleichzeitig eine Anlandung von Truppen zusätzlich erschwerten, schlossen
in der Theorie einen Erfolg solcher Operationen aus. Die von Gallipoli geprägte,
oft durchaus als feindlich zu bezeichnende Ablehnungshaltung vieler Offiziere,
erschwerte deshalb eine offenere Betrachtung der Möglichkeiten, die gemein-
schaftliche Planungen für operative Umsetzungen zu liefern in der Lage waren.
     Da eine totale Geheimhaltung nur schwer umzusetzen war, selbst wenn nicht
so schlampig wie im Vorfeld der Gallipoli-Operationen verfahren würde, zwei-
felten die meisten Planer des britischen Militärs schlicht und ergreifend an der
Praktikabilität einer Landungsoperation gegen einen verteidigten Strandab-
schnitt.⁵⁹ Der „überzeugende Pessimismus“⁶⁰ beherrschte die britischen Gemüter
und eine übervorsichtige Haltung besetzte die Schaltstellen der militärischen
Planung. Nur absolute Geheimhaltung, der Überraschungsmoment auf Seiten der
Angreifer, während einer Operation im Schutze der Nacht schien sinnvoll und
erfolgversprechend. Jedwede andere Umsetzungsinitiative wurde konsequenter-
weise a priori abgelehnt. Nicht überraschend ist es deshalb, dass die späteren
britischen Vorbereitungen zur Landung in der Normandie auf wenig Vorarbeiten
bzw. echte Erfahrungswerte zurückgreifen konnten. Es gab weder ausreichend
Landungsfahrzeuge noch existierten theoretische Vorgaben für den Feuerschutz
solcher Operationen von See aus. Folgerichtig musste 1942/43 improvisiert wer-

 Ebd., S. 605 – 607.
 Ebd., S. 607.
 Ebd., S. 608.
130            5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

den, um diese Wissens- und Erfahrungslücken zu schließen, um sich auf die
entscheidende Landung im Juni 1944 vorbereiten zu können.⁶¹
    Bei jeder wie auch immer gearteten Landungsoperation wären die Marine-
infanteristen des Empire, die Royal Marines, von entscheidender Bedeutung ge-
wesen, allerdings stellten diese im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts
kaum ein ernstzunehmendes Angriffspotential dar.⁶² Die Einheiten waren eher in
ad hoc durchzuführenden Operationen im kolonialen Raum von Nutzen, wo sie
improvisierte Strafaktionen und Überfälle ausführten, allerdings fehlte es den
Einheiten an einer dauerhaften Organisationsstruktur, an notwendiger Ausrüs-
tung sowie einer dezidiert erarbeiteten Doktrin, die es den Marineinfanteristen
ermöglicht hätte, einen verteidigten Strandabschnitt anzugreifen und eventuell
einzunehmen.⁶³ Zur Eruierung der eigenen Möglichkeiten richtete die Admiralität
1923 das von Admiral Charles Madden (1862– 1935) initiierte und nach ihm be-
nannte Madden Komitee ein, welches die genauen Einsatzbereiche der Marine-
infanterie festzulegen hatte. Die Aufgaben der Einheit wurden in einem Bericht
des Jahres 1924 schließlich wie folgt bestimmt: In Kriegszeiten sollte sie
1. dazu genutzt werden, die Besatzungsstärke der größeren Schiffe zu erweitern
    und die Schiffsartillerie besetzen,
2. unabhängige Kontingente bereitstellen, um der Flotte bei der Mobilisierung
    unterstützend beizustehen sowie Operationen zur Einnahme oder zur Ver-
    teidigung temporärer Marinebasen durchzuführen, und
3. als verbindendes Element zwischen Armee und Marine zu agieren.⁶⁴

Die tatsächliche Umsetzung dieser Aufgaben verlief dabei eher schleppend und in
den kommenden Jahren wurde kaum etwas getan, um eine wirklich unabhängige
Einsatztruppe zu formen, was unter anderem mit Budgetbeschränkungen für
derlei Unterfangen einherging. Während einige Einheiten in den 1920er Jahren
beispielsweise nach Konstantinopel und Shanghai entsandt worden waren, um
militärische Aufgaben zu übernehmen, wurden dieselben allerdings immer ad
hoc zusammengestellt, bis zur Erledigung ihrer Pflichten entsandt, danach jedoch
umgehend nach Hause geschickt und wieder aufgelöst. Zu einer echten und auf
Dauerhaftigkeit beruhenden Struktur kam es deshalb nicht, was den Einsatz der
Marineinfanterie als kontinuierlich existenter Spezialeinheit unmöglich machte.
Das Komitee der Stabschefs sanktionierte dieses Manko, wenn 1938 erklärt wurde,

   Ebd.
   Bittner, Sword, S. 347.
   Ebd.
   Ebd., S. 349.
5.2 Großbritannien        131

dass im nächsten Krieg nicht mit amphibischen Kampfeinsätzen zu rechnen sei,
eine Meinung, die von der Armeeführung geteilt wurde. Selbst die Royal Airforce
gab zu bedenken, dass man keine solche Einheit benötigen würde, da eine Lan-
dungsoperation so unwahrscheinlich schien, dass ein auf einer eben solchen
basierendes Argument kaum die Kosten einer Spezialeinheit rechtfertigte.⁶⁵
     Ungeachtet dieser generellen Ablehnung von Landungsoperationen amphi-
bischen Charakters war es immer wieder Churchill, der für die Verzögerung bei
der Etablierung einer zweiten Front im Westen während des Zweiten Weltkrieges
kritisiert worden war, nicht selten mit dem Hinweis darauf, dass er eine Lan-
dungsoperation aufgrund der Erfahrung Gallipolis auf jeden Fall vermeiden
wolle. Offensichtlich scheint das aber, bedenkt man die Absagen an solche
Operationen, die aus den entscheidenden Gremien der militärischen Planer im
Großbritannien der Zwischenkriegszeit geäußert wurden, unmöglich ein solider
Erklärungsansatz zu sein. Es gilt daher, sich die Rolle Churchills im Zweiten
Weltkrieg, im Hinblick auf einen möglichen Einfluss des Gallipoli-Erlebnisses
etwas näher zu beleuchten.
     Als Churchill 1930 sein frühes Leben in einem autobiographischen Werk
Revue passieren ließ, stellte er fest, dass sich „der Zustand der Gesellschaft, die
Grundlagen der Politik, die Methoden des Krieges, die Aussicht der Jugend, der
Maßstab der Werte, alle verändert hatten“ und zwar in einem Ausmaß, das der
spätere britische Premierminister „nicht ohne eine gewalttätige Revolution in
solch kurzer Zeit für möglich gehalten“ hätte.⁶⁶ Geboren als „Kind der viktoria-
nischen Ära“⁶⁷, in der die Macht des Britischen Empire unerschütterlich schien,
musste er schließlich im Ersten Weltkrieg erleben, wie Freunde, beispielsweise in
der „schrecklichen Schlacht von Suvla Bay“⁶⁸, ihr Leben verloren. Und doch war
Churchill nicht ungeneigt, seiner Meinung über den Krieg und das Hochgefühl,
das derselbe in ihm hervorrief zu berichten.Während er am Royal Military College
in Sandhurst studierte, frustrierte es ihn, dass die Studien nur in der Theorie von
Nutzen sein sollten, denn er empfand es als großes Unglück, „dass das Zeitalter
der Kriege zwischen zivilisierten Nationen für immer zu einem Ende gekommen
sein sollte.“⁶⁹ Fast traurig bemerkt er: „Wenn ich nur einhundert Jahre eher gelebt
hätte. Was für glorreiche Zeiten sollten wir haben! Stell Dir vor 1793 19 Jahre alt zu
sein mit mehr als 20 Jahren Krieg gegen Napoleon vor uns!“⁷⁰ Pazifist war Chur-

   Ebd., S. 350 f.
   Churchill, Commission, vii.
   Ebd.
   Ebd., S. 41.
   Ebd., S. 44.
   Ebd.
132          5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

chill sicherlich nicht, denn er bedauerte zutiefst, dass die Britische Armee seit
dem Krimkrieg keinen Schuss mehr auf „weiße Truppen“ abgefeuert hatte, und
„nun, da die Welt zunehmend sensibel und pazifistisch wird – und auch so de-
mokratisch – waren die großen Tage vorbei.“⁷¹ Dessen ungeachtet, zur Freude des
seine Jugend reflektierenden Churchills, konnte festgestellt werden: „Aber
glücklicherweise gibt es noch Wilde und barbarische Völker.“⁷² Selbst die Nie-
derlage von Gallipoli mit den schweren Verlusten, ebenso wie die Gefallenenlisten
des Großen Krieges, haben Churchills positives Bild des Krieges, das er knapp
15 Jahre nach dem Desaster der Dardanellen-Operationen einer breiten Öffent-
lichkeit präsentierte, offenbar nicht zum Wanken gebracht.⁷³
     Inwieweit Gallipoli Churchills Selbstwahrnehmung sowie seine „Sicht der
Dinge“ beeinflusste, kann anhand seiner eigenen frühen Reflexionen autobio-
graphischen Charakters nicht bestimmt werden. Fakt ist, dass der große britische
Staatsmann nicht nur einer der einflussreichsten politischen Figuren des
20. Jahrhunderts gewesen ist, sondern eine sehr komplexe Persönlichkeit besaß,
die neben der politischen Brillanz und Intelligenz auch von Witz, einem gewissen
Draufgängertum sowie einer stark ausgeprägten Egozentrik gekennzeichnet war.⁷⁴
Sich mit ihm zu beschäftigen, so die New Yorker Journalistin Brooke Allen, heißt
einem Mann zu begegnen, „der anmaßend ehrgeizig, wichtigtuerisch, schludrig,
rücksichtslos, und ein Monster des Egoismus war, und doch als der größte briti-
sche Staatsmann des 20. Jahrhunderts, möglicherweise sogar der gesamten Ge-
schichte dieser Nation“⁷⁵ betrachtet wird. Oft des „latenten Bonapartismus“ ver-
dächtigt, hoffte er, wie es Allen weiter formuliert, in seiner späteren Karriere der
„englische Mussolini“⁷⁶ zu werden. Dabei halfen ihm seine Überredungskünste,
seine moralische Autorität sowie seine Persönlichkeit, die ihn, nicht nur im Zuge
der Planungen zur Gallipoli-Kampagne, in die Lage versetzte, andere von seiner
eigenen Meinung zu überzeugen und in seinen Bann zu ziehen. Wie andere junge
und aufstrebende Männer, „war Churchill hungrig nach einem Amt und visierte
den größten Preis von allen, den Posten des Premierministers, an.“⁷⁷ Oft sprach er
diesen Wunsch lauthals aus und machte keinen Hehl aus seinen eigenen Ambi-

 Ebd.
 Ebd.
 Es böte sich an Churchills Wahrnehmung von Krieg im Allgemeinen sowie des Ersten und
Zweiten Weltkrieges im Speziellen einmal ausführlich zu analysieren, dieses Vorhaben muss hier
jedoch aufgrund der eigentlichen Intention des vorliegenden Buches zurückgestellt werden.
 Arnett, Churchill, S. 609.
 Allen, Sum, S. 312.
 Ebd.
 Addison, Careers, S. 185.
5.2 Großbritannien         133

tionen, was nicht immer zu seinem Vorteil aufgenommen wurde. Er selbst glaubte
daran, „ein Mann des Schicksals“ zu sein und sah sich „irgendwo in der Zukunft
große Taten auf der Bühne der Geschichte vollbringen.“⁷⁸
     Wie oben bereits erwähnt, glaubte Churchill dabei fest an die Rolle des Bri-
tischen Empire in der Welt und dessen Vorbestimmung, die Geschicke der Welt zu
bestimmen. Neben diesen entscheidenden Faktoren seines politischen Handelns
hat der amerikanische Psychologe Jeffrey Arnett Churchills Sensationslust als
eine der treibenden Kräfte hinter den Aktionen des britischen Politikers und
Premierministers identifiziert. Zeit seines Lebens hätte dieser „einen außerge-
wöhnlich großen Appetit auf Sensation und Erlebnis sowie eine Liebe für das
rücksichtslose Abenteuer gezeigt.“⁷⁹ Gesagt haben soll der spätere Premiermi-
nister unter anderem: „Ich mag es, wenn Dinge passieren und wenn sie nicht
passieren, dann sorge ich dafür, dass sie es tun.“⁸⁰ Churchill soll folglich stets auf
der Suche nach dem Extrem gewesen sein und in den Perioden seines Lebens, in
denen er sich nicht mehr selbst in waghalsige Erlebnisse stürzen konnte, den
„Kick“ durch seine oft forschen und teils nur wenig durchdachten, aber dafür
schnellen und folgenreichen politischen Aktionen erhalten haben. So handelte er
schließlich ganz im Sinne seiner Ambitionen, wenn er sich in seinen jungen
Jahren in kriegerische Auseinandersetzungen stürzte, da ein Bekanntheitsgrad als
Kriegsheld den Einzug in politische Ämter versprach, wodurch Churchill Ver-
gnügen, also die Aufregungen des Krieges per se, mit der Erfüllung seiner per-
sönlichen Ziele und Wünsche verquicken konnte.⁸¹
     Eine negative Nebenwirkung der Sensationslust war jedoch Churchills Into-
leranz von Monotonie und Stillstand.⁸² Das, in Verbindung mit dem Enthusiasmus
für Krieg auf historischer Bühne, auf der über Größe oder Niedergang entschieden
wurde, sorgte unter anderem dafür, dass Churchill den Beginn des Großen Krieges
durchaus fröhlich zu begrüßen schien.⁸³ Von diesem Moment an agierte der
spätere Premierminister für die Durchführung von Marineoperationen, für die er
nach dem Scheitern der Gallipoli-Operationen seinen Hut als Erster Lord der
Admiralität nehmen musste. Kurz nach seinem politischen Scheitern wandte sich
der so ambitionierte Churchill wieder dem Krieg zu und meldete sich freiwillig
zum Dienst im Weltkrieg und diente zwischen November 1915 und Mai 1916 als
Offizier an der Westfront. Churchill hatte nicht zu Unrecht das Gefühl, als Sün-

   Ebd.
   Churchill, Commission, S. 605.
   Zitiert nach Manchester, Lion, S. 812.
   Churchill, Commission, S. 74.
   Arnett, Churchill, S. 613.
   Manchester, Lion, S. 10.
134           5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

denbock für die gescheiterte Dardanellen-Offensive an den Pranger gestellt zu
werden, während andere ihren eigenen Kopf aus der Schlinge zogen. Bereits im
Juli 1917 wurde er von Premierminister David Lloyd George wieder als Muniti-
onsminister eingesetzt und setzte seine politische Karriere fort. Es waren nur
wenige Politiker, die am Genie Churchills zweifelten, selbst wenn sie seinen Stil
und seine ungestüme Art nicht immer guthießen. Der britische Historiker Paul
Addison weist darauf hin, dass „Churchill innerhalb der politischen Elite als ge-
scheitertes Genie galt […] Das fehlende Teil in dem sonst so wundervollen Me-
chanismus von Churchills Hirn war das Urteilsvermögen: Deswegen existierte
immer die Gefahr, dass er seine Mitstreiter ins Desaster stürzen würde.“⁸⁴
     Für gut zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde
Churchills Status als der „bedeutendste lebende Engländer“ allerdings selten in
Frage gestellt. Historiker hatten scheinbar zunächst wenig über ihn zu sagen,
zumal sich Churchill in seiner sechsbändigen Abhandlung zum Zweiten Weltkrieg
selbst sehr umfassend zu Wort gemeldet hatte. Diese Darstellung wurde als die
Wahrheit akzeptiert, denn Churchill selbst sprach sich darin über die wichtigen
Ereignisse der vergangenen Jahre aus. Erst mit seinem Tod 1965 wurde sein An-
denken aus den Händen von Zeitgenossen gelöst und ging in die Obhut der His-
toriker über, die sich wesentlich kritischer mit der Person und der Bedeutung des
britischen Staatsmannes auseinandersetzten. Der Krieg per se hatte Churchills
Leben nicht nur aufgrund der oben angesprochenen Sensationslust bestimmt,
sondern auch seine politische Karriere wurde zweimal, nämlich 1915 und 1940,
entscheidend vom Krieg beeinflusst. Während Gallipoli seinen Fall bedingte,
machte der Zweite Weltkrieg Churchill letztlich doch zum Premierminister. Der
Politiker, der zuvor oft als unberechenbar und sogar gefährlich galt, wurde durch
die Ereignisse seit 1939 zur Lichtgestalt, die gleichsam als eine der größten
Staatsmänner und Strategen des 20. Jahrhunderts gehuldigt wurde.⁸⁵ Aus heutiger
Sicht gibt es etliche Kontroversen, die sich um die Person Churchills ranken,
wobei die Dardanellen-Kampagne eine durchaus prominente Position einnimmt.
     Besonders in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg wurde über die Bedeutung
dieser Erfahrung für die Entscheidungen des britischen Premierministers speku-
liert, denn seine „strategische Reputation bewegte sich zwischen Heldenvereh-
rung und Sündenbock hin und her“.⁸⁶ Eine der extremen Positionen in diesem
Streit ging so weit, zu behaupten, dass Churchills Strategievorstellungen beinahe
zur Niederlage der Alliierten geführt habe, weil er von Alpträumen und Ängsten,

 Addison, Careers, S. 191.
 Ebd., S. 183 – 185.
 Baxter, Churchill, S. 7.
5.2 Großbritannien       135

die auf seinen eigenen Erfahrungen zur Zeit des Ersten Weltkrieges fußten, ge-
plagt, zur Vorsicht neigte, und deshalb den „indirekten Weg“ im Kampf gegen
Hitler-Deutschland befürwortete und die Errichtung der zweiten Front im Westen
verlangsamte.⁸⁷ Das negative Churchill-Bild wurde nach dem Ende des Krieges vor
allem von führenden Militärs genährt, die in ihren Memoiren einen Mann be-
schrieben, der mehr nach Stimmung und Intuition entschied, wie ein Spieler, der
für diese Art des Handelns schon nach dem Gallipoli-Desaster mit ähnlichen
Argumenten kritisiert worden war.⁸⁸
     Dabei stand er Landungsoperationen als solchen nicht zwingend feindlich
gesinnt gegenüber. Allerdings vertrat er die Auffassung, dass große Landungs-
operationen in der nahen Zukunft nicht durchführbar waren, weshalb er zu Be-
ginn der 1940er Jahre nach Plänen für kleinere Operationen verlangte. Zudem war
er der Überzeugung, dass großangelegte Luftangriffe auf Deutschland die beste
Offensivoption gegen Nazideutschland darstellte.⁸⁹ Es ist daher eine Fehlannah-
me, dass Churchill den „indirekten Zugang“ befürwortet hätte und dass er eine
strategische Ausrichtung auf das Mittelmeer hin einer zweiten Front in Frankreich
vorgezogen hätte. Churchill agierte vielmehr im Rahmen der Möglichkeiten und
wollte die Errichtung einer zweiten Front gegen ein zu starkes Deutschland ver-
meiden, da dieses Vorhaben sicherlich ähnlich desaströs hätte enden können, wie
viele andere Operationen – etwa Dünkirchen – zuvor. Michael Howard wies schon
1968 in seiner Studie zur Mittelmeer-Strategie im Zweiten Weltkrieg darauf hin,
dass Churchill keine Obsession für Nebenkriegsschauplätze besaß, sondern
vielmehr bestrebt war, die Wehrmacht dort herauszufordern, wo britische Trup-
pen eine Chance auf einen Sieg besaßen.⁹⁰ Der britische Premierminister war
folglich nicht gegen die Errichtung einer zweiten Front im Westen, er wollte diese
nur zu den bestmöglichen Konditionen schaffen.Weder ging er von einem Kollaps
der sowjetischen Truppen aus, noch glaubte er, dass die Landungen in der Nor-
mandie zu einem Desaster würden, so lange man nur den richtigen Moment gut
genug vorbereitete. Dabei spielte sein Wunsch, die Initiative zu übernehmen, je-
doch nicht immer für ihn, da ihm bisweilen die Unmöglichkeiten einiger der
Nebenkriegsschauplätze verborgen blieben.⁹¹ Es kann aber davon ausgegangen
werden, dass die relativ späte Schaffung einer zweiten Front als Folge großer
alliierter Landungsoperationen in Frankreich im Juni 1944 nicht von Churchills
angeblicher Furcht eines zweiten Gallipoli bestimmt war. Die Entwicklungen im

   Ebd.
   Ebd., S. 8.
   Ebd., S. 8 f.
   Howard, Strategy, S. 31 f.
   Baxter, Churchill, S. 10.
136           5 Gallipoli in der Erinnerungskultur

Zuge der Planungen des D-Day waren wesentlich komplexer und sollen hier, um
das Argument der Gallipoli-Angst zu entkräften, kurz zusammengefasst werden.⁹²
    Die Landung in der Normandie war eines der wichtigsten Ereignisse in der
Geschichte des Zweiten Weltkrieges. In der Kontroverse, die sich in der Diskussion
derselben entwickelte, nahm Churchill als britischer Premierminister nicht un-
vermutet eine zentrale Stellung ein, wobei ihm von sowjetischen und amerika-
nischen Militärs vorgeworfen wurde, er wäre gegen die Invasion von Westen ge-
wesen, meist mit dem Hinweis darauf, er habe die Sowjetunion unter Stalin
schwächen wollen. Dabei wurde vor allem über seine Operationswünsche im
Hinblick auf das Mittelmeer spekuliert, diese seien nur gewählt worden, weil
Churchill das Scheitern von großen Landungsoperationen, in der Tradition Gal-
lipolis, sowie eine direkte Auseinandersetzung mit der Wehrmacht in Westeuropa
fürchte. Tatsächlich aber war das Mittelmeer, nach dem Scheitern eines Eingrei-
fens in Skandinavien und der scheinbaren Unmöglichkeit, ein vom unge-
schwächten Deutschland verteidigtes Frankreich einzunehmen, die letzte Option
für etwaige Interventionen. Darüber hinaus wichen Churchills Pläne kaum von
denen seiner militärischen Berater ab. Neben einer Intensivierung der strategi-
schen Bombardierung Deutschlands wurden vom britischen Premierminister die
Eroberung Nordafrikas sowie die Invasion Siziliens als Ziele für Operationen im
Jahre 1942 genannt und befürwortet. Dabei betonte Churchill später selbst, dass es
einzig und allein eine großangelegte Landungsoperation wäre, die als entschei-
dende Maßnahme den Krieg beenden würde.⁹³
    Zu Konflikten der politischen und militärischen Entscheidungsträger schien
es unter anderem gekommen zu sein, da die amerikanische Seite unter der Füh-
rung von General George C. Marshall (1880 – 1959) davon ausging, dass nur ein
konzentrierter Großangriff in Europa die deutsche Herrschaft auf dem Kontinent
beenden würde. In einem bereits 1941 begonnen „Siegesplan“ (Victory Plan) wies
dessen Autor, Colonel Albert Wedemeyer (1897– 1989) darauf hin, dass es keinen
anderen Weg gäbe, als der deutschen Wehrmacht auf dem Kontinent mit einer
überlegenen Landarmee entgegenzutreten. Dahingehend ging er von fast neun
Millionen Soldaten in 200 Divisionen aus, wobei die Kräfte der Roten Armee zu
diesem Zeitpunkt nicht berücksichtigt worden waren. Marshalls strategisches
Konzept basierte eben auf diesen Annahmen, denen Churchills Wunsch nach
kleineren Operationen an den geographischen Peripherien des europäischen
Konfliktes zuwiderliefen. Darüber hinaus erschien den Amerikanern das west-
europäische Theater das am logistisch günstigsten gelegenste mit der kürzest

 Die Darstellung folgt dabei, sofern nicht explizit anders ausgewiesen, Ben-Moshe (Churchill).
 Churchill, Second World War, Bd. 3, S. 655.
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