ER VERGING WIE DER RAUCH - SPIELZEIT 2014/15 - LITERARISCHE COLLAGE ÜBER DEN ERSTEN WELTKRIEG VON REINER MÜLLER
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Er verging wie der Rauch Literarische Collage über den Ersten Weltkrieg von Reiner Müller Spielzeit 2014/15
das Knacken von Texten Im Gespräch mit Cornelia Pook erzählt Reiner Müller über die Entstehung und Konzeption von Er verging wie der Rauch Zu Zeiten, in denen sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal jährt, liegt eine Auseinandersetzung des Theaters mit diesem Thema nahe. Warum hast du dich für die Form der literarischen Collage entschieden und nicht für ein Theaterstück aus der Zeit oder – so wie viele andere Theater – eine Dramatisierung des berühmten Romans von Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues“? Mit einer Textcollage hat man die Möglichkeit, ein so komplexes Thema wie den Ersten Weltkrieg aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Kriege betreffen ja immer alle Menschen, auch Frauen, Kinder und Ältere, nicht nur die jungen Männer an der Front. Er verging wie der Rauch besteht deshalb aus sehr unterschiedlichen Texten: Briefe, Gedichte, Zeitungsartikel, Ausschnitte aus Romanen, Reden, Lieder u. a. Anhand von Originaltexten aus der Zeit werden verschiedene Positionen abgebildet, die von Kriegseuphorie bis zu leidenschaftlicher Kriegsgegnerschaft reichen. Wie hast du – bei der Masse an Material – deine Textauswahl getroffen? Mir war schnell klar, dass ich aufgrund der unendlichen Anzahl von Publikationen einen Fokus brauche und bestimmte Fragen stellen muss. So kam ich auf die Künstler aus der Zeit und die Frage nach der künstlerischen Verarbeitung dieses Ereignisses. Nur wenige von ihnen erkannten 1914 die zerstörerische Kraft des Krieges. Die meisten äußerten sich begeistert zum Kriegsbeginn und änderten ihre Einstellung erst später. Ich habe viele Tagebücher, Briefwechsel und literarische Werke durchgesehen, mir Auszüge markiert, abgeschrieben, gekürzt, ausgedruckt, ausgeschnitten und sie dann auf dem Fußboden ausgebreitet. So entstand allmählich die Textfassung. Ich kannte ja das Ensemble und habe Texte ausgewählt, die ich für passend, interessant und bühnentauglich hielt. So rückten allmählich die Texte einiger Künstlerinnen und Künstler ins Zentrum: die Briefe des Malers Franz Marc an seine Frau Maria; die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe der Zeichnerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz an ihren Sohn Hans, nachdem der jüngere Sohn Peter schon früh im Krieg gestorben war; die Briefe der Dichterin Else Lasker-Schüler an Franz Marc und ihre Gedichte; einige frühe Texte und Gedichte von Bertolt Brecht, die er teilweise selbst vertonte und zur Gitarre vortrug; und Geschichten aus dem Kriegsalltag von Adolf Reisiger, 3
der Hauptfigur aus Edlef Köppens Roman „Heeresbericht“. Diese Texte werden immer wieder unterbrochen von Einschüben, so dass ein hoffentlich überraschendes, neues und vielseitiges Panoptikum im Kopf der Zuschauer entsteht. Sie können Beziehungen und Verknüpfungen der vielen Einzelgeschichten herstellen, Widersprüche entdecken und Assoziationen bilden, aber auch Parallelen zur Gegenwart ziehen. Was bedeutet das Konzept der literarischen Collage für die Probenarbeit? Was ist die besondere Herausforderung für die Schauspieler und auch für dich als Regisseur? Alle Texte müssen erstmal geknackt werden. Das ist bei einem Theaterstück, in dem die Schauspieler mit einer bestimmten Rolle, Dialogen und einer klaren Handlung in die Proben starten, wesentlich einfacher. Für unseren Abend mussten wir durch mehrmaliges Lesen der Texte und darüber Sprechen tief in deren Inhalte vordringen, dabei die Biografie des jeweiligen Autors und das historische Umfeld mitdenken und dann Situationen erfinden, in denen die Texte gesprochen werden. So haben wir versucht, die 100 Jahre alten Texte mit Leben zu füllen, sozusagen die Stimmen der Toten lebendig werden zu lassen, um ihre Gedanken, Irrtümer und Erkenntnisse sinnlich auf die Bühne zu bringen. Hierfür hat Elisabeth Benning sich einen sehr spielfreudigen und wandlungsfähigen Raum ausgedacht, der es ermöglicht, die Texte 4
und Situationen aus heutiger Sicht zu erzählen und durch kleine Umbauten und Lichtwechsel unterschiedliche Orte zu etablieren. Bei den Proben, in deren Verlauf wir uns auch Dokumentationen und Filme angesehen haben, ständig vom Thema Krieg umgeben zu sein, war nicht immer einfach und erzeugte bei manchen sogar Alpträume. Das Thema Krieg ist ja nach wie vor aktuell, weshalb es umso wichtiger ist, sich damit auseinanderzusetzen und nicht zu vergessen, in welche Katastrophe die Staatsoberhäupter Europa vor 100 Jahren rissen. Eine Herausforderung bestand darin, die Grausamkeiten des Krieges, die man natürlich an so einem Abend nicht unter den Teppich kehren darf, in einem ehrlichen, aber auch erträglichen Maße zu thematisieren. Dafür waren die Dadaisten und ihr unkonventioneller Umgang mit dem Thema eine große Inspiration. Es war eine intensive Probenarbeit. Das ganze Ensemble war von Anfang an am Entstehungsprozess beteiligt, alle brachten sich mit eigenen Erfahrungen und ihren Fantasien ein, so dass auch die Persönlichkeiten der Schauspieler diesen Abend mitprägen. Das war für mich sehr wichtig und ich finde es großartig, dass alle sich darauf eingelassen haben. Reiner Müller, geboren 1965 in Oberkirch, ist Dramaturg, Regisseur und Autor. Zur Zeit lebt und arbeitet er in Hildesheim. Simone Mende und Moritz Nikolaus Koch 5
Der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ Seit Beginn des 20. Jahrhunderts belasteten machtpolitische Rivalitäten und intensives Wettrüsten die internationalen Beziehungen. Nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers in Sarajewo am 28. Juni 1914 versagten alle diplomatischen Bemühungen um eine Konfliktlösung auf Grund des unversöhnlichen Machtstrebens der europäischen Großmächte. Ab August 1914 befanden sich die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn im Krieg gegen die verbündeten Entente-Staaten Frankreich, Großbritannien und Russland. Der Krieg herrschte nicht nur auf den Schlachtfeldern in Europa, den Kolonien in Afrika, im Nahen Osten sowie auf hoher See, sondern erstmals auch an der „Heimatfront“. Hier litten viele Deutsche schon bald unter Hunger, waren vom zähen Kriegsverlauf enttäuscht und vom Massentöten an der Westfront schockiert. […] Dieser Krieg brachte eine bis dahin weitgehend 6
unbekannte technische „Modernisierung“ und Totalisierung mit sich. Durch Materialschlachten und den Einsatz modernen Kriegsgerätes setzte an der Westfront ein bis zu diesem Zeitpunkt beispielloses Töten ein. Die Steigerung der Gewalt im Verlauf des Krieges zum industrialisierten Massentod, die Brutalisierung des Kampfes und die Erfindung immer neuer Techniken des Tötens und Verletzens mittels Giftgas, Flammenwerfer oder durch den Luftkrieg prägten nicht nur nachfolgende Kriege, sondern auch das Denken fast eines jeden Soldaten. Der Erste Weltkrieg endete im November 1918 mit der militärischen Niederlage Deutschlands und seines Bündnispartners Österreich-Ungarn. Die Zahl der Toten und Verletzten bis 1918 war immens: Weltweit starben rund neun Millionen Soldaten und mehr als sechs Millionen Zivilisten. Arnulf Scriba, Deutsches Historisches Museum, Berlin, 8. September 2014 (www.dhm.de) Joëlle Rose Benhamou und Marek Egert 7
Ballade vom Weib und dem Soldaten Das Schießgewehr schießt, und das Spießmesser spießt Und das Wasser frißt auf, die drin waten. Was könnt ihr gegen Eis? Bleibt weg, ’s ist nicht weis’! Sagte das Weib zum Soldaten. Doch der Soldat mit der Kugel im Lauf Hörte die Trommel und lachte darauf: Marschieren kann nimmermehr schaden! Hinab nach dem Süden, nach dem Norden hinauf Und das Messer fängt er mit den Händen auf! Sagten zum Weib die Soldaten. Ach, bitter bereut, wer des Weisen Rat scheut Und vom Alter sich nicht läßt beraten. Nur zu hoch nicht hinaus! Es geht übel aus! Sagte das Weib zum Soldaten. Doch der Soldat mit dem Messer im Gurt Lacht’ ihr kalt ins Gesicht und ging über die Furt 8 Joëlle Rose Benhamou, Moritz Nikolaus Koch und Simone Mende,
Was konnte das Wasser ihm schaden? Wenn weiß der Mond überm Schindeldach steht Kommen wir wieder, nimm es auf ins Gebet! Sagten zum Weib die Soldaten. Ihr vergeht wie der Rauch! Und die Wärme geht auch Und es wärmten euch nicht seine Taten. Ach, wie schnell geht der Rauch! Gott behüte ihn auch! Sagte das Weib zum Soldaten. Und der Soldat mit dem Messer am Gurt Sank hin mit dem Speer, und mit riß ihn die Furt Und das Wasser fraß auf, die drin waten. Kühl stand der Mond überm Schindeldach weiß Doch der Soldat trieb hinab mit dem Eis Und was sagten dem Weib die Soldaten? Er verging wie der Rauch, und die Wärme ging auch Und es wärmten euch nicht seine Taten. Ja, bitter bereut, wer des Weibes Rat scheut! Sagte das Weib den Soldaten. Bertolt Brecht, 1921 Ensemble 9
Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou „Dada bedeutet nichts. Wir wollen die Welt mit nichts ändern.“ Zwei Sätze, die ratlos machen, die provozieren statt zu erklären. Und damit treffen sie genau den Kern der Avantgardebewegung der Dadaisten, die 1916 in der Zürcher Spiegelgasse das „Cabaret Voltaire“ gründeten. Der kindliche Stammellaut „Dada“ sollte die Einfachheit als Ursprung aller Kunst symbolisieren und zynisch das Abtun aller großsprecherischen Werte und Worte kennzeichnen. Mit Erklärungen wie dieser: „Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.“ Der Dadaismus war eine Revolte gegen kriegsverherrlichende Teile der bürgerlichen Gesellschaft. Die Gruppe um den Autor und Pazifisten Hugo Ball, den Dichter Richard Huelsenbeck, den Publizist Tristan Tzara und den Bildhauer und Lyriker Hans Arp entwickelte eine Anti-Kunst, die den etablierten Kunstbetrieb lächerlich machen sollte. In Zeiten, in denen der Erste Weltkrieg Europa erschütterte, wollten sie nicht weiter bei Häppchen und Champagner Vernissagen veranstalten. 10 Dieter Wahlbuhl und Ensemble,
Die Dadaisten gebrauchten den Zufall als schöpferisches Prinzip: Als Hans Arp eine misslungene Zeichnung zerriss, fand er in den zufällig nebeneinander gelandeten Fetzen genau den Ausdruck, nach dem er gesucht hatte. Die Collage, oft aus Reklamebildern oder Zeitungsausschnitten, wurde zur bevorzugten Technik der Dadaisten. Der Maler und Dichter Kurt Schwitters entwickelte sie zur Hochform. Und er erdachte die berühmte „Ursonate“, ein rhythmisch ausgefeiltes Meisterwerk aus scheinbar sinnlosen Vokal- und Konsonantenreihen, das gezirpt, gezischt, geflötet, gegurrt wird – ein akustisches Feuerwerk der Fantasie: „Rinnzekete bee bee nuz rrk müüü ziiuu ennze ziin.“ Im Laufe des Ersten Weltkriegs breitete sich der Dadaismus von Zürich aus über Hannover, Berlin und Paris europaweit aus. Überall protestierten Künstler durch gezielte Provokationen und vermeintliche Unlogik gegen den Krieg und das obrigkeitsstaatliche Bürger- und Künstlertum. Gegen den Nationalismus und die Kriegsbegeisterung vertraten sie Positionen des Pazifismus und stellten sarkastisch die bisherigen absurd gewordenen Werte in Frage. Dieter Wahlbuhl, Marek Egert und Moritz Nikolaus Koch 11
Er verging wie der Rauch Literarische Collage über den Ersten Weltkrieg von Reiner Müller mit Texten von Hans Arp, Hugo Ball, Bertolt Brecht, George Grosz, Walter Hasenclever, Richard Huelsenbeck, Paul Klee, Käthe Kollwitz, Edlef Köppen, Heinrich Lersch, Else Lasker-Schüler, Franz Marc, Erich Mühsam, Robert Musil, Erich Maria Remarque, Walter Serner, Ernst Toller, Georg Trakl, Kurt Tucholsky, Tristan Tzara, Carl Zuckmayer Premiere 14. Februar 2015 im Großen Haus, Hildesheim Aufführungsdauer ca. 2 Stunden 20 Minuten, inklusive einer Pause Inszenierung Reiner Müller Bühne und Kostüme Elisabeth Benning Dramaturgie Cornelia Pook Mit Joëlle Rose Benhamou Marek Egert Moritz Nikolaus Koch Simone Mende Dieter Wahlbuhl Vertonung des Gedichts „Kriegslied“ von Erich Mühsam Moritz Nikolaus Koch Reiner Müller Elisabeth Benning Joëlle Rose Benhamou Marek Egert 12
Regieassistenz, Abendspielleitung und Requisite Anne Beyer Inspizienz Stefan Garbelmann Soufflage Katharina Henker Ausstattungshospitanz Alena Grotjahn Technik/Werkstätten Technische Direktion Guido aus dem Siepen*, Ringo Günther Ausstattungsleitung Anne-Katrin Gendolla* Technische Leitung Produktion Andrea Radisch* Bühnentechnik Eckart Büttner*, Jenny Nobbe, Josef Dettmar, Manfred Lawrenz Beleuchtung Lothar Neumann*, Dominik Schneemann, Daniel Paustian Ton Thomas Bohnsack-Pätsch*, Attila Bazso Maske Carmen Bartsch-Klute*, Susanne Bierschwale, Birgit Heinzmann, Jennifer Mewes Requisite Silvia Meier*, Friederike Thelen Schneidereien Annette Reineking-Plaumann*, Egon Voppichler* Werkstättenleitung Werner Marschler* Tischlerei Johannes Niepel* Malsaal Thomas Mache* Schlosserei Joachim Stief* Dekoration Danja Eggers-Husarek, Anita Quade * Abteilungsleiter/-in Moritz Nikolaus Koch Simone Mende Dieter Wahlbuhl 13
Impressum TfN · Theater für Niedersachsen Theaterstr. 6, 31141 Hildesheim www.tfn-online.de Spielzeit 2014/15 Intendant Jörg Gade Prokuristen Claudia Hampe, Werner Seitzer Redaktion Cornelia Pook Probenfotos Andreas Hartmann Porträtfotos T.Behind-Photographics, Andreas Hartmann Text- und Bildnachweise S. 3: Franz Marc Tierschicksale (1913) in: Bürgi/ Zimmer (Hrsg.): Kunstmuseum Basel. Die Meisterwerke. Ostfildern 2011. S. 4: Käthe Kollwitz Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden (1941) in: Käthe Kollwitz. Meisterwerke. München 1993. S. 8/9: Ballade vom Weib und dem Soldaten in: Bertolt Brechts Hauspostille. Frankfurt/Main 1982. S. 10/11: Der Text über den Dadaismus ist ein Originalbeitrag unter Verwendung von: Hermann Korte: Die Dadaisten. Reinbek bei Hamburg 1994. S. 16: Edlef Köppen: Heeresbericht, Berlin 1930. Gestaltung ProSell! Werbeagentur GmbH, Hannover Layout Jolanta Bienia Druck Gerstenberg Druck & Direktwerbung GmbH Gefördert durch: Partner: Sponsoren: Freunde des Theater für Niedersachsen e. V. 14
Joëlle Rose Benhamou und Marek Egert 15
„Wie stellen Sie sich eigentlich den weiteren Verlauf dieser Kotzsituation vor?“ Edlef Köppen, Heeresbericht
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