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Zeitschrift für Weltgeschichte — Interdisziplinäre Perspektiven pen Jahrgang 21 - Heft 01 - Frühjahr 2020, Peter Lang, Berlin, S. 33–47 Aslı Vatansever Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei Seit der Veröffentlichung des Friedensaufrufes der “Akademiker für den Frieden”- Initiative im Januar 2016 wurde die Wissenschaftsfreiheit in der Türkei einem massiven Angriff ausgesetzt. Obschon die AKP-Ära einen erneuten autoritären Eingriff in die Sphäre der intellektuellen Produktion darstellt, der durch den Aufstieg des neoliberalen Populismus verstärkt wird, ist die staatliche Kontrolle über die Universitäten und die Unterdrückung von Andersdenkenden kaum ein Novum in der Türkei. Das Erbe der zentralistischen Modernisierung und die historische Fehde zwischen der säkularen Intelligentzija und der religiös-kon- servativen Wählerschaft der AKP fügen nur eine zusätzliche Rachsucht zu der bereits verwurzelten antiintellektualistischen Staatstradition in der Türkei hinzu. Dieser Artikel behandelt den historischen Hintergrund der o.g. Fehde, die bis in den Inkorporationsprozess des Osmanischen Reiches in die kapitalistische Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert zurückreicht. Der tief verwurzelte Antiintel- lektualismus in der türkischen Gesellschaft wird hauptsächlich auf zwei Faktoren zurückgeführt: zum einen auf den Kampf zwischen der bürokratischen Elite und den muslimischen Kleinproduzenten, der sich hinter einem superstrukturellen Kulturkampf versteckte, aber bei dem es sich eigentlich um die Umverteilung der wirtschaftlichen sowie sozialen Macht im Zuge der Inkorporation handelte; zum anderen auf die utilitaristische Herangehensweise an das Wissen, die von einer Besessenheit mit der Aufholung des Westens gekennzeichnet war und bis in die Gegenwart hineinreichte. Die AKP-Regierung führt seit etwa 4,5 Jahren bekanntlich einen Krieg gegen akademische und wissenschaftliche Freiheiten. Der Ausgangspunkt war die Ver- öffentlichung des von über 2.000 Wissenschaftlern und Universitätsdozenten unterschriebenen Friedensaufrufs im Januar 2016, der den türkischen Staat eines Massakers in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Städten im Südosten beschuldigte und zur Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen aufforderte. Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Petition wurde ein Großteil der Unterzeichner Disziplinarverfahren, Kriminalermittlungen, polizeilichen Verhö- ren, Entlassungen, Dienstenthebungen und Zwangspensionierungen ausgesetzt. Die massive Säuberungswelle, die der Staat und die Universitätsverwaltungen © 2020 Aslı Vatansever - http://doi.org/10.3726/ZWG0120203 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
34 | Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei ZWG-01-2020 gemeinsam durchgeführt haben, erreichte ein atemberaubendes Ausmaß nach dem angeblichen Putschversuch im Juli 2016. Während des Ausnahmezustands vom September 2016 bis Juli 2018 wurden insgesamt 15 Universitäten geschlos- sen und mehr als 6.000 Wissenschaftler vom öffentlichen Dienst verbannt – darunter etwa 500 Friedensakademiker.1 Darüber hinaus wurden seit Dezember 2017 gegen mehr als 600 Unterzeichner Verfahren wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ eingeleitet. Im Folgenden wird der historische Hintergrund dieses Problems vorgestellt, von dem die gegenwärtige konservative Offensive lediglich den Gipfel darstellt. Die Hauptthese lautet, dass die gegenwärtigen Entwicklungen eigentlich aus einem tief verwurzelten Antiintellektualismus in der osmanisch-türkischen Ge- sellschaft stammen, welcher ins 19. Jahrhundert zurückreicht und entlang zwei sich überschneidender Linien verlief: Zum einen entlang einer epistemologischen Linie, welche die Wissensproduktion auf einen staatspolitisch orientierten, utilitaristischen, auf die Aufholung des “entwickelten Westens” abgezielten Eklektizismus reduzierte; zum anderen entlang einer sozialen Linie, die sich im Spannungsfeld zwischen der in der osmanischen Staatsbürokratie eingenisteten Bildungselite und den muslimischen Massen entwickelte. Die Behauptung, dass die gegenwärtige Situation historische Wurzeln hat, sollte selbstverständlich keineswegs auf eine Verharmlosung der jetzigen politi- schen Lage in der Türkei hinauslaufen. Allerdings sollte man auch davon absehen, die republikanische Geschichte mit einer unverdienten Ehre als „Hochburg von wissenschaftlichen Freiheiten“ zu versehen, nur um die AKP-Regierung bloß nicht von ihren Verbrechen freizusprechen. Die gegenwärtige Offensive gegen kritisches Denken ist tatsächlich beispielslos in ihrem Ausmaß, aber in ihrer Essenz ist sie dennoch im Einklang mit dem antiintellektualistischen Erbe der letzten 150 Jahre. Die staatlich geleitete Entwicklung einer Intellektuellenschicht im Osmanischen Reich Während seiner Inkorporation ins kapitalistische Weltsystem ab Mitte des 18. Jahrhunderts unterzog sich das Osmanische Reich tiefgreifenden sozia- len, politischen und administrativen Transformationen, die gewöhnlich als 1 HRFT (Human Rights Foundation Turkey): Supporting Academics as a Human Rights Actor in a Challenging Context, 2018, S. 2 f., http://www.tihvakademi.org/wp-content/ uploads/2018/07/HRFTAcademy-Newsletter-2.pdf (Stand August 2018).
ZWG-01-2020 Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei | 35 „Modernisierung“ bezeichnet werden.2 Angesichts der endogenen und exogenen Grenzen, auf die sein expansionistisches, fiskalistisch-provisionistisches System ab dem frühen 18. Jahrhundert zu stoßen begann, und der Inkompatibilität seiner klassischen Gesellschaftsformation mit der vorherrschenden Logik des Kapitalis- mus, läutete der osmanische Staat eine Reihe von zentralistischen Reformen ein, um seine geopolitische Position sowie die staatliche Zentralmacht vis-à-vis den dezentralistischen Gruppen wie lokalen Potentaten (ayan) und Steuerpächtern (mültezim) wiederherzustellen. Im Einklang mit diesen Bemühungen wurde das uralte Devschirme-Verfahren3 mit einem rationalisierten Bildungssystem zur Er- stellung einer modernen Zivil- und Militärbürokratie ersetzt. Diese Bildungselite bildete im Laufe des 19. Jahrhunderts den Kern der modernen osmanischen Intellektuellenschicht. Die vom Staat geleitete Entwicklung der Intellektuellenschicht hatte zweierlei Auswirkungen auf das intellektuelle Leben in der osmanisch-türkischen Gesell- schaft. Erstens entwickelte sich die spätosmanische und türkische Intelligentzija dadurch zum Staatskader; sie bestand hauptsächlich aus Zivil- und Militärbüro- kraten, die sich als die Repräsentanten – oder mehr noch: Besitzer – des Staates betrachteten. Dementsprechend blieben ihre Beweggründe und Sorgen zum Großteil im Einklang mit denen des Staates, obgleich sich die politischen Metho- den, die sie zur Wiederbelebung der zentralen Staatsmacht vorschlugen, im Zuge des 19. Jahrhunderts nach und nach von denen des Sultans, dessen Herrschaft viele dem Absolutismus ähnliche Züge trug, erheblich unterschieden. Unter die- sen Umständen war das Ziel der Wissensakkumulation nicht die „Suche nach der Wahrheit“ per se, sondern die Auslieferung von bruchstückhaften Informationen 2 Für einen weltsystemanalytischen Ansatz, der die Unzulänglichkeiten der Modernisie- rungstheorien überwindet, empfiehlt sich ein Blick in die folgenden Basistexte: Reşat Kasaba: The Ottoman Empire and the World Economy. The 19th Century, Albany/ NY 1988; Çağlar Keyder: State and Class in Turkey. A Study in Capitalist Develop- ment, London u. New York 1987; Şevket Pamuk: The Ottoman Empire and European Capitalism, 1820–1913. Trade, Investment and Production, New York 1987. 3 Devschirme (Auslese) bezieht sich auf das Auswahlverfahren des osmanischen Staates zur Erstellung einer staatstreuen Bürokratenschicht in seiner klassischen Phase. Dem- entsprechend wurden jedes Jahr aus den Balkanprovinzen eine gewisse Anzahl von gesunden und intelligenten christlichen Jungen im Alter von 8 bis 18 gesammelt und in den Palast gebracht, um als Janitscharen oder Staatsmänner rekrutiert zu werden. Dieses Verfahren, das die christliche Bevölkerung “Blutsteuer” nannte, kam gegen Mitte des 18. Jahrhunderts praktisch zu einem Ende.
36 | Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei ZWG-01-2020 im Dienste und zu Gunsten des Staates als Institution. Demzufolge wurde die herrschende Sichtweise auf Wissensproduktion in der osmanisch-türkischen Gesellschaft größtenteils von der Staatsräson vorbestimmt. Zweitens führten die sozialen Koordinaten der osmanisch-türkischen Intellektu- ellenschicht als „Staatsbeamten“ zu deren Bild in der Öffentlichkeit als „parasitäre bürokratische Eliten, die an Steuern schmarotzen“. Ihr sozialer Status sowie ihre historische Rolle als Befürworter der Verwestlichung, welche die muslimischen Massen als Bedrohung gegen die traditionellen Grundlagen der Gesellschaft und als Erniedrigung der muslimischen Identität wahrnahmen, versetzte sie in eine antagonistische Position vis-à-vis den Kleinproduzenten und den ehemaligen pri- vilegierten Schichten. Diese eigentlich aus einem Klassenkonflikt hervorgegangene Fehde manifestierte sich ab dem späten 19. Jahrhundert in einer „superstrukturellen Dualität“ zwischen einer „verwestlichten“ und angeblich säkularen und progressiven Bildungselite und den „ignoranten“ und „wesenhaft fortschrittsfeindlichen“ musli- mischen Massen.4 Das fortdauernde Erbe dieser wahrgenommenen kulturellen Kluft zwischen einer gebildeten Minderheit und dem „wahren Volk“ reichte bis in die Gegenwart hinein, trotz der Ausweitung der formalen Ausbildung auf breitere gesellschaftliche Schichten in den späteren Phasen der Republik. Die epistemologischen Ursprünge des Antiintellektualismus in der Türkei Hinsichtlich des epistemologischen Aspekts des osmanisch-türkischen Antiintel- lektualismus empfiehlt es sich, die Entwicklung der osmanischen Intelligentzija in drei Perioden aufzuteilen, welche jeweils mit drei verschiedenen Generationen von Intellektuellen in Verbindung gebracht werden, nämlich mit den Tanzimat- Reformern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den exilierten „neuosmani- schen“ Konstitutionalisten ab den späten 1860er bis die 1880er Jahre und den „Jungtürken“ ab den 1890er Jahren, die unter dem Kommittee für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki) eine wesentlich gewaltsamere und nationalistischer geprägte Sichtweise vertraten.5 4 İdris Küçükömer: Düzenin Yabancılaşması, Istanbul 1969; Aslı Vatansever: Ursprün- ge des Islamismus im Osmanischen Reich. Eine weltsystemanalytische Perspektive, Hamburg 2010. 5 Für die Auswirkung dieser nationalistischen Wende auf die osmanische Literatur siehe Hülya Adak: Literary Heritages of the Ottoman Empire, in: International Encyclopedia of the First World War 19141918-Online, 2018, S. 1-11. Mit freundlicher Genehmi- gung der Autorin.
ZWG-01-2020 Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei | 37 Die drei Generationen von osmanischen Intellektuellen unterschieden sich in ihrem sozialen und Bildungshintergrund sowie in deren politischen Anschauungen. In sozialer Hinsicht waren die Tanzimat-Reformer Beamten, die in der klassischen Tradition der Palastausbildung erzogen worden waren. Sie hatten hohe Ämter inne, was ihnen eine direkte Teilnahme an staatlichen Ent- scheidungsmechanismen erlaubte und ihre Interessen mit denen der Monarchie zum Großteil in Einklang brachte. Im Gegensatz dazu waren die nächsten beiden Intellektuellengenerationen Produkte der modernen Bildungsinstitutionen. Sie stammten mehrheitlich aus Mittelschichtsfamilien und versuchten als junge, vielversprechende Kandidaten, es in die Staatsbürokratie zu schaffen. Als sie ihre Karrierewege durch die alten Kader und rückständigen politischen Struk- turen blockiert sahen, wandten sich diese osmanischen Robespierres anderen Einkommensquellen zu wie Journalismus, Lehre, Verlagswesen und Literatur.6 Darüber hinaus nutzten sie diese Medien, um jene Staatsstruktur öffentlich zu kritisieren, innerhalb der sie sich gegenüber den etablierten Eliten zurückgesetzt fühlten. Aus verständlichen Gründen zielten ihre politischen Reformentwürfe auf die Herstellung eines inklusiveren Regimes, an dem sie teilnehmen konnten. Obwohl die Jungtürken theoretisches Denken generell denunzierten und sich explizit für unmittelbare (und gewaltsame) Aktion einsetzten, wiesen sowohl die Neu-Osmanen als auch die späteren Jungtürken ein grundlegendes gemeinsames Charakteristikum auf, nämlich dass sie beide die gegenwärtigen Themen im Hinblick auf die Lage des Reiches aus der Notfallperspektive betrachteten.7 In- folgedessen entwickelten sie eine höchst utilitaristische Beziehung zum Wissen, in der es keinen Raum für tiefe Analysen und philosophische Argumentation gab. Die osmanischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts lebten in einer Phase der Krise, in der „die alte Welt im Sterben lag, die neue noch nicht geboren war“, um es mit Gramsci zu sagen.8 Die traditionellen Institutionen erwiesen sich zunehmend als unvereinbar mit den Notwendigkeiten der Inkorporation ins kapitalistische Weltsystem, aber die Reformen schienen auch zusätzliche Wi- dersprüche herbeizuführen. Die osmanischen Intellektuellen betrachteten die 6 Fatma Müge Göçek: Rise of the Bourgeoisie, Demise of Empire. Ottoman Westerni- zation and Social Change, Oxford u. New York 1996, S. 124. 7 In seiner monumentalen Genealogie der politischen Strömungen im späten Osmani- schen Reich und der Türkei bezeichnet Tanıl Bora diese Mentalität als “Alarmismus”. Siehe Tanıl Bora: Cereyanlar. Türkiye’de Siyasi İdeolojiler, Istanbul 2017, S. 36 ff. 8 Sue Golding: Gramsci’s Democratic Theory. Contributions to a Post-Liberal Demo- cracy, Toronto u.a. 1992, S. 119.
38 | Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei ZWG-01-2020 Herausforderungen der Zeit eher aus einer rein politischen, staatlichen Perspek- tive, ohne den sozio-ökonomischen Hintergrund der sich vergrößernden Kluft zwischen dem Westen und dem Osmanischen Reich zu berücksichtigen. Als ein fiskalisch-provisionistisches Weltimperium in der Art des antiken Römischen Reiches stellte für den osmanischen Staat der geographische Rückzug das be- sorgniserregendste Problem dar. Die Idee, dass der Rückschlag, den das Reich erlitt, auf eine inhärente Unvereinbarkeit zwischen der fiskalischprovisionisti- schen Wirtschaftslogik und der des Kapitalismus zurückzuführen wäre, scheint jedenfalls keinen Nachhall unter den osmanischen Intellektuellen gefunden zu haben. Angesichts ihrer Abneigung gegen tiefschürfende Analysen befanden sich die osmanischen Intellektuellen folglich in einer „epistemologischen Leere“ und versuchten dadurch voranzukommen, indem sie je nach Problem die nützlich scheinenden Ideen eklektisch zusammenschweißten.9 Der gesamte intellektuelle Diskurs im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert drehte sich um diesen Problemlösungsdrang. Die erste moderne osmanische Intellektuellengeneration, nämlich die nach dem sultanischen Erlass von 1839 so genannten Tanzimat-Reformer, zielten im Grunde genommen auf die Be- sänftigung der europäischen Mächte und die Sicherstellung der territorialen Integrität des Reiches ab, als sie Reformen zur Verbesserung der bürgerlichen Rechte und zur Gleichstellung von verschiedenen Religionsgruppen vorschlugen. Ähnlich verfolgten ihre Nachfolger, die Neu-Osmanen, denselben Zweck, als sie den Konstitutionalismus als Allheilmittel heranzogen. Sie bezogen sich auf ein breites Spektrum von Ideen aus unterschiedlichsten Quellen, das sich von Lockes Idee von repräsentativer Regierung bis hin zu dem klassisch-islamischen Beratungsprinzip streckte (Meşveret). Die Werke des prominentesten neuosma- nischen Autors, Namık Kemals, die sich auf eine Mischung aus europäischem Liberalismus und einem Appell für eine Rückkehr nach Scharia beziehen, spie- geln diesen Eklektizismus vorzüglich wider.10 Der sozio-historische Hintergrund jener Ideen oder die Frage, inwiefern sie miteinander vereinbar waren, scheint die 9 Ebd., S. 27. 10 Şerif Mardin: The Genesis of Young Ottoman Thought: A Study in the Modernization of Turkish Political Ideas, Syracuse/NY 2000 (Originalausgabe 1962), S. 328 ff. Für eine Analyse der Bemühungen seitens der osmanischen Intellektuellen um eine Zu- sammensetzung der islamischen und säkularen Ideen als “entdeckte Tradition” siehe Selim DERINGIL: The Invention of Tradition as Public Image in the Late Ottoman Empire, 1808 to 1908, in: Comparative Studies in Society and History 35 (1), 1993, S. 3-29, http://www.jstor.org/stable/179114 (Stand 15.5.13).
ZWG-01-2020 Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei | 39 Neu-Osmanen dabei nicht wirklich gekümmert zu haben. Eine ähnliche Nach- lässigkeit ist in den Aktivitäten des Konstantinopler Übersetzungsbüros – dem Geburtsort der neuosmanischen Bewegung – zu bemerken, das statt „wörtliche Übersetzung“ eher das Prinzip der „Kurz-“ oder „korrektiven Übersetzung“ befolgte und nur das „Notwendigste“ aus europäischen Texten übersetzte.11 Fragmentari- sche Informationen zugunsten der „politischen Sache“ wurden jedenfalls einer detaillierten Studie vorgezogen, da „unter den außergewöhnlichen Umständen, unter denen sich das Reich befand“, der Zweck die Mittel rechtfertigte. Diese Art von Pragmatismus ebnete den Weg für eine noch listigere und gewaltsame, ja fast machiavellistische Konzeption von Regimeveränderung, vertreten durch das Komitee für Einheit und Fortschritt, das 1889 nach dem Vorbild der italienischen Carbonari von einer Gruppe von Medizinstudenten gegründet wurde. Die systematische Tendenz zur Abweisung von intellektueller Debatte und Tiefenanalyse als „Zeitverschwendung“ entwickelte sich allmählich zu einer Weltanschauung und schließlich zu einer nachhaltigen politischen Kultur, welche später auch die von den Nachfahren der Jungtürken gegründete Türkische Republik charakterisierte. Nachdem es beim Pariser Kongress der osmanischen Liberalen im Jahre 1902 zu einer Spaltung in der jungtürkischen Bewegung kam, gewann der militaristische und ausdrücklich antiintellektualis- tische Zweig, vertreten durch das Komitee für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki), die Oberhand – teilweise durch Drohung und Einschüchterung seiner politischen Rivalen. In diesem Sinne scheint die intellektuelle Genealogie der osmanischen Eliten eine gewisse Festigkeit aufzuweisen in ihrem systematischen Desinteresse an tiefschürfender Forschung und Analyse. Während des ganzen 19. Jahrhunderts drehten sich die intellektuellen Debatten ausschließlich um den Weiterbestand des Staates, wobei rein wissenschaftliche Neugierde komplett abwesend zu sein scheint. Die drei Generationen von osmanischen Intellektuellen unterschieden sich nur bezüglich des Umfangs und der Methode ihrer Sozialwandelsvorstel- lungen. Dieser Unterschied zeigt sich in dem Übergang vom moderaten Re- formismus zur vulgären Subversion – eine in osmanischen Verhältnissen eher unerhebliche Verlagerung des Schwerpunktes vom „Staatsdienst“ zur „Staats- ergreifung“. Die Tanzimat-Männer vertraten einen moderaten Reformismus, indem sie den Hauptprinzipien der osmanischen Staatsstruktur folgten, wobei ihre Nachfolger, die Neu-Osmanen, die traditionellen Grundlagen des Reiches 11 Bora: Cereyanlar (wie Anm. 7), S. 30.
40 | Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei ZWG-01-2020 mit europäischem Konstitutionalismus zu vereinbaren versuchten und somit eigentlich eine Regimeveränderung erstrebten. Die Jungtürken dagegen ver- traten eine militaristischere Vorstellung von Nationsbildung und glaubten fest an Positivismus und Sozialdarwinismus.12 Allerdings stellte die Besessenheit mit dem Weiterbestand des Staates nicht die einzige Schnittmenge des osmanischen intellektuellen Lebens dar, sondern auch die Funktion der Intellektuellen als „Beschützer des Staates“ war bei allen Intellektuellengenerationen zu finden: Die Idee, dass die Intellektuellen als „Beschützer des Staates“ ihre Zeit und die ihnen zur Verfügung gestellten Staatsressourcen nicht mit „Phrasendrescherei“ ver- schwenden sollten, hat jedenfalls den öffentlichen Diskurs für immer geprägt. Diese hinter „notwendigem Pragmatismus“ versteckte Art des Antiintellektualis- mus blieb eingebettet in der osmanisch-türkischen intellektuellen Tradition. Bemerkenswerterweise haben alle drei osmanische Intellektuellengenerationen die Abneigung gegen „zu viel Intellektualismus“ gemein, den sie mit Wirkungslo- sigkeit, Feigheit und Impotenz assoziierten – jene Eigenschaften, die im Übrigen generell als Zeichen für einen Mangel an Männlichkeit betrachtet werden. 13 Die Kombination aus dieser machohaften Einstellung gegenüber abstraktem Denken und der andauernden Angstneurose über den Erhalt der territorialen Einheit ebnete später den Weg für den militanten Nationalismus der Jungtürken. Die Jungtürken würden dann die Gründungskader der Türkischen Republik darstel- len und deren elitärer Top-down-Ansatz zur Sozialmanipulation, der weitgehend mit Jakobinismus in Verbindung gebracht wird, würde die Gründungsprinzipien der Republik zum Großteil vorbestimmen. Trotz der ideologischen Nuancen blieben die Obsession mit staatlichen Angelegenheiten, die Heiligung des Staates als Institution und das Streben nach staatlichen Ämtern ein Charaktermerkmal der osmanisch-türkischen Intelligenzija. Die traumatische Erinnerung an die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die als „Sèvres-Syndrom“ in die Literatur einging, sowie die ultranationalistische offizielle Geschichtsschreibung in der republikanischen Ära haben jedenfalls in diese „alarmistische Paranoia“ hineingespielt und den hysterischen Nationalis- mus, Etatismus und die Abneigung gegen analytisches und kritisches Denken unumkehrbar in das intellektuelle Leben der Türkei eingraviert. 12 Alper Bilgili: An Ottoman Response to Darwinism. İsmail Fennî on Islam and Evolution, in: British Journal for the History of Science 48 (4), 2015, S. 565-582, hier S. 565-566; Necmettin Doğan: The Origins of Liberalism and Islamism in the Ottoman Empire (1908–1914). A Sociological Perspective, Diss. FU Berlin 2006, S. 63. 13 Bora: Cereyanlar (wie Anm. 7), S. 40.
ZWG-01-2020 Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei | 41 Der soziale Hintergrund des Antiintellektualismus in der osmanisch- türkischen Gesellschaft Wie vorhin erklärt, waren die osmanischen Intellektuellen entweder bereits in der Staatsbürokratie eingebettet oder strebten danach. Als unmittelbare Pro- dukte der Reformen und westlichen Bildungsinstitutionen des 19. Jahrhunderts waren sie feste Befürworter von „Modernisierung“.14 Was die osmanischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts als „Modernisierung“ bezeichneten, war allerdings ein kulturelles und administratives Komplement des wirtschaftlichen Inkorporations- und Peripherisierungsprozesses. Entscheidend für die Haltung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gegenüber Modernisierung waren im Endeffekt deren jeweilige Koordinaten in dem neuen sozioökonomischen Kontext, den die Peripherisierung hervorbrachte. Durch die zentralistischen Verwaltungsreformen und die liberale Umstrukturierung der osmanischen Wirtschaft sahen sich beispielsweise die ehemaligen privilegierten Schichten wie die Janitscharen und die Ulema sowie die dezentralen Elemente wie lokale Potentaten und Steuerpächter, aber auch die muslimischen Kleinproduzenten in den Städten zunehmend im Nachteil jeweils der neuen Bürokratenschicht, dem Zentralstaat und den europäischen sowie den osmanischen christlichen und jüdischen Händlern gegenüber. Die Inkorporation des Osmanischen Reiches in die kapitalistische Weltwirt- schaft als ein peripherer Teil setzte die Transformation des Reiches in einen Rohstoffexporteur für die westlich dominierten internationalen Warenmärkte voraus.15 Der wirtschaftliche Peripherisierungsprozess ging mit einer zunehmen- den Beiseiteschiebung des osmanischen Staates in der internationalen Politik und dadurch mit einem zunehmenden Minderwertigkeitsgefühl und Defätismus gegenüber den europäischen Mächten einher. Dieses Minderwertigkeitsgefühl machte sich relativ rasch bemerkbar, nicht zuletzt dadurch, dass die europaaffinen Staatsmänner und Intellektuellen allmählich ihre eigene Gesellschaft aus der Sicht 14 Selbstverständlich unterschieden sie sich in ihren methodologischen Ansichten. Zum Beispiel steht Ziya Gökalps radikal säkularistisch-nationalistische Anschauung im starken Kontrast zu dem panosmanistischen Ansatz von Namık Kemal (1840-1888) und der anderen Neu-Osmanen wie Ziya Paşa (1825-1880) oder Midhat Paşa (1822-1884). Siehe Kemal Karpat: The Politicization of Islam. Reconstructing Identity, State, Faith, and Community in the Late Ottoman State, Oxford 2002, S. 316. 15 Immanuel Wallerstein: The Modern World-System. Bd. 3. The Second Era of Great Expansion of the Capitalist World-Economy, 1730s-1840s, New York 1989, S. 130 f.
42 | Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei ZWG-01-2020 der europäischen Ideen und Sitten zu beurteilen begannen. In diesem Bezug scheint Jürgen Osterhammels Konzept der asymmetrischen Referenzverdichtung besonders relevant zu sein, um den Prozeß der kulturellen Peripherisierung zu begreifen.16 Laut Osterhammel führte die Verdichtung der Kommunikation im qualitativen sowie quantitativen Sinne im 19. Jahrhundert zu einer zunehmend nach außen gerichteten Orientierung seitens der Bildungseliten und zu einer In- tensivierung des intellektuellen Austauschs mit verschiedenen Regionen der Welt. Allerdings folgte der Strom von Ideen und Praktiken in dem Maße eher einem „monopolaren Referenzschema“, so dass sich der Westen global als „normativer kultureller Referenzmaßstab“ durchsetzte.17 Während dieser Phase befanden sich die osmanischen Intellektuellen in einer zunehmend ambivalenten Position. Zwar ermöglichte ihnen deren Bildungs- hintergrund die Beobachtung und Evaluierung von verschiedenen Aspekten der „westlichen“ Kultur, aber deren Haltung gegenüber diesen neuen Horizonten blieb überwiegend einseitig und emotional: Sie schwankten zwischen Bewunde- rung für technologische Innovation und Bürgerrechte und tiefer Wut gegenüber den Zwangsmechanismen des Imperialismus. In diesem Sinne gilt das, was die nicht-westliche Bildungselite anderswo im 19. Jahrhundert kennzeichnet, auch für die osmanischen Intellektuellen, nämlich dass sie eine komplizierte Hass- Liebe gegenüber dem Westen empfanden. Deren Besessenheit mit der Idee, den „entwickelten“ Westen aufzuholen, führte sie quasi dazu, die nicht „verwestlich- baren“ Elemente in der osmanischen Gesellschaft (zu denen manche auch den Islam zählten) für die Unterentwicklung des Reiches verantwortlich zu machen. Bereits im frühen 18. Jahrhundert hatte die politische Elite angefangen, west- liche kulturelle Referenzen und Artefakte als Statussymbol zur Schau zu stellen. Aber erst im 19. Jahrhundert wurde die „Modernisierung“ allmählich zu einem politischen und kulturellen Machtinstrument, als die Zivil- und Militärbürokratie den Reformbedarf als Anlass zur Konsolidierung der zentralen Macht heranzog. Die Diskrepanz zwischen den „modernen“ Eliten und den traditionellen Massen hinsichtlich der Verteilung der relativen Vorteile der Inkorporation führte allmäh- lich zu einer „superstrukturellen“ bzw. „kulturellen Dualität“.18 Der Klassenkonflikt zwischen einer parasitären Bürokratenschicht, die von den Steuereinnahmen 16 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhun- derts, München 2009. 17 Ebd., S. 1293-1295. 18 Küçükömer: Düzenin Yabancılaşması (wie Anm. 4).
ZWG-01-2020 Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei | 43 zehrte, und einer enormen Masse von steuerpflichtigen Bauern und Kleinpro- duzenten versteckte sich also hinter einer kulturellen Spaltung zwischen einer angeblich progressiven Elite und den sogenannten reaktionären Massen – eine Verwerfungslinie, die bis in die republikanische Ära hineinreichte.19 Ironischerweise betrachteten beide Fraktionen einander entweder, wie sie dem Westen gegenüber eingestellt waren, oder wie eben der Westen sie betrachtete. So sahen beispielsweise die muslimischen Massen in der Bildungselite die Widerspiege- lung ihres Europa-Bildes: eine bösartige, fremde Macht, die auf ihre hunderte Jahre alten Sitten und Werte herabschaute, während sie ihnen gleichzeitig eine „verdorbene“ Kultur auferlegte, um die Grundlagen der muslimischen Gesellschaft zu untergraben. Die Bildungselite dagegen betrachtete die muslimische Bevölkerung aus der Pers- pektive des westlichen Beobachters und sah sie als eine „dunkle“ und „rückständige“ Masse, die sich aufgrund einer inhärenten, auf religiösen Fanatismus und Ignoranz zurückzuführenden Fortschrittsfeindlichkeit gegen Veränderung wehrte.20 Interessant ist auch die Tatsache, dass es trotz der Dämonisierung der Bildungs- eliten als „arrogante Parasiten“, die die kulturelle Fabrik der Gesellschaft umzu- formen versuchten, nie wirklich eine einflussreiche Gruppe von Intellektuellen im großem Maßstab gab. Auch stammten die meisten sogenannten Eliten nicht immer aus elitären gesellschaftlichen Verhältnissen. Wie Tanıl Bora bemerkt, 19 Sogar nach der Gründung der Republik konnte sich die elitäre Abstempelung von breiteren Gesellschaftsgruppen als “reformunfähig” durch die offizielle Geschichts- schreibung reproduzieren. Im Gegensatz zu dieser weitgehend akzeptierten Annahme zum Misserfolg der Reformen des 19. Jahrhunderts bezieht sich z.B. Yonca Köksal auf empirische Befunde aus den osmanischen Provinzen während der Tanzimat-Phase und schlussfolgert, dass “es dem imperialen Zentrum gelang, ziemlich erfolgreich seine Kontrolle über die administrative Infrastruktur zu verstärken” und “Unterstützung für die staatlichen Reformen zu mobilisieren”. Siehe Yonca Köksal: Rethinking Nationalism. State Projects and Community Networks in 19th-Century Ottoman Empire, in: American Behavioral Scientist 51 (10), 2008, S. 1498-1515, hier S. 1501, http://abs.sagepub.com/cgi/con- tent/abstract/51/10/1498 (Stand März 2018). Laut Köksal scheiterte der osmanische Staat nicht bei der Implementierung von zentralistischen Reformen, aber eher bei der Erstellung einer nationalen Identität. 20 Edhem Eldem bezieht sich auf die Akzeptanz der Idee, der Orient sei dem Okzident essentiell unterlegen, seitens der osmanischen Eliten und führt sie auf einen “Minder- wertigkeitskomplex” zurück. Er zieht den “ersten westlich gebildeten Maler”, Osman Hamdi Bey, als Paradebeispiel des “osmanischen Orientalismus” heran. Siehe Edhem Eldem: Ottoman and Turkish Orientalism, in: Architectural Design (Special Issue: Turkey at the Threshold) 203, 2010, S. 26-31, hier S. 27 f.
44 | Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei ZWG-01-2020 „um 1912 bestand die Gruppe von strebenden Öffentlichkeitsbeeinflussern ungefähr aus 175 Personen, darunter 11 Frauen. [...] Die meisten hatten nicht einmal eine akademische Ausbildung, sondern kamen durch Tasten voran.“ 21 Aber das Trauma der wirtschaftlichen und kulturellen Peripherisierung spaltete die osmanische Gesellschaft in zwei antagonistische Lager, die jeweils als die „Verwestlicher“ und die „Traditionalisten“ in das öffentliche Gedächtnis eingraviert wurden. Antiintellektualismus in der republikanischen Türkei Wie es eben im 19. Jahrhundert der Fall war, wurde die Intellektuellenschicht in der Türkischen Republik auch durch den Staat und unmittelbar als Antwort auf den Bedarf der jungen Republik an qualifizierter/intellektueller Arbeitskraft entwickelt. Die republikanische Intellektuellenschicht bestand aus einer gebilde- ten – oder manchmal nur belesenen – Minderheit, die teilweise eine vom Staat geförderte Auslandsbildung genoss. Mangels qualifizierter Kader in den ersten Jahren der Republik rückten diese wenigen gebildeten Leute bedarfsgemäß an jede verfügbare Stelle.22 Sowohl ihrer sozialen Stellung entsprechend als auch der Indoktrinierung zufolge dienten sie als offizielle Ideologen der Republik. Zusätzlich zu der vorbedachten Entwicklung einer treuen Gruppe von offiziellen Ideologen hat der türkische Staat oft unmittelbar in die Sphäre der Bildung und Forschung eingegriffen. Die wortwörtlich über Nacht gesche- hene Schließung von Darülfünûn per Dekret am 31. August 1933,23 um ihre 21 Bora: Cereyanlar (wie Anm. 7), S. 29. 22 Als einer der prominentesten Intellektuellen der ersten Phase der Republik stellt Niyazi Berkes (1908-1988) ein Paradebeispiel jener “multifunktionellen” Eliten dar. Berkes verbrachte seine Gymnasiums- und Universitätsjahre in einer “Übergangsperiode, in der die Bildungsinstitutionen den Anforderungen des neuen Regimes entsprechend umstrukturiert wurden”. Siehe Şakir Dinç şahin: State and Intellectuals in Turkey. The Life and Times of Niyazi Berkes, 1908–1988, Lanham/MD u.a. 2015 S. xv. In Abwesenheit von be- lesenen Kadern hielt er während seines gesamten Laufbahns diverse Positionen vom Bibliothekar bis hin zum Schulleiter bzw. vom wissenschaftlichen Mitarbeiter bis hin zur Vollprofessur an der McGill Universität in Kanada inne. 23 Darülfünun ist das osmanische Wort für „Haus der Wissenschaften“. Die akademische Institution wurde 1900 von Abdulhamid II in Istanbul gegründet. Nach der Gründung der Republik 1923 behielt Darülfünun die relative Autonomie für ungefähr 10 Jahre, bis es zu einem Konflikt zwischen ihrem akademischen Personal und den Führungs- kadern der jungen Republik kam, als die Geschichtsprofessoren von Darülfünun jene ideologisch verdrehten, ultranationalistischen offiziellen Geschichtsthesen kritisierten, welche der Staat propagierte und Atatürk selber vehement unterstützte.
ZWG-01-2020 Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei | 45 dissidenten Kader zu „bestrafen“, die Zwangspensionierung von 100 ihrer 114 Professoren und dann die Wiedereröffnung des Instituts am nächsten Tag unter dem Namen Istanbul Universität war nur der Beginn eines andauernden Erbes von staatlichen Interventionen in das Hochschulwesen.24 In der Tat enthält die Geschichte der republikanischen Türkei zahlreiche tadelnswerte Beispiele von Komplizenschaft zwischen dem Staat und den Universitätsverwaltungen zur Unterdrückung von oppositionellen Intellektuellen und linken Studenten im Namen der „hohen Interessen des erhabenen Staates“. Die Hexenjagd auf Professoren mit angeblichen Beziehungen zu kommunistischen Bewegun- gen an der Ankara Universität im Jahre 1948, die Spannungen zwischen der Demokratischen Partei und den Universitätsprofessoren während der 1950er Jahre und die plötzliche Entlassung von 147 Professoren nach dem Putsch von 1960 zählen dazu. Jeder Putsch in der republikanischen Geschichte ging mit einer enormen Säuberungswelle gegen linke Forscher und Studenten einher und stärkte die staatliche Kontrolle über die Universitäten. Den Gipfel stellt hierzu allerdings die Gründung des Hochschulrats (YÖK) nach dem Putsch von 1980 dar. Im Hinblick auf die unterwürfige Rolle der Universitätsleitungen als „Beauftragte des Staates“ und die anhaltende Mittelmäßigkeit des Hochschul- und Forschungswesens in der Türkei liegt es nahe, dass der versteckte Antiin- tellektualismus, der sich in intellektueller Apathie und systematischem Mangel an wissenschaftlicher Präzision ausdrückt, heute noch fortbesteht.25 Das Gleiche gilt für die in der Öffentlichkeit vorherrschende Vorstellung von Intellektuellen als „arrogante, ihren Wurzeln entfremdete Snobs“ und „von staatlichen Ressourcen gefütterte Schmarotzer“. Die Ironie liegt jedoch daran, dass es in der Türkei jenseits dieser kulturellen Kluft zwischen der angeblich säkularen Elite und den konservativen Massen eigentlich keine wahre Intelligenzija im klassischen Sinne einer sich der „Suche nach der Wahrheit“ gewidmeten Schicht gibt. Die Geschichte zeugt von der Abwesenheit der Intelligenzija als eine „Statusklasse“ oder eine „historische Institution“ in der osmanisch-türkischen Gesellschaft, die z.B. Bourdieus Konzeption von „Intellektuellen“ in seinem Satz und Gegensatz. 24 Korkut Boratav: Üniversite Tasfiyeleri. Gecmisten Bugüne, in: Birgün, 19.2.17, www. birgun.net/haber-detay/universite-tasfiyeleri-gecmisten-bugune-147393.html (Stand 21.2.17). 25 Aslı Vatansever: Partners in Crime. The Anti-intellectual Complicity between the State and the Universities in Turkey”, in: Journal of Interrupted Studies 1 (1), 2018, S. 3-25.
46 | Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei ZWG-01-2020 Über die Verantwortung des Intellektuellen nahe kommen könnte.26 Allerdings führte das rhetorische Beharren auf Bildung seitens der westlich orientierten Literaten, das sie nicht zuletzt als Rechtfertigung für eine oligarchische Regie- rungsvorstellung heranzogen, zu einer falschen öffentlichen Wahrnehmung, als gäbe es tatsächlich eine Intellektuellenkaste mit echter kultureller Hegemonie. Während der gesamten republikanischen Geschichte stellte der durchschnitt- liche türkische Forscher im Grunde genommen eine Art „Bildungsbeamter“ dar. Die gewöhnlich gehorsame Haltung dieses Bildungsbeamten gegenüber Autorität steht in historischer Kontinuität mit der oberflächlichutilitaristischen Einstellung gegenüber Wissen im osmanischen Kontext des 19. Jahrhunderts. Demzufolge entspricht der durchschnittliche Universitätsangestellte in der Türkei dem, was Bourdieu als „Lektor“ bezeichnet,27 und der bruchstückhafte Informationen planlos übermittelt, ohne die Kausalitäten zu hinterfragen oder zu dem bereits vorhandenen fachlichen Wissensstand beizutragen. Es ist kein Zufall, dass die Universitätsprofessoren in der Türkei meistens mit Hodja angesprochen werden – mit einem Ehrentitel, der historisch für islamische Theologen und Rechtsgelehrte verwendet wurde und auf eine fortdauernde scholastische Tradition hindeutet. In einem Kontext, wo das Pflichtgefühl gegenüber dem Staat das Hauptmotiv hinter der intellektuellen Aktivität darstellt, wird die „Suche nach der Wahrheit“ zu einer entbehrlichen Trivialität, oder gar zu einem strafbaren Verrat, falls die „hohen Interessen des erhabenen Staates“ dies erfordern. Wissensproduktion im Dienste der politischen Macht bedeutet gleichzeitig, jede Form von Wahrheit zu denunzieren, die den Interessen der Machtinhaber widerspricht. Aus dieser Perspektive könnte man meinen, dass die gesamte akademische Struktur in der Türkei auf antiintellektuellen Grundlagen beruht. Während der ganzen Geschichte der Republik wurde jede politische Haltung oder Idee, die den „hohen Interessen“ auf irgendeine Weise widersprach, als ein ideologischer Versuch, „den Campus mit Parteipolitik zu verseuchen“, abgestempelt.28 Insbesondere nach der Gründung des Hochschulrats in der 26 Pierre Bourdieu: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen (Aus d. Franz. v. Ulrich Raulff u. Bernd Schwibs), Berlin 1989, S. 22. 27 Ders.: Homo Academicus (Aus d. Franz. v. Peter Collier), Stanford 1984, S. 116 f. 28 Die Depolitisierung der Universitäten in der Türkei hat eine lange Geschichte. Das Gesetz Nr. 6185 vom 28.07.1953 verbot unter der Androhung von Entlassung aus dem öffentlichen Dienst „politische Veröffentlichungen und Äußerungen“. Am 05.07.1954 wurde dem Bildungsministerium das Recht zur Entlassung von Universitätslehrern er- teilt. Schließlich etablierte die Militärjunta von 1980 den Hochschulrat; dabei stützte sie
ZWG-01-2020 Aslı Vatansever: Ursprünge des Anti-Intellektualismus in der Türkei | 47 Folgezeit des Putsches von 1980 wurden die Hochschulen einer systematischen und brutalen Depolitisierung ausgesetzt. Natürlich deutet der Anspruch, die Universität zu depolitisieren, selbst auf einen höchst politischen Plan hin. Außer- dem stellt es ein durchaus antiintellektualistisches Vorhaben dar, da politisches Engagement einen integralen Bestandteil der intellektuellen Autonomie bildet.29 Der akademische Sektor in der Türkei hat seine Autonomie schon längst um der „natürlichen Privilegien“ des „Türkentums“ willen aufgegeben, wie beispiels- weise das seit Dekaden bestehende Desinteresse an dem „Kurdenproblem“ zeigt.30 Was sich in der Gegenwart abspielt, ist im Grunde genommen eine Mischung aus systematischem Mangel an wissenschaftlicher Neugier, einer fortbestehenden Tradition von staatlicher Kontrolle über die Universitäten und der historischen Rachsucht, die die altetablierte rechtspopulistische Fraktion für die Bildungs- elite empfindet. Die massive Reaktion des Staates auf den Friedensaufruf rührt eigentlich genau daher, dass die Petition eben diesen gordischen Knoten in den Vordergrund gebracht hat. sich auf die bewaffneten Konflikte zwischen den rechten und linken Studentengruppen in den 70ern als Ausrede. Siehe Rıfat Okçabol: AKP’nin ‘Bilimsel Eğitim’ Karşıtlığı, Ankara 2014, S. 53-56. 29 Bourdieu: Satz (wie Anm. 26), S. 22 f. 30 Barı ş Ünlü: ‘Turkishness Contract’ and the Turkish Left, in: Aurora Australis, 27.9.17, http://www.theauroraaustralis.org/turkishness-contract-and-turkish-left-baris-unlu/ (Stand 30.9.17).
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