Heinrich von Kleist: "Das Erdbeben in Chili"
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Universität Augsburg Philologisch - Historische Fakultät Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft Hauptseminar: Un/Moralische Geschichten. Novelleninterpretation, Teil 2 Dozent: Prof. Dr. Mathias Mayer WS 2010/11 Heinrich von Kleist: „Das Erdbeben in Chili“ Verfasser: Thomas Bergmann
Gliederung A. Einleitung 2 B. Hauptteil 1. „Das Erdbeben in Chili“ als Novelle 3 1.1 Hinführung 3 1.2 „klassische“ Merkmale der Novelle in „Das Erdbeben in Chili“ 4 1.2.1 Begebenheit 4 1.2.2 Konzentration 6 2. Die Novelle und die Moral – narrative Ethik 7 2.1 Schaffung und Zerstörung von Sinn 8 2.1.1 Struktureller Aufbau 9 2.1.2 Irritation und Ambivalenz 10 2.2 Verlust der Ordnung 12 2.2.1 Zum Zusammenhang von Theodizee-Frage und Moral 12 2.2.2 Bedeutung des Zufalls 13 2.2.3 Prinzip der Marionette 15 2.2.4 Metaphysische Ironie 15 2.3 Gesellschaftliche Hintergründe und Motive 16 2.3.1 Der Himmel und die Menschen 16 2.3.2 Das scheinbare Paradies auf Erden 18 C. Schluss 20 2
Einleitung „Das Erdbeben in Chili“ gilt als erste publizierte Erzählung Heinrich von Kleists. Zunächst noch unter dem Titel „Jeronimo und Josephe“, wurde sie im September 1807 von einer Tübinger Zeitung abgedruckt. Die Novelle bezieht sich historisch auf das Erdbeben von Santiago de Chile im Jahr 1647; aller- dings sind im Vergleich zum historischen Ereignis zahlreiche Details im Kleistschen Werk verändert.1 Aus philosophischer bzw. theologischer Sicht liegt dem „Erdbeben in Chili“ die Diskussion um das Problem der Theodizee zugrunde. Das erste Mal stellte sich Gottfried Wilhelm Leibniz die Frage, wie ein guter und zugleich allmächtiger Gott vereinbar sei mit der Existenz des Bösen in der Welt. Während Leibniz selbst schließlich argumentierte, die vorhandene Welt sei die beste aller möglichen Welten, waren seine Nachfahren in diesem Punkt weni- ger optimistisch. Besonders das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 löste in Europa eine Debatte um die Theodizee aus. Es kam die Frage auf, ob solche Katastrophen tatsächlich dem Willen Gottes entsprechen könnten, ob Gott möglicherweise doch böse sei oder sich zumindest nicht um das Ergehen der Welt kümmere. 2 Die Diskussion wurde hitzig geführt, u.a. waren Rousseau, Voltaire und auch Immanuel Kant daran beteiligt. Letzterer sollte für Heinrich von Kleist noch zusätzlich an Bedeutung gewinnen: So beunruhigte den Schriftsteller über die Theodizee-Problematik hinaus zu Beginn des 19. Jahr- hunderts die Frage, wie weit menschliche Erkenntnis überhaupt möglich sei. Ursache dafür war die Lektüre der Philosophie Kants, die den jungen Autor wohl in eine existentielle Krise stürzte. So schreibt Kleist in einem Brief vom 22. März 1801 an seine Braut Wilhelmine von Zenge: Vor Kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – u. Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich.3 Insofern erscheint es kaum verwunderlich, dass Kleist die Thematik des Erd- bebens für seine erste veröffentlichte Erzählung wählt. Im „Erdbeben von 1 Vgl.: Liebrand, C: Das Erdbeben in Chili. In: Breuer, I. (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2008, S. 114. 2 Vgl.: Fricke, E.: Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung. Poetologische Strategien im erzählerischen Werk. Marburg 2010, S. 61f. 3 Kleist, Heinrich von: Briefe. März 1793 – April 1801. In: Reuß, R./Staengle, P. (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. IV/I. Basel 1996, S. 505. 3
Chili“ kommt die Erschütterung, von der er schreibt, ebenfalls zum Ausdruck. Hier werden existentielle Fragen aufgeworfen, die mitunter in ebenso auf- rüttelnder Weise offen gelassen werden. Jenen Erschütterungen, literarischer und philosophischer Art, soll diese Arbeit nachspüren, es soll herausgearbeitet werden, welche Fragen Kleist aufwirft und auf welche Art und Weise er dies tut. Zentral dabei ist die Betrachtung des Werkes im Kontext der Gattung Novelle; schließlich entsprechen maßgebliche Motive des „Erdbeben in Chili“ den Charakteristika der Novelle, so etwa die Thematisierung von Moral und Unmoral. Aufgrund dessen soll das Werk, nach kurzer Hinführung, zunächst im Hinblick auf zwei ausgewählte Merkmale novellistischer Literatur untersucht werden, bevor schließlich die Thematik der Moral in Bezug auf den Terminus der narrativen Ethik genauer betrachtet wird. 1. „Das Erdbeben in Chili“ als Novelle 1.1 Hinführung Anders als bei den Literaturgattungen der Antike handelt es sich bei der Novelle nicht um eine kanonische Gattung – somit können keine streng norma- tiven Vorgaben und Bedingungen geltend gemacht werden, um Texte als No- velle zu klassifizieren. Dennoch, vielleicht sogar gerade deshalb, findet bis heute eine rege Diskussion um die Charakteristika der Novelle statt. Seit Boccaccios „Decamerone“ (um 1350), das als Urheber der Gattung Novelle gilt, sind die Merkmale der Novelle viel besprochen und oft beschrieben. 4 Der Versuch, eine umfassende Theorie der Novelle zu formulieren, erscheint jedoch bis heute vornehmlich aufgrund der mangelnden Einheitlichkeit der existierenden novellistischen Formen durchaus fragwürdig – und würde wohl auch dem Wesen der Novelle widersprechen. Heinrich von Kleist hat hinsichtlich der Gattung Novelle wohl ein zumindest distanziertes Verhältnis gepflegt. Galt er seiner Nachwelt auch als herausragender Vertreter einer neuen Form der Novellistik, hat er selbst doch 4 Einen Überblick hierzu liefert etwa: Aust, H.: Novelle. 4. Aufl. Stuttgart, Weimar 2006. 4
diesen Begriff nie verwendet. Stattdessen sprach Kleist von der „moralischen Erzählung“5, wobei schon ein Spezifikum der Novelle genannt ist – die Moral. Wird dieser Punkt im hinteren Teil der Arbeit noch zu besprechen sein, bleibt hier die Frage, wo „Das Erdbeben in Chili“ als Novelle greifbar wird, an welchen Punkten sich also Charakteristika zeigen, anhand derer das Werk als Novelle zu klassifizieren ist. Dabei soll zunächst die Umsetzung zweier „klassischer“ Merkmale der Gattung im Werk betrachtet werden. Diese sind aber, die erwähnte Gattungsspezifität der Novelle beachtend, lediglich als „Symptome“ des Novellistischen zu sehen. Aufgrund dessen wird auch im Folgenden keine „Positivliste“ erstellt, die Auskunft darüber gibt, wie sehr „Das Erdbeben in Chili“ einer (sowieso nicht existenten) idealtypischen No- velle entspricht, sondern lediglich auf zutreffende, über Jahrhunderte ent- wickelte und kontinuierlich verwendete Schlüsselbegriffe in der Novellen- interpretation eingegangen. Sie dienen dabei der Beschreibung von no- vellistischen Merkmalen im Werk, nicht der Definition dieser literarischen Gattung. Schließlich wird sich zeigen, dass erst über die Betrachtung des Kleistschen Werkes als Novelle ein elementarer Zugang zum Verständnis desselben möglich wird. 1.2 „klassische“ Merkmale der Novelle in „Das Erdbeben in Chili“ 1.2.1 Begebenheit Die berühmte, von Goethe beschriebene „Begebenheit“ wird oftmals als ent- scheidendes Kriterium einer Novelle angegeben. Damit wird ausgedrückt, was die Novelle bestimmt: Ihr „Anspruch auf Tatsächlichkeit“, ein „implizierter Realismus“, in dem „Geschehnisse […] nicht selbstverantwortet erscheinen, sondern ´begegnen`“6. Diese Begebenheit wird ferner qualifiziert: Goethe selbst sprach von der „unerhörten Begebenheit“; auch die Vokabel „neu“ fällt in der Beschrei- bung dieses Kriteriums. Damit wird vor allem ausgedrückt, dass in der Novelle 5 Vgl.: Aust, Novelle, S. 80. 6 Ebd., S. 9. 5
eben etwas noch nicht Dagewesenes erzählt wird. Dies kann eine plötzliche Wendung sein, auch der Bruch von Normen ist damit gemeint. 7 Als außerordentliche Begebenheit in „Das Erdbeben in Chili“ erscheint die Verschränkung von großer und kleiner Katastrophe8. Gleich der erste Satz berichtet von Jeronimo, der sich im Gefängnis erhängen will, und zwar „gerade in dem Augenblicke“9, als die Stadt St. Jago ein schweres Erdbeben erschüttert, welches ihn unverhofft aus seinem Gefängnis befreit. Auch Josephe, die sich gerade auf dem Weg zum Galgen befindet, wird durch das Erdbeben befreit. Und die Verschränkung wird fortgeführt: Während das Erdbeben für die beiden genannten Figuren also die Lebensrettung bedeutet, werden alle Personen und die sie repräsentierenden Gebäude, die zur Verurteilung geführt haben, Opfer des Bebens. Die Äbtissin wird vor den Augen der Josephe erschlagen, der Erz- bischof kommt ebenso um, der Gerichtshof, der Palast des Vizekönigs und schließlich auch das elterliche Haus der Josephe existieren nicht mehr.10 Die Erzählung nimmt dabei beinahe apokalyptische Züge an. Als sich schließlich beide gefunden haben, erkennen sie die paradoxe Situation und „waren sehr gerührt, wenn sie dachten, wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden!“11 Mit der Wendung von Einzel- und Kollektivschicksal einher geht schließlich auch die Aufhebung der moralischen Normen, die ja zur Verur- teilung der beiden Hauptfiguren geführt hatten. War vor dem Beben noch die „Milderung“ der Strafe vom Feuertod zur Enthauptung in bestimmten Kreisen „entrüstet“ vernommen worden12, gibt es in dem Tal, in dem sich Jeronimo und Josephe niederlassen, plötzlich keine Unterschiede mehr zwischen den Stän- den, alle helfen und bemitleiden einander, es „schien (…) mitten in diesen grässlichen Augenblicken (…) der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume aufzugehn“13. Dabei sind durchaus Bezüge zur Gegenwart des Autors festzustellen: 7 Vgl.: Aust, Novelle, S. 10. 8 Vgl.: Liebrand, Das Erdbeben in Chili, S. 116 f. 9 Kleist, Heinrich von: Das Erdbeben in Chili. In: Ders.: Die Marquise von O… . Das Erdbeben in Chili. Erzählungen. Stuttgart 2004, S. 49. 10 Vgl.: Ebd., S. 54. 11 Ebd., S. 55. 12 Ebd., S. 50. 13 Ebd., S. 58. 6
Die die Idylle betreffenden Passagen muten wie die Verwirklichung des Pro- gramms der Französischen Revolution an […], die allerdings zur Zeit der Abfassung der Erzählung bereits gescheitert ist.14 So wie die Durchsetzung der Idee von égalite, liberté und fraternité nicht dauerhaft gelang, genauso sind denn auch die paradiesisch anmutenden Szenen aus dem „Tal von Eden“15 nur Schein. Der Ausgang der Novelle macht diesen Schein auf durchaus brutale Art und Weise deutlich. Auch hier zeigt sich schließlich wieder die Verflechtung von Einzel- und Kollektivschicksal. So ist doch das Ergehen Jeronimos und Josephes auch zentral abhängig vom Verhalten des Volkes; die moralischen Ordnungen des Volkes haben die beiden erst in ihre verzweifelte Lage gebracht, und dann ist es der trügerische Schein, das Volk sei „zu einer Familie“16 geworden, der die beiden mit in die Kirche gehen lässt. Immer wieder taucht zwar ein gewisses Unbehagen auf (etwa: „so wussten sie nicht, was sie von der Vergangenheit denken sollten“17), aber dennoch geben sie sich der Hoffnung hin, dass die sie umgebende Wärme unter den Menschen dauerhaft bleiben wird und sie so wieder unter den Ihren leben können. Jeronimo gibt seine Pläne, nach Europa auszureisen, auf, Josephe zweifelt nicht mehr an der Versöhnung mit ihrem Vater.18 1.2.2 Konzentration Charakteristisch für die Novelle ist weiterhin die Konzentration auf ein Ereignis, eine Geschichte. Die damit bewirkte geschlossene Form des Er- zählens ist auch im „Erdbeben in Chili“ festzustellen. Unmittelbar einsetzend mit der Befreiung Jeronimos, endet die Novelle beinahe genauso abrupt mit dessen Tod. So bilden Glück und Unglück der Hauptperson einen Rahmen; erzählt wird ausschließlich das Ergehen von Jeronimo und Josephe. Hier zeigt sich darüber hinaus die erzählerische Eigenart des Schriftstellers Heinrich von Kleist.19 Der Autor verzichtet weitgehend auf erzählerische Details; das drama- tische Geschehen wird beinahe unzumutbar sachlich beschrieben, der Autor 14 Liebrand, Das Erdbeben in Chili, S. 117. 15 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 55. 16 Ebd., S. 58. 17 Ebd., S. 57. 18 Vgl.: Kunz, J: Die deutsche Novelle zwischen Klassik und Romantik. 3. Aufl., Berlin 1992, S. 168 – 171. 19 Vgl.: Ebd., S. 172 f. 7
gibt in berichtender Distanz Informationen ab: „Eben stand er, wie schon gesagt, an einem Pfeiler“20. Lediglich die Szenerie des Mittelteils wird in dann aber geradezu ekstatischer Weise dargestellt; so etwa die Zweisamkeit von Josephe und Jeronimo, nachdem sie einander gefunden haben: Sie fanden einen prachtvollen Granatapfelbaum, der seine Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete; und die Nachtigall flötete im Wipfel ihr wollüstiges Lied.21 Auch im Detail drückt sich die Konzentration des Textes, die Dichte des Kleistschen Erzählens aus. So kennzeichnet die bereits erwähnte Thematik von Glück und Unglück nicht nur das „Programm“ der Novelle, sondern in der konkreten Formulierung zeigt sich auch die Unmittelbarkeit, mit welcher der Text Wendungen vom Glück zum Unglück und umgekehrt beschreibt: Eben noch dankt Jeronimo Gott für seine Errettung, als ihn sein Gebet mit dem Gedanken an Josephe schon wieder reut und Gott ihm als fürchterlich erscheint22; unter dem Eindruck, die Versöhnung würde sich in der Kirche vollenden, gehen beide dorthin, doch mit der Predigt schlägt wiederum völlig unvermittelt das Glück ins Unglück um – und am Ende reicht ein Satz aus, um eine nochmalige Wendung ins Glück zumindest anzudeuten: „und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müsst er sich freuen.“23 Als Konsequenz der geschilderten Geschlossenheit, Einsträngigkeit und der konzentrierten Erzählweise ist schließlich die Länge der Novelle zu sehen. So ergibt sich die mittlere Länge des „Erdbebens in Chili“ (im Vergleich etwa zu Kurzgeschichte und Roman) aus den eben genannten Qualitäten, nicht umgekehrt. 2. Die Novelle und die Moral – Narrative Ethik Indem die Novelle moralische Normen reflektiert, auf einer höheren Ebene betrachtet und überprüft, wird sie ethisch relevant – sie gerät zu narrativer 20 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 50. 21 Ebd., S. 55. 22 Vgl.: Ebd., S. 52. 23 Ebd., S. 66; vgl. hierzu: Stierle, K.: Das Beben des Bewußtseins. Die narrative Struktur von Kleists „Das Erdbeben in Chili“. In: Wellbery, D.E. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“. München 1985, S. 54 – 68. 8
Ethik. 24 Damit einher geht eine „Provokation des Systems“ – nur, indem moralische Strukturen aufgebrochen und damit auf ihre Sinnhaftigkeit hin befragt werden, scheint es möglich, dass der Leser Erfahrungen macht, die tat- sächlich von ethischer Relevanz sind. Diese Provokation des Systems findet im „Erdbeben in Chili“ in mehrfacher Hinsicht statt – sei es in Bezug zu den Normen der Gesellschaft oder auch in der Frage nach einer „Moral Gottes“, die implizit gestellt wird. Im Folgenden soll nun also analysiert werden, inwiefern der Leser im „Erdbeben in Chili“ tatsächlich ethisch relevante Erfahrungen machen kann. Dem möchte ich aber noch eine „Warnung“ Walter Haugs voranstellen: „Die ethische Erfahrung muß sich jenseits des Textes im Re- zipienten vollziehen. Narrative Ethik ist Rezeptionsethik.“ 25 Es gilt also, An- satzpunkte zu finden, in denen Erfahrungen gemacht werden können. Ob diese tatsächlich in der vorgestellten Art und Weise gemacht werden, hängt am Ende vom Rezipienten selbst ab. Der folgende Abschnitt soll klären, wie Heinrich von Kleist seinem Leser solche Erfahrungen ermöglicht, welcher Strategien er sich bedient, die moralischen Strukturen aufzubrechen, ohne dabei, gleich etwa einem Exempel, unverbindlich zu bleiben, und dabei doch eine Prägnanz an den Tag zu legen, die den Leser „unmittelbar berührt“26. 2.1 Schaffung und Zerstörung von Sinn „Das Erdbeben in Chili“ evoziert bereits mit der Thematik des Erdbebens die Frage nach dem Sinn. 27 Die Erfahrungen Jeronimos und Josephes vermitteln jedoch zunächst den Eindruck, das Erdbeben habe tatsächlich einen tieferen Sinn28; Jeronimo betet im Gefängnis inbrünstig zum Himmel – und wird tat- sächlich wie durch ein Wunder befreit. Die paradiesischen Zustände im Tal scheinen diesen Eindruck zu komplettieren: „Es war, als ob die Gemüter, seit 24 Vgl.: Haug, W: Die Wahrheit der Fiktion. Tübingen 2003, S. 370 – 393. 25 Ebd., S. 392. 26 Vgl.: Ebd., S. 375. 27 Vgl. die Darstellungen zum historischen Hintergrund in der Einleitung. 28 Vgl.: Fricke, E.: Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung. Poetologische Strategien im erzählerischen Werk. Marburg 2010, S. 69. 9
dem fürchterlichen Schlage, der sie durchdröhnt hatte, alle versöhnt waren.“29 Es scheint ein Neuanfang möglich, der Leser ist geneigt, mitsamt den Figuren das an sich schwer als sinnvoll zu erachtende Erdbeben tatsächlich als große Wendung zum Positiven zu sehen. Josephe ist der Überzeugung, dass sich gar nicht angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen Wohlseins nicht von der einen Seite um ebenso viel gewachsen war, als sie von der anderen abgenommen hatte.30 Sie umgibt das Gefühl, der Tag des Bebens sei, „so viel Elend er auch über die Welt gebracht habe, eine Wohltat.“31 Der Ausgang der Novelle wiederum zerstört jäh den erst hergestellten Sinn völlig. Der Leser, zunächst in die Hoffnung des Liebespaares hinein genommen, erlebt diese Zerstörung umso härter mit, er wird regelrecht vor den Kopf gestoßen; der Autor reißt ihn förmlich aus seiner angenehm „heilen Welt“, die er selbst produziert hatte und führt ihm damit die eigene Naivität vor Augen. So zerstört er liebgewonnene Ordnungen und lässt den Leser verstört zurück. Diese These soll im Folgenden anhand verschiedener Erzähltechniken bestätigt werden, derer sich Heinrich von Kleist bedient. 2.1.1 Struktureller Aufbau Grundsätzlich lässt sich die Novelle in drei Teile gliedern, die sich bereits zeitlich voneinander abgrenzen. Teil A beschreibt in erster Linie das Erdbeben; Teil B beginnt mit dem neuen Tag („Als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel“32) und Teil C wiederum mit dem angebrochenen Nachmittag („Inzwischen war der Nachmittag herangekommen“33).34 Neben der zeitlichen Unterscheidung kommen einige weitere Unterschiede zum Tragen: Teil A und C werden im Vergleich zu Teil B in rasantem Tempo 29 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 57. 30 Ebd., S. 58. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 56. 33 Ebd., S. 59. 34 Vgl.: Wellbery, D.E.: Semiotische Anmerkungen zu Kleists „Das Erdbeben in Chili“. In: Ders. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Erdbeben in Chili“. München 1985, S. 71f. 10
erzählt. In Teil A flüchtet Jeronimo, er wird getrieben, die Ereignisse überschlagen sich und sein Gemüt schlägt vom einen Extrem ins andere. Mit der Ankunft auf dem Land vollzieht sich in Abschnitt B eine paradiesische Ruhe – mit dem Hochgefühl kehrt Langsamkeit ein; Jeronimo und Josephe sinnen über das Geschehene nach, spazieren im Granatwald umher und erfreuen sich des, wie sich bald herausstellen wird, trügerischen Friedens. Teil C beendet diese Ruhe abrupt: Mit der Rückkehr in die Stadt nimmt die Erzählung wieder „Fahrt“ auf, es kommt zur zweiten Katastrophe, dem Mord an Jeronimo, Josephe und Juan. Damit ist der Frieden, den der Leser in Teil B so gönnerhaft miterlebt hat, als bloßer Schein entlarvt. Bei genauerer Betrachtung fällt dies auch sprachlich bereits auf, wie der folgende Abschnitt verdeutlichen soll. 2.1.2 Irritation und Zweideutigkeit Sorgt bereits der erschreckende, aufwühlende Ausgang der Novelle für starke Irritation beim Leser, so ist diese doch schon im Werk selbst grundgelegt. Dabei sind insbesondere die Ambivalenz von Thema, Sprache und Symbolik sowie die Irritation hinsichtlich der Position des Erzählers näher zu betrachten. Das Erdbeben selbst wird zunächst unterschiedlich erlebt. Während sich für Josephe und Jeronimo die Wendung zum Glück zu ergeben scheint, so stellt es für andere die Wendung zum Unglück ein. Die Diskrepanz könnte kaum größer sein – und wird auch noch herausgehoben: Und weil die Armen immer noch jammerten; dieser, dass er alles verloren habe: so schlichen Jeronimo und Josephe in ein dichteres Gebüsch, um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu betrüben.35 Die Entgegensetzung von Glück und Unglück wird noch gesteigert durch die häufigen Wendungen, mit denen die Figuren beides erfahren. So findet sich zum einen (auf der Ebene der Gleichzeitigkeit) eine konzeptuelle Ambivalenz, indem das Erdbeben sowohl Glück als auch Unglück bedeutet, zum anderen (auf der Ebene der Nachzeitigkeit) aber auch die spannungsreiche Entgegen- 35 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 55. 11
setzung von Glück und Unglück in der Erfahrung innerhalb einer Figur, indem etwa Jeronimo und Josephe beides in extremer Form erleben. 36 Weiterhin ist die Ambivalenz im „Erdbeben in Chili“ auch sprachlich markant.37 Formulierungen sind paradox, etwa wenn von „heiliger Ruchlosig- keit“38 oder dem „wollüstigen Lied“ 39 der Nachtigall die Rede ist. Des Weiteren werden entgegengesetzte Termini zusammengebracht. Josephe empfindet Wollust, als sie Tränen bei Donna Elvire sieht 40 und noch zuvor schreibt der Erzähler von „den Unglücklichen, die ein Wunder des Himmels gerettet hatte“41. Auch die Symbolik unterstützt die ambivalente Wirkung der Novelle. So erscheint der Pfeiler zunächst als Todesort Jeronimos, dann als dessen Stütze und später wiederum kommt Juan an dem Kirchenpfeiler zu Tode. 42 Eine gewichtige Rolle spielt des Weiteren die biblische Symbolik. So „wird die Bibel auf den Kopf gestellt“43: Wenn die Schlange im Paradies zur Sünde ver- führt, so „zischel[t]“ Donna Elvire dem Don Fernando die durchaus richtige Warnung ins Ohr; wenn sich laut Markus-Evangelium der Himmel öffnet und Gottes Stimme ertönt: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe“, und damit Jesus als Sohn Gottes bestätigt, ja auszeichnet, so bestätigt die „Stimme aus dem rasenden Haufen“ 44 zwar die Vaterschaft, aber nur, um Jeronimo daraufhin „mit einem ungeheuren Keulenschlage zu Boden“45 zu strecken. Schließlich ist die Position des Erzählers zu betrachten. 46 Was dieser genau denkt, wie er zum Erzählten selbst steht, bleibt ungewiss. Es scheint, als nehme auch er die Position der Figuren an, das Unbegreifliche mit dem Rückgriff auf etwas Metaphysisches zu erklären. Die oben beschriebene Verwendung relati- vierender Formeln lassen hier jedoch erste Zweifel aufkommen. Außerdem 36 Vgl. Stierle, Das Beben des Bewußtseins, S. 55. 37 Vgl.: Fricke, Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung, S. 73ff. 38 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 62. 39 Ebd., S. 55. 40 Vgl.: Ebd. 41 Ebd., S. 53. 42 Vgl.: Fricke, Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung, S. 77f. 43 Fischer, B: Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists. München 1988, S. 27. 44 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 64. 45 Ebd. 46 Vgl.: Fricke, Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung, S. 67. 12
durchzieht eine subtile Ironie das Werk, sodass der Eindruck entsteht, der Er- zähler distanziere sich von den Denkweisen der Figuren. 47 Dieses erreicht er schließlich auch durch die Verwendung der Motive selbst, die sich, etwa durch ihre „Beheimatung im Trivialen“48 selbst in Frage stellen. Das zerschmetterte Kind am Kirchenpfeiler oder die vor den Augen der Männer niederkommenden Weiber sind dabei nur einige Beispiele. 49 Schließlich bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Der Erzähler ergreift Partei für die Figuren der Josephe und des Jeronimo – schreibt er doch u.a. von „unseren beiden Unglücklichen“50. Dennoch scheint er deren Weltbild distanziert zu be- trachten, ihre kausalen Attributionen bezüglich der Ereignisse sind ihm sus- pekt, er scheint die Figuren für ihre naive Sichtweise zu belächeln. Und doch scheint durch, dass ihn angesichts des Erzählten möglicherweise dieselbe Irrita- tion, dieselbe Sprachlosigkeit ergreift, mit der er den Rezipienten schließlich zurück lässt. „[H]ier stand ein anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel.“51 2.2 Verlust der Ordnung 2.2.1 Zum Zusammenhang von Theodizee-Frage und Moral Geht man von der Moral als konventioneller Setzung von Werten und Handlungsmustern aus, wirft die Theodizee-Debatte ganz zentral die Frage auf, ob auch Gott eine Moral kennt. Handelt Gott, auch vor dem Hintergrund solch schrecklicher Ereignisse wie einem Erdbeben, nach bestimmten Maßstäben? Im zeitgenössischen Kontext Kleists hängt von der Antwort auf diese Frage nicht weniger als das gesellschaftliche Zusammenleben ab – gründen doch die moralischen Werte der Gesellschaft auf einem vorausgesetzten göttlichen Willen. Diese Thematik greift nun „Das Erdbeben in Chili“ auf – und damit sind wir auch wieder bei der Infragestellung moralischer Grundsätze als Kenn- zeichen der Novelle angekommen. Im Folgenden sollen nun grundsätzliche 47 Die Rolle der Ironie wird in Bezug auf die Theodizee-Frage noch näher betrachtet. 48 Fischer, Ironische Metaphysik, S. 25. 49 Ebd. 50 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 62. 51 Ebd., S. 51. 13
Merkmale herausgestellt werden, die den Text kennzeichnen und, direkt oder indirekt, die Frage der Theodizee aufwerfen. 2.2.2 Bedeutung des Zufalls Der Zufall ist zweifelsohne ein das Werk durchziehendes, zentrales Moment. Zufällig geschieht das Erdbeben genau zu dem Zeitpunkt, als sich Jeronimo erhängen möchte, zufällig hatten sich Jeronimo und Josephe überhaupt erst wieder im Kloster zusammengefunden, durch „eine zufällige Wölbung“52 erst kann Jeronimo aus dem Gefängnis entkommen, zufällig begegnen sie sich einander wieder im Tal und so weiter. Dabei steht aber der erzählte Zufall in krassem Gegensatz zu den Empfindungen der Personen. Diese machen für jede Wendung Gott selbst verantwortlich: Jeronimo dankt Gott für seine Rettung, dann wieder scheint ihm „das Wesen, das über den Wolken waltet“, „fürchter- lich“53, und schließlich umarmen sich „die Unglücklichen, die ein Wunder des Himmels gerettet hatte“54. Gerade die Häufigkeit der Wendungen aber lässt das Verhalten der Personen und damit die Überzeugung, die direkte Verantwortung für das Ge- schehene dem gewollten Handeln Gottes zuzuschreiben, geradezu absurd er- scheinen: „Als ob alle Engel des Himmels sie umschirmten“, tritt Josephe aus dem Portal hervor, um gleich darauf mit anzusehen, wie die Äbtissin „auf eine schmähliche Art erschlagen ward“55. Mag man, zumindest im zeitgenössischen Kontext, an dieser Stelle noch an den alles wieder ins Recht setzenden Willen Gottes glauben, so zeigt doch der Ausgang der Erzählung in brutaler Weise die tatsächliche Willkür auf, mit dem ein vorausgesetzter Wille Gottes agiert. Mit dem Zufall aber liefert der Autor keinen hinreichenden Ersatz als Begründung für die Ereignisse. Dadurch wird das Dilemma der Personen deutlich: Die Sicherheit kausaler Zusammenhänge wird durch das Prinzip der Zufälligkeit in Frage gestellt, wenn nicht sogar zunichte gemacht. (…) Mithilfe einer teleologischen Auslegung der Ereignisse erreichen die Figuren (…) eine scheinbare Sicherheit in der aufgelösten Ordnung.56 52 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 51. 53 Ebd., S. 52. 54 Ebd., S. 53. 55 Ebd., S. 54. 56 Fricke, E.: Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung. Poetologische Strategien im erzählerischen Werk. Marburg 2010, S. 67. 14
Die hier erfolgte Erklärung des Verhaltens der Figuren ist psychologischer Art: Gott ist lediglich „Lückenbüßer“ für offene Sinnfragen. Die vom Menschen so herbeigesehnte Kausalität und damit eine Orientierung gebende Ordnung kann scheinbar nur in einer metaphysischen Kraft liegen, deren Erkenntnis sich dem Menschen entzieht. Und gleich darauf zeigt wiederum die Absurdität dieses aus der Not geborenen Verweises auf Gott, dass derselbe eben auch nur scheinbar wieder eine Ordnung herstellt. So bleibt die Erkenntnis, dass nichts mehr ist, wie es einmal war: Das Erdbeben hat, über den Charakter der Naturkatastrophe hinaus, die Qualität eines unausdenkbaren Ereignisses, das die natürliche, gesellschaftliche und meta- physische Ordnung (…) radikal in Frage stellt57 Der Zufall deckt also auf: Der kausale Verweis auf einen göttlichen Willen ist eine fadenscheinige Erklärung und hält einer Überprüfung nicht stand. Vor diesem Hintergrund kann es durchaus als Hohn empfunden werden, wenn es heißt, dass die Mönche „mit dem Kruzifix in der Hand, umhergelaufen wären, und geschrieen hätten: das Ende der Welt sei da!“58 Es bleibt dabei: Die Personen der Novelle „haben sich dem Zufall zu stellen, müssen für sich die Einheit ihrer Welt gegen ihn verteidigen oder schaffen.“ 59 Das Problem dabei zeigt folgendes Zitat auf: Wo der Zufall herrscht, ist kein zweckmäßiges, zielgerichtetes Handeln möglich. Grundsätzlich unvoraussehbar, stellen Zufälle den Einbruch einer Macht in die Geschichte dar, der seinerseits keine Geschichte hat. Ihr Kennzeichen ist die Diskontinuität60 Der Zufall hebt Gesetze auf, erlaubt keine Kontinuität. Der Mensch kann keinen Zusammenhang mehr erkennen. Auf dieser Basis schließlich muss die gesamte Ordnung zerbrechen, und mit ihr alle moralischen Normen. 57 Altenhofer, N: Der erschütterte Sinn. Zu Kleists „Erdbeben in Chili“. In: Wellbery, D.E. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Erdbeben in Chili“. München 1985, S. 46. 58 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 57. 59 Herrmann, H.P.: Zufall und Ich. In: Müller-Seidel, W. (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt 1973, S. 378. 60 Wellbery, D.E.: Semiotische Anmerkungen zu Kleists „Das Erdbeben in Chili“. In: Ders. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Erdbeben in Chili“. München 1985, S. 75. 15
2.2.3 Der Mensch als Marionette „[H]ier stand ein anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel“61. Wurde soeben herausgearbeitet, dass der Zufall einer Kausalität der Ereignisse widerspricht, so scheint der Mensch letzten Endes doch nichts weiter als ein Spielball der Mächte zu sein. Folglich sind auch Jeronimo und Josephe, wie Marionetten aufgezogen, Objekte dessen, was auf sie einwirkt. Sinnbildlich dafür wirkt Jeronimos Besinnungslosigkeit, mit der er sich aus der untergehenden Stadt rettet. Wie an einem Faden geführt wird er gejagt, getrieben, gerissen, und ist dabei doch wie ein stiller Beobachter seiner Umgebung. 62 Zu keinem Zeitpunkt hat der Leser den Eindruck, Jeronimo ent- scheide selbst die Richtung, in die er flieht. Analog wird auch die Flucht der Josephe dargestellt. Charakteristisch für die Marionette ist schließlich auch das Unverständ- nis ihres eigenen Schicksals. Dabei gehen Zufall und Marionettenspiel Hand in Hand: Ein (…) Fadenzug kann (…) in jedem Augenblick und in jeder denkbaren Richtung erfolgen; aus der Perspektive der Figur betrachtet erscheint er als „Zufall“ 63. 2.2.4 Metaphysische Ironie Josephe beschreibt angesichts der großen Katastrophe des Erdbebens, dass sie den Drang, ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zu legen, niemals lebhafter empfunden habe, als eben jetzt, wo er seine unbegreifliche und erhabene Macht so entwickle.64 Donna Elvire pflichtet ihr sogar bei. Auch der Priester beginnt die Predigt mit „Lob, Preis und Dank“65, was vor dem Hintergrund des Elends, das auf das Volk herab gekommen ist, geradezu paradox erscheint, und höhnt weiter, ein noch größeres Unglück sei nur dem „unendlichen Langmut“66 Gottes zu verdanken. 61 Ebd., S. 51. 62 Vgl. Krieger, K.: Das Prinzip der Marionette im Erzählwerk Heinrich von Kleists. Aachen 2007, S. 80f. 63 Ebd., S. 82. 64 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 60. 65 Ebd., S. 61. 66 Ebd., S. 62. 16
Möglicherweise kann diese die gesamte Novelle durchziehende Ironie als (verzweifelte) Reaktion des Erzählers (und schließlich des Autors) auf die oben angeführte metaphysische Erkenntnisproblematik gelten. Jedenfalls scheint sich der Erzähler, um nicht in die bereits beschriebene Sprachlosigkeit zu verfallen, durchaus in die Ironie zu flüchten, anerkennend, dass er keine Alternative gegenüber dem kausal handelnden Gott der Figuren hat. Auch er sehnt sich nach der Ordnung, an die sich die Personen klammern und weiß doch, dass es sie nicht gibt. Dadurch wird er ironisch, polemisch, ja, makaber und brutal. Der Ausgang der Novelle beweist diese Entwicklung. 2.3 Gesellschaftliche Hintergründe und Motive Nachdem nun die metaphysischen Fragestellungen, die das „Erdbeben in Chili“ aufwirft, ausreichend diskutiert wurden, soll noch versucht werden, immanente Aussagen der Novelle aufzudecken. Zweifelsohne lassen sich hier einige An- satzpunkte finden. Zentral steht dabei die Frage im Raum, welche ethische Relevanz das Werk hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf- weist. 2.3.1 Der Himmel und die Menschen Die bisherigen Erörterungen haben gezeigt, dass der Erzähler die die Figuren bestimmende Hinwendung zu Gott, zum Metaphysischen, in der Sehnsucht nach Ordnung, nach Kausalität des Weltgeschehens begründet sieht. Auch zeigt er durchaus Verständnis dafür, scheint diese Sehnsucht sogar zu teilen. Und doch wendet er sich entschieden gegen einen Verweis auf einen teleo- logischen Zusammenhang – nicht nur, weil ihm dieser Gedanke schlicht absurd erscheint (er kann keinen Sinn in dem Leid erkennen) 67, sondern auch, weil er die daraus entwickelten Konsequenzen für das gesellschaftliche Zusammen- leben, mit einem Wort die Moralvorstellungen, für gefährlich, falsch und den guten Geist des Menschen verdeckend sieht. Explizit ist an dieser Stelle die Kritik an der Institution Kirche sowie der mit ihr verbündeten Staatsgewalt zu nennen. So ist es wohl weniger der 67 Vgl. die Ausführungen zum Zufall (2.2.1). 17
Glaube an das Eingreifen Gottes an sich, der Jeronimo und Josephe ins Verderben führt,68 sondern vielmehr die daran angeknüpften moralischen Normen der Kirche: Auf Befehl des Erzbischofs wird Josephe der „geschärf- teste Prozess“69 gemacht, und schließlich ist es die Auslegung des Priesters, welche die Menge erst gegen die beiden „Sünder“ aufbringt. Die vermeintliche, durch den Geistlichen verkörperte Deutungshoheit der Kirche bezüglich des Erdbebens wird sowohl von der konkurrierenden Kategorie des Zufalls an sich als auch durch die verwendete Ironie radikal in Frage gestellt und angesichts der Wirkung problematisiert. Zudem wird diese Passage eindeutig wertend erzählt: Don Fernando erscheint als „göttlicher Held“70, der sich gegen die „blutdürstenden Tiger“ und die „satanische Rotte“71 zur Wehr setzt. Die Szene vermittelt den Eindruck eines Kampfes zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel. Die Forschung interpretierte die Szene zuweilen tatsächlich als fak- tisches Handeln der „höllischen Mächte der Finsternis“, die „in die Seelen der Menschen“72 eingedrungen seien. Dieses Verständnis scheint mir wenig plau- sibel, weil im vorangegangenen Teil bereits eine Sprachlosigkeit von Erzähler und Autor angesichts des Metaphysischen herausgearbeitet wurde, die mit dieser Argumentation negiert würde.73 Wenn also angesichts der Erkenntnis göttlichen (und damit auch teuflischen) Handelns Sprachlosigkeit herrscht, so findet sich in der Kirchenszene vielmehr eine fundamentale Kritik an der zeit- genössischen Christenheit. Es handelt sich nicht um das personifizierte Böse, welches Jeronimo, Juan und Josephe den Tod bringt, sondern um Menschen, Menschen (…), die das Gute wie das Böse in sich selber haben, die es von den anderen in sich wecken lassen, die dazu weder auf Gott noch auf die Hölle angewiesen sind und deren moralische Verantwortlichkeit nicht darauf abgeschoben werden kann.74 Hier steckt die wohl radikalste Kritik Kleists: Die Predigt des Priesters, Inbegriff der starren Moral, wiegelt die Menschen auf, lässt das Böse in ihnen 68 So legt es etwa Wolfgang Wittkowski dar: Wittkowski, W.: Skepsis, Noblesse, Ironie. Formen des Als-ob in Kleists Erdbeben. In: Euphorion 63 (1969). Heidelberg, S. 247. 69 Kleist, Erdbeben in Chili, S. 49. 70 Ebd., S. 65. 71 Ebd. 72 Wiese, B. von: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Band 2. Düsseldorf 1962, S. 67. 73 Weitere Argumente gegen dieses Verständnis führt Wittkowski an: Wittkowski, W.: Skepsis, Noblesse, Ironie. Formen des Als-ob in Kleists Erdbeben. In: Euphorion 63 (1969). Heidelberg, S. 255. 74 Wittkowski, W.: Skepsis, Noblesse, Ironie. Formen des Als-ob in Kleists Erdbeben. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 63 (1969). Heidelberg, S. 255. 18
zu Tage treten und wird so zur Ursache der fanatischen Morde. Der zuvor er- stellte Entwurf einer „besseren“, ja, idealen Welt ist damit gescheitert. 2.3.2 Das scheinbare Paradies auf Erden Als nach dem Erdbeben die Ständegesellschaft aufgehoben scheint, alle Menschen einander helfen und die eigentlich geächteten Jeronimo und Josephe wie selbstverständlich in die Gemeinschaft des Don Fernando integriert werden, scheint „der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzu- gehn.“75 Neben der bereits erwähnten Opposition der Schauplätze (Stadt – Land) entwirft Kleist im Mittelteil eine Gesellschaft, die in krassem Gegensatz zur Gesellschaft zu Beginn und am Ende der Novelle ohne moralische Normen, ohne Recht und Gesetz auszukommen scheint. Alle Menschen bemitleiden und helfen einander, ohne dass sie dazu genötigt wären; insbesondere die vielen Bibelanalogien (Jeronimo und Josephe unter dem Granatapfelbaum, „Tal von Eden“76) verstärken den Eindruck, das Zusammenleben sei von paradiesischer Qualität. Indes steht die gesamte Szenerie des Mittelteils unter dem Schleier des Scheins: Josephe dünkte sich unter Seligen, es schien der menschliche Geist aufzugehen, als ob das Erdbeben alles zu einer Familie gemacht hätte.77 Der Schein relativiert das Dargestellte, indem er es perspektivisch und damit nicht mehr objektiv zeigt.78 Und noch darüber hinaus: Das baldige, katastrophale Scheitern dieses Entwurfes bestätigt schließlich diesen Schein, entlarvt ihn als Utopie, fernab jeder Realität. Doch was bedeutet diese Utopie? Ist sie nicht Ursache des schlimmen Ausganges, verführt sie nicht die Figuren zu ihrem leichtfertigen Gang in die Kirche? Führt Kleist hier also dem Leser eine negative Weltsicht vor Augen, eine Welt, die Naivität und das Vertrauen auf das Gute im Menschen tödlich bestraft? 75 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 58. 76 Ebd., S. 55. 77 Ebd., S. 58. 78 Vgl.: Wittkowski, Skepsis, Noblesse, Ironie, S. 262. 19
Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag – es gibt durchaus Hinweise, dass der Autor hier ein „höheres“ Ziel verfolgt hat. So erscheinen Jeronimo und Josephe, und vor allem Fernando, bei näherem Hinsehen nicht als dumm, sondern lediglich einem höheren Ethos anhängig, einem Ethos, das jenseits von Recht und Gesetz das eigene Leben kompromisslos hintan stellt – die Voraussetzung dafür, dass die geschilderte Utopie tatsächlich real werden kann: Fernando und das Paar machen also sicher einen Erkenntnisfehler. Und sicher ist das tragische Blindheit. Aber es ist das Gegenteil von tragischer Schuld. Es ist vielmehr der Preis des Edlen, das sich gerade darin konstituiert, daß die Sicherheit des eigenen Lebens erachtet wird, als ob es, dem nichtswürdigen Gute gleich, auf dem nächsten Schritte schon wiedergefunden würde. 79 Eine solche Sichtweise verändert weiterhin auch den Blick auf das Geschehen im Tal. Es zeigt sich, dass die Szene eben keine bloße Illusion ist, ein Trugbild, welches die Figuren täuscht, um sie daraufhin in ihr Verderben zu entlassen. Zunächst einmal wird hier, wohl in Anlehnung an Rousseau, jenseits von Ge- rechtigkeit und Gesetz ein Modell vorgestellt, dass auf „freier Soziabilität“80 beruht. Als einziges Gesetz wird die Abwesenheit von Gesetzmäßigkeit vor- gestellt81; an die Stelle von geregelter Gerechtigkeit tritt die „natürliche Güte“82. Wenn die Beschreibung eines solchen Zustandes auch unrealistisch, ja utopisch klingen mag und dies scheinbar auch ist, wie der Ausgang der Novelle zeigt, so bleibt doch die Hoffnung auf etwas Zukünftiges. So erscheint es auch sinnvoll, wenn Fernando angesichts Philippens im vieldiskutierten Schlusssatz fast so ist, „als müsst er sich freuen.“83 Don Fernandos Freude, die angesichts des Mordes an seinem Sohn nur gedämpfte Freude sein kann, nährt sich von dem Glück der zwanglosen Vereinigung der Familien. Es drückt sich hier am Ende etwas Heilsames und Zukünftiges aus: eine Möglichkeit zu leben, jenseits der Alternativen Justizpalast und Kathedrale.84 Auch die Bergpredigt ist eine Utopie. Und dennoch hat sie im Leben von Millionen Christen eine Wirkung entfaltet, die Ihresgleichen sucht. 79 Wittkowski, Skepsis, Noblesse, Ironie, S. 264. 80 Kaul, S.: Poetik der Gerechtigkeit. München 2008, S. 104 – 117. 81 Vgl.: Marx, S.: Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von Kleists Erzählungen ohne Moral. Würzburg 1994, S. 163. 82 Kaul, Poetik der Gerechtigkeit, S. 108f. 83 Kleist, Das Erdbeben in Chili, S. 66. 84 Kaul, Poetik der Gerechtigkeit, S. 116. 20
Schluss „Das Erdbeben in Chili“ ist ein durchaus „würdiger“ Vertreter seiner Gattung. Nicht, dass es die Merkmale der Novelle in irgendeiner vorbildlichen Weise erkennen ließe – vielmehr gelingt es dem Schriftsteller, durch die Ver- schränkung von großer und kleiner Katastrophe eine wahrhaft unerhörte, neue Begebenheit zu installieren. Darüber hinaus wirft der Autor Fragen auf, die er selbst nicht zu beantworten imstande ist, gesteht dies auch ein und zeigt sich sprachlos angesichts des Ergebnisses. Dabei lässt er den Leser nicht außen vor. Indem er zunächst Sinn evoziert, nur um ihn danach radikal wieder zu zerstören, berührt er den Re- zipienten. Dieser merkt auf, ja erschrickt angesichts der Brutalität, mit welcher sich der paradiesische Mittelteil als Utopie entlarvt. Gleichzeitig aber schmettert er damit allen, die vorgeben, klare Antworten auf seine Fragen zu kennen, den Vorwurf entgegen, sich diese Antworten selbst zu konstruieren, in Kauf nehmend, dass die ehrliche Wahrheitssuche dabei auf der Strecke bleibt. Hier kommt schließlich die Moral ins Spiel: Die Konstruktion von Wahrheiten, im Werk abgebildet von den Institutionen Kirche und Staat, geht einher mit strengen moralischen Prinzipien, welche nicht nur die Freiheit des Menschen einschränken, sondern darüber hinaus auch seine natürliche Güte verschleiern. Hier trifft also das Problem des Erkennens, welches bereits in der Ein- leitung erwähnt wurde, auf die radikale Kritik an den herrschenden Moral- vorstellungen, die damit nicht nur auf ironische Weise als hohl entlarvt werden, sondern denen vielmehr die Legitimation entzogen wird. Wo keine Ordnung ist, kann auch keine Moral von einer Ordnung begründet werden. Dennoch: Möglicherweise, so wurde im letzten Teil aufgezeigt, möchte Kleist den Leser doch nicht so hilflos zurücklassen. Verwendet man statt des Begriffs „Utopie“ den weit positiv besetzteren Terminus der „Vision“, so mag man wieder ein wenig an die paradiesischen Zustände des Mittelteils zu glau- ben. Don Fernando bestätigt diese zaghafte Hoffnung, und vielleicht hatte sie auch Heinrich von Kleist. Kant stürzte ihn in eine Krise, davon ist das „Erd- beben in Chili“ gezeichnet. Und doch zeigt er in dieser Novelle auf, dass abseits der Krise, abseits der unbeantworteten Fragen Erstrebenswertes liegt. 21
Um dieses zu erreichen, müssen die unbeantwortbaren Fragen aber gestellt werden, muss der Mensch erkennen, wie wenig er zu erkennen vermag. Erst dann ist es möglich, dass der menschliche Geist selbst aufgeht wie eine schöne Blume. Vielleicht liegt darin dann doch wieder ein Stück Moral in einer ansonsten die Moral ablehnenden Erzählung. 22
Literaturverzeichnis Primärliteratur: Kleist, H. von: Das Erdbeben in Chili. In: Ders.: Die Marquise von O… . Das Erdbeben in Chili. Erzählungen. Stuttgart 2004, S. 49 – 66. Sekundärliteratur: Altenhofer, N: Der erschütterte Sinn. Zu Kleists „Erdbeben in Chili“. In: Wellbery, D.E. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Erdbeben in Chili“. München 1985, S. 39 – 53. Aust, H.: Novelle. 4. Aufl. Stuttgart, Weimar 2006. Fischer, B: Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists. München 1988, S. 17 – 37. Fricke, E.: Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung. Poetologische Strategien im erzählerischen Werk. Marburg 2010, S. 57 – 84. Haug, W.: Die Wahrheit der Fiktion. Tübingen 2003, S. 370 – 393. Herrmann, H. P.: Zufall und Ich. In: Müller-Seidel, W. (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt 1973, S. 367 – 411. Kaul, S.: Poetik der Gerechtigkeit. München 2008, S. 104 – 117. Kleist, H. von: Briefe. März 1793 – April 1801. In: Reuß, R./Staengle, P. (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. IV/I. Basel 1996. Krieger, K.: Das Prinzip der Marionette im Erzählwerk Heinrich von Kleists. Aachen 2007, S. 74 – 88. Kunz, J.: Die deutsche Novelle zwischen Klassik und Romantik. 3. Auflage, Berlin 1992, S. 167 – 174. Liebrand, C: Das Erdbeben in Chili. In: Breuer, I. (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2008, S. 114 - 120. Marx, S.: Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von Kleists Erzählungen ohne Moral. Würzburg 1994. Stierle, K.: Das Beben des Bewußtseins. Die narrative Struktur von Kleists „Das Erdbeben in Chili“. In: Wellbery, D.E. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“. München 1985, S. 54 – 68. 23
Wellbery, D.E.: Semiotische Anmerkungen zu Kleists „Das Erdbeben in Chili“. In: Ders. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Erdbeben in Chili“. München 1985, S. 69 – 87. Wiese, B. von: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen, Bd. 2. Düsseldorf 1962, S. 53 – 70. Wittkowski, W.: Skepsis, Noblesse, Ironie. Formen des Als-ob in Kleists Erdbeben. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 63 (1969). Heidelberg, S. 247 - 283. 24
Eidesstattliche Erklärung Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Seminararbeit ohne fremde Hilfe und ohne Benutzung anderer als der im Literaturverzeichnis angegebenen Quellen und Hilfsmittel angefertigt habe und dass diese in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen hat. Alle Ausführungen der Arbeit, die wörtlich oder sinngemäß übernommen wurden, sind als solche gekennzeichnet. Augsburg, den 28.02.2011 25
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