Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm

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Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm
DIPLOMARBEIT

  Ist der Tod ein architektonisches Ereignis?

       ausgeführt zum Zwecke der Erlangung des akademischen Grades eines
                     Diplom-Ingenieurs unter der Leitung von
                 Senior Scientist Dipl.-Ing. Dr.techn. Ingrid Manka
                                       E264
                         Institut für Kunst und Gestaltung

                 eingereicht an der Technischen Universität Wien
                    Fakultät für Architektur und Raumplanung
                                        von
                              Johannes Puchleitner
                                     0626851

Wien, am
Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm
abstract deutsch

    Ist der Tod ein architektonisches Ereignis?
    von Johannes Puchleitner

    Diese Arbeit behandelt, wie der Titel besagt, die Themen Tod, Architektur und Er-
eignis, wobei dem Ereignis in diesem Fall besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Es ist
nämlich jener Begriff, der den übergeordneten philosophischen, wie auch architektur-
theoretischen Rahmen der Arbeit bildet und von dem aus ich einzelne „Stationen“ der
Geschichte der Architektur besuchen werde.
    Ausgehend von den Debatten der Ursprünge der Disziplin und ihren kontroversen
Interpretationen, komme ich über die Betrachtung von Zeit und Raum im Kontext von
Ereignis und Tod, zu den stürmischen und teilweise wirren Ideen der Futuristen. Von
dort aus springe ich geschichtlich wieder zurück zu den monumentalen, zwiespältigen
Bauten der ägyptischen Pyramiden und arbeitete mich, vorbei an den paradoxen und
unheimlichen Arbeiten zweier Künstler, hin zum Verhältnis von Gewalt, Eigentum und
Architektur.
    Unterm Strich ist jedes Kapitel für sich ein Wagnis, schon allein deshalb, weil
ich dem wahrscheinlich wichtigsten Grundsatz folge leisten will, und zwar mich dem
Ereignis auf ereignishafte Weise zu nähern. Das heißt, jeder Abschnitt dieser Arbeit
beinhaltet die singuläre Hoffnung, innerhalb des weiten Feldes von Tod und Ereignis zu
einem erweiterten Verständnis von Architektur zu gelangen.

    abstract english

    Is death an architectural event?
    by Johannes Puchleitner

     As the title suggests, this work deals with the themes of death, architecture and
event. In this case, special attention is paid to the event. It is its concept that formed the
greater philosophical as well as architectural-theoretical framework of this paper, and
from which I visit individual stages in the history of architecture.
     Starting from the debates on the origins of the discipline and its controversial
interpretations, I leap to the stormy and sometimes confused ideas of the Futurists.
Via the consideration of time and space in the context of event and death, I jump back
historically to the monumental, ambivalent buildings of the Egyptian pyramids. From
there I work my way past the paradoxical and uncanny works of two artists towards the
relationship between violence, property and architecture.
     The bottom line is that each chapter is a venture in itself, if only because I want to
follow what is probably the most important principle, and that is to approach the event
in an eventful way. That means furthermore, each section of this work contains the
singular hope of arriving at an expanded understanding of architecture within the broad
field of death and event.
Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm
Text und Fotos von Johannes Puchleitner, 2021

Ist der Tod ein architektonisches Ereignis?
Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm
inhaltsverzeichnis

    5    vorwort

    7    ursprung

    11   raumzeit

    18   form

    21   pyramiden

    26   unheimlich

    30   gewalt

    35   conclusio

    anhang

    literaturverzeichnis

                           station

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Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm
vorwort                                            Slavoj Žižek und Thomas Khurana            eine*n, die vielen „Grenzen [des Begriffs]
Eine der schwierigsten Aufgaben wird          starten beispielsweise ihre jeweiligen          auf spezifische Weise zu passieren und
der Versuch sein, den Ereignisbegriff in      Text- bzw. Buchbeiträge zum Ereignis mit        zu durchqueren.“8 Žižek beschreibt die
einen Rahmen zu fassen, der es den            einer willkürlichen Auflistung von Ereignis-    Kapitel in seinem Buches deshalb als
Leser*innen ermöglicht zu verstehen,          sen, um von vornherein zu verdeutlichen,        „U-Bahn-Fahrt mit vielen Haltestellen und
was sich hinter diesem Begriff verbirgt. In   mit welcher „notorischen Unschärfe“3 uns        Verbindungen, bei der jeder Halt für eine
der Philosophie gibt es mittlerweile eine     dieser „amphibische Begriff, der mehr als       mögliche Definition von Ereignis steht.“9
gewisse Kontinuität in der Auseinander-       fifty shades of grey umfasst,“4 konfrontiert:   Und er schreibt weiters: „Die einzige
setzung mit dem Begriff und auch in der       Der Ibiza -Skandal. Österreich im Ausnah-       angemessene Lösung demnach ist, sich
Architektur hatte das Ereignis bereits eine   mezustand. Es war das letzte Mal, dass          Ereignissen in einer ereignishaften Weise
Art Konjunktur erlebt. Nichtsdestotrotz       er sie sah. Plötzlich machte es einen lau-      zu nähern.“10 Um Antworten auf meine
wird es kein leichtes Unterfangen werden,     ten Knall und der Wagen fuhr auf und da-        Ausgangsfrage, ob der Tod eine architek-
sich auf einen gemeinsamen Ereignis-          von. Als sie das Grab öffneten war ihnen        tonisches Ereignis ist, zu erhalten, wer-
begrif zuf verständigen, einerseits würde     sofort bewusst, welche unglaubliche Ent-        den wir diesem Grundsatz folge leisten
das dem Ereignis ohnehin nicht gerecht        deckung sie gemacht haben. Kröte Simba          und schauen welche „möglichen Definiti-
werden, andererseits kann dies, nach          reist 10.000km als blinder Passagier von        onen“ auf uns warten, um das Ereignis zu
einer intensiven Recherche vorangegan-        Südafrika nach Deutschland.5 So, oder           entschlüsseln.
gener Arbeiten zum Ereignis, auch nicht       so ähnlich, klingen Žižeks und Khuranas             Auch der Philosoph Joseph Vogl, der
der Anspruch sein: „Eine Geschichte des       erste tastende Versuche sich dem Ereig-         anhand der Frage Was ist ein Ereignis
Ereignisdenkens vorzulegen könnte ein         nisbegriff zu nähern. Aber sind das alles       das Ereignisdenken von Gilles Deleuze
zutiefst paradoxes Vorhaben sein, das         auch Ereignisse? Inwiefern ordnen wir           untersucht hat, verweist ebenso schon
von vornherein zum Scheitern verurteilt       diese Sätze als Ereignisse ein? Prinzipiell     eingangs auf die Gefahren und Missver-
ist“1 schreibt Marc Rölli in der Einleitung   ist zu sagen, dass sich ein Ereignis auf        ständnisse, sollte man mit einer grundle-
zu Ereignis auf Französisch. Von Bergson      so ziemlich alles beziehen kann, von po-        gend falschen Herangehensweise in der
bis Deleuze. Der Sammelband vereint           litischen Skandalen, traurigen Anlässen,        Fragestellung auf das Ereignis zusteuern:
viele unterschiedliche Positionen zu          persönlichen Tragödien, bis hin zu wis-         „Die Frage nach dem Ereignis zielt (...)
diesem Thema aus der französischen            senschaftlichen Meilensteinen, tierischen       nicht auf Antwort und Lösung, sondern
Philosophie des 20. Jahrhunderts, auf die     Superhelden usw. Das Ereignis kann von          auf ihr problematisches Selbst.“11 Der
wir im Laufe der Arbeit noch mehrmals         „öffentlichen oder privaten, anonym-neut-       Trick, damit man dem Ereignishaften
zurückkehren werden. Nirgendwo sonst          ralen oder persönlich-konkreten, singu-         am Ereignis nicht entgeht ist, nicht nach
wurde nämlich so stark und ausführlich        lären oder wiederholten, bezeugten oder         dem was ist zu fragen, sondern auf eine
über das Ereignis nachgedacht wie in          unbezeugten, datierten oder undatierten,        Vielstimmigkeit von Fragen zu verweisen,
der dortigen Philosophietradition.2 Um        eingetretenen oder ausgebliebenen,              d.h. Fragen nach dem wann, wie, wo,
aber der Gefahr vorzubeugen, sich in          fiktiven oder realen Vorkommnissen“6            wie viele etc. zu stellen. Das führt beim
den Tiefen allzu detaillierter philoso-       handeln, oder eben auch von nichts              Ereignis viel eher zu einer Erkenntnis und
phischer Auseinandersetzungen zum             davon. Das Ereignis ist jedenfalls erst         lotet, wie Vogl bezugnehmend auf De-
Ereignis zu verlieren, werde ich nur einige   einmal ein Rätsel und möchte man da-            leuze meint, ganz nebenbei die Grenzen
ausgewählte Theorien im Bezug auf das         hinter kommen, was genau in dem Begriff         der Philosophie aus.12 Meine Hypothese
Ereignis, als auch im Hinblick auf Tod und    Ereignis steckt, „müssen wir das Wagnis         in Bezug auf meine eigene Arbeit ist
Architektur bearbeiten, von denen ich mir     auf uns nehmen, den Zug zu besteigen            nun, dass wenn ich der ereignishaften
erwarte, relevante Positionen für meine       und unsere Reise mit einer vorläufigen          Architektur, bzw. dem Ereignis in der
Arbeit ableiten zu können. Am besten          Definition von Ereignis zu beginnen.“7          Architektur nachspüre, ähnliches passie-
springen wir direkt in die Debatte zum Er-    Ich verwende diese Metapher von Žižek,          ren könnte, wie im oben genannten Fall.
eignis und sehen uns an, wie sich einige      weil sie sehr gut illustriert, wie schwierig    Durch eine intensive Konfrontation des
Autor*innen vor mir mit dieser komplexen      es ist, in der Welt der Ereignisse, einen       Ereignisses mit der Architektur werde ich
Materie auseinandergesetzt haben.             Anfang zu finden, eine Station, in der man      hoffentlich bis in die existenziellen Grenz-
                                              einsteigen kann. Einerseits liegt es in der     bereiche der Disziplin vordringen und
                                              Natur des Ereignisses, dass selbst eine         dadurch zu einem erweiterten Verständnis
                                              simple theoretische Auseinandersetzung          von Architektur gelangen.
                                              mit dem Begriff schon ein gewisses Risiko
                                              birgt, andererseits zwingt das Ereignis

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Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm
Das Ereignis in der Architektur, als ein       bewegen (können): „Wir wohnen zwar
theoretisches Konzept, ist der architek-       im Raum, aber zuallererst wohnen wir in            „Zu wissen, dass wir sterblich
tonischen Debatte grundsätzlich nicht          den Grenzen unserer Sterblichkeit.“14 Der          sind, ist ein apodiktisches, doch
fremd und hat auf unterschiedlichen            Tod spielt in der Architektur seit jeher eine      leeres und abstraktes Wissen, das
Ebenen innerhalb des Gegenstandsbe-            übergeordnete Rolle, wenn wir beispiels-           angemessen auszufüllen, die ver-
reichs schon seine Spuren hinterlassen.        weise an die Pyramiden denken oder                 wirklichten und sukzessiven Tode
Trotzdem muss man sagen, dass heute            an ähnliche monumentale Grabbauten                 gewiß nicht reichen, solange man
nur wenige Bauwerke existieren, die ei-        aus einer anderen Zeit. Die Erforschung            das Sterben nicht als unpersön-
nerseits wirklich versucht haben, mit dem      eines Subjekts, eines Lebewesens, einer            liches Ereignis mit stets offener
Ereignis zu arbeiten, und die andererseits     Gesellschaft, einer Architektur im Umgang          (wo und wann?) problematischer
auch dem eigenen Anspruch gerecht              mit dem Tod ist deshalb so spannend,               Struktur auffasst.“15
wurden, das architektonische Ereignis          weil sie uns immer auf einen absoluten
in seiner komplexen Vielfalt abzubilden.       Nullpunkt zurückwirft. Die Auseinander-         Nun werde ich aber weniger versu-
Nun lässt sich Architektur (glücklicher-       setzung mit dem Tod zwingt uns, sämtli-         chen, uns den Tod besser begreifbar
weise) nicht mehr ausschließlich auf           che Grenzen in unendlich weite Räume            zu machen, als vielmehr probieren, der
gebaute Manifeste reduzieren, sondern          zu strecken, unsere Körper zu verflüs-          Architektur über den Tod und dem Ereig-
besticht vor allem durch die Vielfalt ihrer    sigen und uns zu einer schwebenden,             nis nachzuspüren um zu schauen was
unterschiedlichen Anwendungsgebiete,           zusammenhanglosen Masse vollkomme-              passiert, wenn wir Architektur als einen
und da das Ereignis vornehmlich aus der        ner Zeit- und Ortlosigkeit zu machen. Wo,       Ort, an dem wir sterben und nicht als ei-
Philosophie in die Architektur Einzug fand,    wohin, wie lange, wieso, wer... ? Welche        nen Ort, an dem wir leben denken. Dazu
sind die Abdrücke, die das Ereignis in der     Antworten gibt uns der Tod? Er gibt uns         müssen wir den Tod auch u.a. auch als
Disziplin hinterlassen hat, großteils in der   tatsächlich viele Antworten, vielfältige        den „Ursprung aller Zivilisation“16 betrach-
theoretischen Auseinandersetzung zu su-        Antworten, vor allem auf die Art und            ten, d.h. wir müssen historisch ein wenig
chen. Architektur drängt aber auch immer       Weise, wie wir unser Leben strukturieren        ausholen und in der Geschichte teilweise
darauf, Theorien, Konzepte und Ideen zu        und organisieren. Auch darüber, wie wir         weit zurückgehen. In dieser Arbeit ist mir
verräumlichen, d.h. es gibt ein stetes Su-     im Stande sind, diesem einen, aber auch         auch wichtig, herauszufinden, vornehm-
chen nach einer Übersetzung abstrakter         den vielen anderen Ereignissen in unse-         lich in Bezug auf Architektur, an welchem
Diskussionen in konkrete (physische) Mo-       rem Leben gegenüberzutreten. Die Frage,         Punkt die Menschheit, welche Abzwei-
delle. Irgendwo in diesem Spannungsfeld        ob wir widerständig oder teilnahmslos,          gungen, aus welchem Grund genommen
zwischen Theorie und Praxis wird auch          freudig oder traurig, gefasst oder über-        hat; so lautet zum Beispiel eine tradierte
meine Forschung zu dem Ereignis in der         rascht, wütend oder verständnisvoll, aktiv      Vorstellung, dass seit der Sesshaftwer-
Architektur angesiedelt sein. Ich werde        oder passiv, dem Tod entgegentreten,            dung der Menschen ein Haus zuallererst
versuchen, dem Ereignis mit dem ereig-         sagt viel darüber aus, ob unser Leben ein       die Aufgabe hatte, uns dauerhaft vor den
nishaften Prinzip entgegensteuern, ganz        selbstbestimmtes Sein zum Tod ist, wie          Einflüssen der Natur zu schützen. Aber
so, wie es weiter oben schon umrissen          der Philosoph Martin Heidegger behaup-          war das immer schon so? Demgegenüber
wurde, in der Hoffnung, ein wenig Licht        ten würde, oder ob unser Leben mehr             steht nämlich eine ganz andere anthropo-
ins Dunkel um diesen Begriff zu bringen.       einem kämpfenden Sein gegen den Tod             logische Tatsache, und zwar die, dass die
     Und warum der Tod? Der Tod ist ein        gleichkommt, wie der Schriftsteller Elias       Menschen einstmals Häuser eben nicht
Ereignis im reinsten Sinne, das heißt          Canetti es interpretiert hat. Unabhängig        als primäre Wohnstätte bzw. natürlichen
er ist etwas, das uns plötzlich zustößt,       davon, werden wir uns aber immer die            Zufluchtsort betrachteten, sondern noch
in einer „eigentümlichen Mischung von          Frage stellen müssen: Können wir uns            bevor sie sich selbst behausten, ihren
Augenblicklichkeit und Zeitlosigkeit           den Tod überhaupt begreifbar machen?            Toten Häuser bauten.17
schockartig in das Kontinuum des Lebens
und seiner eingefahrenen Gewohn-
heiten“13 einbricht und es zerstört bzw.
auflöst. Ein Akt gnadenloser Gewalt, der
das Leben zeitlich rahmt und somit auch
den Raum bestimmt, in dem wir uns

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Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm
„Des Urmenschen Achtung vor                ursprung                                     Der Begriff des environments entstammt
   den Toten zeigt, wie sehr ihn die          In einem Interview des Architekten Rai-      ursprünglich der Ökologie und hatte viel-
   mächtigen Gestalten seiner Phan-           mund Abraham vom September 2009 er-          fältige Anwendungsbereiche im Hinblick
   tasie und seiner Träume gefan-             zählte dieser die Geschichte einer Legen-    auf seine Bedeutung. Grob gesagt geht
   gen nahmen; sie veranlaßte ihn             de über den Ursprung von Architektur, die    es um die Beziehung von einem Ob-
   vielleicht noch mehr als praktische        eigentlich von Reyner Banham aus den         jekt zu seiner Umgebung. Während der
   Bedürfnisse, sich einen festen             1960er Jahren stammte. In dieser hieß        1960 und 70er Jahre erfährt der Begriff
   Versammlungsplatz und schließ-             es, dass der Anfang von Architektur nicht    im angloamerikanischen Architekturthe-
   lich einen Ort zu suchen, wo er            die Hütte sei, sondern das Feuer.19 Eine     oriediskurs aus vielerlei Gründen eine
   seßhaft werden konnte. Inmitten            Gruppe urzeitlicher Jäger kam einstmals      umfassende konzeptuelle Neurahmung,
   der ziellosen Wanderschaft des             auf eine Lichtung, auf der Äste lagen. Sie   der sich schlußendlich auch der Architek-
   vorgeschichtlichen Menschen wa-            mussten sich entscheiden, was sie damit      turtheoretiker Reyner Banham annahm.
   ren die Toten die ersten, die dau-         tun sollten, entweder eine Hütte bauen       Gepaart mit einer umfassenden Kritik an
   ernde Wohnung fanden; eine Höh-            oder ein Feuer machen. Sie beschlos-         den vorherrschenden Denkschulen der
   le, ein mit Steinen geschmückter           sen, ein Feuer zu machen. Das sei der        architektonischen Moderne und seinen
   Erdhügel oder ein Sammelgrab.              Ursprung von Architektur, so Abraham: es     berühmten Vertretern formte Banham
   Das waren Wahrzeichen, zu                  ist nicht das Gebäude, das die Architektur   aus dem Begriff des environments für
   denen die Lebenden vermutlich              bestimmt, sondern das Ereignis.20            die Architektur eine „neu Perspektive auf
   von Zeit zu Zeit zurückkehrten, um              Banhams Theorie wird von Abraham        den technisch durchdrungenen Raum
   mit den Geistern der Vorfahren             - wahrscheinlich hauptsächlich aufgrund      und sein Verhältnis zum Umgebenen.“23
   Umgang zu pflegen oder sie zu              der Tatsache, dass sie einem Nebensatz       In seinem Text sagte Banham nämlich
   besänftigen (...) Die Totenstadt ist       eines Interviews entnommen wurde - sehr      nichts anderes, als dass Architektur bzw.
   älter als die Stadt der Lebenden.          verkürzt dargestellt und kommt in seiner     ein Gebäude, seine/ihre Funktionen auf
   Ja, (...) die Totenstadt [ist] ... der     Essenz nicht zwingend zu dem selben          unterschiedlichste Art erfüllen kann, wir
   Vorläufer oder gar der Kern der            Schluss wie ursprünglich von Banham          aber in der Herstellung von Häusern seit
   lebendigen Stadt.“18                       veranschlagt. Denn die Verwendung            jeher den Fehler begehen, uns nahe-
                                              des Begriff des Ereignisses kann bei         zu ausschließlich auf eine sogenannte
     Aufgrund dieser Feststellung will ich    näherer Betrachtung irreführend sein;        strukturelle Lösung24 zu konzentrieren.
verstehen, welches konstitutive Element       Banham spricht nämlich in seinem 1969        Banham unterscheidet explizit zwischen
der Tod für die Architektur darstellt. Ich    erschienenen Buch The Architecture of        einer strukturellen und einer energeti-
will nachforschen und ebenso umgekehrt        the Well-Tempered Environment viel-          schen Lösung in der Architektur, er führt
fragen: Ist in Wahrheit nicht die Architek-   mehr vom Konzept, oder besser, von           dabei das eingangs erwähnte Beispiel
tur ein Ereignis des Todes?                   der Produktion von (power-operated)          prähistorischer Menschen an, die vor der
                                              environments21 als vom Ereignis des          Entscheidung standen, mit dem gefunde-
                                              Feuermachens.22 Nichtsdestotrotz stellt      nen Holz Feuer zu machen oder ein Zelt
                                              sich mir hier die Frage, was uns Abraham     zu bauen. Die strukturelle Lösung wäre
                                              mit dieser Verknüpfung von Ereignis,         in dem Fall ein Zelt aus Holz und einem
                                              Feuer und Architektur eigentlich sagen       Stück Fell als Abschirmung gegen Wind
                                              wollte? Was meinte er damit: das Ereignis    und Regen. Die energetische Lösung
                                              bestimmt die Architektur, und nicht das      wiederum wäre das Feuer, als Schutz vor
                                              Gebäude? Zweierlei Sachen sind hier nun      der Kälte und als Quelle für Licht. Beides
                                              relevant, die es gilt näher zu betrachten:   sind Techniken, die wir Menschen uns
                                              Zuallererst müssen wir uns anschauen,        im Laufe der Zeit angeeignet haben um
                                              was der britische Architekturtheoretiker     daraus Architektur zu erschaffen, “[b]eide
                                              Reyner Banham, auf dessen Theorie sich       Optionen, die strukturelle und die energe-
                                              Abraham ja bezieht, mit seiner Beschrei-     tische, sind Anpassungen an das äußere
                                              bung des Feuers bzw. des environments        environment durch Modifizierung des
                                              überhaupt meinte, um dann weiters            inneren environment. Schon das Tragen
                                              verstehen zu können, worin eigentlich der
                                              Unterschied zwischen einer Architektur
                                              des Ereignisses und einem normalen, sta-
                                              tischen Gebäude liegen könnte?

                                                                                                                                    7
Ist der Tod ein architektonisches Ereignis? - DIPLOMARBEIT - reposiTUm
eines Pelzes ist für Banham eine architek-       In der klassischen architektonischen         jeher steckt, seinen Anfang. Von einem
tonische Geste (…).“25 Das bedeutet,         Analyse von Häusern gibt es für Ban-             konservativen Standpunkt aus betrachtet,
würden wir Architektur von vornherein als    ham nicht nur eine unsinnige und nicht           könnte man auch der Theorie folgen, das
technisch durchdrungen wahrnehmen,           nachvollziehbare Trennung zwischen               es bei der Entstehung des Hauses einen
wäre Architektur weit mehr als massive       der Konstruktion (strukturelle Lösung)           sogenannten Urstoff gab, z.B. das Holz,
Gebäudekomplexe.                             und der technischen Gebäudeausrüs-               dass mittels menschlicher Arbeit in Form
                                             tung (energetischen Lösung)27, sondern           gebracht wurde. Das käme dann der
    „Die biologischen und kulturellen        es wird laut ihm auch unweigerlich klar,         Urhüttentheorie von Laugier29 bzw. Vitruv
    Bedürfnisse können (...) allein          dass zweiteres in der Architekturge-             gleich, die eine rationale Begründung für
    durch Herstellung und Modifi-            schichte überhaupt keinen Platz hatte:           die Entstehung von Architektur liefern
    kation von environments erfüllt          „The history of architecture (...) still deals   wollten. Dieser linearen, simplifizierten
    werden. Will Architektur sich            almost exclusively with the external forms       Betrachtung von Architektur tritt Banham
    als Gestaltung von Lebensräu-            of habitable volumes as revealed by the          mit seiner Theorie jedoch entschieden
    men begreifen, müsse sie die             structures that encloses them.“28 Dies ist       entgegen. Technik ist für Banham nämlich
    technischen Möglichkeiten ihrer          auch der Grund warum Banham in seiner            „zutiefst in die Existenz des Menschen
    Zeit (...) ausspielen um environ-        Herleitung soweit ausholt und bis zu             eingelassen und erfordert, Architektur
    ments zu erzeugen, die gar nicht         den Anfängen prähistorischer, architek-          konzeptuell wie pragmatisch neu zu
    anders gedacht werden können             tonischer Ursprünge zurückgeht. Denn             definieren.“30
    als technisch durchdrungen und           genau dort nahm seiner Meinung nach
    reguliert.“26                            das Dilemma, in dem die Architektur seit

                                                                                                 ursprung

8
Der Kniff, der wiederum dem Architek-       wechselt, wenn unvorhergesehener Lärm        Raum bzw. Struktur und somit einem
ten Raimund Abraham in seiner Aussage           den Unterricht des*der Lehrer*in stört und   Verzicht von Architektur generell gleich-
gelang - ob bewußt oder unbewußt sei            die Menschen näher zusammenrücken            komme, doch dem hielt er entgegen,
dahingestellt - war jener, Banhams Theo-        müssen, um besser hören zu können,           dass, wie weiter oben schon erwähnt,
rie des environments an das Ereignis zu         wenn die unaufhörliche Bewegung der          Gebäude ihre Funktionen auf viele Arten
knüpfen. Er ordnet ihn damit nämlich in         Planeten die Position der Sonne und          erfüllen könnten.35 Banham sieht et-
eine Theorietradition ein, die sich intensiv    des Baumes zueinander in ein ewiges          was Vorteilhaftes im nomadischen Sein
mit einer anderen Grundsatzproblematik          Schattenspiel verwandelt, und mal kühle,     gegenüber dem Leben in geschlossenen
auseinandersetzt, und zwar jener, in der        mal heiße Orte produziert werden, all das    Raumarchitekturen, so wie wir es kennen.
sich Objekte wie Prozesse verhalten, und        bestimmt die sogenannten environmental       Und mit dieser These steht er nicht alleine
nicht wie statische Gegenstände oder            conditions. Und der Mensch hat mittels       da: schon viele klassische Denker*innen
Dinge. Dadurch eröffnet sich für die The-       der Architektur die Macht sich von diesen    vor ihm blickten sehnsuchtsvoll auf die
orie Reyner Banhams nicht nur ein weite-        Zwängen zu befreien:                         Offenheit und Ehrlichkeit nomadischer
res, breites Spektrum in der Betrachtung,                                                    Strukturen zurück.36
sondern man könnte auch zu dem Schluß              „Der menschliche Organismus               Die Suche Banhams nach einem anderen
gelangen, dass Banham vielen nach-                 sei (...) verschiedenen «immedi-          Ursprung von Architektur hat m.M.n. vor
folgenden Prozessen in Bezug auf den               ate environments» ausgesetzt,             allem den Grund, die Krisen, in die die
sozialen Raum vorgreift. Banham geht               in denen sein fragiler Körper nur         Disziplin der Architektur immer wieder ab-
nämlich davon aus, dass das Lagerfeuer             überleben könne, weil er über             zugleiten drohte, zu verstehen, und ihnen
eines Nomadenstamms eine Umgebung                  «technical resources and social           einen tieferen Sinn zu geben. Wie viele
für soziale Aktivitäten schaffe und sie mit        organisations» verfüge, mit denen         andere Theoretiker*innen vor ihm kommt
einem mächtigen Symbol markiert. Größe             er aus den Kreisläufen der Natur          auch er zu dem Schluß, dass unser heu-
und Form des nützlichen Ambiente wer-              ausbrechen und seine eigenen              tiges Denken von Architektur, wie weiter
den aber nicht durch irgendwelche Struk-           herstellen könne. Architektur             oben schon erwähnt, zu sehr auf die
turen, sondern lediglich durch die Hitze           ist demnach ein evolutionäres             Kunst des Schaffens von geschlossenen
des Feuers, die Windstärke und -richtung,          Vermögen des Menschen, sein               Räumen ausgelegt sei, und dadurch zu-
die Physiologie der beteiligten Individuen         environment zu produzieren und            meist am Kern der eigentlichen Aufgabe
und ihre Aktivitäten definiert.31 Das Ereig-       sich von den äußeren Widrigkei-           vorbeiziele. Sein Versuch, ein zusätzli-
nis, so wie es Raimund Abraham beim                ten loszusagen, um ihnen zugleich         ches auf Basis der Technik beruhendes
Feuer interpretiert hat, ist also die soziale      begegnen zu können.“33                    Fundament für die Architektur zu kreieren,
Räumlichkeit, die bei der Zusammenkunft                                                      kann auch als Ausbruch aus den diskursi-
zu einem bestimmten Zweck entsteht, der              In allen großen Zivilisationen (zu-     ven Zwickmühlen der Disziplin betrachtet
zentrale Fokus auf eine bestimmte Sache,        mindest in jenen, die nach derzeitigen       werden. Auch wenn er grundsätzlich den
z.B. ein Feuer, oder aber auch auf ein          wissenschaftlichen Stand Bauwerke            Begriff des Ereignisses nicht verwendet
Wasserloch, einen schattigen Baum oder          von sogenanntem architekturhistori-          hat, so macht es durchaus Sinn, das
eine*n große*n Lehrer*in.32 Das Ereignis-       schem Wert in dieser Welt hinterlassen       Feuer als ein ursprüngliches Ereignis der
hafte dieses speziellen Raumes ist, dass        haben) hat der Mensch einzig mit den         Architektur in Betracht zu ziehen. Eine
die Grenzen nicht im Vorhinein festgelegt       Mitteln massiver Gebäudestrukturen auf       weitere Frage, die sich hier in Bezug auf
sind, sondern gezwungenermaßen immer            äußere Widrigkeiten reagiert und dadurch     das Ereignis bei Banham noch stellt ist
wieder neu definiert werden müssen und          versucht, seine environmental needs zu       die, ob man bei seiner Interpretation von
sich die Umgebung durch die verän-              stillen, so Banham. Gesellschaften, die      Gebäuden nicht auch von einer Architek-
derten Verhältnisse immer wieder aufs           diese massiven Gebäudestrukturen nicht       tur als „Gesellschaftsmaschine“37 spre-
Neue anpassen muss. Wenn der Wind               zu Verfügung hatten, z.B. urzeitliche No-    chen sollte, die sich zwischen zwei Polen,
ins Feuer bläst und plötzlich die Richtung      maden, besaßen nicht nur ein erweitertes     der strukturellen und der technischen
                                                räumliches Verständnis, sondern hatten       Lösung, organisiert? Anders gefragt,
                                                auch vielfältige kulturelle Antworten auf    müssten wir mit Banham nicht nach dem
                                                die Fragen des environments.34 Kritiker      Unterschied zwischen einer „konkreten
                                                behaupten zwar, dass Banhams Vorstel-        und abstrakten Maschine“ in der Architek-
                                                lung von Architektur einem Verzicht von      tur suchen? Der Ereignisphilosoph Gilles
                                                                                             Deleuze hat das im Hinblick auf Foucaults
                                                                                             Machtanalyse so formuliert:

                                                                                                                                      9
„Während die konkrete Maschine              Banham nahm mit seiner These zu           mit einiger zeitlicher Verzögerung auch
     die Anordnung von Elementen            seiner Zeit zweifellos eine singuläre Po-      seinen Weg in die Architektur fand. Der
     oder Körpern im Raum und in            sition im architektonischen Diskurs ein,42     Raum wird hier nicht mehr als Behäl-
     der Zeit steuert, ist die „abstrakte   und seine Art über Architektur zu denken       ter aufgefasst, indem sich Menschen,
     Maschine“ (oder das informelle         wurde durchaus stark kritisiert. Schauen       Gruppen oder Kulturen versammeln und
     Diagramm) koextensiv zum sozi-         wir uns vielleicht deshalb im Detail noch-     organisieren, vielmehr wird der Raum als
     alen Feld überhaupt und besetzt        mal den wahrscheinlich größten Vorwurf         Zusammensetzung und Ergebnis sozialer
     jenen „Nicht Ort“, der die grundle-    an, dem sich Banham gegenüber sah,             Beziehungen und Kämpfe wahrgenom-
     gende Instabilität von Funktionen,     wenn seine Kritiker*innen behaupteten,         men. Banham blieb in seiner Theorie
     Kräfteverhältnissen und Materien       er würde Architektur generell abschaffen       zwar mehr in einer technologisch-strukt-
     versammelt.“38                         wollen, weil er auf Raum und Struktur          ruellen Debatte verhaftet, nichtsdestotrotz
                                            verzichtete. Dabei übersahen sie, dass         könnte man auch sagen, Banhams 1969
     Übersetzt hieße das im Falle Ban-      es Banhams größte Leistung war zu              verfasster Text greift einem radikalen
hams, dass das Haus als konkrete            erkennen, dass die Voraussetzung von           Wandel vor, der sich ein paar Jahre spä-
Maschine als Objekt angesehen werden        Architektur nicht in der Materialität des      ter ereignen sollte.
kann, in dem sich die abstrakte Ma-         gebauten Raums zu finden ist, sondern              Raum ist neben der Zeit auch eine der
schine, z.B. das virtuelle Ereignis des     ihr Ursprung immer der ereignishafte           Dimensionen die es in Bezug auf unsere
Feuermachens in einer konkreten Form        Raum ist. Das ist insofern interessant,        Forschungsfrage zu entschlüsseln gilt.
aktualisiert. Der Raum ist, wie Bahnham     weil sich dadurch ein Problem auftat,          Die Diskussionen, die sich um diesen
sagt, immer schon „technisch durchdrun-     welches die Architektur so nicht wirklich      Begriff drehen sind vielfältig und wider-
gen“ und setzt sich nur immer wieder in     kannte, eben dass dieser Raum, von dem         sprüchlich, und es ist durchaus möglich,
ein „Verhältnis zum Umgebenden“, d.h.       Banham sprach, nicht unmittelbar dar-          dass wir zu keinem kohärenten, allge-
„[w]ährend eine abstrakte Maschine (...)    stellbar war bzw. darstellbar sein musste.     mein gültigen Ergebnis kommen. Das ist
nur virtuelle39 Beziehungen und Interak-    Zumindest reichten die herkömmlichen           aber insofern irrelevant, weil die Suche
tionsfelder umschließt, erweist sich eine   Mittel einer konservativen Architekturtradi-   nach dem Raum durch die Koppelung
konkrete Maschine (...) als Aktionsraum     tion nicht aus. Auch heute noch ist dieses     an das Ereignis zwingend neue Sphären
ihrer Wirkungen und Lösungen.“40 Genau      Rätsel nicht gelöst, wenn wir auf das Bei-     eröffnet und ich alleine schon deshalb
das ist es, was Banham mit seinem Buch      spiel des Architekten Marcos Novak und         keinen Anspruch auf Vollständigkeit einer
lt. Florian Sprenger eigentlich auch tat:   seiner unsichtbaren Architektur verwei-        Begriffsdefinition erheben kann, weil der
Banham liefert „eine noch heute - und       sen.43 Uns fällt es zwar insofern leichter,    Anspruch an das Denken darüber von
vielleicht gerade heute - bedenkenswerte    Banhams räumliche Interpretation, in der       vornherein mit einem gewissen Hang
Geschichte und Theorie der Architektur      „Häuser eher Systeme als Organismen,           zum Provisorium behaftet ist. Es sollte
als Maschine, der Maschine als environ-     also Relationen von environments und           vielmehr darum gehen, Raum als „eine
ment und des environment als Architek-      den Menschen, die in ihnen leben,“44 sind,     der Achsen entlang derer wir die Welt
tur.“41                                     zu verstehen, weil wir mittlerweile über       erfahren und konzeptualisieren“46 zu
                                            ein verhältnismäßig breites Spektrum           verstehen, um daraus Rückschlüsse für
                                            unterschiedlicher, auch neuer Theorien zu      einen kritischen Blick auf unsere gebaute
                                            dem Thema verfügen.                            Umwelt zu erlangen.
                                                 Nicht nur im Bereich des Ereignisses,
                                            auch im Bezug auf den Raum, der ja in
                                            einem direkten Verhältnis zum Ereignis
                                            gedacht werden muß, gab es einen
                                            radikalen Wandel. In den Kultur- und
                                            Sozialwissenschaften beispielsweise
                                            nannte man diese neue Hinwendung
                                            zum geografischen bzw. gebauten Raum
                                            den sogenannten Spatial Turn45, der

10
fluß

   „Das ewige Schweigen dieser
   unendlichen Räume macht mich                und auch beantwortet. Andererseits ist es     immer wer da war. Und diejenigen, die
   Schaudern.“                                 insofern bemerkenswert, weil der Autor        vor uns da waren, sind zwar mittlerweile
   Thomas Bernhard47                           mit diesem Buch eine Art Psychogramm          tot, aber sie hinterlassen etwas, das uns
                                               für die Architektur bereitstellt, das u.a.    zwingt, es aufzubewahren, aufzuheben,
raumzeit                                       aus den Tiefen der (architektonischen)        oder zu verbergen, auch wenn es nur ein
Der Kulturphilosoph und Romanist Robert        Grundlagen des Todes ein völlig neues         Körper ist. Und dafür sollten wir dank-
Harrison verfasste 2003 ein Buch mit dem       Bild für die Architekturgeschichte zeichnet   bar sein, das bietet uns die Erde an, so
Titel Die Herrschaft des Todes, welches        und daraus explizite Forderungen an die       Harrison, es ist neben dem Leben eine
irritierenderweise nicht originalgetreu mit    Architektur der heutigen Zeit ableitet.       der Segnungen des Planeten, dass eine
Die Herrschaft der Toten (dominion of          Harrison geht u.a. davon aus, dass der        Bestattung der Toten möglich ist.49 Kultur
the dead) übersetzt wurde, was mei-            Tod der Beginn von Kultur (Zivilisation)      ist für ihn deshalb nichts anderes, als der
ner Meinung nach passender gewesen             schlechthin ist und wir als Menschen          „kondensierte Restbestand dieser Verewi-
wäre. Leider fand dieses Buch bisher,          sprichwörtlich „Kinder des Todes“48 seien.    gung“, eine aktive, lebendige Erinnerung
laut meiner Recherche, kaum Einklang           Eine seiner Thesen ist, dass vor uns eben     an die Toten.50
in den architektonischen Diskurs. Das          nicht nichts war, sondern vor uns schon
ist bedauerlich, da es einerseits viele
kritische Fragen an die Disziplin formuliert

                                                                                                                                     11
„Wenn Mensch zu sein heißt,                    „Die Zeit ist nichts anderes, als die       und die Elemente des Chaos beinhaltet.
     daß wir unsere Sterblichkeit in                Form des inneren Sinns, d.i. des            Jedes Ding oder Objekt schließt eine
     Geschichte übersetzen (...) dann               Anschauens unserer selbst und               vier-dimensionale Raum-Zeit ein. Aus
     könnte man sagen, daß das Ethos                unseres inneren Zustandes. ... Die          naturwissenschaftlicher bzw. physikali-
     oder der Wohnort der Menschheit                Zeit ist die formale Bedingung a            scher Sicht könnten wir sagen, dass wir
     die sterbliche Zeit bleibt, die wir            priori aller Erscheinungen über-            seit Einsteins Relativitätstheorie eigentlich
     in geschichtliche Zeitspannen                  haupt. Der Raum, als die reine              nicht mehr anders über Raum denken
     verwandeln, welche selbst radikal              Form aller äußeren Anschauung               können, als in der Form, oder der mathe-
     endlich sind. Wir sind in unserer              ist als Bedingung a priori bloß auf         matischen Struktur einer vier-dimensiona-
     Seinsweise ganz und gar zeitlich,              äußere Erscheinungen einge-                 len Raumzeit, in der der dreidimensionale
     das heißt endlich.“51                          schränkt.“54                                (euklidische) Raum mit der eindimensio-
                                                                                                nalen Zeit verschränkt wird. Jedoch ist es
    Zeit ist neben dem Raum für Harrison             Nun werden von mir zwar nur die            vielfach „äußerst ungewiss, ob Parallelen
eine Kategorie, die es gilt, vorab zu klä-      ausgewählten Zitate von Harrison in             zwischen der Physik und den Sozialwis-
ren. Er zitiert deshalb u.a. Immanuel Kant      Bezug auf Kants Verständnis von Raum            senschaften gezogen werden sollten,“56
und dessen Anschauungen von Raum                und Zeit wiedergegeben, doch neigt man          zwar muss einerseits die wechselseitige
und Zeit und fasst dies folgendermaßen          in Anbetracht einer von der Geographin          Beziehung als fruchtbare Ergänzung zur
zusammen:                                       Doreen Massey († 2016) aufgeworfenen            eigenen Anschauung wahrgenommen
                                                Notwendigkeit in einem „relationalen            werden, andererseits kann dieses Wagnis
     „[U]nser Zugang zur Welt verläuft          und interdependenten Verständnis von            auch schiefgehen. Denn wenn Raumbe-
     über den zeitlichen Fluß des               Raum/Zeit“ zu denken dazu, auf jene             griffe der Gesellschaftstheorie mit dem
     menschlichen Bewusstseins. Das             Sackgasse einer „konstruierten Dicho-           abstrakten, physisch-materiellen Raum
     erklärt, weshalb selbst unsere             tomie“ hinzuweisen. Die passiert, wenn          gleichgesetzt werden, kann dies zu un-
     Wahrnehmung des Raumes ihrem               ein Begriff positiv, der andere mit einem       befriedigenden Übersetzungssituationen
     Wesen nach zeitlich und, so                Mangel versehen wird. In Masseys 1992           führen.
     würde ich [Harrison] hinzufügen,           verfassten Text mit dem Titel Politics and      Das Spannende bei Massey ist, dass
     sterblich ist.“52                          Space/Time fordert sie daher, als eine          sie über die Dekonstruktion von Laclaus
                                                der ersten Theoretiker*innen überhaupt,         Theorie zu Raum und Zeit, meiner Mei-
     Sterblich sein heißt also zeitlich sein,   einen notwendigen Wechsel in der Be-            nung nach, auch dessen Ereignisbegriff
was weiters bedeutet, dass Endlichkeit          trachtung von Raum und Zeit. Für sie sind       angreift. Denn durch ihre (feministische)
und Zeitlichkeit gleichgesetzt wird. Auch       es nicht zwei getrennte, neben einander         Forderung der Verschmelzung von Raum
die Wahrnehmung des Raumes ist lt.              existierende, distinktive Kategorien, die       und Zeit in einem einzigen Ereignis, führt
Harrison sterblich, d.h. wir können gar         sich zwar gegenseitig bedingen, aber            sie nicht nur einen neuen Ereignisbegriff
nicht anders, als in sterbenden Räumen          im Grunde genommen zwei Gegenpole               in die räumliche Debatte ein, sie erhebt
zu denken. Umgekehrt stellt sich hier nun       darstellen, vielmehr verschmelzen Raum          das Ereignis auch zum Politikum.57 In
die Frage was passiert, wenn wir diese          und Zeit für sie in einer Dimension.            dem Kapitel Die Frage des Geschlechts
Erkenntnis in die Negation kehren, wenn              Massey startet in ihrer Arbeit mit einer   schlussfolgert Massey, dass die Zu-
Unendlichkeit gleich Unzeitlichkeit wäre,       Kritik an der abstrakten, und wie sie sagt,     schreibungen, mit denen sich die Begriffe
ist dann Unendlichkeit auch Unräumlich-         entpolitisierten Theoretisierung von Raum       Raum und Zeit konfrontiert sehen, denen
keit? Hier glaube ich ist es wichtig darauf     und Zeit bei Ernesto Laclau und Frederic        einer radikalen Differenzierung zwischen
hinzuweisen, dass zwischen Raum und             Jameson und „setzt dieser, ausgehend            männlichen und weiblichen Kategorien
der menschlichen Wahrnehmung von                von marxistischer Geographie, femi-             ähneln, und somit aus feministischer Sicht
Raum ein großer Unterschied besteht;            nistischer Kritik und moderner Physik“          gefährlich sind bzw. es wichtig ist, dies
z.B. ist für Kant die Wahrnehmung des           eben, wie weiter oben schon erwähnt,            systematisch zu erkennen und zu benen-
Raumes ihrem Wesen nach vollkommen              „ein relationales und interdependentes          nen.58 Folglich, wenn Laclau behauptet
zeitlich,53 was wiederum nicht automa-          Verständnis von Raum/Zeit entgegen.“55          „Zeitlichkeit muss als das genaue Gegen-
tisch heißt, dass der Raum zeitlich ist:        Kurz gesagt, sie propagiert eine alter-         teil von Raum wahrgenommen werden,“59
                                                native Raumvorstellung, ein Denken in           schließt sie daraus, dass in der oppositi-
                                                dem Begriff der Raum-Zeit. Raum sollte          onellen Gegenüberstellung dieser beiden
                                                dabei als eine Konstruktion von Wechsel-        Begriffspaare etwas Problematisches zum
                                                beziehungen aufgefasst werden, wo das
                                                Räumliche die Elemente der Ordnung

12
Vorschein kommt und dies „ein Hindernis      anderseits aber auch Elemente des              auch dem Ereignis) zuschreibt. Er sieht
sowohl zum Verständnis als auch zur          Chaos, d.h. zum Einen besitzt der Raum         in dessen Natur nicht nur eine „Dynamik,
Veränderung der Welt“60 darstellt. Gerade    eine „erklärbare“ Struktur, andererseits ist   welche die festgelegten Begriffe jedes
wenn einer der beiden Begriffe positiv       er ein scheinbar willkürliches „Ergebnis       Systems unterbricht,“66 sondern auch
besetzt und der andere mit einem Mangel      zufälliger Verknüpfungen, unbeabsich-          das reine Ereignis bzw. die reine Tem-
versehen wird kommt das ganze Problem        tigter Trennungen und oft paradoxer            poralität.67 Diese (revolutionäre) Kraft
dieser künstlichen Zweiteilung von männ-     räumlicher Anordnungen.“63 Eine „reine“        des (unerwarteten) Bruchs, die „jedem
lich und weiblich zum Vorschein:             Räumlichkeit, d.h. eine Struktur, in der       System“ und seinen eingeschriebenen
                                             nur erklärbare Ordnung herrscht, gibt es       Routinen widerfahren kann, könnte man
   „Wieder und wieder wird Zeit              somit nicht. Hier stellt sich nun die Frage,   auch als eine der grundlegendsten Defi-
   durch Dinge wie Veränderung,              wenn eine Disziplin wie die Architektur,       nitionen des Ereignisses verwenden. Nun
   Bewegung, Geschichte, Dynamik             sich ausschließlich auf die Ordnung der        kann das Ereignis in Laclaus Definition
   definiert, während der im Ver-            Elemente konzentrieren würde, hätte sie        nicht räumlich sein, weil „jeder Versuch
   gleich dazu recht lahme Raum              nicht von vornherein ein grundlegend-de-       Zeitlichkeit zu verräumlichen letzlich
   als die Abwesenheit dieser Dinge          fizitäres Raumverständnis? Und wäre            scheitert und der Raum selbst reines
   definiert wird (...) Wenn es bei          somit die Forderung eines erweiterten          Ereignis wird.“68 D.h. „Räumlichkeit ist in
   Laclau in einem formalen Sinne            Verständnisses von Raum und Architektur        diesem Sinne unmöglich.“69 Das Ereignis
   auch das Räumliche ist, wel-              nicht nur wünschenswert sondern auch           nach Laclau ist, folgt man der Definition
   ches das Vollständige ist, und            zwingend erforderlich?                         von Dislokation, Freiheit, Möglichkeit und
   das Zeitliche, das durch Mangel                                                          Zeitlichkeit, eine Position die für Massey
   markiert ist (die Abwesenheit von            „Raum ist nur über die Zeit und             zumindest fragwürdig ist. Wir müssen
   Repräsentation, die Unmöglich-               Zeit nur über den Raum zu                   uns nun hier die Frage stellen, was es
   keit von Schließung), verbindet              begreifen. Aufgrund ihrer konse-            für das Ereignis bedeuten würde, wenn
   der Aufbau des [Laclaus] ganzen              kutiven Verlaufsform werden Zeit            es nur zeitlich wäre? Kann ein Ereignis
   Arguments in Wirklichkeit Raum               und Raum beide erst durch die               reine Zeitlichkeit sein? Was passiert wenn
   mit Negativität und Abwesenheit.             Unterscheidung und Abfolge von              die Verräumlichung (Hegemonialisie-
   Denn Zeitlichkeit muss als das               Zeitstellen und Ortsstellen erlebt,         rung) eines Ereignisses ausschließlich
   genaue Gegenteil von Raum                    zwischen denen sich der jeweilige           zeitlich wäre, d.h. nur in der Geschichte
   wahrgenommen werden. Die                     Raum, das Ereignis, die Situation           passieren kann? Könnte man nun, wie
   ´Verräumlichung´ eines Ereignis-             aufspannt (...) Als Ereignis aufge-         eingangs erwähnt, innerhalb von Doreen
   ses bedeutet die Aufhebung von               fasst, konstituiert sich Architektur        Masseys Kritik an der Raumvorstellung
   dessen Zeitlichkeit.“61                      in ihrem räumlich-zeitlichen Ver-           von Laclau, auch eine falsche Interpretati-
                                                lauf aus dem Zusammenwirken                 on Laclaus über das Ereignis lesen? Bzw.
Wenn also Laclau einen grundlegenden            vielfältiger Einflüsse, seperater           stellt sich mir hier dann die Frage, welche
Fehler darin begeht, Raum und Zeit zu           Entwicklungslinien und komplexer            Räumlichkeit bzw. Zeitlichkeit besitzt das
trennen und nicht wie von Massey vor-           Prozesse.“64                                Ereignis dann überhaupt?
geschlagen, als ein miteinander verbun-                                                     Der Philosoph Joseph Vogl,70 der das
denes Element zu betrachten, kann auch            Ein anderes Beispiel für einen Begriff,   Ereignis von Deleuze‘ anhand von vier
die Verräumlichung des Ereignisses nicht     der gerne (ausschließlich) mit Zeitlichkeit    Thesen zur Diskussion stellt, schreibt:
die Aufhebung dessen Zeitlichkeit sein.      bzw. Zeit in Verbindung gebracht wird,
Vielmehr durchdringen sich Raum und          ist der Begriff der Geschichte. Auch bei          „Man könnte also sagen: das
Zeit, und weder ist der Raum statisch,       Laclau ist dies lt. Massey der Fall. Er           Ereignis aktualisiert sich zwar in
noch ist die Zeit raumlos, „keines kann in   sieht den Raum bzw. das Räumliche                 Dingen und Sachverhalten, in Akti-
Abwesenheit von einander konzeptuali-        in der „geschlossenen, zyklischen Zeit            onen und Passionen, es springt in
siert werden.“62 Massey betont mehrmals,     der einfachen Reproduktion“ und das               Raum und Zeit und erhält darum
dass diese Art (der Vier-Dimensionalität)    Zeitliche bzw. die Zeit in der „entgrenzten,      Ort, Datum und symbolischen
über Raum nachzudenken, viel schwieri-       sich verändernden Geschichte, selbst              Wert; es selbst aber zeichnet sich
ger ist als es zunächst scheint. Denn der    wenn sich letztere nicht zwangsläufig als         - in seiner Virtualität - durch eine
Raum, den wir uns vorstellen müssen,         Fortschrittsbewegung darstellt.“65 Laclau         ganz andere Räumlichkeit, durch
enthält einerseits Elemente der Ordnung,     arbeitet hier mit dem Begriff der Dislokati-      eine ganz andere Zeitlichkeit
                                             on (dislocation), den er als Antithese zum        aus.“71
                                             Räumlichen ausschließlich der Zeit (aber

                                                                                                                                      13
Vogl kommt zu dem Schluss, dass           in einer Disziplin, die viel eher mit dem     er sie an die Fragenden hätte
das Ereignis nach Deleuze nur in einer         Raum assoziiert wird, als es bei der          richten können. Schließlich jedoch
spezifischen Zwischen-Zeit und einem           Literatur der Fall ist. Verhältnismäßig       kommt die wichtigste Frage,
spezifischen Zwischen-Raum existiert,          früh finden sich auch hier Versuche, das      und obwohl er sich bemüht, sie
wobei der Raum unausgedehnt, d.h.              Ereignis räumlich (und zeitlich) zu fassen.   zu beantworten, ist es ihm nicht
prä-extensiv ist und als Ensemble von          Das Ereignis hat zwar einen etwas ande-       möglich. Die Stärkeren lassen
unverbundenen Singularitäten, von virtu-       ren Stellenwert, jedoch, wiederum ähnlich     ihm die Zeit zwischen der elften
ellen Beziehungen beschrieben werden           der Architektur, wurde auch hier versucht,    und der dreizehnten Stunde, dann
muss.72 Der Raum besitzt sozusagen eine        eine praktisch-anwendbare Übersetzung         beschließen sie, die Frage als
„Qualität“ der Ungewissheit: „Es wird sich     des Ereignisbegriffs zu konstruieren.77       unbeantwortet zu erklären. Sie
hier mit Sicherheit nichts oder etwas oder     Auch kann ein Text für sich allein schon      schicken ihn zur Lösung seines
dieses oder jenes ereignen.“73 Die Zeit-       ein Ereignis sein.                            Problems in ein anderes Stock-
lichkeit des Ereignisses wiederum folgt            Bei meiner Auswahl eines literari-        werk. Sie haben ihm eine Türnum-
nicht unserer gängigen Vorstellung eines       schen Texts, um wieder auf die raum-zeit-     mer gesagt, die er nun sucht. Er
chronologischen, linearen Ablaufs, „[v]iel     lichen Zusammenhänge vom Ereignis             sucht stundenlang, und wenn er
eher gilt hier eine augustinische Zeit, in     zurückzukommen, handelt sich um eine          vor Müdigkeit zusammenbricht,
der das Vergangene, das Gegenwärtige           Erzählung von Thomas Bernhard aus             beginnt er wieder zu suchen; denn
und das Zukünftige simultan gegen-             dem Buch Ereignisse, in dem der Autor         es gibt für ihn keine andere Wahl
wärtig sind.“74 Das heißt, ein Ereignis        das Scheitern eines Menschen anhand ei-       als die Türnummer zu suchen.
ist einerseits zeitlich gleichermaßen in       ner glücklosen Suche nach einer Antwort       Schließlich wird er ohnmächtig. Er
alle Richtungen aktiv, andererseits ist es     beschreibt. Der Ort bzw. die Architektur      erwacht, setzt die Suche nach der
auch stets eine „tote Zeit, dort wo nichts     spielt in dem Text eine gewichtige Rolle      Türnummer fort. Jetzt ist er schon
geschieht, ein unendliches Warten, das         und scheint chronologisch mit der un-         im vierunddreißigsten Stockwerk,
bereits unendlich vergangenen ist.“75          überwindbaren Herausforderung mitzu-          und er hat die Türnummer noch
     Um aus dieser abstrakten Konstrukti-      wachsen. Das raum-zeitliche Gefüge geht       nicht gefunden. Die Gänge sind
on einer Definition von Raum und Zeit des      dabei in einem nahezu ewig wachsenden         lang. An einem nicht zu bestim-
Ereignisses eine Übersetzung zu finden,        Raum auf, bis am Ende ein riesenhaftes        menden Punkt münden sie in die
schauen wir uns vielleicht ein Beispiel aus    Haus, mit unzählig vielen Geschoßen und       Finsternis. So braucht er Tage,
der Literatur an, das uns helfen soll zu       unendlich langen, finsteren Gängen, in        um bis zum neunundsechzigsten
erklären, was damit gemeint sein könnte.       einer nicht mehr greifbaren, ausgedehn-       Stockwerk zu gelangen. Aber
Gerade in der Literatur wurde, durch-          ten, zeitlichen Atmosphäre übrigbleibt und    auch im siebzigsten und im fünf-
aus ähnlich stark wie in der Architektur,      der Protagonist schlußendlich auch, so        undsiebzigsten Stockwerk findet
anhand von Raumkonzeptionen, Struktur          hat man zumindest das Gefühl, jeglichen       er die Türnummer nicht, obwohl, je
und Inhalt der Texte auf verschiedene          Bezug zur Realität verloren hat:              weiter er in die Höhe emporsteigt,
Arten diskutiert: „Die Raumdarstellung                                                       die Aussicht, die Türnummer zu
bildet eine der grundlegenden Komponen-           „Stärkere befehlen ihm, einen              finden, immer größer wird. Jede
ten der (fiktionalen) Wirklichkeitserschlie-      längeren Abschnitt in einem Buch           Tür kann die gesuchte Nummer
ßung. Kulturelle Normen und Wertehier-            zu lesen, den er nicht verstehen           bringen. Er entledigt sich seiner
archien finden im literarischen Raum eine         kann, weil er sich mit dem, was            Kleider, um rascher vorwärts zu
konkrete anschauliche Form; umgekehrt             der Abschnitt besagt, nicht aus-           kommen. Er legt sich eine Metho-
haben literarische Räume maßgeblichen             einandergesetzt hat. Und obwohl            de zurecht, die es ihm ermöglicht,
Anteil an der Aushandlung kultureller             sie ihm immer wieder sagen, daß            zwei oder gar drei Türnummern
Raumordnungen.“76 Auf die literarische            der Inhalt des Abschnittes einfach         auf einmal überblicken zu können.
Räumlichkeit näher einzugehen würde               ist und er ihn deshalb verstehen           Die Einbildung, daß er ständig
den Rahmen dieser Arbeit überschreiten,           müsse, kann er mit dem darin               Rauschgift zu sich nimmt, verleiht
doch es ist durchaus interessant, welche          Vorgetragenen nichts anfangen.             ihm zwischen dem neunundneun-
konzeptuellen Überschneidungen sich               Daraufhin schicken sie ihn in ein          zigsten und dem hundertzehnten
hier disziplinübergreifend finden lassen.         anderes Zimmer, wo er verschie-            Stockwerk ungeahnte Kräfte. Im
Literatur arbeitet, ebenso wie die Architek-      dene Fragen zu beantworten                 hundertfünfzehnten Stockwerk
tur mit konkreten, ästhetischen Stilmit-          hat, was ihm leichtfällt; denn die         bricht er zusammen. Aber eine
teln, und raumgebende (Text-) Elemente            Fragen sind so gestellt, daß auch          Stimme, die sich als menschliche
stehen hier genauso zu Diskussion wie

14
Stimme ausgibt, sagt ihm, daß                    Und die Zeit? Anfangs hat man bei        etwas verändert. Der Anspruch, wohin zu
   dieses Gebäude nur noch vier                der Geschichte von Thomas Bernhard            gelangen, bleibt immer derselbe, selbst
   Stockwerke hat. Also rafft er sich          zwar noch das Gefühl, dass die Zeit           wenn man schlußendlich vergisst, was
   auf und legt die Strecke zurück.            stetig wächst, sich chronologisch mit der     man eigentlich wollte. Am Ende ist man
   Als er bei der letzten Türnummer            Erfahrung des Protagonisten ausdehnt,         dermaßen verstört, dass man aus Angst,
   angelangt ist, glaubt er, daß die           doch eigentlich ist die Zeit relational mit   sich selbst oder den anderen gegenüber
   Nummer, die ihm die Stärkeren               dem Raum verschränkt. Man kann diese          eine Niederlage einzugestehen, nicht
   gesagt haben, gar nicht existiert.          Geschichte gar nicht in zwei Kategorien       mehr in die Realität zurückkehren kann.
   In Wirklichkeit hat er sie verges-          unterteilen, auf der einen Seite der Raum,         Die Geschichte könnte somit für das
   sen. Aus Angst, die Stärkeren               auf der anderen die Zeit, denn beide          paradoxe Verhältnis des Ereignisses
   könnten ihn für verrückt halten,            zusammen umschließen ein und dasselbe         gegenüber herrschenden Verhältnissen
   bleibt er oben und versteckt sich           (vierdimensionale) Raum-Zeit-Kontinu-         stehen. Einerseits wissen wir, und das
   hinter einem Mistkübel. Dort wird           um. Diese Raum-Zeit konstituiert sich         ist auch eine grundsätzlicher Wesenszug
   er erst nach Monaten entdeckt.“78           in Abhängigkeit der Erfahrungen des           des Ereignisses, dass es sich jegli-
                                               Protagonisten. Je mehr er an sich und der     cher Kontrolle, der räumlichen wie der
Nun könnte man viele Fragen an den Text        Aufgabenstellung zweifelt, desto mehr         zeitlichen, entzieht, es lässt sich auch
stellen, denn der Inhalt wirft unweigerlich    verliert er sich in den unheimlichen Sphä-    nicht vom begrifflichen bzw. logischen
viele Fragen auf, z.B. wer sind die Stär-      ren der raumzeitlichen Zusammenhänge.         Denken bändigen, anderseits wissen wir
keren und warum sind sie stärker? Wieso        Der Protagonist befindet sich inmitten        aber auch, dass es Institutionen gibt, die
können sie bestimmen, was es wert ist,         eines Ereignisses, einer ereignishaften       eigentlich nichts anderes machen, als ein
zu wissen? Warum muß man dieses                Raum-Zeit.                                    Ereignis zu dirigieren, wie es z.B. in der
Wissen unbedingt besitzen? Was erwartet             Andererseits könnte man auch sagen,      oben genannten Geschichte die Stärke-
man sich von dieser Erkenntnis? Warum          dass in der Geschichte ein Ereignis           ren tun. Religiöse Institutionen besitzen
ist dieses Wissen dermaßen wertvoll,           steckt, welches schon lange vergangen         diese Macht, sie sprechen von dem Ereig-
dass man sich auf eine so lange, strapazi-     ist. Es zeigt sich nur mehr in einer abge-    nis der Auferstehung, der Reinkarnation
öse Reise begibt? An welchem Ort findet        wandelten, abstrakten Form. Ein Ereignis      o.ä. Der Wunsch, diesem einen Ereignis
die Handlung statt? Zu welchem Zweck           ist passiert, wurde interpretiert und hat     begegnen zu wollen, ist dermaßen mäch-
wurde diese Architektur errichtet? Welche      sich als mächtiges Wissen institutionali-     tig, dass sich Menschen auf die unglaub-
Rolle spielt die Architektur in dieser         siert. Die Lehre von diesem Ereignis ist      lichsten Reisen begeben. Dabei geht es
Geschichte? ... usw. Meine Frage wäre          das Einzige was übrigbleibt. Herrschend       aber gar nicht darum, dem Ereignis selbst
jedoch, worin eigentlich das Ereignishafte     heißt hier womöglich, vom Ereignis zu         zu begegnen, sondern sich lediglich eine
in dem Text liegt? Ist das Ereignis hier die   wissen, denn dann gehört man zu den           Bestätigung über die Existenz des Ereig-
absolute räumliche Ungewissheit? Um            Stärkeren und kann anschaffen. Sie sind       nisses zu holen. Der Vergleich hinkt viel-
nochmal auf das Zitat von Vogl über das        in der Geschichte nämlich diejenigen,         leicht ein wenig, doch wenn wir uns das
Ereignis bei Deleuze von vorhin zurückzu-      die mit ihrem Wissen (über das Ereignis)      ereignishafte Prinzip von Religionen unter
kommen: „Es wird sich hier mit Sicherheit      andere kontrollieren können. Ihre Sou-        diesem Aspekt ansehen, dann fällt auf,
nichts oder etwas oder dieses oder jenes       veränität ist maßgebend, ihre Leitmotive      dass der Wunsch, der suggeriert wird,
ereignen?“73 Spiegelt der Inhalt der Ge-       dienen der Konditionierung der Unwis-         dem Ereignis zu begegnen, das ereig-
schichte nicht genau diese Räumlichkeit        senden. Es wird allen, die nicht wissen,      nishafte Selbst ist. Wer will nicht wissen,
wieder bzw. befindet sich der Protagonist      suggeriert, dass sie wissen müssen. Ob        ob er oder sie aufersteht? Wer will nicht
nicht genau in dieser Zwischen-Räum-           es jemals notwendig oder auch möglich         wissen, wie der Himmel aussieht? Wer
lichkeit?                                      ist, zu diesem Wissen zu gelangen, ist        will nicht wissen, wie es sich anfühlt, den
Ein anderer Philosoph wiederum, Slavoj         unwesentlich. Tatsache ist, ein Ereignis      Körper gegen eine unsterbliche Seele zu
Žižek, beschreibt den Raum eines Ereig-        hat stattgefunden. Und Hauptsache ist,        tauschen? Die Hoffnung ist die Sehnsucht
nisses als denjenigen, „der vom Spalt zwi-     der*die Unwissende macht sich auf den         und der Wunsch nach Erleuchtung. Kann
schen einem Effekt und seinen Ursachen         Weg (der Weg ist das Ziel). Die Archi-        das gut gehen?
eröffnet wird.“79 In diesem Sinne erscheint    tektur stellt hier ein kafkaeskes Haus
das Ereignis somit als ein „Effekt der         zur Verfügung, in dem man sich tage-
seine Gründe zu übersteigen scheint,“80        lang bewegen, verirren, kollabieren und
oder nicht?                                    wieder aufwachen kann, in dem sich alles
                                               verändert, ohne dass sich grundsätzlich

                                                                                                                                     15
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