Die Napoleonischen Feldzüge Wehrpflicht, Réfractaires und Deserteure
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Universität des Saarlandes Fachrichtung 3.4 Geschichte Sommersemester 2003 Hausarbeit Die Napoleonischen Feldzüge Wehrpflicht, Réfractaires und Deserteure Veranstaltung: Die napoleonische Herrschaft in Europa Dozentin: PD Dr. Gabriele Clemens Verfasser: Stephan Rosenke Abgabetermin: 30.09.2003
Inhaltsverzeichnis Einleitung...............................................................................................................................3 Hauptteil: Die Napoleonischen Feldzüge. Wehrpflicht, Réfractaires und Deserteure...4 Definitionen..................................................................................................................4 Situation in Frankreich................................................................................................4 Situation in der Italienischen Republik/dem Königreich Italien.............................14 Situation in den vier linksrheinischen Departements............................................19 Vergleich Frankreichs, Italiens und der linksrheinischen Departements............20 Zusammenfassung und Ausblick......................................................................................23 Literaturverzeichnis............................................................................................................25
-3- Einleitung Selten greift der Staat so direkt und tief in das Leben seiner Bürger ein wie bei der Wehrpflicht. Er zwingt ihn, vorstellig zu werden, eine Musterung über sich ergehen zu lassen und - falls er tauglich ist – danach einige Zeit einem erzwungenen Beruf nach- zugehen, der schlimmstenfalls zum Tode führen kann. Soweit des Sicht des Bürgers, für den Staat seinerseits bietet sich mit der Wehrpflicht die Möglichkeit mit seinem Bürger in Kontakt zu treten, Daten über ihn zu erheben und ihn in seinem Sinne zu beeinflusssen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich damit, wie und mit welchen Voraussetzungen die Wehrpflicht in Frankreich und der Italienischen Republik bzw. dem Königreich Italien und den linksrheinischen Departements in der Zeit Napoleons eingeführt wurde. Es wird dargestellt, welche Maßnahmen die Dienstpflichtigen trafen, um ihrem Dienst zu entkommen, worin ihre Gründe lagen und welche Maßnahmen der Staat traf, um Fahnenflüchtiger wieder habhaft zu werden. Die demographischen Aus- wirkungen der Wehrpflicht werden auch eines kurzen Blickes gewürdigt werden. Die Quellenlage für diese Themen gestaltet sich schwierig, da selten Quellene- ditionen vorhanden sind, so dass ausschließlich auf Sekundärliteratur und die darin verarbeiteten archivalischen Quellen zurückgegriffen werden konnte.
-4- Hauptteil: Die Napoleonischen Feldzüge. Wehrpflicht, Réfrac- taires und Deserteure Definitionen Nachdem die Terminologie äußerst unscharf ist, was die Unterscheidung zwischen Deserteuren und Réfractaires betrifft,1 soll die Bedeutung einiger Termini für die wei- teren Ausführungen festgelegt werden. Deserteure sind im weiteren Personen, die sich nach ihrem Dienstantritt, nachdem sie also ausgelost wurden und ihre Ausrüs- tung erhalten haben, ihrer Dienstpflicht entzogen. Réfractaires umfassen hingegen diejenigen, die sich bereits den Verpflichtungen entzogen, die vor Dienstantritt lagen, wie beispielsweise Eintragung in die tableaux der Wehrpflichtigen, die Musterung oder die tirage au sort. Situation in Frankreich Eine Wehrpflicht, die nicht nur ein vorübergehender Notbehelf war, wurde in Frank- reich nach der Revolution erst mit dem Loi Jourdan vom 19. fructidor VI (05.09.1798) eingeführt, vor der Revolution bestand lediglich ein Milizsystem.2 Die davor bereits stattgefundenen Aushebungen im Rahmen der levée de 300.000 und der levée en masse waren hingegen nie dazu gedacht regelmäßige, jährliche Aushebungen zu etablieren.3 Das System des Loi Jourdan war mit kleineren Änderungen die Grund- lage für die Wehrpflicht während der gesamten Herrschaft Napoleons. Alle jungen Männer, die zum Stichtag zwischen 20 und 25 Jahre alt waren, mussten sich ent- sprechend ihrem Alter in fünf verschiedene Klassen eintragen. Diejenigen in der jüngsten Klasse waren zuerst dienstpflichtig, erst danach die älteren Jahrgänge. Es war auch keineswegs sicher, dass dem Grunde nach Wehrpflichtige tatsächlich Wehrdienst leisten mussten, per Gesetz oder Verordnung wurde die Größe eines Kontingents festgelegt, das dann tatsächlich eingezogen wurde. Innerhalb der 1 vgl. Forrest, Alan [I.]: Conscripts and Deserters. The Army and the French Society during the Revolution and Empire. Oxford/New York/Toronto u.a. 1989, 62. 2 Forrest, Alan [I.]: The soldiers of the French Revolution. (Bicentennial Reflections on the French Revolution) Durham/London 1990, 83. 3 Woloch, Isser: Napoleonic Conscription: State Power and Civil Society, in: Past and Present 111 (1986), 101-129, hier 103.
-5- Klassen wurden nun wiederum durch Wahl oder Los, diejenigen bestimmt, die dann tatsächlich ihre vierjährige Dienstpflicht erfüllen mussten.4 Nicht nur aus diesem Grund war diese Form der Wehrpflicht nur bedingt allgemein. Nach der kurzen Anfangsphase des Loi Jourdan wurde die Möglichkeit des rem- placement - also der Stellung eines Ersatzmannes - wieder erlaubt. Das Gesetz vom 17. ventôse VIII (08.03.1800) erlaubte unter bestimmten Umständen, die leicht zu be- anspruchen waren, die Stellung eines remplaçants. Minimale Voraussetzungen reich- ten aus, damit dieser als Ersatz anerkannt wurde, so musste er französischer Staats- bürger, gesund, zwischen 18 und 40 Jahren alt und mindestens fünf Fuß, ein Zoll groß sein.5 Es nimmt nicht wunder, dass solche laxen Bestimmungen dazu führten, dass diese Möglichkeit der legalen Dienstvermeidung in großem Umfang genutzt wurde, mindestens 16% der Eingezogenen waren remplaçants, in manchen Departe- ments wie Seine Inférieur sogar über 50%.6 Das Gesetz vom 28. floréal X (18.05.1802) schränkte die Möglichkeiten für die Stel- lung eines Ersatzmannes, die ja reiche Familien deutlich begünstigte, drastisch ein: es war lediglich noch möglich innerhalb der eigenen Klasse nach der tirage au sort Nummern zu tauschen und so seine eigene "schlechte" Nummer, die zum Dienst ver- pflichtete, gegen eine "gute" einzutauschen. Durch dieses Verfahren der substitution war die Auswahl an möglichen Ersatzleuten natürlich stark eingeschränkt, da man nur auf Personen zurückgreifen konnte, die gleichaltrig waren und aus der gleichen Gegend kamen. Durch diese Einschränkungen traten jedoch so viele Probleme auf, dass bei der Novellierung des Gesetzes in den beiden folgenden Jahren, die vorher getroffenen Einschränkungen wieder gelockert wurden: Die Ersatzleute mussten aus dem gleichen arrondissement, respektive dem gleichen canton stammen und durften nicht noch in Zukunft wehrpflichtig werden. Daneben war eine Zahlung von 100 Fran- cs an den Staat, neben den Kosten für den remplaçant fällig.7 Die Quote an rem- plaçants (ohne substitution) fiel in den Jahren 1806 bis 1810 auf 4,5%.8 Die Preise, die für einen Ersatzmann gezahlt wurden, variierten sowohl regional als auch in ver- schiedenen Jahren stark. Die Summen schwankten zwischen Beträgen, die dem Ein- kommen eines armen Bauern oder eines Landarbeiters entsprachen, das dieser in 4 Forrest: Conscripts and Deserters, 34f. 5 Woloch: Napoleonic Conscription, 112. 6 ebd., 113. 7 ebd., 114f. Forrest: Conscripts and Deserters, 57-59. 8 Woloch: Napoleonic Conscription, 116.
-6- 18 Monaten respektive zehn Jahren verdienen konnte. In Avignon sank der Durch- schnittspreis von 548 Francs im Jahre VIII (1799), auf 192 Francs im Jahre X (1801), um dann wieder zu steigen, ab dem Jahre XII (1803) sogar sprunghaft um beinahe 1.000 Francs jährlich, bis 1809 das Maximum mit 5.167 Francs erreicht war, und sich danach wieder niedrigere Preise einstellten.9 Neben diesem Ausweg gab es weitere Möglichkeiten, von der Wehrpflicht befreit zu werden, einen Ersatzdienst zu leisten oder zumindest in die Gruppe derjenigen zu kommen, die als letzte mobilisiert wurden. Männer, die nicht den physischen An- forderungen aufgrund ihrer Größe oder körperlicher Gebrechen entsprachen, Verhei- ratete, Witwer mit Kindern, Priester und Seminaristen waren nicht dienstpflichtig. Hommes de mer, also Männer, die in der See- oder Binnenschifffahrt beschäftigt waren und für diese Tätigkeiten verpflichtet werden konnten, wurden auch nicht zum Militärdienst herangezogen, ebenso wenig wie Vorbestrafte, Richter und Gefängnis- wärter und teilweise andere Staatsbedienstete.10 Es nimmt nun nicht weiter Wunder, dass diese Möglichkeiten der Befreiung eine große Verlockung darstellten der ungeliebten Wehrpflicht zu entkommen. Falls man nicht reale Gründe vorweisen konnte, um ausgemustert oder freigestellt zu werden, war man nötigenfalls bereit, halblegale oder illegale Maßnahmen zu ergreifen, um seine Ausmusterung bzw. Freistellung zu erreichen. Ein relativ ungefährlicher Aus- weg bestand in einer Heirat, war es doch unmöglich nachzuweisen, dass die Ehe nur zum Zwecke der Dienstvermeidung geschlossen wurde. In den Monaten vor den Aushebungen war ein deutlicher Anstieg in den Eheschließungen festzustellen, dabei traten Paare auf, die einen großen Altersunterschied aufwiesen – nicht selten hei- rateten 20-jährige Männer Frauen in den Siebzigern. Solche Verbindungen wurden meist dadurch hervorgerufen, dass gerade auf dem Land zu wenige junge Frauen vorhanden waren und die jungen Männern unter einem gewissen Zeitdruck für die Heirat standen. Die älteren Frauen, die sich auf solche Verbindungen einließen, handelten meist aus finanziellen Überlegungen heraus, nicht selten stammten sie aus den örtlichen Armenhäusern. In der Revolution wurde die Möglichkeit der Schei- 9 Forrest: Conscripts and Deserters, 58f. 10 vgl. Smets, Josef: Von der "Dorfidylle" zur preußischen Nation. Sozialdisziplinierung der linksrheinischen Bevölkerung durch die Franzosen am Beispiel der allgemeinen Wehrpflicht (1802-1814), in: HZ 262 (1996), 695-738, hier 711. vgl. Forrest: Conscripts and Deserters, 53-56.
-7- dung geschaffen, so dass sowohl Männer als auch Frauen, nicht länger als nötig auf diese Notpartnerschaft festgelegt waren und sich später neu binden konnten.11 Die Zahl der Eheschließungen verhielt sich direkt proportional zu den Aushebungen: von 1811 mit 203.000 Eheschließungen, über 1812 mit 222.000, hin zu 387.000 im Jahre 1813 vergrößert sich die Zahl stetig um dann 1814 abzusinken.12 Daneben versuchten die Conscribierten mit gefälschten medizinischen Attesten aus- gemustert zu werden.13 Sie schreckten auch nicht vor davor zurück sich selbst Verletzungen beizubringen, die sie untauglich machten, indem sie sich Glieder des zum Betätigen des Gewehrabzugs notwendigen Zeigefingers amputierten, sich ent- zündete Wunden beibrachten oder sich die Vorder- bzw. Eckzähne rissen, die zum Laden des Gewehrs notwendig waren.14 Ein weniger schmerzhafter Weg aus der Wehrpflicht, der naturgemäß nur den Wohlhabenderen offen stand, bestand in der Bestechung der an der Musterung und Aushebung beteiligten Amtsträger, wie Ärzten oder den Mitgliedern der Musterungskommission, aber auch der Gendamerie oder der Präfektur. Dieser Ausweg wurde so häufig angewandt, dass 1811 dem zustän- digen Minister nur mehr der Schluss blieb, dass die Verwaltung unfähig oder doch korrupt war: so wurden beispielsweise im Departement Mont-Blanc 58% der Wehr- pflichtigen aufgrund medizinischer Indikation ausgemustert.15 Es nimmt wenig Wunder, dass von einem Bereich, der im Halblegalen bis Illegalen rangierte, Betrüger angezogen wurden, die mit der Not der Wehrpflichtigen ihr Ge- schäft zu machen suchten. So fand ein bandenmäßiger Handel mit remplaçants statt, die jedoch nicht die Mindestvoraussetzungen erreichten, um als tauglich gemustert zu werden. Andere Betrüger versprachen durch Zauberei die tirage au sort positiv für ihren Klienten zu beeinflussen oder gegen Geld Krankheiten anzuhexen, die sie nach der Musterung wieder heilen wollten.16 Deserteure und réfractaires hingegen versuchten sich nicht im Verborgenen der Wehrpflicht zu entziehen, sondern widersetzten sich offen den Aushebungen und dem Wehrdienst: Keine der beiden Gruppen war in ihrer Verweigerung des Wehrdienstes von pazifistischen Motiven geleitet. Vielmehr lagen die Gründe in einer 11 vgl. ebd., 48-53. 12 Presser, Jacques: Napoleon. Das Leben und die Legende. Stuttgart 1977, 309. 13 vgl. Forrest: Conscripts and Deserters, 138. 14 vgl. ebd., 136f. 15 vgl. ebd., 46, 48 und 139-142. 16 vgl. ebd., 143f.
-8- traditionellen Ablehnung des Militärdienstes, die verschiedene Ursachen hatte. Nach- dem bisher keine Wehrpflicht geherrscht hatte, war sie ein Fremdkörper im Leben der Bevölkerung an den man sich erst gewöhnen musste, ehe sie zumindest als "notwendiges Übel" angesehen und so der Widerstand aufgegeben wurde. Überdies bestand nicht selten eine Abneigung gegen das Militär, das aus den bisherigen Erfahrungen bei Einquartierungen oder Durchzug von Truppen heraus als Bedro- hung oder zumindest als Unannehmlichkeit aufgefasst wurde.17 Den Betroffenen war nicht immer zu vermitteln, warum sie für eine ferne Zentralregierung und deren Vor- haben, die sie unter Umständen nicht verstanden, einen Blutzoll entrichten und auf die Arbeitskraft ihrer Söhne zumindest temporär verzichten sollten.18 Berichte über schlechte Behandlung und Ausrüstung der Conscribierten in der Armee erwiesen sich alles andere als unbegründet: im Jahre VIII mussten beispielsweise Soldaten in Var Almosen erbitten, um nicht zu verhungern.19 Öffentliche Bestrafungen, die von der Bevölkerung als unnötig brutal und entehrend empfunden wurden, führten nicht dazu, das Bild der Armee positiv zu beeinflussen und verstärkten die alten Vorurteile, die bereits gegen die Armee aus der Zeit des Ancien Régime bestanden.20 Nicht nur die Erfahrung mit den den brutalen Disziplinierungsmaßnahmen der Armee bewog viele Soldaten zur Desertion, sondern auch schlichte ökonomische Notwendigkeiten, wie die Einbringung der Ernte. Viele Fälle von Desertion wurden aus Missver- ständnissen oder Unwissenheit heraus begangen, indem zum Beispiel Urlaub unzu- lässig verlängert wurde oder Soldaten nach Ende der Feldzugssaison nach Hause zurückkehrten.21 Réfractaires und Deserteure trafen ihre Entscheidung, sich dem Militärdienst zu ent- ziehen, zumeist nicht wegen individueller Gründe, sondern Dienstverweigerung war ein weit verbreitetes Phänomen, das die volle Aufmerksamkeit des Staates er- forderte. Wenngleich es schwierig ist, exakte Zahlen anzugeben, da die von ver- schiedenen Behörden erhobenen Zahlen stark divergieren, lassen sich Eckwerte be- stimmen. Einige Departements (wie beispielsweise Aisne, Haute-Marne oder Côte d'Or) wiesen Raten von unter 10% auf, andere hingegen von über 40% oder gar über 50%. Auflehnung gegen die Wehrpflicht stellte also keine nationale Erscheinung dar, 17 vgl. ebd., 180f. 18 vgl. ebd., 76f. 19 vgl. ebd., 94f. 20 vgl. ebd., 180f. 21 vgl. ebd., 68f.
-9- die in ganz Frankreich überall gleich stark ausgeprägt war, sondern kennzeichnete sich durch starke regionale Unterschiede, die nicht auf Ebene der Departements endeten. Selbst innerhalb von Departements gab es kooperativere und aufsässigere Orte.22 Für Frankreich insgesamt betrugt der Anteil an réfractaires und Deserteuren um die 40%.23 Wie verhielt sich nun die Bevölkerung gegenüber den réfractaires und Deserteuren? Weder réfractaires noch Deserteure sahen sich im Allgemeinen der Gefahr ausge- setzt, von der Bevölkerung an die Gendarmerie oder andere Behörden verraten zu werden. Réfractaires blieben meist in der Nähe ihres Dorfes und damit ihrer Familie und Dorfgemeinschaft, lebten teilweise sogar offen in ihrem Ort, konnten sich also auf die Solidarität ihrer Umgebung verlassen, die "die eigenen Leute" vor Außen- stehenden wie zum Beispiel dem Staat schützte.24 Deserteure konnten sich meistens auf ähnliche Mechanismen verlassen, war die Zusammenarbeit mit der Gendarmerie doch weitestgehend verpönt, da sie nur Unruhe ins Dorf bringen und möglicherweise peinliche Entdeckungen machen würde. Lediglich wenn der Fahnenflüchtige als Gefahr für Leben, Eigentum oder Moral gesehen wurde, entzog man ihm die Unter- stützung.25 Dies galt auch für die sogenannten Briganten: Banden von Deserteuren, die sich organisierten, um gemeinsam Raubzüge zu unternehmen oder politische Morde durchzuführen.26 Flüchtige Wehrpflichtige boten sich darüber hinaus als güns- tige Arbeitskräfte an, die man als Tagelöhner in der Landwirtschaft einsetzen konnte. Der Arbeitgeber hatte dabei kein großes Risiko zu tragen, da er nicht verpflichtet war zu prüfen, ob sein nur kurzfristig beschäftigter Arbeitnehmer fahnenflüchtig war - im üblichen Milieu der Erntearbeiter fiel ein Deserteur nicht sonderlich auf. In frühen In- dustrien wie der Metallverarbeitung boten sich dem Deserteur ebenfalls Möglichkei- ten zu arbeiten.27 Die Einschätzung der Bevölkerung, dass réfractaires und Deserteure keine Kriminellen waren, die unbedingt der Staatsgewalt ausgeliefert werden mussten, wurde von den anderen, bei der Truppe gebliebenen Soldaten geteilt: In einem Brief 22 vgl. ebd., 70-73. vgl. auch Smets, Josef: Les pays rhénans (1794 – 1814). Le comportement des Rhénans face à l'occupation française. (Série II – Gallo-germanica 22) Bern/Berlin/Frankfurt a. M. u.a. 1997, 366- 373. 23 Woolf, Stuart Joseph: Napoleon's integration of Europe. London 1991, 160. 24 vgl. Forrest: Conscripts and Deserters, 99, 106f. und 109f. 25 vgl. ebd., 116f. 26 vgl. ebd., 125-128. 27 vgl. ebd., 110-114.
-10- nach Hause aus dem Jahr 1813, beschreibt ein Soldat mit Bedauern die Hinrichtung eines Freundes wegen Fahnenflucht, "il n'avait que déserté"28. Welche Maßnahmen ergriff nun der Staat gegen das drängende Problem der réfrac- taires und Deserteure? Die gesamte napoleonische Zeit hindurch lässt sich eine immer weitergehende Einengung der Gründe verfolgen, die eine Befreiung von der Wehrpflicht ermöglichten. Das Verfahren der Musterung wurde immer stärker aus der Verantwortung der einzelnen Gemeinden entfernt, die man als nicht vertrauens- würdig betrachtete, waren sie doch eher "ihren Leuten" verpflichtet, als der Nation. Die Übertragung erfolgte an die Organe des Departements und damit an Organe des Zentralverwaltung. Am Anfang wurden die Quoten auf die einzelnen Kommunen ver- teilt und es oblag dem Bürgermeister und seinem Stadt- bzw. Gemeinderat, die Aus- losung bzw. die Wahl zur Erfüllung des Kontingents an Wehrpflichtigen durchzufüh- ren. Als sich dies als unpraktikabel erwies, verlagerte man die Verantwortung von den Gemeinden auf größere Einheiten, die cantons und band den Unterpräfekten in die nun allein zulässige tirage au sort ein. Die Bürgermeister waren nur mehr Zuliefe- rer für die Listen, auf denen die Wehrpflichtigen aufgeführt waren. 1806 erreichte das Verfahren seine endgültige Ausgestaltung, die Bürgermeister lieferten jeweils die Lis- ten der Wehrpflichtigen ihrer Gemeinde an den Unterpräfekten, der daraus Listen für die cantons erstellte. Diese gingen zurück in die Kommunen und wurden dort veröf- fentlicht. An einem bestimmten Tag wurden die Wehrpflichtigen vom Bürgermeister in die Hauptstadt des arrondissement geführt, wo der Unterpräfekt offenkundig Un- taugliche aussonderte und die Auslosung beaufsichtigte. Danach mussten sich die Wehrpflichtigen dem conseil de recrutement vorstellen, der aus dem Präfekten, dem Militärkommandanten des Departements und einem Rekrutierungsoffizier bestand. Diese traf unter Hinzuziehung von Ärzten die Entscheidung über die Befreiung auf- grund medizinischer Indikationen oder Rückstellungen und überprüfte die vom Unter- präfekten bereits vorgenommenen Ausmusterungen.29 Der Staat versuchte so alte Loyalitäten und Verbindungen aufzubrechen, um seine Interessen zu schützen und durchzusetzen. Die Verfahren gegen réfractaires wurden zivilen Gerichten geführt, diejenigen gegen Deserteure vor Militärgerichten (conseils de guerre). Während vor den Militärgerich- 28 Vachin, H.: Les Lozériens dans la Grand Armée, in: Revue du Gévaudan (1973), 19. Zitiert nach: Forrest: Conscripts and Deserters, 178. 29 Woloch: Napoleonic Conscription, 105-108.
-11- ten, davon ausgegangen werden konnte, dass die Strafvorschriften umgesetzt werden konnten, war dies vor den Zivilgerichten nicht der Fall. Häufig wurde nicht einmal ein Verfahren gegen den réfractaire aufgenommen, die Jury, die sich aus Ein- wohnern rekrutierte, zeigte sich besonders milde oder es wurde bei der Strafzu- messung offene Rechtsbeugung unternommen, indem vorgeschriebene Strafen abgemildert wurden.30 Im Laufe der napoleonischen Zeit wurden auch Strafvorschriften verschärft, ohne je- doch in die Brutalität des Ancien Régime zurückzufallen. So wurden mit Dekret vom 19. vendémaire XII (12.10.1803) dépôts militaires eingerichtet, in die verurteilte réfractaires und Deserteure überstellt wurden, um dort ihre Strafe zu verbüßen, die auf fünf Jahre dépôt und 1.500 Francs Geldstrafe für réfractaires, sowie 3.000 Francs Geldstrafe und auf eine je nach Schwere des Vergehens variable Freiheitsstrafe oder in schweren Fällen die Todesstrafe für Deserteure festgelegt wurde. Im Jahre 1808 wurden die Strafen erhöht, 1811 wurde die Anwendung der Todesstrafe ausgewei- tet.31 Häufig liefen jedoch die angedrohten Strafen ins Leere. Réfractaires gehörten meist zu den Armen und Ärmsten, Geldstrafen gegen die réfractaires selbst oder ihre Eltern waren schlicht wirkungslos, da die vorgeschriebene Summe von 1.500 Francs nicht einzutreiben war – die Verweigerung des Dienstes war so gerade für die Ärms- ten relativ risikofrei.32 Als Ersatz und Verschärfung für die wirkungslosen Geldstrafen ging man ab dem Jahr VII dazu über, garnisaires bei den Familien der réfractaires und Deserteure einzuquartieren, die mit Essen, Unterkunft und einem Taschengeld versorgt werden mussten. Gegen diese Maßnahme, die erst ab 1807 legal war, waren häufig Klagen vor den entsprechenden Gerichten erfolgreich und gerade bei den Armen hielt sich ihre Wirksamkeit in engen Grenzen. Die Rechnung, dass man die sozialen Bindungen innerhalb der Gemeinde sprengen könnte, indem man die Einquartierungen bei den Reicheren oder auf Kosten aller Einwohner vornahm, falls die Eltern zu arm waren, ging nicht auf. Die Langzeitfolgen dieser Aktionen waren keineswegs zu unterschätzen, da die finanzielle Belastung oft noch über Jahre hin- weg die Steuereinnahmen schmälerte. Passiver Widerstand oder gar Übergriffe gegen die einquartierten Soldaten waren eine weitere Folge.33 30 vgl. Forrest: Conscripts and Deserters, 187-190. 31 vgl. ebd., 188. 32 vgl. ebd., 92 und 105. 33 vgl. ebd., 208-211.
-12- Die Eingriffe des Staates in das Leben seiner Bürger gingen bis ins Alltägliche, so musste ab dem Jahr IV bei Verlassen des Heimatkantons ein Pass mitgeführt werden.34 Zur Ergreifung der réfractaires und Deserteure bediente sich der Staat der Gendarmerie, die eine relativ geringe Effektivität aufwies, besonders wenn die land- schaftlichen Voraussetzungen durch nahe Departementsgrenzen oder Gebirge und Wälder gegen sie standen. Ab dem Jahr IV kamen sogenannte colonnes mobiles hin- zu, zunächst Nationalgardisten, die als eine Art Militärpolizei agierten und neben der Suche nach réfractaires und Deserteuren Respekt und Furcht in den Gemeinden her- vorrufen sollten. Der erste breite Einsatz erfolgte jedoch erst drei Jahre später, da man den Widerstand der Bevölkerung fürchtete. Die Festlegung auf die National- garde wurde nicht beibehalten, sondern man bediente sich jeder Art von Truppen, die verfügbar waren, falls die Kräfte der Gendarmerie nicht mehr ausreichten. Da die Effektivität nicht sonderlich groß war - so wurden Einheiten Ortsansässiger einge- setzt, die nur bedingt gegen "ihre Leute" vorgingen, oder die Bevölkerung verweigerte schlicht die Zusammenarbeit – verzichtete man in den folgenden Jahren auf sie. Erst in den Jahren nach 1810, als der Bedarf an Wehrpflichtigen wieder stieg, wurden die colonnes mobiles wieder in größerem Umfang eingesetzt. Als sie im Jahre 1812 aufgelöst wurden, konnte man auf die beeindruckende Bilanz von un- gefähr 63.000 festgenommenen réfractaires und Deserteuren zurückblicken. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass durch den Einsatz der colonnes mobiles eine Verlagerung der Art der Dienstverweigerung stattfand: die Zahl an réfractaires sank, die Zahl an Deserteuren stieg jedoch an, was einen erneuten Einsatz im Jahre 1813 nicht verhinderte.35 Religiöse Feste und Dorffeste wurden von Gendarmen genutzt, um Razzien durchzu- führen, da sie sicher sein konnten, dass daran auch Flüchtige teilnahmen. Die Gendarmen schreckten nicht davor zurück, Verhaftungen im Kirchengebäude selbst durchzuführen, so dass die religiösen Gefühle der Dorfgemeinschaft schwer verletzt wurden, was zu Gewaltausbrüchen gegen die beteiligten Polizeibeamten führte.36 Neben diesen offenen Arten der Verfolgung, wurden vor allem gegen Ende der napo- leonischen Zeit geheimpolizeiliche Formen der Ermittlung gegen réfractaires und Deserteure eingesetzt. Die Gendamerie bediente sich logeurs und aubergistes als In- formanten, da diese durch ihren Beruf ein Anlaufpunkt für die Flüchtigen waren. Nor- 34 ebd., 194. 35 ebd., 211-213. 36 vgl. ebd., 107f. und 229-232.
-13- male Einwohner der Gemeinden kamen ebenfalls als Informanten zum Einsatz, um vor allem réfractaires aufzuspüren.37 Nach dem Konkordat von 1801 konnte wieder der Klerus als Propagandist für die Be- lange des Staates - allen voran im Kampf gegen réfractaires und Deserteure - einge- setzt werden. Mancher Bischöfe beschränkte sich aber nicht nur darauf, seine Pfarrer anzuweisen, den Gehorsam gegenüber dem Staat und damit der Wehrpflicht von der Kanzel zu verkünden, sondern verhängte Kirchenstrafen gegen Familien, die mut- maßlich fahnenflüchtige Mitglieder schützten – solcher Eifer ging dann selbst der Zentralregierung zu weit, da man die negativen Folgen für den Staat und den Unmut der Bevölkerung fürchtete.38 Das Arsenal, das der Staates einsetzte, um wieder derjenigen habhaft zu werden, die sich ihrer Dienstpflicht entzogen hatten, umfasste nicht allein repressive Mittel, sondern auch Zeichen der Gnade. So wurden in Frankreich während der napo- leonischen Zeit zwei Mal in den Jahren 1807 nach dem Sieg bei Friedland und 1810 nach der Heirat Napoleons mit Marie-Louise Amnestien verkündet, die durchaus Zu- spruch fanden. Durch die Amnestie von 1810 kehrten 49.000 Männer, die nicht mehr dienstpflichtig waren, in ihre Dörfer zurück, von den 35.500 réfractaires und Deserteuren, die zu ihren Einheiten hätten zurückkehren müssen, nahmen nur 6.000 dieses Angebot an. Bei der Bewertung dieser Amnestie gingen bereits die Mei- nungen der Zeitgenossen auseinander: unzweifelhaft war, dass durch die Amnestie die Polizeikräfte entlastet wurden, da sich die Anzahl der Personen, die verfolgt werden mussten stark verminderte. Die Verwaltung des Chantal sah durch die Amnestie mehr einen Vorteil für die Landwirtschaft als für die Armee. Es bestand auch der Verdacht, dass die Erwartung einer Amnestie verheerende Wirkungen für die Aushebungen zeitigte, da die Wehrpflichtigen bereitwilliger die Gefahr der insou- mission auf sich nahmen, wenn sie davon ausgehen konnten, in absehbarer Zeit straffrei zu werden. Die Amnestien erschwerten es darüber hinaus, der Bevölkerung die Schwere des Vergehens der réfractaires und Deserteure zu verdeutlichen, wenn sie einfach amnestiert wurden.39 Neben Amnestien besaß der Staat ein weiteres Mittel, Wehrpflichtige nicht durch Zwang, sondern Gunst zum Dienst zu bringen: Für einige Departements, so zum Bei- spiel an der spanischen Grenze, wurden 1808 bataillons auxiliaires geschaffen, die 37 ebd., 195-197. 38 ebd., 197-200. 39 ebd., 213-215.
-14- nur in dieser Region eingesetzt werden sollten und als Aufgabe die Heimatverteidi- gung hatten. Rekrutiert wurden sie aus den réfractaires dieser Gegend. Die Rekru- tierung erwies sich als großer Erfolg, der jedoch von den folgenden Problemen stark gemindert wurde. Da der überwiegende Teil der in diese Verbände aufgenommenen Männer Probleme mit militärischer Disziplin hatte und so sehr schnell wieder desertierte oder Schmuggel nachging, wurde dieses Experiment 1810 wieder einge- stellt. Gnade und Gunst hatten sich als ineffektive Mittel erwiesen, réfractaires und Deserteure zurück zur Fahne zu bringen, so dass verstärkt auf Repression, zum Bei- spiel in Form von colonnes mobiles, gesetzt wurde. Wenn auch der französische Staat mehr auf Furcht und Angst vor Strafe als auf eine positive Identifikation setzte, um seine Bürger für den Militärdienst zu motivieren, so wurden die ausführenden Organe doch darauf verpflichtet, innerhalb der Legalität zu bleiben – unter anderem um sich nicht mit den gesetzesbrechenden réfractaires und Deserteuren auf eine Stufe zu stellen.40 Welche Auswirkungen hatte nun die Wehrpflicht auf die Bevölkerungsentwicklung und die wirtschaftliche Entwicklung? Zwischen 1800 und 1813 wurden um die 2.000.000 Soldaten in Frankreich mobilisiert, ohne Reserven und Nationalgarde einzurechnen, die die Zahl auf über 2.400.000 anheben würde.41 1812 waren nahezu 80% der Wehrpflichtigen eingezogen, die Zahl an Toten und verwundeten betrug beinahe 1.000.000. Die levées supplementaires und der Zwang für réfractaires und Deserteure Ersatz zu stellen, traf die Gemeinden doppelt: zum einen war die Arbeits- kraft der Flüchtigen nur bedingt verfügbar und darüber hinaus wurden zurückgestellte Wehrpflichtige einberufen. Der Umfang der demographischen Auswirkungen der Wehrpflicht ist also nicht zu unterschätzen.42 Situation in der Italienischen Republik/dem Königreich Italien Die Ursprünge der Wehrpflicht für die Italienische Republik bzw. das Königreich Itali- en lagen im Jahre 1798, als sie in der Cisalpinischen Republik nach dem Muster des Loi Jourdan eingeführt wurde. Nach der Invasion der Lombardei durch österrei- 40 ebd., 215-218. 41 vgl. Tabelle 1 "The Napoleonic Levies" bei Woloch: Napoleonic Conscription, 110. 42 Forrest: Conscripts and Deserters, 169-172.
-15- chisch-russische Truppen, wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Erst nach der In- stallierung der Italienischen Republik im Jahre 1802 wurde mit Gesetz vom 13.08.1802 die Wehrpflicht wieder eingeführt, wiederum nach französischem Muster. Männer zwischen 20 und 25 Jahren waren vier Jahre dienstpflichtig, sie wurden ent- sprechend ihres Alters in fünf Gruppen eingeteilt, wobei die jüngsten zuerst eingezo- gen wurden. Männer, die vor der Verkündung des Gesetzes geheiratet hatten, Wit- wer mit Kindern, Priester, Seminaristen und Behinderte waren von der Wehrpflicht befreit, die einzigen Söhne der Familie, diejenigen, bei denen bereits ein Bruder diente, oder die, die nach der Verkündung des Gesetzes geheiratet hatten, wurden zurückgestellt und als letzte mobilisiert. Daneben bestand die Möglichkeit einen Er- satzmann, der die eigene Dienstpflicht übernahm, zu bezahlen.43 Die Aushebung begann mit der jährlichen Verkündung der Quote an Wehrpflichtigen, die eingezogen werden sollte. Diese wurde relativ zur Bevölkerungsstärke auf die einzelnen Departements verteilt. In den Departements wurde die Anzahl der einzu- ziehenden Personen unter Einbeziehung der entsprechenden Ratsversammlungen weiter auf die Bezirke und Kommunen aufgeteilt. An einem festgelegten Tag mussten sich alle Wehrpflichtigen in der Bezirkshauptstadt versammeln, um von dort in die Hauptstadt des Departements gebracht zu werden, wo sie von Rekrutierungsoffi- zieren in Empfang genommen wurden. Die Hauptverantwortung für den gesamten Conscriptionsprozess lag beim Präfekten. Nach der Transformation der Italienischen Republik in das Königreich Italien wurden 1805 einige wichtige Veränderungen am dargestellten Verfahren unternommen. Der Präfekt wurde Vorsitzender eines Gremi- ums, das für die Aushebung zuständig war, und dem Präfekten mit den Unterpräfek- ten eine genauere Kontrolle über die unteren Beamten ermöglichte. Die Bezirke wurden in Kantone aufgeteilt, die für die Belange der Wehrpflicht an die Stelle der Bezirke traten. 1807 trat an die Stelle des Kantons die Gemeinde, deren Amtsträger persönlich für die Erfüllung der Quote verantwortlich gemacht und zur Durchführung einer Auslosung verpflichtet wurden, um die die Rangfolge festzustellen, in der die Dienstpflichtigen eingezogen wurden.44 Die neue Wehrpflicht stieß auf wenig Gegenliebe bei der Bevölkerung und man nutz- te die sich bietenden Möglichkeiten, sich der Dienstpflicht zu entziehen. Nicht nur die 43 Grab, Alexander: Army, State,(sic!) and Society: Conscription and Desertion in Napoleonic Italy (1802-1814), in: Journal of Modern History 67 (1995), 25-54, hier 29f. 44 ebd., 31f.
-16- Landbevölkerung entzog sich ihrer Dienstpflicht, auch die Einwohner der Städte zeig- ten sich ihr wenig zugeneigt. Die Wohlhabenderen nützten den legalen Ausweg einen Ersatzmann für sich zu bezahlen oder bestachen die zuständigen Beamten, um eine Dienstbefreiung zu erhalten.45 Wer sich dies nicht leisten konnte oder wollte, griff auf die anderen Möglichkeiten zurück, die das Gesetz bot um seine Befreiung zu erhalten: so schrieben sich Wehrpflichtige als Seminaristen ein oder heirateten. Hochzeiten mit 60- bis 80-jährigen Frauen, die oft für ihre Hilfe bezahlt wurden, waren nicht ungewöhnlich. Im Jahre 1810 sah sich sogar die Verwaltung von Lario genötigt, gegen diese Form der Dienstvermeidung vorzugehen, indem sie all die- jenigen, die eine Frau über 60 Jahren geheiratet hatten, als erste einberief. Eine Maßnahme, die ein Jahr später auf das ganze Königreich ausgedehnt wurde. Selbst- verstümmelung in den bereits dargestellten Formen, Verlegung des Wohnorts in grö- ßere Städte, um das eigene Losglück zu verbessern, Urkundenfälschung, gefälschte Atteste oder straffällig zu werden, waren weitere Möglichkeiten sich der Wehrpflicht zu entziehen.46 Andere wiederum widersetzten sich dem Wehrdienst durch Gewalt und Aufstände. Erhebungen, die in Zusammenhang mit der Wehrpflicht stehen, nahmen durchaus größeren Umfang an – so erstreckte sich derjenige im Jahre 1809 über zwei Drittel des Königreichs – sie wurden jedoch niedergeschlagen. Weniger spektakulär, für den Staat aber umso gefährlicher, da es in viel größerem Umfang stattfand, waren die schon aus Frankreich bekannten Taktiken, sich der Einberufung zu entziehen oder zu desertieren. Die Gründe für die Abneigung gegen die Wehrpflicht sind wohl weniger in nationalis- tischen oder anti-französischen Gefühlen zu sehen, als eher in dem Versuch, die traditionelle Lebensweise beizubehalten und die Eingriffe des Staates in das Alltags- leben abzuwehren. Für die Bevölkerung ergaben sich ungewohnte Verpflichtungen, wie beispielsweise das Mitführen von Personaldokumenten, und Einschränkungen in der gewohnten Bewegungsfreiheit, die gerade in ärmeren Gegenden, wo Wander- arbeit die einzige Erwerbsmöglichkeit darstellte, notwendig zur Erwerbung des Lebensunterhalts war. Wenige Familien waren gewillt oder konnten es sich leisten, auf die Arbeitskraft des Wehrpflichtigen zu verzichten, vor allem weil sie keinen wirkli- chen Sinn darin erkennen konnten. Das unterschwellige Gefühl, dass die Wehrpflicht ungerecht wäre, da sich Wohlhabendere einen Ersatzmann kaufen oder in anderer 45 ebd., 33. 46 ebd., 40-42.
-17- Weise frei kommen konnten, vermischte sich mit den Vorbehalten gegenüber der Ar- mee, die noch aus der Vergangenheit stammten und erhöhte die Abneigung gegen- über dem Wehrdienst.47 Mißhandlungen der Soldaten durch die Offiziere bestätigten dieses Bild.48 In den Jahren 1807 bis 1810 traten insgesamt 22.227 réfractaires49 auf, die vornehm- lich aus Bergdörfern stammten und teilweise nicht einmal über die Vorschriften der Wehrpflicht unterrichtet waren. Zu diesen réfractaires kamen für den Zeitraum 1806 bis 1810 17.750 Deserteure50 hinzu. Eine beachtliche Menge, wenn man bedenkt, dass die Conscriptionsquote für 1811 15.000 Mann betrug.51 Das Verhalten der Bevölkerung gegen die Fahnenflüchtigen war nicht ablehnend, die unterschwellig negative Haltung gegenüber der Wehrpflicht erleichterte es sogar, sich dieser Verpflichtung zu entziehen. Die Gendarmerie sah sich dem Problem aus- gesetzt, dass Deserteure mit Kleidung versorgt wurden und ihre Ausrüstung ver- kaufen konnten. Deserteure, die nicht in den Schoß ihrer Dorfgemeinschaft zurück- kehren konnten, schlossen sich Banden von Briganten an, und erhielten so eine ge- wisse Sicherheit und Möglichkeiten für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, während sie natürlich gleichzeitig die öffentliche Ordnung gefährdeten.52 Die Maßnahmen des Staates gegen réfractaires und Deserteure stützte sich vor- nehmlich auf den Einsatz der 1801 eingerichteten Gendarmerie, der durchaus an- sehnliche Erfolge brachte, bezieht man den chronischen Mangel an Gendarmen und die vehemente Ablehnung durch die Bevölkerung mit ein. Während im Jahre 1804 noch 1.941 Gendarmen Dienst taten, waren im Jahre 1808 nur noch 1.400 im Dienst und dies trotz der territorialen Expansion des Königreich Italien in die ehemaligen Gebiete des Kirchenstaats. Die als Entlastung für die Gendarmerie geplante Natio- nalgarde blieb durch schlechte Ausrüstung und Ausbildung wirkungslos. Nach dem Muster der französischen colonnes mobiles wurden 1809 auch in Italien Einheiten von Soldaten zur Jagd auf Fahnenflüchtige und Briganten eingesetzt.53 47 ebd., 32-35. 48 ebd., 38. 49 ebd., 35. 50 ebd., 37. 51 ebd., 31. 52 ebd., 38-40. 53 ebd.,44-46.
-18- Als weitere Maßnahme im Kampf gegen die Aufsässigen wurde das Strafmaß verschärft. Bei Einführung der Wehrpflicht wurde Desertion mit drei Monaten Gefäng- nis und einer Verdoppelung der Dienstzeit bestraft54, ab 1808 erhöhte sich die Strafe auf mindestens drei Jahre Zwangsarbeit und 1.500 Lire Geldstrafe. Bei wiederholter Desertion oder anderen erschwerenden Umständen waren höhere Strafen bis hin zum Tode möglich. Die Prozesse wurden vor Militärgerichten verhandelt, deren Urtei- le nicht anfechtbar waren. Réfractaires wurden für fünf Jahre in spezielle Militärlager verbracht und die Eltern mussten 500 bis 1.500 Lire Geldstrafe zahlen. Trotz der dra- konischen Strafandrohungen wurden selten Todesurteile ausgesprochen, zumeist er- kannte das Gericht auf Gefängnis mit Zwangsarbeit und selbst solche Strafen wurden nicht unbedingt vollstreckt, da die Verhandlungen häufig in Abwesenheit des Beschuldigten stattfanden.55 Die Praxis bei Familien von réfractaires und Deserteuren Soldaten einzuquartieren war auch in Italien bekannt, wurde jedoch äußerst zurückhaltend eingesetzt, da man den Unmut der Bevölkerung nicht schüren wollte und viele Familien sowieso unfähig gewesen wären, einen Soldaten unterzubringen, geschweige denn zu ernähren.56 Neben den aufgezählten repressiven Mitteln, kamen in Italien ebenfalls Amnestien zum Einsatz, um Fahnenflüchtige zur Rückkehr zu ihren Einheiten oder ins bürgerli- che Leben zu bewegen. Zur Feier der Krönung Napoleons zum König von Italien 1805 und der Hochzeit Napoleons mit Marie-Louise 1810 konnten Flüchtige unter be- stimmten Bedingungen Straffreiheit erreichen. Die Absichten der Behörden lagen klar: Entlastung der Gendarmerie und Erhalt weiterer Soldaten. Diese Zielen konnten aber aufgrund des geringen Zuspruches nicht erreicht werden.57 Neben Amnestien bestanden noch andere Möglichkeiten die Bevölkerung von der Wehrpflicht zu überzeugen oder sie zumindest dazu zu überreden. Um Mißhand- lungen der Soldaten vorzubeugen wurden die Offiziere ermahnt, ihre Untergebenen wie Bürger, die ihre Pflicht gegenüber dem Vaterland erfüllen, und nicht wie Sklaven zu behandeln. Da dies nicht fruchtete, wurde den Offizieren das Tragen ihres Stabes, den sie auch zum Verprügeln von Soldaten genutzt hatten, verboten und einige Offi- ziere wegen Mißhandlung ihrer Untergebenen verurteilt.58 54 ebd., 30. 55 ebd., 46f. 56 ebd., 47. 57 ebd., 48f. 58 ebd., 38.
-19- Der Einsatz von Priestern als Fürsprecher für die Politik der Regierung und damit auch für die Wehrpflicht war ein zweischneidiges Schwert. Während der hoher Klerus sich durchaus kooperationsbereit zeigte und seinen Pfarrern entsprechende Anwei- sungen erteilte, waren die Pfarrer vor Ort oft Gegner der Wehrpflicht, vor allem wenn sie in den Gebieten des ehemaligen Kirchenstaats saßen.59 Situation in den vier linksrheinischen Departements Mit dem Dekret vom 20. pluviôse IX (09.02.1801) wurde die vier linksrheinischen De- partements Saar, Rur, Rhein-Mosel und Donnersberg französisches Staatsgebiet, die Wehrpflicht wurde aber für dieses Gebiet erst ein Jahr später in Kraft gesetzt.60 Die Vorschriften für die Wehrpflicht, das Verfahren für die Aushebung und die Zwangsmaßnahmen gegen réfractaires und Deserteure entsprachen denen im üb- rigen Frankreich, wie sie bereits oben darstellt wurden. Auch für die linksrheinischen Departements stellte die Wehrpflicht eine Neuerung dar, wenngleich einige Regionen vor der französischen Revolution bereits große Ex- porte an geworbenen Soldaten für fremde Herrscher lieferten, so zum Beispiel Kurmainz für Preußen und das Haus Habsburg.61 In den ersten Jahren mussten die linksrheinischen Departements nur eine relativ geringe Anzahl an Soldaten aufbringen, da das zugrunde liegende Zahlenmaterial des Almanach Impérial fehlerhaft war und zu geringe Bevölkerungszahlen annahm. Ab dem Jahre 1806 näherten sich Raten dem Durchschnitt des Empire an. Die De- partements Saar, Rur, Rhein-Mosel und Donnersberg lieferten zwischen 1802 und 1814 zwischen 78.000 und 80.000 Soldaten für die napoleonische Armee.62 Trotz der Phase der Schonung am Anfang stellte die Wehrpflicht für die links- rheinischen Departements ebenfalls eine demographische Gefahr dar. Bei einer Ge- burtenrate von 40‰ käme man nach Abzug der weiblichen Kinder und der Kindersterblichkeit auf insgesamt 271.320 Männer, die für die napoleonischen Aus- hebungen zur Verfügung standen. Setzt man nun die bereits festgestellten 80.000 Soldaten zu dieser Zahl in Bezug, ergibt sich eine Quote von rund 29,5%. Diese Quote bezieht sich auf die Jahre 1776 bis 1794, für die jüngsten Jahrgänge 1790 bis 59 ebd., 48-50. 60 Smets: Les pays rhénans, 319. 61 Smets: "Dorfidylle", 709f. 62 ebd., 711.
-20- 1795 muß aber eine Quote von 60% und mehr angenommen werden, da gegen Ende der napoleonischen Zeit der Bedarf an Soldaten sprunghaft stieg.63 In diesen Zahlen waren noch nicht Überläufer enthalten, die für Preußen und Österreich in den Krieg zogen, die beispielsweise in Kevelaer und Wetten sieben bis zehn Prozent der Wehrpflichtigen ausmachten.64 Die Verluste von 30.000 bis 40.000 Mann stellten eine große Herausforderung für die Bevölkerungsentwicklung dar.65 Am außergewöhnlichsten bei den linksrheinischen Departements war das hohe Maß an Disziplin, mit der die Bevölkerung der Wehrpflicht folgte. Die Zahl der réfractaires und Deserteure lag durchgehend unter dem Schnitt des gesamten Empire. Die Erwartung, dass die Wehrpflicht als Oktroy einer Besatzungsmacht gesehen wurde und deswegen mit größerer Vehemenz als im französischen Kernland abgelehnt wurde, erfüllte sich nicht.66 Vergleich Frankreichs, Italiens und der linksrheinischen Departements Vergleicht man nun die einzelnen Länder und Regionen miteinander ergeben sich große Übereinstimmungen. Das System der Wehrpflicht unterschied sich zwischen Frankreich und den Rheinischen Departements einerseits und der italienischen Re- publik bzw. dem Königreich Italien anderseits nur marginal. Ebenso die getroffenen Zwangsmaßnahmen gegen réfractaires und Deserteure, so ging man zum Beispiel in Italien mit dem Werkzeug der colonnes mobiles bedächtiger um als in Frankreich. Die Gründe für die Ablehnung der Wehrpflicht, wie Beibehaltung der bekannten Lebensart, fanden sich auch gleichermaßen. Die Auswege aus der Wehrpflicht (Heirat, gefälschte medizinische Atteste, Bestechung, Selbstverstümmelung oder of- fener Widerstand) unterschieden sich qualitativ nicht, wie sah es aber mit der Quanti- tät aus? Für die Rheinischen Departements und das restliche Empire zeigten sich in den Jah- ren IX bis XIII und 1806 bis 1810 deutliche Unterschiede. 63 ebd., 715f. 64 ebd., 735. 65 ebd., 727. 66 ebd., 732-735.
-21- Departement Verhältnis réfractaires zu Verhältnis réfractaires zu Wehrpflichtigen IX-XIII Wehrpflichtigen 1806-1810 Saar 0,7% 1% Rur 1,4% 3% Rhein-Mosel 2,5% 2,6% Donnersberg 4,1% 9% Rheinische Departe- 2,1% 4,3% ments gesamt Empire gesamt 6,8% 5,5% Tabelle 1 Verhältnis réfractaires zu Wehrpflichtigen IX-XIII und 1806-181067 Bis auf Donnersberg für den Zeitraum 1806 bis 1810 liegen die Rheinischen Departe- ments unter dem Durchschnitt des Empires, das Departement Saar zeigt sich sogar ausgesprochen diszipliniert. Untersucht man aufgrund dieser Zahlen, die Anzahl an Freiwilligen, die aus den oben genannten Departements kamen, um so vielleicht auf eine besondere Begeisterung für das Militär oder den französischen Staat zurückzu- schließen, werden die Erwartungen enttäuscht: in den Jahren IX bis XIII lagen die Departements Saar mit 0,68 Freiwilligen pro 100.000 Einwohnern, Rur (6,16:100.000) und Rhein-Mosel (0,30:100.000) unter dem Durchschnitt für das Em- pire (9,58:100.000), einzig das der obigen Tabelle nach aufsässigere Donnersberg übertraf den Schnitt mit 12,44:100.000.68 Eine Klärung dieser Inkonsistenzen bleibt also noch Desiderat. Gegen Ende des Empire stieg das Bedürfnis nach Soldaten aufgrund der militä- rischen Unternehmungen stark an, die Einberufungsrate vervielfachte sich.69 Trotz dieses verstärkten Zugriffs auf die Bevölkerung sank ab 1811 die Anzahl an gewalt- samen Ausschreitungen gegen die Wehrpflicht und die Anzahl an réfractaires in Frankreich und Italien deutlich: im Departement Haute-Loire beispielsweise verminderte sich die Zahl der réfractaires von mindestens 200 im Jahre 1810 auf 67 vgl. Hudemann-Simon, Calixte: Réfractaires et déserteurs de la Grande Armée en Saare (1802- 1813). Comparaison avec les autres départements rhénans annexés et l'ensemble de l'Empire, in: Revue historique 277 (1987), 11-44, hier 30f. Josef Smets führt in seinem Werk "Les Pays Rhénans" auf Seite 386 ebenfalls Zahlen zu réfractaires für diesen Zeitraum auf, die höher liegen. Er begründet dies damit, dass die Angaben Hudemann-Simons aufgrund der Quellenlage die Ausmaße des Ungehorsams untertreiben. Für die folgenden Ausführungen sind diese Unterschiede jedoch unerheblich, da auch bei Smets die obigen Tendenzen vorhanden sind. 68 Smets: Les pays rhénans, 532f. 69 vgl. ebd., 393.
-22- sieben für das Jahr 1811.70 Auch die militärischen Katastrophen des Winters 1812/13 zeigten keine Auswirkungen auf die Aushebungen. Die Zahl der Desertionen blieb je- doch auf dem bisherigen hohen Stand, die erfolgreicheren Aushebungen milderten sie aber ab. Als sich Italien ab Oktober 1813 einer Invasion ausgesetzt sah, brach das System der Wehrpflicht zusammen: die Dienstpflichtigen nutzten jede Möglich- keit, zu entkommen und wurden dabei von der Bevölkerung unterstützt. Für Frank- reich lassen sich ähnliche Beobachtungen machen, ab dem späten Jahr 1813 nimmt der Widerstand gegen die Wehrpflicht stark zu.71 Für die linksrheinischen Departements ebenso wie für das übrige Frankreich konsta- tierte Smets (im Gegensatz zu Forrest und Woloch) eine stetige Zunahme an réfrac- taires. Die Zahlen, die er dabei zum Beleg anführte72, sparten aber gerade das wichtige Jahr 1811 aus, das Woloch wegen der erfolgreichen Einberufungen als "the annus mirabilis of conscription"73 bezeichnete. Die von Forrest, Grab und Woloch vertretene These, dass durch die angewandten Zwangsmaßnahmen, die Verbesse- rung der Verwaltung und schlicht durch die Gewöhnung an das jährliche Conscrip- tionsverfahren der Widerstand der Bevölkerung gegen die Wehrpflicht verminderte, halte ich durch diese Zahlen nicht für widerlegt. 70 Woloch: Napoleonic Conscription, 124. 71 Forrest: Conscripts and Deserters, 42. Grab: Conscription and Desertion in Napoleonic Italy, 50-54. Woloch: Napoleonic Conscription, 122-127. 72 Smets: "Dorfidylle", 734. Smets: Les pays rhénans, zum Beispiel 386 oder 393. 73 Woloch: Napoleonic Conscription, 123.
-23- Zusammenfassung und Ausblick Welche Ergebnisse lassen sich also festhalten? Der Widerstand gegen die Wehr- pflicht war sowohl im französischen Kernland wie auch in der italienischen Republik bzw. dem Königreich Italien ein breites Phänomen, lediglich in den linksrheinischen Departements war die Zahl der Widerspenstigen geringer. Die Wehrpflichtigen setzten große Energien und Erfindungsreichtum ein, um dem Dienst zu entgehen und schreckten dabei auch vor offenen und verdeckten illegalen Handlungen nicht zurück. Was sicherlich von der napoleonischen Wehrpflicht bleibt, ist eine Bewußtseinsver- änderung der Bevölkerung. Dadurch, dass viele junge Männer ihre Dörfer verließen und so gezwungenermaßen Erfahrungen mit der Welt jenseits der Dorfgrenze sammelten, weitete sich der Blick auf die Welt. Die Erfahrung des Eingreifens des Staates in das alltägliche Leben seiner Bürger, darf in ihrer Wirkung nicht un- terschätzt werden. Diese Erfahrung umfasste ja nicht nur die Aushebung, sondern auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Wehrpflichtigen, Hausdurchsu- chungen durch die Gendarmerie und die colonnes mobiles oder den Widerstand wei- ter Teile der Betroffenen. Die Reaktion des Staates bestand dabei hauptsächlich in Repression. Vergleicht man damit die Überlegungen, die in Preußen in den Jahren 1807/08 der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht voran gingen, lassen sich deutliche Unterschiede er- kennen. In Preußen versuchte man die Wehrpflicht einer breiten Schicht der Bevölke- rung schmackhaft zu machen, indem man die auf die Vorbehalte einging und die Gründe dafür, wie zum Beispiel brutale körperliche Strafen, abschaffte und an ihre Stelle positive Motivation setzte, wie beispielsweise das Eiserne Kreuz. Natürlich kommt man bei solchen Vergleichen schnell in die Situation, unzulässige Bezie- hungen herzustellen, da die Ausgangsposition für die Wehrpflicht in Preußen eine ganz andere war und von einem starken Antagonismus gegen Frankreich mit der Konnotation eines Freiheitskrieges geprägt war. Im Frankreich des Empire und den von ihm abhängigen Gebieten bot sich aber eher die Situation einer durch lange Jah- re der militärischen Auseinandersetzung kriegsmüde gewordenen Bevölkerung dar, die die Gründe für die Politik der Zentralregierung nur bedingt nachvollziehen konnte
-24- und hauptsächlich daran interessiert war, ihre traditionelle, althergebrachte Lebensart beizubehalten.
-25- Literaturverzeichnis Forrest, Alan [I.]: Conscripts and Deserters. The Army and the French Society du- ring the Revolution and Empire. Oxford/New York/Toronto u.a. 1989. Forrest, Alan [I.]: The soldiers of the French Revolution. (Bicentennial Reflections on the French Revolution) Durham/London 1990. Grab, Alexander: Army, State,(sic!) and Society: Conscription and Desertion in Na- poleonic Italy (1802-1814), in: Journal of Modern History 67 (1995), 25-54. Hudemann-Simon, Calixte: Réfractaires et déserteurs de la Grande Armée en Saare (1802-1813). Comparaison avec les autres départements rhénans annexés et l'ensemble de l'Empire, in: Revue historique 277 (1987), 11-44. Presser, Jacques: Napoleon. Das Leben und die Legende. Stuttgart 1977. Smets, Josef: Les pays rhénans (1794 – 1814). Le comportement des Rhénans face à l'occupation française. (Série II – Gallo-germanica 22) Bern/Berlin/Frankfurt a. M. u.a. 1997. Smets, Josef: Von der "Dorfidylle" zur preußischen Nation. Sozialdisziplinierung der linksrheinischen Bevölkerung durch die Franzosen am Beispiel der allge- meinen Wehrpflicht (1802-1814), in: HZ 262 (1996), 695-738. Woloch, Isser: Napoleonic Conscription: State Power and Civil Society, in: Past and Present 111 (1986), 101-129. Woolf, Stuart Joseph: Napoleon's integration of Europe. London 1991.
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