6 Das Lesen und Abzeichnen der Papyri - Cornici, Löcher, Lagen, Hügel und Disegni - De Gruyter

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6 Das Lesen und Abzeichnen der Papyri – Cornici,
  Löcher, Lagen, Hügel und Disegni
     Quanta autem cum aerumna in his laciniis plane adustis et contritis atramenti concoloris
     vestigia teneas dum in formis litterarum internoscendis desudas, quamque saepe oculi vel
     vitro muniti caliginem discutere Telchinumve illorum ludibria nequiquam eludere studeant,
     qui Comparettio sovrapposti et sottoposti, opercula seu tegimina et statumina mihi audiunt,
     expertis enarrare longum est.
                                      Siegfried Mekler, Ausgabe des Index Academicorum (1902)

6.1 Cornici (Rahmen)
Nach dem Aufwickeln wurden die Rollen in verschiedene, kleinere Stücke von
der Länge weniger Kolumnen geschnitten (der Schnitt wurde in der Regel zwi-
schen zwei Kolumnen gemacht) und auf Rahmen, cornici genannt, geklebt,
wobei Piaggio in den Anfangsjahren die Papyri als Rollen zu erhalten suchte
und wieder zusammenwickelte, was für deren philologische Erforschung aber
nicht praktikabel war.73 Oft ist nur der innere Teil der Rollen (midollo) halbwegs
unversehrt erhalten, aber auch hier weisen die Rollen bzw. der Text an vielen
Stellen klaffende Lücken auf und manche Bereiche sind völlig zerstört.

Abb. 18: Bild mit normaler Kamera, Cornice              Abb. 19: Bild mit normaler Kamera, Nahauf-
(Rahmen) auf Tisch liegend. Die Papyri wurden           nahme eines Papyrus (PHerc. 1021). Man
nach dem Aufrollen zerschnitten und auf eine            erkennt viele Risse, Lücken und verblasste
Art Pappe geklebt, welche auf einen Holzrah-            Passagen.
men montiert wurde (hier: PHerc. 1021).

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73 Vgl. Sider, The Library (wie Anm. 5), 52.

  Open Access. © 2022 Kilian Fleischer, publiziert von De Gruyter.          Dieses Werk ist lizenziert
unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110767711-007
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6.2 Beschaffenheit der Papyri
Ungünstigerweise wurden die Herkulanischen Papyri mit kohlebasierter Tinte
beschrieben, so dass nach der Karbonisation letztlich Kohle auf Kohle bzw.
schwarz auf schwarz stand und nur wenig Kontrast gegeben ist. Die Buchstaben
des Papyrus verschwinden oftmals vor den Augen des Lesers, wenn er sein
Sichtfeld nur um wenige Grad ändert, was der Reflexion des Lichtes bei der
speziellen Oberfläche des Papyrus geschuldet ist. Diese ist nämlich nicht eben
wie ein Blatt, sondern auf kleinstem Raum hügelig. Ferner blieben beim Aufwi-
ckeln der Rollen öfters Teile einer Lage (Wicklung) an einer anderen Lage (an
der oberen oder unteren Lage) kleben, welche wieder (fiktiv) zurückversetzt
werden müssen. Herkulanische Papyrologen sprechen von Sovrapposti (eine
Lage, die oberhalb der Basislage hängenblieb) und Sottoposti (eine Lage, die
unterhalb der Basislage hängenblieb). Teils blieben auch mehrere Schichten
aufeinander hängen und türmten sich zu sehr komplexen und unübersichtli-
chen stratigraphischen Strukturen auf. In der Tat ist die Stratigraphie der Papyri
ein Spezialproblem, deren Beherrschung und Auflösung den Papyrologen viel
Geduld abverlangt. Frühere Herausgeber widmeten sich der Analyse der Lagen
oft nicht mit der nötigen Sorgfalt, so dass viele Stellen falsch oder nicht er-
schöpfend rekonstruiert wurden, mithin durch fehlende oder falsche Rückplat-
zierung der Lagen oder durch Übersehen von Lagenunterschieden keine befrie-
digende Ausgangsbasis für die philologische Textherstellung geschaffen wurde.
Die Lagen sind adäquat nur durch Autopsie am Original zu erkennen und kön-
nen auf Bildern (MSI oder HSI) meist nicht sicher ausgemacht werden (auf Dise-
gni ist dies letztlich nur mit philologischen Erwägungen zu bewerkstelligen).
Die Herkulanischen Papyri repräsentieren hochkomplexe „dreidimensionale
Objekte“ mit Schluchten, Lagen, Hügeln und Verdrehungen, die zu optischen
Täuschungen führen, während ägyptische Papyri meist unter zwei Glasscheiben
aufbewahrt werden und in der Regel als „zweidimensionale Objekte“ erforscht
werden können.
Disegni – Oxforder Disegni und Neapolitanische Disegni | 35

Abb. 20 und 21: Details eines Papyrus (PHerc. 1021) – Hügel und Risse (mit normaler Kamera).

6.3 Disegni – Oxforder Disegni und Neapolitanische Disegni
Für die Veröffentlichung der Papyri wurden diese im 18. und 19. Jahrhundert
zunächst von sogenannten Disegnatori abgezeichnet, welche des Griechischen
nicht mächtig waren. So sollten unbewusste philologische Korrekturen beim
Abzeichnen verhindert werden. Diese anschließend von philologisch kundigen
Gelehrten überprüften Abzeichnungen werden in der Fachsprache Disegni ge-
nannt. Den Abzeichnern unterliefen wegen der Dunkelheit der Papyri und der
trügerischen Reflexion des Lichtes oft Fehler, d.h. sie schrieben unabsichtlich
falsche Buchstaben oder Buchstabenreste ab. Allzu fragmentarische Zeilen
wurden von den Disegnatori oft vollständig ignoriert. Warum sind diese alten
Disegni heute noch von Relevanz, wenn der Papyrus noch erhalten ist? Die Her-
kulanischen Papyri sind mit einem verkohlten Stück Papier vergleichbar, wel-
ches langsam in Asche zerfällt und verbleicht. So sind auch die Papyri in den
letzten 250 Jahren immer weiter zerbröselt, ausgeblasst und zerfallen, teils
durch unsachgerechte Behandlung, gerade in den frühen Jahren, teils durch
„natürliche Verschleißerscheinungen“. Auch heute erkennt man in den Scha-
tullen der cornici und am Rand der cornici die Ansammlung kleiner Ascheparti-
kel, wenn man die Papyri nach einigen Stunden der Arbeit in der Officina dei
papiri zurücklegt. Man weiß nicht, von welchem Teil des Papyrus diese Partikel
stammen oder wann sie sich gebildet haben, aber mit dem epikureischen Bilde
des Lukrez „Steter Tropfen höhlt den Stein“74 ist schlechterdings festzuhalten,
dass die Herkulanischen Papyri langsam, aber unaufhaltsam zerfallen und (mit

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74 Lukrez, De rerum natura 1,313: stilicidi casus lapidem cavat, … (OCT Bailey).
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dem Bilde aus Genesis) „zum Staub zurückkehren“. Dieser Prozess führt nun
nicht innerhalb von Jahren oder Jahrzehnten zur Vernichtung kompletter Papy-
ri, aber ihr Erhaltungszustand macht sie für den unbarmherzigen Zahn der Zeit
anfälliger als vertrocknete ägyptische Papyri. Daneben sind die Disegni oft auch
die einzigen Zeugen für den Text, wenn der Papyrus im Zuge der scorzatura
weggekratzt, d.h. gänzlich zerstört wurde (vgl. 4.1).

Abb. 22: Oxforder Disegno                     Abb. 23: Neapolitanisches Disegno
Jeweils Philodem, Index Academicorum (PHerc. 1021), Kol. 1

Viele Papyri wurden in zwei Ausführungen von Disegni abgezeichnet, die nach
ihren heutigen Aufbewahrungsorten Oxforder Disegni (O) und Neapolitanische
Disegni (N) genannt werden. Der geschichtliche Hintergrund ist folgender: Als
die bourbonische Königsfamilie 1806 zum zweiten Mal gen Palermo floh und ihr
auch John Hayter dorthin folgte (zur ersten Flucht siehe 4.2), nahm er zwar
nicht die Papyri, aber sämtliche bis zu diesem Zeitpunkt getätigten Abzeich-
nungen der Papyri mit. Auf Betreiben von William Drummond gelangten die
Disegni – Oxforder Disegni und Neapolitanische Disegni | 37

Abzeichnungen schließlich nach England und wurden 1811 von Prinz Georg der
Universität Oxford geschenkt,75 wo sie noch heute lagern und daher Oxforder
Disegni genannt werden. In Italien war man „not amused“ und musste von den
aufgerollten Papyri erneut Abzeichnungen anfertigen. Ferner wurden auch von
den in den Jahren nach Hayters Wirken entrollten Papryi normalerweise Disegni
erstellt. All diese Disegni nennt man Neapolitanischen Disegni, da sie noch heute
in der Biblioteca Nazionale di Napoli (BNN) aufbewahrt werden. Folglich existie-
ren für die meisten der bis 1806 aufgerollten Papyri zwei Ausführungen von
Disegni, die Oxforder Disegni (O) und die Neapolitanischen Disegni (N), welche
übrigens alle von (mitunter denselben) Italienern angefertigt wurden. Manche
Papyri wurden auch aus teils unerfindlichen Gründen mehrmals abgezeichnet.
Die Neapolitanischen Disegni sind oft von minderer Qualität als die Oxforder
Disegni, da letztere zu einer Zeit entstanden, da die Papyri noch weniger be-
schädigt waren, wobei offenbar auch finanzielle Anreize und die Kontrolle der
Arbeit eine Rolle spielten.

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75 John Hayter hegte in Sizilien kaum noch Interesse für die Veröffentlichung der Papyri und
sorgte mit privaten Verfehlungen für solchen Unmut, dass er 1809 nach England zurückberu-
fen wurde. Zu Hayter in der Officina siehe Francesca Longo Auricchio, „John Hayter nella
Officina dei Papiri Ercolanesi,“ in Contributi alla storia della officina dei Papiri Ercolanesi (hg.
von Marcello Gigante; Neapel, 1980), (159–215).
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