ABITURPRÜFUNG 2020 DEUTSCH, GRUNDKURS - FRAGDENSTAAT

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Name: _______________________

                          Abiturprüfung 2020
                             Deutsch, Grundkurs

Aufgabenstellung:

1. Analysieren Sie den Ausschnitt aus Karl-Heinz Götterts Studie „Alles außer Hoch-
   deutsch“ im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Chatkommunikation und
   Dialekten. Berücksichtigen Sie dabei auch die Darstellungsweise des Textes.
                                                                           (34 Punkte)

2. Stellen Sie überblicksartig Merkmale und Funktionen von Dialekten anhand ausgewähl-
   ter Verwendungszusammenhänge dar. Prüfen Sie ausgehend von Götterts Überlegungen
   abwägend, inwieweit Kommunikation in elektronischen Medien für einen lebendigen
   Umgang mit Dialekten geeignet ist, und nehmen Sie dazu abschließend Stellung.
                                                                            (38 Punkte)

Materialgrundlage:

• Karl-Heinz Göttert: Alles außer Hochdeutsch. Ein Streifzug durch unsere Dialekte. Berlin:
  Ullstein 2011, S. 303 – 306

Zugelassene Hilfsmittel:

• Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung

                          Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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     Name: _______________________

     Karl-Heinz Göttert
     Alles außer Hochdeutsch. Ein Streifzug durch unsere Dialekte
     (Textauszug)1
     Internetsprache und Chatkommunikation

     Die neueste und für viele bizarrste Entwicklung der Sprache führt zu den modernen elektro-
     nischen Medien: zu Internet und Chat. Dabei lässt sich durchaus eine Parallele zum Rotwelsch2
     erkennen: Was (gewollte) Unverständlichkeit betrifft, kann es diese Form des Kommunizie-
     rens durchaus mit der alten Gaunersprache aufnehmen. Dies zeigt die Verwendung von Kür-
 5   zeln wie lol für laughing out loud („laut am Lachen“), afk für away from keyboard („nicht
     am Computer“), cus für see you soon („auf Wiedersehen“), omfsm für „oh mein fliegendes
     spaghetti monster“, HDF für „Halt die Fresse“. Weiter gibt es verzerrte Schreibweisen wie
     mOwl für „Maul“ oder sHiCe für „Scheiße“, auch Wortschöpfungen wie yiggen für die Emp-
     fehlung von Links oder qypen für die Bewertung von Ratgeberseiten. Schließlich kommen
10   ungrammatische Konstruktionen wie *knuddel* oder *ganzdollknuddel* hinzu, die zur Iden-
     tifizierung gerne zwischen sogenannte Asterisken (Sternchen) gesetzt werden. All dies dient
     dem Schutz gegen unerwünschtes Mitmachen genauso wie der Signalisierung von Insidertum.
         Aber die Beispiele machen es unübersehbar: Diese Sprache ist hochdeutsch oder englisch.
     Dialekt scheint hier endgültig ausmanövriert, überflüssig. Wer unvorbereitet und unerfahren
15   den folgenden Beitrag eines Chatters liest, wird wohl frustriert das Suchen nach irgendeiner
     Form von Deutsch aufgeben: OMFG wer benutzt den so ein Shice ist ja voll Lol („Oh my
     fucking god, wer benutzt denn so einen Scheiß, ist ja voll laughing out loud“). Aber die For-
     schung hat gezeigt: Gerade hier findet eine interessante Sprachentwicklung statt, weil etwas
     wiedergekehrt ist, was eigentlich nicht zu erwarten war: Mündlichkeit.
20       Um es präziser zu sagen: Chatter schreiben zwar, verkehren mit ihren Partnern aber annä-
     hernd in Echtzeit, was bedeutet: Sie „sprechen“ miteinander beim Schreiben. Schon deshalb
     nimmt die Kommunikation alle Zeichen der Mündlichkeit an. Während die Medien seit Johan-
     nes Gutenberg die Mündlichkeit immer mehr durch die Schriftlichkeit zurückdrängten, taucht
     sie plötzlich mitten in der Schriftlichkeit wieder auf. Was den Uneingeweihten überrascht und
25   vielleicht auch schockiert, ist so gesehen die schiere Mündlichkeit mit ihrer Nachlässigkeit
     und Ungrammatikalität (während wir all dies in wirklicher Mündlichkeit ständig tolerieren).
     Selbst beim Dialekt haben wir uns daran gewöhnt, dass Wörter und Sätze seltsam aussehen,
     nicht aber wenn wirklich Mündliches schriftlich daherkommt. Natürlich ist auch dies längst
     und in allen Einzelheiten erforscht. Sehen wir uns eine Untersuchung etwas genauer an, die
     1   Die Studie des Literaturwissenschaftlers Karl-Heinz Göttert widmet sich dem Thema „Dialekte“. Im vorliegenden Auszug
         behandelt der Autor den Zusammenhang zwischen Dialekten einerseits und dem Phänomen der Chatkommunikation
         andererseits.
     2   Rotwelsch: Beim Rotwelsch handelt es sich um einen Sammelbegriff für seit dem späten Mittelalter auftretende und
         auf dem Deutschen basierende Soziolekte gesellschaftlicher Randgruppen (Bettler, fahrendes Volk etc.).

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30   sich auf einen kleinen Mannheimer Chat-Kanal mit 120 Teilnehmern bezieht, protokolliert
     im Jahre 2003.
        Man muss zunächst zwischen drei Typen von Teilnehmern unterscheiden: zwischen Orga-
     nisatoren („Operatoren“), Stammchattern und Gelegenheitschattern („Newbies“). Sieht man
     die einzelnen Beiträge durch, so gibt es einen deutlichen, ja extremen Unterschied. Ein Mann-
35   heimer Dialektmerkmal wie das sch für s etwa in bisch du kommt bei Operatoren in 93 Pro-
     zent der Ops („Beiträge“) vor, bei Stammchattern in 7 Prozent, bei Gelegenheitschattern über-
     haupt nicht. Dialekt fungiert demnach wie ein Statussignal. Ein ned statt „nicht“ erweist sich
     sogar als ausgesprochen chattypisch, sofern es nicht nur von Mannheimern benutzt wird, son-
     dern auch in anderen Dialektregionen vorkommt, wie umgekehrt das niederdeutsche moin
40   moin als Begrüßung bis München reicht. Überall, wo Entspannung, Entkrampfung gefragt
     sind, scheint der Dialekt bzw. Stilmix eine Hilfe zu sein. Als Beispiel sei eine kleine Interak-
     tion unter den Operatoren  und  auf der einen Seite sowie der Gele-
     genheitschatterin  auf der anderen zitiert:

     01          hihi
45   02          was ist denn mit jj passiert?
     03        jj?
     04        Miss Bee_ der is nach ffm gezogen von dem hoert man nich mehr viel
     05          oki, ich gebs ja zu, war schon ewig nicht mehr hier …
     06          na ja, was soll ich denn erzhlen, damit ihr mich erkennt?
50   07           MissBee_ na alles
     08          teufelti und tanzmaus waren mal meine kampfgefhrten …
     09           kampfgefhrten hm
     10        ih tanzmaus *schuettel*
     11          gibt’s die mdels denn noch?
55   12        BissBee_ ja TeufelWEG gibt’s noch
     13        MissBee_ und um die anner isses ned schad

     Was genau lässt sich hier ablesen? Das Gespräch zwischen den Operatoren und der Gelegen-
     heitschatterin dümpelt überwiegend hochdeutsch dahin, nur die Operatoren lassen kleine Zei-
     chen von Dialekt durchblicken (wie das is und nich in Zeile 04), die Gelegenheitschatterin
60   kann oder will nicht mitmachen. Aber dann kommt die Zeile 13, in der einer der Operatoren
     das Ausbleiben früherer Mitglieder kommentiert: Jetzt ist wirklich Wichtiges berührt, und
     prompt signalisiert der Dialekt Emotionalität.

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     Name: _______________________

         Dabei ist das Schreiben im Dialekt zweifellos ungewohnt und auch schwieriger als im Stan-
     dard. Aber die Chatter nehmen diese Schwierigkeit in Kauf, weil das Moment der Mündlich-
65   keit im Dialekt offenbar eine Art Glaubwürdigkeitsbeweis enthält. Dies lässt sich anhand von
     Material aus Schweizer Chats untermauern. Dabei konnte gezeigt werden, dass Chatter in
     Zürich, Bern sowie im Wallis und in Graubünden ihre Beiträge nicht nur überwiegend in Dia-
     lekt verfassen (zwischen 80 und 90 Prozent), sondern dabei großen Wert auf eine möglichst
     genaue Wiedergabe des Ortsdialekts legen. Anders als in Deutschland geht damit eine Befrei-
70   ung von der sonst üblichen Zweisprachigkeit einher (Dialekt für Mündlichkeit, Hochdeutsch
     für Schriftlichkeit). Vor allem aber scheint keine neue Norm für die Wiedergabe der (unter-
     schiedlichen) Dialekte zu entstehen, sondern ganz im Gegenteil jeder regionale Dialekt zu
     seinem eigenen Recht zu kommen.
         Damit lässt sich die Situation in Deutschland nicht vergleichen. Aber die Überraschung
75   ist auch hier da: Ausgerechnet das modernste elektronische Medium überhaupt bietet über
     die Mündlichkeit dem Dialekt (neuen) Raum. […]

     Anmerkung zum Autor:
     Karl-Heinz Göttert (*1943) ist Germanist und war bis 2009 Professor für Ältere Deutsche Literatur an der Uni-
     versität zu Köln.

                                    Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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                                Unterlagen für die Lehrkraft
                                     Abiturprüfung 2020
                                        Deutsch, Grundkurs

1.       Aufgabenart
Analyse eines Sachtextes mit weiterführendem Schreibauftrag

2.       Aufgabenstellung1
    1. Analysieren Sie den Ausschnitt aus Karl-Heinz Götterts Studie „Alles außer Hoch-
       deutsch“ im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Chatkommunikation und
       Dialekten. Berücksichtigen Sie dabei auch die Darstellungsweise des Textes.
                                                                               (34 Punkte)

    2. Stellen Sie überblicksartig Merkmale und Funktionen von Dialekten anhand ausgewähl-
       ter Verwendungszusammenhänge dar. Prüfen Sie ausgehend von Götterts Überlegungen
       abwägend, inwieweit Kommunikation in elektronischen Medien für einen lebendigen
       Umgang mit Dialekten geeignet ist, und nehmen Sie dazu abschließend Stellung.
                                                                                (38 Punkte)

3.       Materialgrundlage
• Karl-Heinz Göttert: Alles außer Hochdeutsch. Ein Streifzug durch unsere Dialekte. Berlin:
      Ullstein 2011, S. 303 – 306

4.       Bezüge zum Kernlehrplan und zu den Vorgaben 2020
Die Aufgaben weisen vielfältige Bezüge zu den Kompetenzerwartungen und Inhaltsfeldern des
Kernlehrplans bzw. zu den in den Vorgaben ausgewiesenen Fokussierungen auf. Im Folgenden
wird auf Bezüge von zentraler Bedeutung hingewiesen.

    1. Inhaltsfelder und inhaltliche Schwerpunkte
      Inhaltsfeld Sprache
      • Sprachvarietäten und ihre gesellschaftliche Bedeutung
         – Dialekte und Soziolekte

    2. Medien/Materialien
       • entfällt

1     Die Aufgabenstellung deckt inhaltlich alle drei Anforderungsbereiche ab.

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5.   Zugelassene Hilfsmittel
• Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung

6.   Vorgaben für die Bewertung der Schülerleistungen
Teilleistungen – Kriterien
a) inhaltliche Leistung
Teilaufgabe 1
     Anforderungen                                                                            maximal
                                                                                            erreichbare
                                         Der Prüfling                                        Punktzahl

 1   verfasst eine aufgabenbezogene Einleitung unter Verweis auf Autor, Titel, Textart,         2
     Jahr.
 2   benennt das Thema des Textausschnitts, etwa:                                               3
     • Sprachwandel durch Chatsprache und seine Bedeutung für Dialekte,
     • Möglichkeiten digitaler Kommunikation im Dialekt.
 3   erläutert Götterts Gedankengang:                                                           9
     • Ausgangspunkt von den Besonderheiten der Chatkommunikation; Darlegung von
         Strukturbesonderheiten der Chatsprache:
         – Abgrenzung gegenüber Nicht-Eingeweihten durch eigene Abkürzungen und
            Wortbildungen; hierbei Nennung entsprechender Beispiele,
         – eigenwillige grammatische Konstruktionen,
         – Mischung mehrerer Sprachen (Englisch und Deutsch),
     • Erläuterung zum daraus abgeleiteten Charakter des Schreibens in Chats:
         – mündlicher Charakter durch Schreiben und Austausch in Echtzeit,
         – Verzicht auf hochsprachliche, für Schriftlichkeit übliche Grammatikalität,
     • Anwendung dieser Überlegungen auf Dialektkommunikation im Internet:
         – Vorstellung des beispielhaft zitierten Mannheimer Chats,
         – im regionalen Chat bei Stammchattern Verwendung von dialektalen Einspreng-
            seln,
         – Dialekt hier als Signal von Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Authentizität und
            Emotionalität.
 4   erläutert Götterts hieraus abgeleitete Position, etwa:                                     6
     • Charakter konzeptioneller Mündlichkeit des Chats als Bindeglied zwischen Chats
         und Dialekten, insofern der umgangssprachliche und mündliche Charakter des Dia-
         lektalen auch die schriftliche Kommunikationsform des Chats bestimmt,
     • Authentizität des Dialekts als Grund, Unannehmlichkeiten ungewohnter, beim Chat
         aber nötiger Schreibung in Kauf zu nehmen,
     • eine gewisse Chance für den Dialektgebrauch im mündlichen Charakter des ge-
         schriebenen Gesprächs im Internet,
     • ggf. noch größere Bedeutung in der Schweiz, wo im Chat eine funktional münd-
         liche und unregulierte Schriftlichkeit für die ansonsten der Mündlichkeit vorbe-
         haltene Umgangssprache entsteht.

                           Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
Ministerium für Schule und Bildung NRW                                              D GK HT 1
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 5   erschließt die Darstellungsweise von Götterts Text, etwa:                                    9
     • für den Leser nachvollziehbare Strukturierung des Textes durch rhetorische Fragen
        und lockere an eine vortragsartige Darstellungsweise gemahnende Bemerkungen
        zum Aufbau („Um es präziser zu sagen“, „Als Beispiel sei eine […] zitiert“, „Was
        genau lässt sich hier ablesen?“),
     • dabei Lenkung durch explizit gemachte Textstruktur,
     • keine nennenswerte vorausgesetzte linguistische Vorbildung, stattdessen Einladung
        zum Mitdenken für den Leser als Laien,
     • Vielzahl der Beispiele für dieselben Phänomene und weitere Redundanzen („aus-
        manövriert, überflüssig“) als Einladung zum unangestrengten Lesen,
     • insgesamt fassliche Darstellung: geringe Hürden für das Verständnis der Leser
        durch Beispiele, Erläuterungen und voraussetzungsarmen Gebrauch einer mode-
        raten Fachterminologie,
     • großzügiger Gebrauch von Beispielen, die teils an den Erfahrungsraum der Leser
        anknüpfen dürften, aber auch erläutert werden,
     • Verweis auf Daten und Beispiele, die Studien zu entstammen scheinen; allerdings
        keine Verweise, Quellenangaben und Fußnoten – als Hinweis auf wissenschaftli-
        chen Hintergrund ohne strengen wissenschaftlichen Anspruch des Textes.
 6   verfasst eine Schlussreflexion im Sinne einer zusammenfassenden Betrachtung des              5
     Textes, etwa:
     • unerwarteter Befund, trotz weltweiter Zugänglichkeit des Netzes und dort vorzu-
        findender Dominanz einer internationalen Mehrsprachigkeit, zugleich Ort, in dem
        regionale Vernetzung und Dialektgebrauch Platz finden,
     • Charakter der konzeptionellen Mündlichkeit von Chatsprache, die eine Ausdrucks-
        form für Dialektgebrauch oder Dialektanteile im Ausdruck zu finden erlaubt,
     • populärwissenschaftliche Darstellung in verständlicher Sprache, in der Wortwahl
        dem Leser entgegenkommend und die dargestellten Phänomene verständlich erläu-
        ternd.
 7   erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium. (4)

Teilaufgabe 2
     Anforderungen                                                                              maximal
                                                                                              erreichbare
                                                                                               Punktzahl
                                          Der Prüfling
 1   verfasst eine aufgabenbezogene Überleitung, etwa mit Blick auf die Fragestellung.            1
 2   stellt Merkmale von Dialekten dar, etwa:                                                     8
     • Sprachvarietät, die sich in verschiedenen Regionen unterscheidet, und von Ort zu
         Ort (teils gar von Ortsteil zu Ortsteil) verschiedene Merkmale aufweist,
     • historisch der Standardsprache vorhergehend und je nach Region in unterschied-
         licher Weise Quelle der Standardsprache, in der Regel neben der Standardsprache
         existierend,
     • Unterschiede zur Standardsprache in Grammatik, Wortschatz und Lautung,
     • originär mündliche Sprachvarietät,
     • als lebendige Sprachvarietät (regional teils unterschiedlich) unter Druck, ausgelöst
         durch nach zunächst schriftsprachlicher Verbreitung der Hochsprache, später in
         Massenmedien seit dem 20. Jahrhundert nun auch weitgehende mündliche Ver-
         breitung der Standardsprache und einer standardisierten Aussprache,
     • häufig lebendig in der Verwendung einzelner Merkmale in der Lautung, einzelner
         Worte oder Wendungen und Zitate, ohne dass die Sprachvarietät in ihrer Reich-
         haltigkeit noch viele Sprecher benutzten.

                            Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
Ministerium für Schule und Bildung NRW                                             D GK HT 1
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 3   stellt Funktionen von Dialekten in verschiedenen Funktionszusammenhängen dar,           8
     etwa:
     • örtlich oder regional (teils eher ehemals) übliche mündliche Gebrauchssprache,
         die im Familien-, Arbeits- und Geschäftsleben in allen Zusammenhängen Kom-
         munikation erlaubt(e),
     • Sprachvarietät, die Identifikation mit der Heimat und Zugehörigkeit signalisieren
         und erzeugen soll und zugleich Abgrenzung nach außen erzeugen kann (hierbei
         Verwendung außerhalb des privaten Raums auch etwa in Reden neben Standard-
         sprache, lokaler Werbung, lokalen Feiern wie Karneval – Verschriftlichung in häu-
         fig nur regional oder lokal rezipierter Dialektliteratur etc.),
     • Sprachvarietät, die aufgrund des häufig familiär erworbenen Wortschatzes und der
         spezifischen Lautung in besonderer Weise geeignet scheint, Emotionalität, Nähe
         und Vertrautheit auszudrücken, etwa in familiärer und nachbarschaftlicher Kom-
         munikation,
     • Gegenstand sprachpflegerischer Aktivitäten in Heimatvereinen, Theatergruppen,
         Zeitungen, Radiosendungen, Liedern, um diese Gemeinschaft und Besonderheit
         stiftende Sprachvarietät zu erhalten,
     • Verwendung einzelner Worte oder ganzer Passagen auch im überregionalen Zu-
         sammenhang, z. B. bei besonders bekannten Worten oder Wendungen, teils auch
         in der Literatur oder in Filmen zum Signalisieren verschiedener Eigenschaften der
         Dialektsprecher, wie z. B. Provinzialität, Warmherzigkeit, lokaler Verbundenheit
         etc.

     Abhängig von den unterrichtlichen Voraussetzungen können hier verschiedene, ggf.
     auch weitere Funktionen dargestellt werden.
 4   prüft, inwieweit Kommunikation in elektronischen Medien für einen lebendigen Um-        7
     gang mit Dialekten geeignet ist oder sein kann, etwa unter Bezugnahme auf folgende
     Argumente, eher bestätigend:
     • konzeptionelle Mündlichkeit des quasi-mündlichen Austauschs als hilfreich für
        die Dialektverwendung und -pflege, sodass das scheinbar altmodische oder be-
        drohte Dialekt-„Sprechen“ einen Raum gerade im modernsten Medium finden
        kann,
     • Verortung einer Vielzahl der unterschiedlichsten Interessen im Netz, zu denen
        auch die vielen Dialekte gehören (können); ggf. Verweis auf den zitierten Mann-
        heimer Chat,
     • dialektale Einsprengsel in Chatkommunikation beobachtbar,
     • Möglichkeit, Dialektsprecher desselben Dialekts, die inzwischen in verschiedenen
        Regionen leben, zu verbinden.
 5   prüft, inwieweit Kommunikation in elektronischen Medien für einen lebendigen Um-        9
     gang mit Dialekten geeignet ist oder sein kann, etwa unter Bezugnahme auf folgende
     Argumente, eher infrage stellend:
     • gegenüber dem wirklichen mündlichen Austausch eher vermittelter Charakter eines
        Chats,
     • schlechte Abbildbarkeit der charakteristischen Lautung und Satzmelodie von Dia-
        lekten im Medium der Schriftsprache,
     • Betonung des Unterschieds einzelner dialektartiger Wendungen im Gegensatz zu
        einer reichen, lebendigen Dialektkultur,
     • kaum eine Möglichkeit lebendiger Weitergabe von Dialektkompetenz im letztlich
        doch schriftlichen Kommunizieren,
     • Emojis als Ausdruck von Gefühlen,
     • Tendenz zu mehr Abkürzungen.

                           Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
Ministerium für Schule und Bildung NRW                                                  D GK HT 1
                                                                                         Seite 5 von 8

 6   beurteilt die Frage abschließend mit Bezug auf die zuvor genannten Argumente, etwa:             5
     • allenfalls Fristen eines Nischendaseins der Dialekte unter den vielen Angeboten
        des Internets,
     • vereinzelte Chats vielleicht nostalgischer Ort eines Austauschs von Dialektspre-
        chern, die die Defizite des Mediums in Kauf nehmen, nicht aber ein Ort der leben-
        digen Weitergabe,
     • durchaus teilweise rege Verwendung von Dialekten.

     Je nach Einschätzung hinsichtlich des Gewichts der Argumente wird eine begründete
     Beurteilung zu einem unterschiedlichen Ergebnis kommen, inwieweit das Internet ein
     lebendiger Ort des Dialektgebrauchs sein kann. Eine Position, die dies völlig aus-
     schließt oder von Internetkommunikation alleine ein echtes Aufblühen der Dialekte
     erwartet, wird auszuschließen sein.
 7   erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium. (6)

b) Darstellungsleistung
     Anforderungen                                                                                 maximal
                                                                                                 erreichbare
                                           Der Prüfling                                           Punktzahl

 1   strukturiert seinen Text kohärent, schlüssig, stringent und gedanklich klar:                    6
     • angemessene Gewichtung der Teilaufgaben in der Durchführung,
     • gegliederte und angemessen gewichtete Anlage der Arbeit,
     • schlüssige Verbindung der einzelnen Arbeitsschritte,
     • schlüssige gedankliche Verknüpfung von Sätzen.
 2   formuliert unter Beachtung der fachsprachlichen und fachmethodischen Anforderungen:             6
     • Trennung von Handlungs- und Metaebene,
     • begründeter Bezug von beschreibenden, deutenden und wertenden Aussagen,
     • Verwendung von Fachtermini in sinnvollem Zusammenhang,
     • Beachtung der Tempora,
     • korrekte Redewiedergabe (Modalität).
 3   belegt Aussagen durch angemessenes und korrektes Zitieren:                                      3
     • sinnvoller Gebrauch von vollständigen oder gekürzten Zitaten in begründender
        Funktion.
 4   drückt sich allgemeinsprachlich präzise, stilistisch sicher und begrifflich differenziert       5
     aus:
     • sachlich-distanzierte Schreibweise,
     • Schriftsprachlichkeit,
     • begrifflich abstrakte Ausdrucksfähigkeit.
 5   formuliert lexikalisch und syntaktisch sicher, variabel und komplex (und zugleich klar).        5
 6   schreibt sprachlich richtig.                                                                    3

                             Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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                                                                                                  Seite 6 von 8

7.      Bewertungsbogen zur Prüfungsarbeit
Name des Prüflings: ____________________________________ Kursbezeichnung: ____________

Schule: _____________________________________________

Teilaufgabe 1
        Anforderungen                                                                 Lösungsqualität
                                                                          maximal
                                Der Prüfling                            erreichbare
                                                                                      EK2       ZK       DK
                                                                         Punktzahl

    1   verfasst eine aufgabenbezogene …                                    2
    2   benennt das Thema …                                                 3
    3   erläutert Götterts Gedankengang …                                   9
    4   erläutert Götterts hieraus …                                        6
    5   erschließt die Darstellungsweise …                                  9
    6   verfasst eine Schlussreflexion …                                    5
    7   erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium: (4)
        ……………………………………………………………..
        ……………………………………………………………..
        Summe 1. Teilaufgabe                                               34

Teilaufgabe 2
        Anforderungen                                                                 Lösungsqualität
                                                                          maximal
                                Der Prüfling                            erreichbare
                                                                                       EK       ZK       DK
                                                                         Punktzahl

    1   verfasst eine aufgabenbezogene …                                    1
    2   stellt Merkmale von …                                               8
    3   stellt Funktionen von …                                             8
    4   prüft, inwieweit Kommunikation …                                    7
    5   prüft, inwieweit Kommunikation …                                    9
    6   beurteilt die Frage …                                               5
    7   erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium: (6)
        ……………………………………………………………..
        ……………………………………………………………..
        Summe 2. Teilaufgabe                                               38
        Summe der 1. und 2. Teilaufgabe                                    72

2    EK = Erstkorrektur; ZK = Zweitkorrektur; DK = Drittkorrektur

                                   Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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                                                                                              Seite 7 von 8

Darstellungsleistung
      Anforderungen                                                               Lösungsqualität
                                                                      maximal
                             Der Prüfling                           erreichbare
                                                                                   EK       ZK       DK
                                                                     Punktzahl

  1   strukturiert seinen Text …                                        6
  2   formuliert unter Beachtung …                                      6
  3   belegt Aussagen durch …                                           3
  4   drückt sich allgemeinsprachlich …                                 5
  5   formuliert lexikalisch und …                                      5
  6   schreibt sprachlich richtig.                                      3
      Summe Darstellungsleistung                                       28

      Summe insgesamt (inhaltliche und Darstellungsleistung)          100
      aus der Punktsumme resultierende Note gemäß nach-
      folgender Tabelle
      Note ggf. unter Absenkung um bis zu zwei Notenpunkte
      gemäß § 13 Abs. 2 APO-GOSt

      Paraphe

Berechnung der Endnote nach Anlage 4 der Abiturverfügung auf der Grundlage von § 34 APO-GOSt

Die Klausur wird abschließend mit der Note ________________________ (____ Punkte) bewertet.

Unterschrift, Datum:

                               Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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Grundsätze für die Bewertung (Notenfindung)
Für die Zuordnung der Notenstufen zu den Punktzahlen ist folgende Tabelle zu verwenden:

 Note                          Punkte            Erreichte Punktzahl

 sehr gut plus                   15                     100 – 95

 sehr gut                        14                      94 – 90

 sehr gut minus                  13                      89 – 85

 gut plus                        12                      84 – 80

 gut                             11                      79 – 75

 gut minus                       10                      74 – 70

 befriedigend plus                9                      69 – 65

 befriedigend                     8                      64 – 60

 befriedigend minus               7                      59 – 55

 ausreichend plus                 6                      54 – 50

 ausreichend                      5                      49 – 45

 ausreichend minus                4                      44 – 40

 mangelhaft plus                  3                      39 – 33

 mangelhaft                       2                      32 – 27

 mangelhaft minus                 1                      26 – 20

 ungenügend                       0                      19 – 0

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Name: _______________________

                         Abiturprüfung 2020
                            Deutsch, Grundkurs

Aufgabenstellung:

1. Analysieren Sie das Gedicht „Wandel der Sehnsucht“ von Nikolaus Lenau. (39 Punkte)

2. Analysieren Sie in Grundzügen das Gedicht „Ziehende Landschaft“ von Hilde Domin.
   Vergleichen Sie es anschließend mit dem Gedicht „Wandel der Sehnsucht“ im Hinblick
   auf das Unterwegs-Sein und die damit verbundene Bedeutung von Heimat. (33 Punkte)

Materialgrundlage:

• Nikolaus Lenau: Wandel der Sehnsucht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe. Hrsg. v.
  Hermann Engelhard. Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachf. 1959, S. 22
• Hilde Domin: Ziehende Landschaft. In: Dies.: Gesammelte Gedichte. Frankfurt am Main:
  Fischer 1987, S. 13

Zugelassene Hilfsmittel:

• Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung

                         Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
D GK HT 2
                                                                                                Seite 2 von 3

     Name: _______________________

     Nikolaus Lenau
     Wandel der Sehnsucht (1833/34)
     Wie doch dünkte mir die Fahrt so lang,
     O wie sehnt’ ich mich zurück so bang
     Aus der weiten, fremden Meereswüste
     Nach der lieben, fernen Heimatküste!

 5   Endlich winkte das ersehnte Land,
     Jubelnd sprang ich an den teuern Strand,
     Und als wiedergrüne Jugendträume
     Grüßten mich die heimatlichen Bäume.

     Hold1 und süßverwandt wie nie zuvor
10   Klang das Lied der Vögel an mein Ohr;
     Gerne, nach so schmerzlichem Vermissen,
     Hätt’ ich jeden Stein ans Herz gerissen.

     Doch da fand ich dich, und – todesschwank
     Jede Freude dir zu Füßen sank,
15   Und mir ist im Herzen nur geblieben
     Grenzenloses, hoffnungsloses Lieben.

     O wie sehn’ ich mich so bang hinaus
     Wieder in das dumpfe Flutgebraus!
     Möchte immer auf den wilden Meeren
20   Einsam nur mit deinem Bild verkehren!

     Anmerkung zum Autor:
     Der Dichter Nikolaus Lenau wurde 1802 in Ungarn geboren, lebte vorwiegend in Deutschland und Österreich.
     1832 versuchte er vergeblich, sich in den USA eine neue Existenz aufzubauen. Das Gedicht hat er nach seiner
     Rückkehr nach Europa verfasst. Er starb 1850 in Wien.

     1   hold: anmutig, lieblich

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                                                                                                Seite 3 von 3

     Name: _______________________

     Hilde Domin
     Ziehende Landschaft (1955)
     Man muß weggehen können
     und doch sein wie ein Baum:
     als bliebe die Wurzel im Boden,
     als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
 5   Man muß den Atem anhalten,
     bis der Wind nachläßt
     und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
     bis das Spiel von Licht und Schatten,
     von Grün und Blau,
10   die alten Muster zeigt
     und wir zuhause sind,
     wo es auch sei,
     und niedersitzen können und uns anlehnen,
     als sei es an das Grab
15   unserer Mutter.

     Anmerkung zur Autorin:
     Hilde Domin, geborene Löwenstein, wurde 1909 als Kind jüdischer Eltern in Köln geboren. Seit Hitlers Macht-
     ergreifung 1933 lebte sie in wechselnden Exilländern, darunter seit 1940 in der Dominikanischen Republik.
     1946 begann sie zu schreiben. 1954 kam sie nach Deutschland zurück und veröffentlichte ihre Gedichte in
     Anlehnung an den Namen ihres Exils in der Dominikanischen Republik unter dem Namen Domin. Das Gedicht
     „Ziehende Landschaft“ wurde 1959 zum ersten Mal veröffentlicht. 2006 verstarb Domin in Heidelberg.

                                    Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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                                Unterlagen für die Lehrkraft
                                     Abiturprüfung 2020
                                        Deutsch, Grundkurs

1.       Aufgabenart
Vergleichende Analyse literarischer Texte

2.       Aufgabenstellung1
    1. Analysieren Sie das Gedicht „Wandel der Sehnsucht“ von Nikolaus Lenau. (39 Punkte)

    2. Analysieren Sie in Grundzügen das Gedicht „Ziehende Landschaft“ von Hilde Domin.
       Vergleichen Sie es anschließend mit dem Gedicht „Wandel der Sehnsucht“ im Hinblick
       auf das Unterwegs-Sein und die damit verbundene Bedeutung von Heimat. (33 Punkte)

3.       Materialgrundlage
• Nikolaus Lenau: Wandel der Sehnsucht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe. Hrsg. v.
      Hermann Engelhard. Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachf. 1959, S. 22
• Hilde Domin: Ziehende Landschaft. In: Dies.: Gesammelte Gedichte. Frankfurt am Main:
      Fischer 1987, S. 13

4.       Bezüge zum Kernlehrplan und zu den Vorgaben 2020
Die Aufgaben weisen vielfältige Bezüge zu den Kompetenzerwartungen und Inhaltsfeldern des
Kernlehrplans bzw. zu den in den Vorgaben ausgewiesenen Fokussierungen auf. Im Folgenden
wird auf Bezüge von zentraler Bedeutung hingewiesen.

    1. Inhaltsfelder und inhaltliche Schwerpunkte
      Inhaltsfeld Texte
      • Lyrische Texte zu einem Themenbereich aus unterschiedlichen historischen Kontexten
         – „unterwegs sein“ – Lyrik von der Romantik bis zur Gegenwart

    2. Medien/Materialien
       • entfällt

5.       Zugelassene Hilfsmittel
• Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung

1     Die Aufgabenstellung deckt inhaltlich alle drei Anforderungsbereiche ab.

                                     Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
Ministerium für Schule und Bildung NRW                                            D GK HT 2
                                                                                    Seite 2 von 8

6.   Vorgaben für die Bewertung der Schülerleistungen
Teilleistungen – Kriterien
a) inhaltliche Leistung
Teilaufgabe 1
     Anforderungen                                                                           maximal
                                                                                           erreichbare
                                         Der Prüfling                                       Punktzahl

 1   formuliert eine aufgabenbezogene Einleitung unter Berücksichtigung von Autor, Text-       2
     sorte, Titel und Veröffentlichungsdatum.
 2   benennt das Thema des Gedichts, etwa:                                                     3
     • erwartungsvolle Rückkehr in die Heimat und enttäuschte Erwartung.
 3   beschreibt die Sprechsituation, etwa:                                                     2
     • ein explizit in Erscheinung tretendes lyrisches Ich,
     • Ähnlichkeit zu einem inneren Monolog,
     • rückblickende Betrachtung (Tempuswechsel von Präteritum zu Präsens).
 4   erschließt den Inhalt des Gedichts, etwa:                                                 6
     1. Strophe:
     • Ankunft des lyrischen Ich nach langer Abwesenheit in der Ferne,
     • Sehnsucht nach der vertrauten Heimat,
     2. Strophe:
     • freudige Ankunft in der Heimat,
     • Erwachen von Jugenderinnerungen,
     3. Strophe:
     • berührendes Wiederentdecken lang vermisster Vogelstimmen und heimatlicher
         Orte,
     4. Strophe:
     • Wiederbegegnung mit dem geliebten Du und Enttäuschung über unerfülltes Lieben,
     5. Strophe:
     • Sehnsucht nach der Ferne als Reaktion auf die unerfüllt gebliebenen Erwartungen,
     • Wunsch nach Rückzug in die Einsamkeit aufgrund der enttäuschten Liebe.
 5   beschreibt den formalen Aufbau des Gedichts unter Beachtung seiner Funktion, etwa:        5
     • Grundstruktur: 5 Strophen zu je 4 Versen (Quartette, einfache Liedstrophe),
     • Enjambements,
     • Endreime: durchgängiger Paarreim, Assonanzen auf -ang, -and, -ank,
     • Versmaß: regelmäßiger 5-hebiger Trochäus (jeder zweite Paarreim mit Einzelsen-
         kungen endend),
     • Kadenz abwechselnd je zweimal männlich und weiblich,
     insgesamt: Spannung zwischen Regelmäßigkeit und Geschlossenheit im formalen
     Aufbau einerseits und innerer Unruhe und Heimatlosigkeit des lyrischen Ich anderer-
     seits.
 6   untersucht das Gedicht im Hinblick auf die syntaktischen Gestaltungsmittel, etwa:         6
     • Interjektion als freudiger Ausruf des lyrischen Ich voller Erwartung und Hoffnung
        während der Fahrt zur Heimat und als resignativer Ausruf des lyrischen Ich nach
        der Ferne und Einsamkeit,
     • Parallelismus (V. 3 f.) bei inhaltlicher Antithese zur Hervorhebung der Bewegung
        von der Ferne in die Heimat, vom Bedrohlichen ins Vertraute,
     • ungewöhnliche Voranstellung von adverbialen Bestimmungen der Art und Weise
        („Hold […] Klang das Lied“, „Jubelnd sprang ich“, „Gerne, […] Hätt’ ich“) zur
        Hervorhebung der Aktivitäten und Empfindungen des lyrischen Ich,

                           Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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     • Klammerstellung der ersten und letzten Strophe zur Verdeutlichung des Wandels
       bzw. der kreisförmigen Bewegung in der Haltung des lyrischen Ich: Erwartung der
       Heimat und Abkehr von der Fremde – Enttäuschung – Abkehr von der Heimat und
       Hinwendung zur Ferne.
 7   untersucht das Gedicht im Hinblick auf die sprachlichen Gestaltungsmittel, etwa:            9
     • Verbindungen von Adjektiven und Komposita („weiten, fremden Meereswüste“,
        „lieben, fernen Heimatküste“) zur Bezeichnung der Gegensätze zwischen Unbe-
        grenztheit und Verlorenheit sowie Begrenzung und Nähe,
     • zentrale Stellung der Wortneuschöpfung „todesschwank“ zur Verdeutlichung der
        veränderten Stimmung des lyrischen Ich: Verlust an Sicherheit und Gewissheit,
        vielmehr Selbstaufgabe und Hoffnungslosigkeit,
     • Personifikationen („winkte das ersehnte Land“ und „Grüßten mich die heimatlichen
        Bäume“) zur Verdeutlichung der inneren Wahrnehmung der Ankunft als freund-
        lichen, warmen Empfang,
     • emphatische Ausrufe „O“ und Variation in der Verwendung der Adverbien („zu-
        rück so bang“ und „so bang hinaus“) zum Ausdruck des Wandels in der Lebens-
        haltung des lyrischen Ich: Sehnsucht nach der Heimat – nach der Ferne,
     • Wortschöpfungen wie „süßverwandt“, „wiedergrüne“, „todesschwank“, „Flutge-
        braus“ zur Intensivierung der Wahrnehmung des lyrischen Ich,
     • Kombination von substantivierten Verben und Adjektiven („nach so schmerzlichem
        Vermissen“ und „Grenzenloses, hoffnungsloses Lieben“) zur Verdeutlichung der
        inneren Stimmung des lyrischen Ich,
     • semantischer Gegensatz zwischen Herz und Schmerz (V. 11 f.), Tod und Freude
        (V. 13 f.) und Fremd- und Lieb-Sein (V. 3 f.) zur Verdeutlichung der inneren Span-
        nung des lyrischen Ich.
 8   deutet das Gedicht, auch unter Berücksichtigung des Titels, etwa:                           6
     • Veränderung der inneren Haltung des lyrischen Ich zur Heimat – von positiver
        Erwartung hin zu enttäuschter Abwendung,
     • Desillusionierung des verklärten Blicks auf die Heimat („wiedergrüne Jugend-
        träume“, „das ersehnte Land“) durch die reale Begegnung mit dem geliebten Du
        („Doch“, „todesschwank“),
     • veränderte Ausrichtung der Sehnsucht: Sehnsucht zur Heimat – Sehnsucht nach
        der Ferne („Wandel der Sehnsucht“),
     • das ziellose und immerwährende Unterwegs-Sein als Ausdruck der inneren Hal-
        tung des lyrischen Ich, Wechsel vom Präteritum ins Präsens als Hinweis auf Um-
        kehrung der Richtung der „Sehnsucht“,
     • unerfülltes Liebesglück und Leben in Einsamkeit als Lebensentwurf.
 9   erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium. (4)

Teilaufgabe 2
     Anforderungen                                                                             maximal
                                                                                             erreichbare
                                         Der Prüfling                                         Punktzahl

 1   formuliert eine aufgabenbezogene Überleitung, etwa im Hinblick auf die Gestaltung           1
     des Themas „Unterwegs-Sein“ und das Verhältnis von Nähe und Ferne.
 2   stellt das Thema des Gedichts „Ziehende Landschaft“ dar, etwa:                              2
     • Möglichkeiten des Ankommens in der Fremde, Notwendigkeit einer inneren Hei-
         mat, die nicht an einen konkreten Ort gebunden ist.

                           Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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 3   erschließt den Inhalt des Gedichts, etwa:                                                4
     • Einnehmen einer Haltung in der Fremde: Empfinden von Nähe und Wahrnehmen
        des Vertrauten in der Ferne,
     • Spannung zwischen Aufbrechen und Verwurzelung: Mittragen der Wurzeln als
        Bedingung für das Weggehen-Können,
     • Impulse zum Sich-Verorten-Können in der Fremde: Wiedererkennen bekannter
        Muster und Wahrnehmungen,
     • innere Ruhe, Nähe zu Bekanntem als Bedingung des Zuhause-Seins,
     • Vergleich der imaginären Heimat mit der Beständigkeit des mütterlichen Grabes.
 4   beschreibt die formale Gestaltung des Gedichts, etwa:                                    3
     • Verzicht auf Strophen, Reim und Versmaß, aber Rhythmisierung,
     • eher prosaische Sprache, freie Verse,
     insgesamt: offene Form in Korrespondenz zur Gedankenentwicklung.
 5   untersucht das Gedicht im Hinblick auf sprachliche und stilistische Gestaltungsmittel,   5
     etwa:
     • Impulse und (Selbst-)Reflexionen („Man muß“) im Stil eines Lehrgedichts,
     • Anaphern („Man muß“, „als – als“, „und – und“, „bis – bis“) zur Verdeutlichung
        der Struktur der Gedankenentwicklung,
     • Parallelismen und Reihungen zur Verstärkung des Gedankens des langen Atems,
     • lange Sätze als Spiegel des langsamen Ankommens,
     • Metaphern und Vergleiche zur sprachbildlichen Verdeutlichung der notwendigen
        inneren Verwurzelung („Wurzel im Boden“, „als zöge die Landschaft und wir
        ständen fest“, „Grab unserer Mutter“),
     • Konjunktiv II-Konstruktionen zur Betonung einer möglichen Perspektive in der
        Fremde („als zöge die Landschaft“),
     • Gegensätze („Licht und Schatten“, „Grün und Blau“) zur Herausstellung der gleich-
        bleibenden Bedingungen von Leben (Tag und Nacht, Dunkelheit und Helligkeit,
        Land und Wasser).
 6   vergleicht beide Gedichte im Hinblick auf das Unterwegs-Sein, und die damit verbun-      4
     dene Bedeutung von Heimat, Gemeinsamkeiten hervorhebend, etwa:
     • Motiv der Reise, des Unterwegs-Seins,
     • Schwierigkeit des Ankommens,
     • Sehnsucht nach Heimat und Vertrautem.
 7   vergleicht beide Gedichte im Hinblick auf das Unterwegs-Sein und die damit verbun-       9
     dene Bedeutung von Heimat, Unterschiede hervorhebend, etwa:
     • Lenau:
        – Erleben der ersehnten Heimat als Fremde, daher: Unterwegs-Sein als Erleben
            des Fremdseins,
        – Liebesgedicht in Verknüpfung mit dem Thema einer unerfüllten Sehnsucht nach
            der Heimat bzw. Ferne,
        – Rückblick und Ausblick,
        – Erleben eines lyrischen Ich,
        – Sprachstil in romantischer Tradition, der das Erleben des lyrischen Ich betont
            (bildreiche Sprache, Gebrauch von Adjektiven und Wortspielen),
     • Domin:
        – Unterwegs-Sein als nicht genauer bestimmtes „Weggehen“,
        – Unterwegs-Sein als Spannung zwischen Vertrautem und Fremdem, Erfahren
            von Nähe, Vertrautem auch in der Ferne,
        – Mitnehmen des Alten („die alten Muster“) und eigene Verwurzelung als Bedin-
            gung des Ankommens,
        – allgemeine Betrachtung – allgemeiner Anspruch der Erfahrung im Sinne eines
            reflexiven Erlebens eines lyrischen Ich,
        – gestaltete Sprache, Verzicht auf Ausschmückungen.

                            Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
Ministerium für Schule und Bildung NRW                                                  D GK HT 2
                                                                                         Seite 5 von 8

     Angestrebt ist hier keine vollständige Darstellung der beispielhaft genannten Aspekte,
     sondern eine differenzierte Schwerpunktsetzung durch den Prüfling, die allerdings
     mehrere Aspekte aufgreift.
 8   formuliert eine reflektierte Schlussfolgerung bezogen auf das Unterwegs-Sein und die            5
     damit verbundene Bedeutung von Heimat, etwa:
     • Bezugnahme auf die unterschiedlichen Epochenzusammenhänge,
     • Reise in die Heimat – Rückkehr; Aufbruch ins Unbekannte, eventuell Exil,
     • Problem des Ankommens – unerfüllte Liebe; Notwendigkeit der Verortung über
        (positive) Erinnerung,
     • Ambivalenz zwischen Nähe und Ferne,
     • Sehnsucht nach Ferne vs. Sehnsucht nach Heimat.
 9   erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium. (6)

b) Darstellungsleistung
     Anforderungen                                                                                 maximal
                                                                                                 erreichbare
                                           Der Prüfling                                           Punktzahl

 1   strukturiert seinen Text kohärent, schlüssig, stringent und gedanklich klar:                    6
     • angemessene Gewichtung der Teilaufgaben in der Durchführung,
     • gegliederte und angemessen gewichtete Anlage der Arbeit,
     • schlüssige Verbindung der einzelnen Arbeitsschritte,
     • schlüssige gedankliche Verknüpfung von Sätzen.
 2   formuliert unter Beachtung der fachsprachlichen und fachmethodischen Anforderungen:             6
     • Trennung von Handlungs- und Metaebene,
     • begründeter Bezug von beschreibenden, deutenden und wertenden Aussagen,
     • Verwendung von Fachtermini in sinnvollem Zusammenhang,
     • Beachtung der Tempora,
     • korrekte Redewiedergabe (Modalität).
 3   belegt Aussagen durch angemessenes und korrektes Zitieren:                                      3
     • sinnvoller Gebrauch von vollständigen oder gekürzten Zitaten in begründender
        Funktion.
 4   drückt sich allgemeinsprachlich präzise, stilistisch sicher und begrifflich differenziert       5
     aus:
     • sachlich-distanzierte Schreibweise,
     • Schriftsprachlichkeit,
     • begrifflich abstrakte Ausdrucksfähigkeit.
 5   formuliert lexikalisch und syntaktisch sicher, variabel und komplex (und zugleich klar).        5
 6   schreibt sprachlich richtig.                                                                    3

                             Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
Ministerium für Schule und Bildung NRW                                                           D GK HT 2
                                                                                                  Seite 6 von 8

7.      Bewertungsbogen zur Prüfungsarbeit
Name des Prüflings: ____________________________________ Kursbezeichnung: ____________

Schule: _____________________________________________

Teilaufgabe 1
        Anforderungen                                                                 Lösungsqualität
                                                                          maximal
                                Der Prüfling                            erreichbare
                                                                                      EK2       ZK       DK
                                                                         Punktzahl

    1   formuliert eine aufgabenbezogene …                                  2
    2   benennt das Thema …                                                 3
    3   beschreibt die Sprechsituation …                                    2
    4   erschließt den Inhalt …                                             6
    5   beschreibt den formalen …                                           5
    6   untersucht das Gedicht …                                            6
    7   untersucht das Gedicht …                                            9
    8   deutet das Gedicht …                                                6
    9   erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium: (4)
        ……………………………………………………………..
        ……………………………………………………………..
        Summe 1. Teilaufgabe                                               39

Teilaufgabe 2
        Anforderungen                                                                 Lösungsqualität
                                                                          maximal
                                Der Prüfling                            erreichbare
                                                                                       EK       ZK       DK
                                                                         Punktzahl

    1   formuliert eine aufgabenbezogene …                                  1
    2   stellt das Thema …                                                  2
    3   erschließt den Inhalt …                                             4
    4   beschreibt die formale …                                            3
    5   untersucht das Gedicht …                                            5
    6   vergleicht beide Gedichte …                                         4
    7   vergleicht beide Gedichte …                                         9
    8   formuliert eine reflektierte …                                      5
    9   erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium: (6)
        ……………………………………………………………..
        ……………………………………………………………..
        Summe 2. Teilaufgabe                                               33
        Summe der 1. und 2. Teilaufgabe                                    72

2    EK = Erstkorrektur; ZK = Zweitkorrektur; DK = Drittkorrektur

                                   Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
Ministerium für Schule und Bildung NRW                                                       D GK HT 2
                                                                                              Seite 7 von 8

Darstellungsleistung
      Anforderungen                                                               Lösungsqualität
                                                                      maximal
                             Der Prüfling                           erreichbare
                                                                                   EK       ZK       DK
                                                                     Punktzahl

  1   strukturiert seinen Text …                                        6
  2   formuliert unter Beachtung …                                      6
  3   belegt Aussagen durch …                                           3
  4   drückt sich allgemeinsprachlich …                                 5
  5   formuliert lexikalisch und …                                      5
  6   schreibt sprachlich richtig.                                      3
      Summe Darstellungsleistung                                       28

      Summe insgesamt (inhaltliche und Darstellungsleistung)          100
      aus der Punktsumme resultierende Note gemäß nach-
      folgender Tabelle
      Note ggf. unter Absenkung um bis zu zwei Notenpunkte
      gemäß § 13 Abs. 2 APO-GOSt

      Paraphe

Berechnung der Endnote nach Anlage 4 der Abiturverfügung auf der Grundlage von § 34 APO-GOSt

Die Klausur wird abschließend mit der Note ________________________ (____ Punkte) bewertet.

Unterschrift, Datum:

                               Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
Ministerium für Schule und Bildung NRW                                          D GK HT 2
                                                                                 Seite 8 von 8

Grundsätze für die Bewertung (Notenfindung)
Für die Zuordnung der Notenstufen zu den Punktzahlen ist folgende Tabelle zu verwenden:

 Note                          Punkte            Erreichte Punktzahl

 sehr gut plus                   15                     100 – 95

 sehr gut                        14                      94 – 90

 sehr gut minus                  13                      89 – 85

 gut plus                        12                      84 – 80

 gut                             11                      79 – 75

 gut minus                       10                      74 – 70

 befriedigend plus                9                      69 – 65

 befriedigend                     8                      64 – 60

 befriedigend minus               7                      59 – 55

 ausreichend plus                 6                      54 – 50

 ausreichend                      5                      49 – 45

 ausreichend minus                4                      44 – 40

 mangelhaft plus                  3                      39 – 33

 mangelhaft                       2                      32 – 27

 mangelhaft minus                 1                      26 – 20

 ungenügend                       0                      19 – 0

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Name: _______________________

                         Abiturprüfung 2020
                            Deutsch, Grundkurs

Aufgabenstellung:

1. Analysieren Sie den Beginn des Familienromans „Es geht uns gut“ von Arno Geiger.
   Berücksichtigen Sie dabei, wie das Haus und Philipps Umgang mit ihm dargestellt
   werden und welche ersten Rückschlüsse über Eigenschaften und Einstellungen dieser
   Romanfigur sich daraus ziehen lassen.                                  (36 Punkte)

2. Vergleichen Sie die beiden Figuren „Stein“ aus Judith Hermanns Erzählung „Sommer-
   haus, später“ und „Philipp“ aus Arno Geigers Roman „Es geht uns gut“ im Hinblick auf
   ihren Umgang mit ihren Häusern und ihre darin sich zeigenden Einstellungen. Erläutern
   Sie, welche Bedeutung das Haus in Hermanns Erzählung hat und welche in Geigers
   Romananfang anklingt.                                                     (36 Punkte)

Materialgrundlage:

• Arno Geiger: Es geht uns gut. Roman. 10. Auflage. München: dtv 2018, S. 7 – 10

Zugelassene Hilfsmittel:

• Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung
• Unkommentierte Ausgabe von Judith Hermann „Sommerhaus, später“
  (liegt im Prüfungsraum zur Einsichtnahme vor)

                         Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
D GK HT 3
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     Name: _______________________

     Arno Geiger
     Es geht uns gut (2005; Romananfang)
     Montag, 16. April 2001

     Er hat nie darüber nachgedacht, was es heißt, dass die Toten uns überdauern. Kurz legt er den
     Kopf in den Nacken. Während er die Augen noch geschlossen hat, sieht er sich wieder an der
     klemmenden Dachbodentür auf das dumpf durch das Holz dringende Fiepen horchen. Schon
 5   bei seiner Ankunft am Samstag war ihm aufgefallen, dass am Fenster unter dem westseiti-
     gen Giebel der Glaseinsatz fehlt. Dort fliegen regelmäßig Tauben aus und ein. Nach einigem
     Zögern warf er sich mit der Schulter gegen die Dachbodentür, sie gab unter den Stößen jedes
     Mal ein paar Zentimeter nach. Gleichzeitig wurde das Flattern und Fiepen dahinter lauter.
     Nach einem kurzen und grellen Aufkreischen der Angel, das im Dachboden ein wildes Gestö-
10   ber auslöste, stand die Tür so weit offen, dass Philipp den Kopf ein Stück durch den Spalt
     stecken konnte. Obwohl das Licht nicht das allerbeste war, erfasste er mit dem ersten Blick
     die ganze Spannweite des Horrors. Dutzende Tauben, die sich hier eingenistet und alles knö-
     chel- und knietief mit Dreck überzogen hatten, Schicht auf Schicht wie Zins und Zinseszins,
     Kot, Knochen, Maden, Mäuse, Parasiten, Krankheitserreger (Tbc? Salmonellen?). Er zog den
15   Kopf sofort wieder zurück, die Tür krachend hinterher, sich mehrmals vergewissernd, dass
     die Verriegelung fest eingeklinkt war.

     Johanna kommt vom Fernsehzentrum‚ das schiffartig am nahen Küniglberg1 liegt, oberhalb
     des Hietzinger Friedhofs2 und der streng durchdachten Gartenanlage von Schloss Schönbrunn3.
     Sie lehnt das Waffenrad4, das Philipp ihr vor Jahren überlassen hat, gegen den am Morgen
20   gelieferten Abfallcontainer.
        – Ich habe Frühstück mitgebracht, sagt sie: Aber zuerst bekomme ich eine Führung durchs
     Haus. Na los, beweg dich.
        Er weiß, das ist nicht nur eine Ermahnung für den Moment, sondern auch eine Aufforde-
     rung in allgemeiner Sache.
25      Philipp sitzt auf der Vortreppe der Villa, die er von seiner im Winter verstorbenen Groß-
     mutter geerbt hat. Er mustert Johanna aus schmal gemachten Augen, ehe er in seine Schuhe
     schlüpft. Mit Daumen und Zeigefinger schnippt er beiläufig (demonstrativ?) seine halb herun-
     tergerauchte Zigarette in den noch leeren Container und sagt:
        – Bis morgen ist er voll.
     1   Küniglberg: Anhöhe, auf welcher der Hauptsitz des ORF (Österreichischer Rundfunk) angesiedelt ist
     2   Hietzinger Friedhof: eine im späten 18. Jahrhundert geweihte, heute zu Wien gehörende Friedhofsanlage, in der sich die
         Gräber vieler Prominenter befinden
     3   Schloss Schönbrunn: bis 1918 Sommerresidenz und zeitweise auch Regierungssitz der österreichischen Kaiser
     4   Waffenrad: 1896 eingetragener Markenname für ein einfaches und solides Fahrrad, das von der Österreichischen Waffen-
         fabrikgesellschaft bis 1987 hergestellt wurde und heute Sammlerwert besitzt. Das Waffenrad wurde nicht für den militäri-
         schen Gebrauch produziert.

                                         Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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     Name: _______________________

30      Dann stemmt er sich hoch und tritt durch die offen stehende Tür in den Flur, vom Flur ins
     Stiegenhaus5, das im Verhältnis zu dem, was als herkömmlich gelten kann, mit einer viel zu
     breiten Treppe ausgestattet ist. Johanna streicht mehrmals mit der flachen Hand über die alte,
     aus einer porösen Legierung gegossene Kanonenkugel, die sich auf dem Treppengeländer am
     unteren Ende des Handlaufs buckelt.
35      – Woher kommt die?, will Johanna wissen.
        – Da bin ich überfragt, sagt Philipp.
        – Das gibt’s doch nicht, dass die Großeltern eine Kanonenkugel am Treppengeländer
     haben, und kein Schwein weiß woher.
        – Wenn allgemein nicht viel geredet wird –.
40      Johanna mustert ihn:
        – Du mit deinem verfluchten Desinteresse.
        Philipp wendet sich ab und geht nach links zu einer der hohen Flügeltüren, die er öffnet.
     Er tritt ins Wohnzimmer. Johanna hinter ihm rümpft in der Stickluft des halbdunklen Raumes
     die Nase. Um dem Zimmer einen freundlicheren Anschein zu geben, stößt Philipp an zwei
45   Fenstern die Läden auf. Ihm ist, als würden sich die Möbel in der abrupten Helligkeit ein
     wenig bauschen. Johanna geht auf die Pendeluhr zu, die über dem Schreibtisch hängt. Die
     Zeiger stehen auf zwanzig vor sieben. Sie lauscht vergeblich auf ein Ticken und fragt dann,
     ob die Uhr noch funktioniert.
        – Die Antwort wird dich nicht überraschen. Keine Ahnung.
50      Er kann auch den Platz für den Schlüssel zum Aufziehen nicht nennen, obwohl anzuneh-
     men ist, dass ihm der Aufbewahrungsort einfallen würde, wenn er lange genug darüber nach-
     dächte. Er und seine Schwester Sissi, der aus dem Erbe zwei Lebensversicherungen und ein
     Anteil an einer niederösterreichischen Zuckerfabrik zugefallen sind, haben in den siebziger
     Jahren zwei Monate hier verbracht, im Sommer nach dem Tod der Mutter, als es sich nicht
55   anders machen ließ. Damals war das Ministerium des Großvaters längst in anderen Händen
     und der Großvater tagelang mit Wichtigtuereien unterwegs, ein Graukopf, der jeden Samstag-
     abend seine Uhren aufzog und dieses Ritual als Kunststück vorführte, dem die Enkel beiwoh-
     nen durften. Grad so, als sei es in der Macht des alten Mannes gestanden, der Zeit beim Rin-
     nen behilflich zu sein oder sie daran zu hindern.

     Anmerkung zum Autor:
     Arno Geiger, geboren 1968 in Bregenz, lebt in Wien. Der Familienroman „Es geht uns gut“ wurde 2005 mit
     dem seinerzeit erstmalig vergebenen Preis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
     Anmerkungen zum Textauszug:
     Bei dem Text handelt es sich um den Anfang des 2005 erschienenen Familienromans „Es geht uns gut“; Philipp
     ist die Hauptfigur des Romans, Johanna seine Freundin.

     5   Stiegenhaus: österr. für Treppenhaus

                                        Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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                                Unterlagen für die Lehrkraft
                                     Abiturprüfung 2020
                                        Deutsch, Grundkurs

1.       Aufgabenart
Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

2.       Aufgabenstellung1
    1. Analysieren Sie den Beginn des Familienromans „Es geht uns gut“ von Arno Geiger.
       Berücksichtigen Sie dabei, wie das Haus und Philipps Umgang mit ihm dargestellt
       werden und welche ersten Rückschlüsse über Eigenschaften und Einstellungen dieser
       Romanfigur sich daraus ziehen lassen.                                  (36 Punkte)

    2. Vergleichen Sie die beiden Figuren „Stein“ aus Judith Hermanns Erzählung „Sommer-
       haus, später“ und „Philipp“ aus Arno Geigers Roman „Es geht uns gut“ im Hinblick auf
       ihren Umgang mit ihren Häusern und ihre darin sich zeigenden Einstellungen. Erläutern
       Sie, welche Bedeutung das Haus in Hermanns Erzählung hat und welche in Geigers
       Romananfang anklingt.                                                     (36 Punkte)

3.       Materialgrundlage
• Arno Geiger: Es geht uns gut. Roman. 10. Auflage. München: dtv 2018, S. 7 – 10

4.       Bezüge zum Kernlehrplan und zu den Vorgaben 2020
Die Aufgaben weisen vielfältige Bezüge zu den Kompetenzerwartungen und Inhaltsfeldern des
Kernlehrplans bzw. zu den in den Vorgaben ausgewiesenen Fokussierungen auf. Im Folgenden
wird auf Bezüge von zentraler Bedeutung hingewiesen.

    1. Inhaltsfelder und inhaltliche Schwerpunkte
      Inhaltsfeld Texte
      • Strukturell unterschiedliche Erzähltexte aus unterschiedlichen historischen Kontexten
         – Sommerhaus, später (J. Hermann, Titelerzählung des gleichnamigen Erzählbands)

    2. Medien/Materialien
       • entfällt

1     Die Aufgabenstellung deckt inhaltlich alle drei Anforderungsbereiche ab.

                                     Abiturprüfung 2020 – Nur für den Dienstgebrauch!
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