Abstract zum Call for Replies - Debatte

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Abstract zum Call for Replies
Thema: Zur Politizität der Erwachsenenbildungswissenschaft

für Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung 2020 · Jg. 3 · Heft 2

(Erwachsenen-)Bildung                                 soziale Umgangsformen und reale politische
in Zeiten rechtsgerichteter                           Entscheidungen geschaffen werden.
Metapolitik – Für eine Re-                            Im Kontext solcher metapolitischen Strate-
Politisierung der Erziehungs-                         gien müssen auch jüngere Bemühungen rech-
wissenschaft und Erwachse-                            ter Akteur*innen gesehen werden, im Feld der
nenbildungswissenschaft                               (Erwachsenen-)Bildung bestimmte Begriffe
Severin Sales Rödel                                   im Diskurs zu positionieren und politisch be-
                                                      gründete Denkfiguren pädagogisch auszule-
Wenn selbst konservative Politiker von einer          gen.1 Bildung und Bildungspraxis sind damit
„Gefährdungslage durch Rechtsextremis-                zu einem Resonanzraum rechter Ideologie
mus, Antisemitismus und Rassismus […] in              geworden, mit dem Ziel, metapolitisch Ent-
Deutschland“ (Seehofer, Süddeutsche Zei-              scheidungen des öffentlichen (und nichtöf-
tung, 21.02.2020) sprechen, wird offiziell,           fentlichen) Bildungssektors zu beeinflussen.
was schon seit längerem in Öffentlichkeit und         Diese Entwicklung stellt eine neuartige
Wissenschaft diskutiert wurde, in Plenarsälen         Politisierung des Feldes der Bildung dar:
sichtbar und im Alltag spürbar war: Rechtes           Anders als z. B. die breit kritisierte (neolibe-
Denken ist (wieder) salonfähig und führt in           rale) Politisierung der Erwachsenenbildung
Extremfällen zu tödlichen Gewalttaten. Dabei          im Zuge des Lebenslangen Lernens (Faul-
wird meist das Phänomen des Rechtspopulis-            stich & Zeuner 2015), die Pädagogisierung
mus für ein Erstarken rechtsextremer Tenden-          als Nexus von Bildung und Politik (Höhne
zen verantwortlich gemacht (Séville 2019) und         2004) oder die politische Indienstnahme
angenommen, dass sich Rechtspopulist*in-              der quantitativen Bildungsforschung (Bell-
nen einer Strategie der Metapolitik bedienen,         mann 2015) ist die Politisierung im Kontext
um zu mobilisieren (Müller 2017): Durch die           rechter Metapolitik nicht Nebenprodukt
Schaffung hegemonialer Figuren und Erzäh-             einer marktorientierten Wissenschaft oder
lungen (Laclau & Mouffe 2012) – wie etwa die          spätmoderner       Subjektivierungsprozesse,
des ‚großen Bevölkerungsaustauschs‘ – sollen          sondern gezieltes, antidemokratisches Pro-
politische Räume diskursiv geprägt und so Dis-        gramm. Hinzu kommt, dass die Politisie-
positionen für öffentliche Meinungsbildung,           rung nicht beiläufig erfolgt, sondern mit
1 Kritische Aufarbeitungen finden sich für den Bereich der Erwachsenen- und Jugendbildung (Patzelt 2017),
für die völkische Umdeutung pädagogischer Grundbegriffe (Andresen 2018 und Baader 2020) sowie die
Kommunikation rechter Erziehungsansätze (Rödel 2020).

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aggressiver Abwertung des jeweiligen bil-                Der Beitrag möchte zunächst drei Einsätze ei-
dungstheoretischen und -praktischen Sta-                 ner solchen Re-Politisierung entlang erkennt-
tus quo einhergeht (Baader 2020).                        nispolitischer Überlegungen aus Perspektive
Dem steht eine weitgehend entpolitisierte                der Allgemeinen Erziehungswissenschaft
Erwachsenenbildungswissenschaft (Zeuner                  (AEW) vorschlagen und diese dann in einen
2018)2 gegenüber, der erprobte Antworten                 produktiven Dialog mit den spezifischen
auf diese aktuellen Entwicklungen fehlen. So             Voraussetzungen erwachsenenpädagogischer
ist mit klassischen Ansätzen der Kritik (Hufer           Praxis und Theoriebildung bringen:
2018; Klingovsky 2017; Pongratz 2005) nicht              Vor dem Hintergrund des metapolitischen
zu dekonstruieren, was aus erwachsenenpäd-               Shifts müsste der Raum der Politik und das
agogischer Perspektive an rechten Positionen             Konzept der Öffentlichkeit (Bellmann 2012)
zum Thema Bildung haltlos scheint. Denn                  neu justiert und – im Sinne eines neuen Posi-
meist baut (erwachsenen-)pädagogische Kritik             tivismusstreits – die Rolle von (Erziehungs-)
auf Rationalität, Diskursfähigkeit und politi-           Wissenschaft in dieser Öffentlichkeit reflektiert
sche Mündigkeit und damit auf Einsätze, die              und kommuniziert werden. Die Erziehungs-
ins Leere laufen, da sie von Rechtspopulist*in-          wissenschaft kann sich dann nicht auf eine be-
nen nicht als gemeinsamer Rahmen anerkannt               ratende Funktion oder therapeutische Bearbei-
werden (Bünger 2017, S. 35). Zudem wider-                tung von gesellschaftlichen Problemen – z. B.
sprechen metapolitische Diskursstrategien                durch die Konzeption einer ‚antirassistischen
jeder Kommunikationsgewohnheit der Wis-                  Pädagogik‘ – zurückziehen. Ihrer Rolle im öf-
senschaft, da sie Nachvollziehbarkeit durch              fentlichen Diskurs gerecht zu werden, hieße
Glaubwürdigkeit ersetzen und keinen Raum                 vielmehr, aktiv Strategien der ‚Verarbeitung‘
für Auseinandersetzungen, Selbstkritik oder              rechter Versuche, hegemoniale Erzählungen
eine „Beobachterperspektive zweiter Ord-                 über Bildung zu etablieren, zu entwickeln.
nung“ kennen (Schäfer 2019, S. 239/240).                 Zudem ist erhöhte Sensibilität für den Mo-
Fragt man nun nach Strategien einer gezielten            dus der Kritik geboten, die nicht in o. g. ‚alte‘
Re-Politisierung der Erwachsenenbildungs-                Muster zurückfallen darf und im Sinne der
wissenschaft, um diesen Entwicklungen die                Pluralität und Agonalität spätmoderner Wer-
Stirn zu bieten, zeigt sich: Weder verfügt sie           teordnungen entsprechend neu gedacht wer-
aktuell über das argumentative Grundgerüst               den muss. Einen Ansatzpunkt bieten bspw.
– einen allgemeingültigen Rahmen der Kri-                Konzepte der immanenten Kritik (Jaeggi
tik –, noch über die richtige Sprache – eine             2014) oder der Gegenerzählung (Schuff und
Kommunikationsform, die metapolitischen                  Seel 2016).
Strategien adäquat und öffentlichkeitswirk-              Eine solche Re-Politisierung (im Sinne einer
sam begegnet.                                            neuen Form der Gestaltung von Öffentlich-

2 Bellmann (2015) stellt diese Ent-Politisierung generell als Tendenz in den Erziehungswissenschaften fest.
Im Folgenden steht die Erwachsenenbildungswissenschaft als Teildisziplin im Fokus, die Diagnose der Ent-
Politisierung und der mangelnden Strategien der Re-Politisierung trifft ebenso auf andere Teildisziplinen
(hier z. B. die Allgemeine Erziehungswissenschaft) zu.

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keit und der Neujustierung kritischer Einsät-    These(n) der Politisierung des Feldes der Er-
ze) kann nur gelingen, wenn Grundbegriffe        wachsenenbildung durch rechte Akteur*in-
und -konzepte auf ihre Politizität (Bünger       nen und damit auch die Notwendigkeit einer
2013) hin befragt werden: Begriffe wie Bil-      Re-Politisierung erwachsenenpädagogischen
dung, Lernen, Mündigkeit, Teilhabe, Wissen,      Forschens (und Handelns?) zur Diskussion
Biografie, Generation etc. müssen in ihren       gestellt werden; disziplinpolitisch und öffent-
anthropologischen, sozialtheoretischen und       lichkeitstheoretisch insofern als nach einer
genealogischen Strukturen aufgeschlüsselt        produktiven Zusammenführung von Pers-
werden, um selbstkritisch zu ermitteln, wo       pektiven der AEW und der Erwachsenenbil-
und warum es zu einer Umdeutung von Be-          dungswissenschaft und gemeinsamen Posi-
griffen durch rechte politische Akteure kom-     tionierungen im Angesicht eines drängenden
men kann.                                        gesellschaftlichen Problems gefragt wird.
Was hier aus Perspektive der AEW vorgeschla-
gen wird, ist für die Erwachsenenbildungswis-
senschaft komplexer gelagert: Wo die AEW         Literatur
eine an Reflexionstheorien orientierte Arbeit
an Grundbegriffen ist, nicht auf einen spe-      Andresen, S. (2018). Rechtspopulistische
ziellen Gegenstandsbereich zielt (Thompson         Narrative über Kindheit, Familie und Er-
2020) und daher in ihrer Relevanz für die Pra-     ziehung Zwischenergebnisse einer ‚wil-
xis beschränkt bleiben muss, ist die Erwach-       den‘ Recherche. Zeitschrift für Pädagogik,
senenbildungswissenschaft per se in verschie-      64 (6), 769–787.
dene praktisch-politische Zusammenhänge          Baader, M. (2020). Neue Rechte – „Um-
eingebettet (Holzer 2018) und muss zwischen        erziehung“, „Genderideologie“ und „Früh-
programmatischen Ansätzen und deren kri-           sexualisierung“ – Kampfbegriffe in einem
tisch-analytischer Bearbeitung (Wittpoth           neuen Kulturkampf. Erziehungswissen-
2013) vermitteln. Ebenso fordert die Rück-         schaftliche Themen im Fokus von Populis-
bindung an konkrete Handlungsbereiche              mus und Neuer Rechter. In U. Binder und
(sozial-)kritische Positionierungen, die auch      J. Oelkers (Hrsg.), Das Ende der politischen
praktisch nicht folgenlos bleiben (können)         Ordnungsvorstellungen des 20. Jahrhunderts.
(Holzer 2018).                                     Erziehungswissenschaftliche Beobachtungen
An diesen spezifischen Anforderungen der           (S. 129–154). Wiesbaden: Springer VS.
Erwachsenenbildung(-swissenschaft) müss-         Bellmann, J. (2012). Öffentlichkeit und uni-
ten sich die hier vorgeschlagenen Einsätze der     versitäre Bildung. Überlegungen zu einer
AEW messen, woraus umgekehrt produktive            veränderten Verhältnisbestimmung. In
Irritationen für eine Theoriebildung in Bezug      C. Aubry, M. Geiss, V. Magyar-Haas &
auf Erwachsenenbildung und Rechtspopulis-          D. Miller (Hrsg.), Positionierungen. Zum
mus erwachsen könnten. Der Beitrag soll so         Verhältnis von Wissenschaft, Pädagogik
als Diskussionsangebot und Suche nach Sy-          und Politik (S. 140–158). Weinheim, Basel:
nergien fungieren: inhaltlich insofern als die     Beltz Juventa.

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Bellmann, J. (2015). Symptome der gleichzei-      Laclau, E. & Mouffe, C. (2012). Hegemonie
  tigen Politisierung und Entpolitisierung der      und radikale Demokratie. Zur Dekonstruk-
  Erziehungswissenschaft im Kontext daten-          tion des Marxismus. Wien: Passagen-Verl.
  getriebener Steuerung. Erziehungswissen-        Müller, J. (2017). Was ist Populismus? Ein
  schaft, 26 (50), 45–54.                           Essay. Berlin: Suhrkamp.
Bünger, C. (2013). Die offene Frage der Mün-      Patzelt, W. (2017). Rechte Bewegungen und
  digkeit. Studien zur Politizität der Bildung.     ihre Bildungsbemühungen. „Bildung“ und
  Paderborn: Schöningh.                             „Rechts“. DIE Zeitschrift für Erwachsenen-
Bünger, C. (2017). Bildungstheorie in „postfak-     bildung, (2), 39–41.
  tischen Zeiten“? Perspektiven im Widerstreit    Pongratz, L. (2005). Kritische Erwachsenen-
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  dagogik (S. 33–48). Paderborn: Schöningh.         Literatur- und Forschungsreport Weiterbil-
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  wachsenenbildung: Die Rolle der Wissen-           mung, Pädagogik und Politik in einem
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  J. Oppermann (Hrsg.), Wo steht die außer-         Erzählungen und Gegenerzählungen. Ter-
  schulische politische Jugend- und Erwachse-       ror und Krieg im Kino des 21. Jahrhunderts
  nenbildung? (S. 14–31). Berlin: Wochen-           (S. 17–47). Frankfurt, New York: Campus
  schau Verlag.                                     Verlag.
Jaeggi, R. (2014). Kritik von Lebensformen.       Séville, A. (2019). Vom Sagbaren zum Mach-
  Berlin: Suhrkamp.                                 baren? Rechtspopulistische Sprache und
Klingovsky, U. (2017). erwachsenenbildung           Gewalt. Aus Politik und Zeitgeschichte,
  macht kritik. Weiterbildung, 6, 28–31.            69 (49/50), 33–38.

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       Beiträge zur Erwachsenenbildung | Juli 2020
Thompson, C. (2020). Allgemeine Erzie-
  hungswissenschaft. Eine Einführung. Stutt-
  gart: Kohlhammer.
Wittpoth, J. (2013). Einführung in die Er-
  wachsenenbildung. Opladen, Toronto:
  Budrich.
Zeuner, C. (2018). Die verloren gegangene
  politische Tradition der Erwachsenenbil-
  dung. In A. Grotlüschen, S. Schmidt-Lauff,
  S. Schreiber-Barsch & C. Zeuner (Hrsg.),
  Das Politische in der Erwachsenenbildung
  (S. 29–31). Berlin: Wochenschau Verlag.

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