Adivasi-Rundbrief 66 - Adivasi Koordination
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Adivasi-Rundbrief 66 - Solidarität mit Indiens Ureinwohnern - Hg.: Adivasi-Koordination in Deutschland e.V. Jugendheimstr.10, 34132 Kassel Dezember 2018 Nr. 66/1: Vielfalt – wie lange noch? Zum „Internationalen Jahr der indigenen Sprachen 2019“ Die Manda sind eine Untergruppe der Khond/Dondh in Odisha 2007 hat die UN-Generalversammlung die „Er- klärung über die Rechte der indigenen Völker“ verabschiedet. Hierin wird ihnen Freiheit, Gleichheit und das Recht auf Selbstbestim- mung zuerkannt. Als ein Aspekt kultureller Autonomie wird in Artikel 13 gezielt das Recht auf die eigene Sprache genannt: Indigene Gruppen haben das Recht, ihre eigene Sprache wiederzubeleben, sie zu nutzen, entwickeln und an die nachkommenden Generationen weiter- zugeben, zusammen mit ihren Geschichten, Die indigene Bevölkerung zählt weltweit etwa oralen Traditionen, Philosophien, Schrift- 370 Millionen Menschen. Die UN definiert als systemen und Literaturen. Nun hat die UN- indigen solche Gemeinschaften, die als ur- Generalversammlung auf eine Empfehlung des sprüngliche Bewohner*innen eines später kolo- bei der UN angesiedelten „Permanent Forum nialisierten oder angeeigneten Territoriums gel- on Indigenous Issues“ das Jahr 2019 zum „In- ten, nicht zur Mehrheitsgesellschaft zählen und ternationalen Jahr der indigenen Sprachen“ sich von dieser abgrenzen, sowie ihre kulturelle ausgerufen. Die offizielle Website der UN zu Differenz hinsichtlich Sprache, Sozialorganisa- diesem Ereignis (https://en.iyil2019.org/#) tion, Wirtschaftsweise, Religion, Recht etc. be- spricht davon, dass weltweit etwa 7.000 Spra- wahren. Weiterhin als zentral für indigene chen gesprochen werden, von denen 2.680 (38 Gruppen wird die Erfahrung von Un- Prozent) bedroht sind. Diese seien in der terdrückung, Marginalisierung, Enteignung, Hauptsache Sprachen indigener Gruppen, und Ausgrenzung und Diskriminierung genannt durch ihr Verschwinden befänden sich auch (UN-Working Definition of Indigenous Peoples). deren Kulturen und Wissenssysteme in Gefahr.
Adivasi-Rundbrief 66 -B- Dezember 2018 Sprachen im Vielvölkerstaat Indien Zur Situation der indigenen Bevölkerung in In- Der Versuch einer Kartierung der Sprachen dien und ihrer Sprachen zeigt ein sehr komplexes und kompliziertes Die Selbstbezeichnung indigener Gruppen als Bild. Die folgenden Zahlen und Informationen Adivasi, ursprüngliche Einwohner*innen, wird zu den verschiedenen Sprachen basieren auf von der indischen Regierung bis heute nicht dem Census of India 2011: akzeptiert. Allerdings erwähnt die indische Ver- (Paper 1 of 2018, Language, New Delhi 2018; fassung von 1950 die sogenannten „Scheduled http://censusindia.gov.in/2011Census/C-16_25062018_NEW.pdf). Tribes“ (registrierte/ anerkannte Stämme) und Gezählt wurden zunächst 19.569 Mutterspra- sieht für diese umfangreiche Schutzvorschriften chen, die nach genauerer linguistischer Unter- und Sonderrechte vor, darunter auch das Recht suchung auf 1.369 reduziert wurden. Von die- auf eigene Sprache. Art. 29(1) der indischen sen erhielten nur diejenigen den Status von Verfassung besagt: “Any section of the citizens distinkten Sprachen, die mehr als 10.000 Spre- residing in the territory of India or any part cher*innen aufweisen. Am Ende wurde für Indi- thereof having a distinct language, script or cul- en eine Zahl von 121 Sprachen festgehalten. ture of its own shall have the right to conserve Die Zahl der offiziellen, im 8. Verfassungszu- the same.” satz anerkannten („scheduled“) Sprachen ist wiederum eine andere. Indien hat demnach Die Alphabetisierungsrate der „Scheduled aktuell 22 Hauptsprachen: von Assamesisch bis Tribes“ lag im Jahr 2011 bei 58,95 Prozent Urdu, darunter Englisch und seit 2004 auch (ganz Indien 74,04 Prozent). Nach der letzten zwei indigene Sprachen: Bodo und Santali. Von Volkszählung im Jahr 2011 leben in Indien ca. diesen 22 Hauptsprachen existieren zudem 123 104,3 Millionen Angehörige der „Scheduled Dialekte, die bei der Befragung als Mutterspra- Tribes“, das sind etwa 8,6 Prozent der Gesamt- che angeben worden waren. bevölkerung. Dies entspricht mehr als einem Daneben verbleiben 99 nicht im 8. Verfas- Viertel (!) der weltweiten indigenen Bevöl- sungs-Zusatz anerkannte („non-scheduled“) kerung. Die Bundesstaaten mit den relativ größ- Sprachen – von Adi bis Zou. Auch von diesen ten Anteilen von Adivasi-Bevölkerung sind 99 Sprachen gibt es insgesamt 147 Dialekte. Rajasthan und Gujarat im Westen, Maha- Diese sind zum großen Teil die Sprachen der rashtra, Madhya Pradesh und Chhattisgarh in verschiedenen Gruppen von Stammesbevölke- der Mitte, Jharkhand, West-Bengalen, Odisha rung (Scheduled Tribes / Adivasi). und Telangana/Andhra Pradesh im Osten und Die Sprachen Indiens fallen in vier linguistische Südosten. In absoluten Zahlen kleinere indige- Hauptgruppen oder Sprachfamilien: ne Populationen leben verstreut in den übrigen Indo-Europäisch mit ca. 945 Mill. Spre- Teilen Indiens, vor allem aber im Nordosten, wo cher*innen (dazu gehören Sanskrit und alle da- sie teilweise über 90 Prozent der Ge- von abstammenden Sprachen, auch einige Adi- samtbevölkerung in den flächenmäßig kleinen vasi-Sprachen in Nord- und West-Indien sowie Bundesstaaten ausmachen. Englisch). Dravidisch mit ca. 238 Mill. Sprecher*innen (da- Die Adivasis in Indien sind überwiegend mehr- zu gehören neben den großen vier Sprachen in sprachig: Neben ihrer Stammessprache (Mut- Süd-Indien auch die Adivasi-Sprachen Kurukh, tersprache) sprechen sie vielfach auch die Gondi und Kondh mit ihren jeweils regionalen Sprache oder den Dialekt des Nachbarstam- Ausprägungen). mes und die jeweilige Verkehrssprache der Re- Austro-Asiatisch mit ca. 13,5 Mill. Sprecher*in- gion oder eine Mischform der Sprachen, wie nen (darunter fallen 14 Adivasi-Sprachen mit zum Beispiel in der Region Jharkhand die ihren jeweils regionalen Ausprägungen, am be- Sprache Sadri. In neuerer Zeit hat das – aus kanntesten Ho, Kharia, Mundari und Santali). der Notwendigkeit zu überleben oder aus eige- Tibeto-Burmesisch mit ca. 1,2 Mill. Sprecher*in- nem Mobilitätsstreben – zum Teil zum Verlust nen (das sind über 60 verschiedene Sprachen, der indigenen Muttersprache geführt. die hauptsächlich in den Bergregionen des öst- lichen Himalaya und im nordöstlichen Indien gesprochen werden).
Adivasi-Rundbrief 66 -C- Dezember 2018 Der Tod der Muttersprache Da – im Mund von Mutter selbst – Wurde die Muttersprache eingesperrt. Und die Kinder Wurden größer Und forderten immerzu ihre Freiheit. Die Muttersprache starb nicht von selbst: Man hat sie umgebracht. Doch das konnte Mutter nie begreifen. Für die Hoffung der Kinder Auf Essen und mehr Tat sie alles, Biss selbst die Zähne zusammen, Und so, träumend von nur ein paar Bissen, Wurde die Muttersprache zerrissen. Noch heute glaubt Mutter, Der Tod der Muttersprache Sei ihr Schicksal gewesen …. Nr. 66/2: neuer Dokumentarfilm: „Nicht den Aus dem Gedichtband „Tiefe Wurzeln“ von Jacinta Kerketta, Draupadi Staub, sondern die Blüten des Fortschritts!“ Verlag 2018 ... das erwarten Adivasi von „Entwicklung“ Indigene Gemeinschaften haben über lange „Die Medien sind heutzutage völlig im Griff der Zeit ihre Kultur mündlich auf die nächste Gene- großen Unternehmen und kümmern sich nur ration weitergegeben. Sie waren schriftlos. Dies um deren Wohlergehen. Sie sehen keinen Zu- änderte sich erst, als Nicht-Indigene mit ihnen sammenhang mit dem Leid der im Namen des in Kontakt traten und begannen, sich für ihre Fortschritts entwurzelten und vertriebenen Adi- orale Literatur und ihre Sprachen zu interessie- vasi-Bevölkerung“ (aus dem Drehbuch des Do- ren und diese aufzuzeichnen. Insbesondere in kumentarfilms „nicht den Staub...“): Die indi- der Kolonialzeit und im Zuge der christlichen schen Medien sehen sich heute immer öfter Missionierung wurden einige Adivasi-Sprachen ähnlicher Kritik aus den Reihen der Zivilgesell- und ein Teil ihrer Literaturen (Santali, Mundari) schaft ausgesetzt. Die neu erschienene, dokumentiert. Der Einfluss der im nördlichen deutsch untertitelte DVD gibt dagegen den in und östlichen Indien vorherrschenden Sprachen der Gesellschaftsordnung ganz unten stehen- Hindi, Oriya, Bengali, Assamesisch und ihrer den Adivasi eine Stimme: unterschiedlichen Schriften führt bis heute zu teils kuriosen Zuständen: So wird dieselbe San- „Wasser und Wind, die Quellen und der Wald: tali-Sprache in jeder dieser Sprachregionen in All das gehört zu uns. der Schrift der Landessprache geschrieben. Ohne diese sind wir nichts auf der Welt.“ Missionare haben dazu noch eine lateinische (Auszug aus einem von einer Adivasi- Schreibweise entwickelt und in den 1920er Jah- Bewegung in Odisha gesungenem Lied) ren hat ein gebildeter und gelehrter Santal noch eine eigene Schrift namens Ol’ Chiki erfunden, „Wenn Natur und Umwelt verloren sind, so dass Santali heute in sechs verschiedenen dann kann in der ganzen Welt niemand über- Schriften geschrieben werden kann. Doch ein in leben.“ Assam lebender Santal kann dann nicht seine Lingraj, Aktivist eigene Sprache in z.B. Oriya-Schrift lesen. In den 1960er Jahren hat ein Angehöriger der Ho Im Frühjahr 2015 organisierte die Adivasi- im Süden von Jharkhand eine eigene Schrift Koordination einen zweitägigen Workshop in namens Warang Citi erfunden, um darin die Rourkela/Odisha. Der Titel lautete „Dialog über Sprache der Ho schreiben zu können. Eine Adivasi-Erfahrungen und Perspektiven für so- Schrift namens Tolong Sili wurde in den 1990er zialen und ökonomischen Wandel“ (Bericht zu Jahren entwickelt, um Kurukh, die Sprache der dem Workshop: siehe Adivasi-Rundbrief 54, Oraons, zu schreiben. Juli 2015). Adivasi aus den Bundesstaaten Johannes Laping, Antje Linkenbach
Adivasi-Rundbrief 66 -D- Dezember 2018 Westbengalen, Jharkhand, Odisha, Chhattis- sichtserklärungen (MOUs) für verschiedene garh, Andhra Pradesh und Gujarat nahmen teil. Neu-Investitionen wurden unterzeichnet, für Die Kernaktivität bestand darin, gemeinsam deren Verwirklichung tausende Hektar Land nach anderen Bezeichnungen für „Entwicklung“ benötigt werden [...]. Obwohl die Adivasi sogar zu suchen. Für Adivasi – als Leidtragende von bei bestehender CNT- und SPT-Gesetzgebung sogenannten „Entwicklungsprojekten“ - ist die- sehr viel Land verloren haben, haben CNT und ser Begriff überwiegend negativ besetzt. Die SPT ihr Land und ihr Eigentum in einem großen Zielsetzung der Suche nach alternativen Be- Maß geschützt. Die Landesregierung hat 2017 zeichnungen bestand darin, daß die Adivasi eine Initiatitive zu Gesetzesänderungen ihre Sehnsüchte und Visionen hinsichtlich einer eingebracht, was der erklärten Politik, sich ‚im Änderung der gegenwärtigen Situation zum Namen von Entwicklung‘ mehr Adivasi-Land Ausdruck brachten. „Nicht den Staub, sondern anzueignen, entspricht. Die Adivasi waren die Blüten des Fortschritts...“ entstand als Do- weithin gegen die Gesetzesänderungen und es kumentarfilm - von den Such-Bemühungen des gab sehr starke Protestaktionen. Die Workshops ausgehend. Landesregierung gelangte zu der Auffassung, „Nicht den Staub, sondern die Blüten des Fort- daß vor allem die Christ*innen hinter diesem schritts!“ Film von Biju Toppo und Meghnath, 28 Protest stünden [in Jharkhand gibt es laut Minuten. Broschüre (24 Seiten) mit DVD, Sep- Volkszählung von 2011 rund 4,2 Prozent Chri- tember 2018. Erhältlich (Spendenerwartung: st*innen]. Entsprechend machte der Minister- 5,00 Euro) bei Johannes Laping: präsident von Jharkhand eine Vielzahl direkter sarini.jl[at]gmail.com und indirekter öffentlicher Äußerungen. Zwi- schenzeitlich hat die Gouverneurin von Jharkhand [der/die Gouverneur*in hat auf www.adivasi-koordination.de: neu gestaltete Bundesstaatsebene diesselbe Funktion inne Website ist online! wie der Präsident von Indien indienweit] die Dieses Jahr wurde die Website der Adivasi- vom Parlament beschlossenen Gesetzesän- Koordination, die seit 2005 besteht, neu gestal- derungen nicht unterzeichnet und zurückgehen tet. Bitte schauen Sie rein: Ein derart umfas- lassen. Die Landesregierung wirkt jetzt desori- sendes Informationsangebot dürfte im deutsch- entiert [in der Frage, wie es weitergehen soll]“ sprachigen Raum seinesgleichen suchen. Und (Marianus Kujur, Recent Developments in auch Feedback ist erwünscht. Bitte senden Sie Jharkhand, Manuskript 2018). Es könnte sein, Ihre Rückmeldungen an: daß die Gesetzesänderungen der Gouverneu- adivasi-koordination[at]gmx.de rin, die wie der Ministerpräsident ebenfalls der hindu-nationalistischen BJP angehört, ein zwei- tes Mal vorgelegt werden. Nr. 66/3: Jharkhand: Bemühungen der Lan- desregierung zur Einschränkung von Adi- ____________________________________ vasi-Landrechten einstweilen blockiert Adivasi-Rundbrief Nr. 66, Dezember 2018 Im Adivasi-Rundbrief 59 (März 2017) haben wir Herausgeber: Adivasi-Koordination in Deutsch- über die Bemühungen der Landesregierung von land e.V., Hans Escher, Weiherstr. 12, 35578 Jharkhand berichtet, die mehr als 100 Jahre Wetzlar, escher_hallwas[at]freenet.de; Dr. alte Landgesetzgebung zum Schutz von Adi- Theodor Rathgeber, 34132 Kassel. Spenden vasi-Land (Chotanagpur Tenancy Act, CNT) zur Deckung der Kosten sind sehr erwünscht. bzw. den seit 1949 bestehenden Santhal Par- Spendenkonto der Adivasi-Koordination bei der ganas Tenancy Act (SPT) aufzuweichen, so Evangelischen Bank, IBAN DE 60 5206 0410 daß Adivasi-Land leichter für Industrieprojekte 0004 0037 64 BIC GENODEF1EK1. Vertrieb: aufgekauft werden kann. Der Landtag von Einzelzustellung (per email) und Beilage in der Jharkhand verabschiedete die Gesetzesän- Zeitschrift SÜDASIEN. Die Veröffentlichung des derung am 23. November 2016 trotz intensiver Rundbriefes in SÜDASIEN wird gefördert durch Widerstands-Aktionen. „Die aktuelle Landesre- das Evangelische Missionswerk (EMW) Ham- gierung hat ihre starke Anhänglichkeit an die burg. Sämtliche Adivasi-Rundbriefe sind zu- Privatwirtschaft gezeigt: Hunderte von Ab- gänglich unter www.adivasi-koordination.de
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