AM URSPRUNG DER MILCHSTRASSE
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wissen aus Am Ursprung der MilchstraSSe Text: M arkus Pössel Bi l d: S. Pay n e -Wa r de naa r , K . M a l ha n / M PI fü r A s t ronom i e 64 Galaxien, wie wir sie heute kennen, blicken auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Es gab schwungvolle Kollisionen, mäch- tige Gasströme und Phasen heftiger Sternentstehung – auch in unserer Heimatgalaxie. Deren Geschichte rekonstruiert ein Team um Hans-Walter Rix am Max-Planck-Institut für Astrono- mie und betreibt damit eine Art kosmischer Archäologie. Max Planck Forschung · 1 | 2023
Physik & Astronomie Zeugen vergangener Kollisionen: In der künstlerischen Darstel- lung unserer Milchstraße sind Sternenströme zu erkennen, die in weiten Bögen aus der scheiben- förmigen Spiralgalaxie ragen und Relikte von Verschmelzungen mit anderen Galaxien darstellen. 65 Unsere Milchstraße ist beinahe so alt während der ersten Milliarde Jahre nominnen und Astronomen anhand wie das Universum und blickt auch nach dem Urknall entstanden. Ihre von Beobachtungsdaten inzwischen auf eine ähnlich turbulente Ge- Entwicklung lässt sich dabei in man- recht gut rekonstruieren. „Dabei ler- schichte zurück. Wie die meisten Ga- cher Hinsicht mit der Historie vieler nen wir nicht nur etwas über Anfang laxien existiert sie bereits seit rund 13 Städte und Staaten vergleichen. De- und Frühzeit unserer Heimatgalaxie, Milliarden Jahren, sie ist also schon tails ihrer Geschichte können Astro- sondern auch über die Entwicklung Max Planck Forschung · 1 | 2023
wissen aus ferner Galaxien, die wir nicht so gut gen und Simulationen. „Dabei haben es deren Licht in die Regenbogen beobachten können“, erklärt Hans- uns Himmelsdurchmusterungen sehr farben aufspaltet. Anhand dieser Da- Walter Rix, Direktor am Max-Planck- geholfen“, sagt Hans-Walter Rix. „Sie ten ermittelten Hans-Walter Rix und Institut für Astronomie. Sein Team haben uns dramatisch bessere und Maosheng Xiang, der ebenfalls am schreibt an einer ausführlichen Chro- umfassendere Daten geliefert, als zu- Max-Planck-Institut für Astronomie nik der Milchstraße mit. Dabei gehen vor verfügbar waren.“ Bei Durch- forscht, zunächst die Oberflächen- die Forschenden ähnlich vor, wie His- musterungen rastern Teleskope Teile temperatur, die Leuchtkraft und die torikerinnen oder Archäologen die des Nachthimmels und sammeln da- chemische Zusammensetzung von Geschichte einer Stadt rekonstruie- mit Informationen etwa über die Posi- 250 000 sogenannten Unterriesen. ren: Für einige Gebäude gibt es ein- tion und die Helligkeit von Sternen. Diese befinden sich in einer relativ deutige Baudaten. Bei anderen deuten Die Sterne der Milchstraße lassen kurzen Phase der Sternentwicklung, die Verwendung primitiverer Bauma- sich dabei naturgemäß am besten und in der sich das Alter der Sterne an- terialien oder die Merkmale älterer detailliertesten untersuchen. hand der verfügbaren Daten sehr ge- Baustile darauf hin, dass sie früher nau bestimmen lässt. Indem die For- entstanden sind. Auch der Umstand, schenden die Gaia- und Lamost-Da- dass Überreste von Gebäuden unter ten genauer betrachteten, erhielten neueren Strukturen gefunden wer- sie ein klares Bild der frühen Ent- den, gibt bedeutende Anhaltspunkte. Auf den Punkt wicklung unserer Heimatgalaxie. Im Nicht zuletzt sind räumliche Muster gebracht Alter von wenigen Milliarden Jahren wichtig: In vielen Städten gibt es eine durchlief die Milchstraße eine tur- zentrale Altstadt, die umgeben ist von Ein Team des Max-Planck-Insti- bulente Phase, denn damals ver- deutlich neueren Stadtteilen. tuts für Astronomie rekonstruiert schmolz sie mit einer anderen Gala- die frühe Geschichte der Milch- xie, genauer gesagt der Gaia-Encela- straße unter anderem anhand Nicht viel anders verhält es sich in der von Daten des Weltraumtele- dus/Sausage-Galaxie. Milchstraße und anderen Galaxien. skops Gaia, das Positionen und Zeugnis von deren Vergangenheit le- Bewegungen von Sternen Die beiden Galaxien führten enorme gen ihre Sterne ab: Auch unter diesen bestimmt sowie Informationen Gasmengen mit sich, die sich bei der gibt es einige, deren Alter die Astro- über deren Alter liefert. Verschmelzung verdichteten, sodass 66 nomie recht genau bestimmen kann. innerhalb kurzer Zeit zuhauf neue Im Alter von wenigen Milliarden Geht das nicht, lässt sich aus der Zu- Jahren vereinigte sich die Milch- Sterne entstanden. Diese sammelten sammensetzung der Sterne gewisser- straße mit der Gaia-Enceladus/ sich in einem Bereich der Galaxie an, maßen ihr Baustil bestimmen, der Sausage-Galaxie, in der Folge der in der Astronomie die dicke zumindest ungefähre Rückschlüsse durchlief sie eine Phase intensiver Scheibe der Milchstraße heißt. Später auf das Alter erlaubt. Und wie Städte Sternentstehung. ging es in puncto Sternentstehung einen Bauboom oder intensive Um- viel ruhiger zu: „Nach der turbulen- Im Kern der Milchstraße bauphasen durchlaufen können, wird finden sich Sterne, die älter sind ten Frühzeit fand sich deutlich weni- die Geschichte von Galaxien durch als 12,5 Milliarden Jahre und ger Wasserstoffgas in der Galaxie“, Kollisionen und Verschmelzungen kurz nach der Verschmelzung sagt Maosheng Xiang. „Es sammelte geprägt sowie durch große Mengen der Protogalaxien, das heißt sich in derjenigen Struktur an, die wir an frischem Wasserstoffgas, das über der Vorläufer unserer Galaxie, heute die dünne Scheibe unserer Ga- entstanden. Milliarden Jahre hinweg von außen laxie nennen.“ in eine Galaxie einströmen kann – das Rohmaterial, aus dem sich neue Als Maosheng Xiang und Hans-Walter Sterne bilden. Ganz am Anfang der Rix die Verschmelzung mit Gaia-En- Geschichte einer Galaxie stehen da- celadus/Sausage rekonstruierten, fiel bei kleinere Protogalaxien: Regionen, Für die archäologischen Arbeiten in der ihnen auf, dass daran auch schon rela- in denen bereits in der ersten Milli- Milchstraße nutzte das Team um tiv alte Sterne beteiligt waren. Das arde Jahre nach dem Urknall Sterne Hans-Walter Rix die Durchmuste- stellten sie anhand der Bauart dieser entstanden. Sie bildeten die Keime rungen des ESA-Satelliten Gaia, des Sterne fest, um im Bild der Archäo der Galaxien, die wir heute kennen. Sloan Digital Sky Survey und des chi- logie zu bleiben. Zumindest ein grobes nesischen Teleskops Lamost. Gaia Maß für das Alter eines Sterns liefert Die Milchstraße nahm vermutlich ihren hat bis heute die Positionen, Bahnen dessen Metallizität, das heißt die Anfang, als drei oder vier solcher und Helligkeiten von fast zwei Milli- Menge an chemischen Elementen in Protogalaxien verschmolzen, die sich arden Sternen der Milchstraße be- der Sternatmosphäre, die schwerer in unmittelbarer Nachbarschaft zu stimmt – das entspricht rund einem sind als Helium. Solche Elemente, die einander gebildet hatten. Eine solche Prozent der gesamten Sternpopula- in der Astronomie Metalle heißen, Entstehungsgeschichte einer Galaxie tion unserer Heimatgalaxie. Lamost entstehen im Sterninneren durch rekonstruieren Astronominnen und wiederum misst die Spektren von Kernfusion und werden am Ende des Astronomen mithilfe von Beobachtun etwa zehn Millionen Sternen, indem Lebens massereicher Sterne in einer Max Planck Forschung · 1 | 2023
Physik & Astronomie Supernova freigesetzt. Dadurch rei- ging. „Es war klar, dass wir dabei mit GLOSSAR chert sich das interstellare Gas mit den Daten der Unterriesen nicht wei- schwereren Elementen an, und aus je- terkommen würden.“ Unterriesen Metallizität nem Gas entsteht die nächste Gene sind zu lichtschwach, als dass sie jen- beschreibt in der Astronomie die Häufigkeit chemischer ration von Sternen, dann mit höherer seits von Entfernungen von etwa 7000 Elemente, die schwerer sind als Metallizität. Sterne mit höherer Me- Lichtjahren beobachtet werden könn- Wasserstoff und Helium. Sie lässt tallizität sind deswegen tendenziell ten. Daher konzentrierten sich die sich aus dem Spektrum eines jünger als solche mit geringerer Metal- Forscher auf einen anderen Typ von Sterns bestimmen und ist lizität. Einige Sterne aus der Zeit der Sternen – die Roten Riesensterne. ein grobes Maß für dessen Alter. Verschmelzung mit Gaia-Enceladus/ Typische Rote Riesen sind etwa hun- Riesensterne Sausage weisen eine Metallizität auf, dertmal heller als Unterriesen und heißen sonnenähnliche Sterne, die darauf hindeutet, dass sie aus den damit auch in der Entfernung des ga- deren Brennvorrat zur Neige Überresten einer früheren Sternge- laktischen Zentrums und seiner Nach- gegangen ist und die sich daher neration entstanden sind. barschaft gut zu beobachten. In den aufblähen. Die Astronomie Gaia-Messungen finden sich Infor- unterscheidet Unterriesen und „Dass es diese früheren Sterngenera mationen über zahlreiche Rote Rie- Rote Riesen. Unterriesen befinden sich in einem relativ tionen gab, hat uns nicht überrascht“, sen, und seit der jüngsten Datenver- kurzen Entwicklungsstadium, sagt Hans-Walter Rix. „Auf deren öffentlichung im Sommer 2022 sogar sodass sich ihr Alter genau be- Existenz deuteten bereits aufwendige die zugehörigen Spektren. Eine prä- stimmen lässt. Rote Riesen sind Simulationen der kosmischen Ge- zise Altersbestimmung wie bei den bis zu 100-mal größer und bis schichte hin.“ Die Simulationen sagen Unterriesen ist bei den Roten Riesen zu 1000-mal leuchtkräftiger als unsere Sonne, aber relativ kühl auch voraus, wo sich heute noch Ver- zwar nicht möglich, doch über ihre und erscheinen daher rötlich. treter der früheren Sterngeneratio- Metallizität, die sich anhand der nen finden lassen sollten: in der rela- Spektren bestimmen lässt, kann man Spektrum tiv kompakten Kernregion der Milch- ihr Alter zumindest ungefähr ab- bezeichnet die Intensitätsver- straße, nur ein paar Tausend Licht- schätzen. teilung etwa von Licht abhängig jahre im Durchmesser. Dieser uralte von der Wellenlänge. Die Linien im Spektrum eines Sterns sind Kern im Zentrum unserer Galaxie dürfte sich aus den ersten Protogala- Künstliche Intelligenz charakteristisch für chemische Elemente in dessen Atmosphäre. 67 xien gebildet haben, als diese zur Milchstraße verschmolzen. Und dort analysiert Spektren dürften sich die frühen Sterne auch heute noch finden lassen. Allerdings sind die Spektren von Gaia zu schlecht aufgelöst, als dass sich die „Wir haben also überlegt, wie wir diese Spektrallinien verschiedener Elemen- sprechende Algorithmus für jede die- Sterne aus dem alten Kern unserer te mit herkömmlichen Analysemetho- ser Aufgaben gut trainiert werden. Galaxie aufspüren können“, sagt Rix, den identifizieren ließen. Aus diesem Hier kam den Forschenden zugute, der dieses Projekt gemeinsam mit Grund setzte Rix’ Team auf künst dass die Metallizität eines Teils der René Andrae, Forscher am Max- liche Intelligenz, kurz KI, denn diese Sterne, von denen Gaia Spektren auf- Planck-Institut für Astronomie, und kann in Daten wesentlich subtilere zeichnete, bereits aus einer anderen Vedant Chandra, einem Gastdokto- Unterschiede erkennen als andere Himmelsdurchmusterung bekannt randen der Harvard University, an- Methoden. Allerdings muss der ent- war. Mithilfe dieser Trainingsdaten Bi l d: H a ns -Wa lt e r R i x / M PI fü r A s t ronom i e Der alte galaktische Kern: Die Karte zeigt die Verteilung Roter Riesensterne in der Milchstraße in ähnlicher Weise, wie bestimmte Weltkarten die Oberfläche der Erde darstellen. Im Äquator liegt die Scheibe der Galaxie, in der Gas und Staub die Sicht auf die Sterne verdecken. Im Zentrum (weißer Kreis) befinden sich Sterne, die schon mehr als 12,5 Milliarden Jahre alt sind. Max Planck Forschung · 1 | 2023
wissen aus dicke Scheibe dÜnne Scheibe Bi l d: S t efa n Pay n e -Wa r de naa r / M PI fü r A s t ronom i e Bulge und Balken Scheibenebene Staubfilament In der künstlerischen Seitenansicht der Milchstraße sind das Staubfilament, die kugelförmige Verdickung (Bulge) und der Balken im Zentrum sowie die Scheibenebene markiert. Der Ausschnitt links oben zeigt die dicke und die dünne Scheibe: Die dünne Scheibe misst von der Scheibenebene nach oben und unten je 750 Lichtjahre. Sie leuchtet besonders hell, weil dort neben Sternen noch große Gasmengen vorhanden sind. Das Gas in der dicken 68 Scheibe, die sich nach oben und unten je 2500 Licht- jahre erstreckt, hat sich weitgehend in Sterne verwandelt. lernte der Algorithmus, die Metallizi- galaxie bilden. Der Vergleich mit den waren. „Damit haben wir bestätigt, tät auch aus den Gaia-Spektren her- Unterriesen, deren Alter Rix und Xi- was kosmologische Simulationen über auszulesen. Ob die künstliche Intelli- ang in der früheren Studie bestimmt die Frühgeschichte unserer Heimat- genz nach dem Training fit für die hatten, zeigt, dass dieser alte Kern der galaxie vorhergesagt hatten“, sagt Milchstraße älter als circa 12,5 Milli- Hans-Walter Rix. Aufgabe war, überprüften die For- schenden an Spektren von Sternen, arden Jahre sein muss. Die Sterne be- finden sich alle in maximal rund Als Nächstes hoffen die Forschenden, deren Metallizität ebenfalls bekannt 15 000 Lichtjahren Entfernung vom mit hochaufgelösten Spektren weite- war, die aber nicht fürs Training ver- wendet worden waren. Wie sich zeigte, Zentrum – zum Vergleich: Die ge- rer Himmelsdurchmusterungen die konnte der Algorithmus die Metalli- samte Milchstraße erstreckt sich über Positionen und sogar die Bewegungs- fast 200 000 Lichtjahre. zität aus den Gaia-Spektren mit beein muster der Sterne im Kern der Milch- straße genau zu bestimmen. Lassen druckender Genauigkeit ermitteln. sich die Sterne bei einer solchen Ana- So konnte das Team sicher sein, dass die Gesucht sind Sterne lyse unterscheidbaren Gruppen mit KI auch für die zwei Millionen Gaia-Spektren von Roten Riesen in der Protogalaxien jeweils charakteristischem Bewe- gungsmuster zuordnen, so könnten den inneren Regionen der Milch- diese Gruppen den Protogalaxien straße zuverlässige Werte hinsichtlich Weitere Analysen der chemischen Zu- entsprechen, aus denen die Milch- der Metallizität liefern würde. Damit sammensetzung zeigten, dass diese straße entstanden ist. Hans-Walter konnte das Team dann in der Tat eine Sterne trotz ihres hohen Alters sehr Rix und sein Team wären in ihrer Population von Sternen mit der pas- wahrscheinlich erst in der Milch- kosmischen Archäologie dann tat- senden Metallizität identifizieren, die straße entstanden sind, kurz nach- sächlich am Ursprung der Milch- den uralten Kern unserer Heimat dem die Protogalaxien verschmolzen straße angelangt. Max Planck Forschung · 1 | 2023
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