Analyse der niederländischen Übersetzung der Kunst- und Landschaftsdarstellungen im Roman 'Deutschstunde' von Siegfried Lenz

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Faculteit Letteren & Wijsbegeerte

                               Silke Gyssels

     Analyse der niederländischen
     Übersetzung der Kunst- und
  Landschaftsdarstellungen im Roman
  ‘Deutschstunde’ von Siegfried Lenz

             Masterproef voorgedragen tot het behalen van de graad van

                              Master in het Vertalen

                                        2014

Promotor Prof. Dr. Els Snick
Vakgroep Vertalen Tolken Communicatie
VORWORT

Die vorliegende Arbeit ist eine Analyse der niederländischen Übersetzung der Kunst- und
Landschaftsdarstellungen im deutschen Roman Deutschstunde von Siegfried Lenz. Sie wird
anhand der Hermeneutik durchgeführt, ausgehend von der Studie von Vicente Berezo über die
spanische Übersetzung desselben Romans.

Da ich Studentin im Masterstudium Übersetzung bin und Niederländisch, Deutsch und
Spanisch studiere, interessierte ich mich sofort für dieses Thema. Als künftige Übersetzerin ist
es mein Ziel, eine möglichst angemessene Übersetzung anzufertigen. Diese Arbeit war denn
auch eine lehrreiche Erfahrung, die mir erlaubt hat, sowohl die Schwierigkeiten der literarischen
Übersetzung    einzusehen,    als   auch   Lösungen     auszudenken,    wenn    ich   auf   eine
Übersetzungsschwierigkeit stoße.

Selbstverständlich habe ich diese Arbeit nicht alleine gemacht. Ich möchte mich besonders bei
Frau Snick, meiner Betreuerin, bedanken, weil sie mir immer mit Rat und Tat zur Seite
gestanden hat, auch wenn sie selbst sehr beschäftigt war. Ich möchte ebenfalls Isabelle De
Meyer und Denis Kismann danken für das Korrekturlesen. Nicht zuletzt bedanke ich mich
natürlich auch bei meinem Freund und meiner Familie für ihre Unterstützung und ihr Vertrauen
in mich.

Gent, 27/05/2014
INHALTSVERZEICHNIS

1.   EINLEITUNG...............................................................................................................7
2.   FORSCHUNGSFRAGE UND METHODOLOGIE .......................................................8
3.   DAS PROBLEM DER LITERARISCHEN ÜBERSETZUNG ......................................9
4.   DIE HERMENEUTIK................................................................................................. 13
     4.1       Hermeneutik und Interpretation ........................................................................ 13
     4.2       Ein historischer Überblick ................................................................................ 14
     4.3       Die hermeneutische Methode ........................................................................... 17
5.   ALLGEMEINE ANALYSE DES ROMANS .............................................................. 20
     5.1       Das Ganze des Textes ...................................................................................... 20
               5.1.1       Inhalt des Textes................................................................................. 20
               5.1.2       Historischer Kontext des Autors ......................................................... 21
     5.2       Die Teile des Textes ......................................................................................... 22
               5.2.1       Der Allgemeineindruck ...................................................................... 22
               5.2.2       Die einzelnen Elemente ...................................................................... 23
6.   ANALYSE DER NIEDERLÄNDISCHEN ÜBERSETZUNG ..................................... 26
     6.1       Allgemeine Übersetzungsanalyse ..................................................................... 27
               6.1.1       Der Allgemeineindruck ...................................................................... 27
               6.1.2       Die einzelnen Elemente ...................................................................... 27
     6.2       Die Landschaftsdarstellung .............................................................................. 33
               6.2.1       Der Allgemeineindruck ...................................................................... 34
               6.2.2       Die einzelnen Elemente ...................................................................... 35
     6.3       Die Kunstdarstellung ........................................................................................ 44
               6.3.1       Der Allgemeineindruck ...................................................................... 44
               6.3.2       Die einzelnen Elemente ...................................................................... 45
7.   VERGLEICH MIT DER SPANISCHEN ÜBERSETZUNG ........................................ 54
     7.1       Vergleich der allgemeinen Analyse .................................................................. 54
     7.2       Vergleich der Landschaftsdarstellung ............................................................... 57
     7.3       Vergleich der Kunstdarstellung ........................................................................ 59
8.   SCHLUSSFOLGERUNG ............................................................................................ 63
9.   QUELLENVERZEICHNIS ......................................................................................... 65
7

1.   EINLEITUNG

In dieser Studie untersuchen wir den Roman Deutschstunde von Siegfried Lenz (2011) und
seine niederländische Übersetzung Duitse Les von Jaap Walvis (Lenz, 2011/2011). Dafür
gründen wir auf das Werk von Vicente Berezo (2003), der die spanische Übersetzung desselben
Romans von Jesús Ruiz (Lenz, 2011/1973) erforscht hat. Da Berezo die Kunst- und
Landschaftsdarstellungen im Roman betont hat, werden auch wir in unserem Aufsatz diese zwei
Themen zur Sprache bringen.

Als Richtschnur nehmen wir – genauso wie Berezo – die Hermeneutik, denn wir gehen davon
aus, dass „das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden
muss“ (Vogt, 2008). Für die Übersetzung eines Romans soll der Übersetzer das Werk zuerst
genau analysieren, bevor er mit seiner Übersetzung anfängt, weil vor allem bei literarischen
Werken die kleinsten Elemente, d. h. die Elemente auf Satz- und Wortebene, von höchster
Wichtigkeit für die Interpretation sein können. Dafür ist Deutschstunde ein gutes Beispiel. Die
Intention des Autors, d.h. was der Autor mit seinem Buch gemeint hat, versteckt sich in den
kleinsten Teilen, wie in Wörtern oder im Satzbau. Der Übersetzer soll diese Teile genau
analysieren und angemessen übersetzen, so dass sein Zielpublikum die originelle Intention des
Autors erkennen kann. Ob Walvis in seiner Übersetzung mit diesen kleinsten Teilen gerechnet
hat, wird in vorliegender Arbeit untersucht.

Nachdem wir im zweiten Kapitel unsere Fragestellung und Methodologie erklärt haben und im
dritten Kapitel das Problem der literarischen Übersetzung angesprochen haben, gehen wir im
vierten Kapitel auf die Hermeneutik näher ein. Wir beginnen mit einer Definition (4.1) und
geben danach einen historischen Überblick (4.2). Anschließend erklären wir den
hermeneutischen Zirkel und die Auffassungen Schleiermachers, des für unsere Studie
wichtigsten Hermeneutikers (4.3). Im fünften Kapitel fangen wir mit der eigentlichen
Forschung der Übersetzung an. Zuerst analysieren wir das Ganze des Romans, also den Inhalt
und Kontext des Textes (5.1), dann die einzelnen Elemente, d. h. eine Analyse auf Satz- und
Wortebene (5.2). Kapitel sechs ist die Übersetzungsanalyse. Wir nehmen die Arbeit mit einer
allgemeinen Auseinandersetzung auf (6.1) und betonen danach die zwei wichtigsten Themen:
Landschaft (6.2) und Kunst (6.3). Im siebten Kapitel wird die niederländische Übersetzung mit
der spanischen verglichen. Auch dieses Kapitel wird in drei gegliedert: Zuerst werden die
Übersetzungen im Allgemeinen verglichen (7.1) und danach werden die Landschafts- und
Kunstdarstellungen separat erörtert, beziehungsweise in Kapitel 7.2 und 7.3. Wir enden das
Werk mit der Schlussfolgerung in Kapitel acht.
8

2.    FORSCHUNGSFRAGE UND METHODOLOGIE

Vorliegende Arbeit ist eine Übersetzungsanalyse des Romans Deutschstunde von Siegfried
Lenz. Die spanische Übersetzung Lección de alemán von Jesús Ruiz wurde von Berezo (2003)
analysiert, mit dem Ziel, nicht nur die Übersetzung, sondern auch „die translatorische Tätigkeit,
bei der Behandlung von literarischen Texten“ (ebd.:95) zu analysieren. Da er der Meinung ist,
ein Übersetzer solle, bevor er mit der Übersetzung anfange, zuerst den Ausgangstext genau
analysieren (ebd.:4), hat er sich für seine Auseinandersetzung auf die Hermeneutik gestützt. Sie
wurde aber „nicht als die einzige ‚Strategie‘ dargestellt, sondern als ein Weg, der […] eine
‚systematische‘ Herangehensweise bietet, um im konkreten Fall möglichst adäquate
Entscheidungen zu treffen.“ (ebd.:95) Aus der Untersuchung Berezos konnte er schließen, „daß
es unmöglich ist, eine ‚perfekte‘ Entsprechung des Ausgangstextes zu erzielen.“ (ebd.:96)
Obwohl die „interpretatorische Freiheit“ eines Übersetzers an erster Stelle stehen solle, sei die
Hermeneutik ein gutes Hilfsmittel, um eine bestimmte Stelle im Roman zu verstehen, denn ein
Übersetzer solle immer seine Entscheidungen rechtfertigen und „bei jeder translatorischen
Entscheidung die Intention des Autors des Originals präsent haben“, denn er solle dem Original
treu bleiben. (ebd.)

Ziel dieser Studie ist es, dieselbe Analyse Berezos durchzuführen und nachzuforschen ob auch
wir denselben Beschluss fassen können. Genau werden wir also untersuchen, ob der Übersetzer
die Intention des Autors angemessen übersetzt hat. Auch unsere Übersetzungsanalyse werden
wir anhand der Hermeneutik durchführen, so dass wir ebenfalls nachschlagen können, ob sie
für die Übersetzung von Literatur eine geeignete Methode ist. Im vierten Kapitel werden wir
näher auf die Hermeneutik eingehen. Zuerst ist es aber wichtig, zu erklären, warum
Deutschstunde zur Literatur gehört.
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3.        DAS PROBLEM DER LITERARISCHEN ÜBERSETZUNG

Da Deutschstunde ein Roman ist, handelt die vorliegende Arbeit von der Übersetzung von
Literatur. Deshalb sollen wir zuerst untersuchen, was Literatur ist und wie sie übersetzt wird.
Zum großen Bedauern vieler Übersetzer und Übersetzungswissenschaftler gibt es nicht nur eine
klare Übersetzungsstrategie. Das bedeutet, dass Texte immer auf verschiedene Arten und
Weisen übersetzt werden. Übersetzer verfügen über verschiedene Strategien, mit deren Hilfe
sie eine Übersetzung anfertigen können. Deswegen ist es für diese Studie wichtig, zuerst eine
Übersetzungsstrategie festzulegen, so dass wir die Übersetzung von Deutschstunde anhand
dieser Strategie analysieren können. Bevor wir aber die Strategie bestimmen, erklären wir in
diesem Kapitel erst warum Deutschstunde zur Literatur gehört und welche Strategien es gibt,
um Literatur zu übersetzen.

3.1       Literatur
Nur eine einzelne Definition von Literatur gibt es nicht. Die Meinungen über was Literatur ist,
sind sehr geteilt. Schon im Duden werden verschiedene Erklärungen gegeben:
     1.  a. [gesamtes] Schrifttum, veröffentlichte [gedruckte] Schriften
         b. [fachliches] Schrifttum über ein Thema, Gebiet
         c. (Musik) in Form von Notentexten vorliegende Werke für Instrumente oder Gesang
     2. künstlerisches Schrifttum; Belletristik
Literatur kann sowohl alle Texte, die je geschrieben wurden, umfassen, als auch nur die Texte,
die spezifische Merkmale haben. Van Bork et al. (2012) behaupten, Literatur sei der allgemeine
Begriff für alle mündlich oder schriftlich überlieferten Texte, die wegen eines kunstsinnigen
Charakters von anderen Texten unterschieden werden können. Manchmal benutze man zur
Bestimmung von Literatur ästhetische Normen, wie Fiktion, Autonomie des Textes,
Sprachgebrauch, usw. Auch de Jong (2006:3) meint, Literatur habe einen künstlerischen
Charakter: Der Leser solle – nachdem er den Text schon zweimal gelesen habe – immer noch
neue Sachen entdecken oder Fragen stellen. Sei das nicht der Fall, dann sei der künstlerische
Wert weniger groß und könne von Literatur nicht die Rede sein. Und auch Kohlmayer (2004:1)
folgt dieser Meinung: „Literarische Texte sind besonders reiche Texte; sie sind nicht nur
sprachlich weitaus qualitätsbewusster gestaltet als z. B. Fachtexte, sie enthalten auch eine
größere Vielfalt von Übersetzungs-Problemen als Sachtexte.“

In Bezug auf unsere Arbeit werden wir Literatur als alle Texte mit einer expressiven Funktion
definieren. Das bedeutet laut Vandeweghe (2008:53), dass sowohl der Inhalt, als auch die Form,
d.h. der Stil, in einer Übersetzung nicht weggelassen werden können. Das ist der Fall in
10

Deutschstunde, denn in diesem Roman versucht der Autor anhand seines Stils den Inhalt und
seine Intention aufzuklären. ‚Stil‘ definiert Stolze (2001:244) als „die bewußte Auswahl eines
Autors/Sprechers aus dem Zeichenpotential der Sprache“ (in Berezo, 2003:11) und ist nach
Berezo (ebd.:16-17) die Kombination von Form und Inhalt, womit der Text bewusst vom Autor
aufgebaut wird. Folgendes Beispiel dient zur Verdeutlichung:
       Keine Möwen. Keine nennenswerte Wolkenbildung Richtung Cuxhaven. Der Mond tat,
       was er konnte. Fern das dunkle Ufer, eine Kette von Autoscheinwerfern. (Lenz,
       2011:286)
Das Obenstehende ist ein Ausschnitt aus dem zehnten Kapitel des Romans Deutschstunde.
Siggi, der Erzähler, beschreibt anhand parataktischer Struktur und Ellipsen (cf. Kapitel 5.2.2)
was er draußen sieht. Diese Schreibweise wurde nicht willkürlich vom Autor gewählt, sondern
sie hat eine Funktion. Der Erzähler sieht die Gegenwart, hat aber die ganze Zeit über seine
Vergangenheit geschrieben, deshalb ist ihm nicht klar was er sieht, „seine Perzeptionsfähigkeit
[ist] in jenem Moment eingeschränkt und er sieht die Realität um ihn herum in Stücken.“
(Berezo, 2003:34) Diese Unfähigkeit, die vollständige Realität zu fassen, wird im
parataktischen Stil des Autors klar: Nur die Stücke der Realität, die der Erzähler sieht, werden
nacheinander fast ohne Verben oder Konjunktionen erwähnt. Da der Autor diese Technik im
ganzen Roman verwendet, können wir schließen, dass die Form den Inhalt in Deutschstunde
beeinflusst und, dass sie deshalb genauso wichtig als der Inhalt ist. Aus dem Grund folgen wir
der Meinung Berezos (ebd.), dass Deutschstunde ein literarisches Werk ist.

3.2   Literatur übersetzen
Grundstein einer Übersetzung sei ein gutes Verständnis des Originaltextes (Berezo, 2003:7). In
Bezug auf Literatur, insbesondere auf den Roman Deutschstunde, soll der Übersetzer nicht nur
den Inhalt des Textes verstehen, sondern auch den Einfluss des Stils auf den Inhalt erkennen.
Doch, auch wenn verschiedene Übersetzer desselben Textes sowohl Inhalt als Stil betrachten,
ist es unmöglich, dass sie dieselbe Übersetzung anfertigen. Eine vollständige Äquivalenz
zwischen Ausgangs- und Zieltext sei nämlich nicht möglich (Stolze, 2008:137).

Popovic (1970) hat wegen der „Unmöglichkeit des Erreichens eines voll ‚äquivalenten Textes‘“
„Ausdrucksverschiebungen (shifts)“ in den Übersetzungen analysiert. Diese shifts wurden
„früher als bewusste oder unvermeidliche Verzerrung gesehen oder der Inkompatibilität
zwischen zwei Sprachen zugeschrieben“ (in Stolze, 2008:138). Laut Schleiermacher (1813:55)
zum Beispiel, sollte die Übersetzung so nah wie möglich am Originaltext bleiben, um sich so
näher an die „Urschrift“ anzuschließen. Er fand diese Verschiebungen also nicht akzeptabel
11

und hat nur das vom Autor erweckte Gefühl, d.h. das Moment bevor der Entstehungsphase des
Textes, für wichtig gehalten. Dieses Gefühl nannte Schleiermacher die „Rede“. (van Stralen,
2012:89-90) Weil der Text der einzige Weg zu den Gedanken des Autors sei, behauptete
Schleiermacher (1813:57), dass der Übersetzer eine möglichst ‚treue‘ Übersetzung anfertigen
sollte, ohne Ausdrucksverschiebungen, so dass die „Rede“ am besten angenähert werden
konnte. Doch werden die Ausdrucksverschiebungen von vielen Übersetzungswissenschaftlern,
wie unter anderem Nida (1964) und Hermans (1996) schon akzeptiert, weil sich nur auf diese
Weise eine fließend lesbare Übersetzung entwickeln kann. Mit dieser Aussage wird oft die
Meinung verknüpft, dass der Übersetzer ‚unsichtbar‘ sein soll und, dass der Leser also nicht
sehen darf, dass er eine Übersetzung statt ein Original liest (Hermans, 1996:44). Die
Unsichtbarkeit des Übersetzers ist dank der shifts möglich. Doch gibt es bei literarischen Texten
immer noch den Stil, mit dem gerechnet werden muss. Ein literarisches Werk kann deshalb
nicht mit nur Ausdrucksverschiebungen angefertigt werden, denn die shifts werden den
Originalstil verdrängen und so den literarischen Charakter ganz oder teilweise verschwinden
lassen.

Zusammenfassend soll die Übersetzung eines literarischen Werkes wie ein Original anmuten.
Andererseits ist es laut Berezo (2003:9-10) bestens empfohlen, in der Übersetzung den Stil des
Autors zu übernehmen, so dass die literarische Qualität des Textes nicht verloren geht. Wegen
dieser zweiten Bedingung für die literarische Übersetzung sind Strategien wie die
Skopostheorie von Reiss und Vermeer oder der Dynamic Equivalence von Nida, bei denen das
Zielpublikum und die Zielkultur viel mehr als die Form des Textes die Anfertigung einer
Übersetzung bestimmen, keine guten Strategien für literarische Übersetzungen, denn Literatur
sei nicht ‚zielgerichtet‘ (Vandeweghe, 2008:145 und Nida, 1964:167).

Für die Übersetzung von Literatur braucht man eine Strategie, die sich nicht nur auf den Inhalt,
sondern auch auf die Form des Textes bezieht. Berezo (2003) hat sich für die Analyse von
Lección alemán für die Hermeneutik als Grundlage seiner Auseinandersetzung entschieden, da
in seiner Arbeit die These vertreten wird, „daß vor allem bei literarischen Texten, eine
methodische hermeneutisch linguistisch orientierte Auslegung des Originals in der
Ausgangssprache,      die Voraussetzung      ist, um eine adäquate Übersetzungsstrategie
anzuwenden.“ (ebd.:6) Das Wort ‚Hermeneutik‘ komme vom griechischen ‚hermeneúein‘ und
bedeute „deuten, auslegen“. Die Hermeneutik sei die „Lehre von der Auslegung und Erklärung
eines     Textes   oder   eines   Kunst-   oder   Musikwerks“    oder   „das    Verstehen    von
Sinnzusammenhängen in Lebensäußerungen aller Art aus sich selbst heraus (z. B. in
12

Kunstwerken, Handlungen, geschichtlichen Ereignissen)“ (Duden). Die Basis einer
Übersetzung ist die Interpretation des Originals, d.h. „einen Text, ein literarisches Werk, eine
Aussage o. Ä. inhaltlich erklären, erläutern, deuten“ (Duden).

In dieser Arbeit gründen wir, genauso wie Berezo (2003) auf die Hermeneutik, weil die
Interpretation des Romans nicht nur vom Inhalt, sondern auch vom Stil abhängt. Mit der
Hermeneutik ist es möglich, der Einfluss der Form auf den Inhalt zu erforschen und so das
gesamte Werk zu interpretieren. Die Interpretation, entstanden aus der Analyse von Inhalt und
Form, ist dann die Richtlinie für die Übersetzung, so dass sie den literarischen Charakter des
Originals übernehmen kann.
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4.    DIE HERMENEUTIK

4.1   Hermeneutik und Interpretation

In dieser Arbeit gehen wir vom gleichen Standpunkt Vicente Berezos (2003:4) aus: „Man [soll]
den Ausgangstext […], bevor man eine Übersetzung anfertigt, genau analysieren“. Dafür kann
die Hermeneutik, d.h. die Kunst des Verstehens, ein Hilfsmittel sein. Laut Schneiders (2007:79)
entspricht die Hermeneutik in der Literaturwissenschaft zwei Definitionen: Hermeneutik sei
„eine Kunstlehre, in der Regeln zur Interpretation von Sinngebilden zusammengestellt sind“
und „eine philosophische Methode, die das Vermögen von Sinnverstehen kritisch in Frage
stellt“. Ein Problem mit dem Begriff ‚Interpretation‘ der ersten Definition sei, dass es nicht
immer klar sei, was der Unterschied zwischen „der Frage was der Autor gemeint und gesagt
hat und wie er es gesagt hat“ sei (Schneiders, 2007:79). Wie schon im vorigen Kapitel erwähnt,
ist es für literarische Texte unverzichtbar, dass der Übersetzer beide Fragen berücksichtigt und
in der Übersetzung sowohl was als auch wie wiedergibt. Ein weiteres Problem nach Schneiders
(ebd.) ist, dass zwischen „symbolischer“ und „symptomatischer“ Interpretation nicht klar
unterschieden wird. Er stellt folgendes Beispiel auf: „Wenn jemand in bairischem Dialekt nach
dem Weg fragt, will er wissen, wie er fahren muss (symbolische Interpretation), er will uns
nicht sein Bayerntum mitteilen (symptomatische Interpretation).“ Die symptomatische
Interpretation ist also was der Sprecher oder der Autor implizit gemeint hat. Die symbolische
Interpretation dagegen ist was er wirklich gesagt oder geschrieben hat. In Deutschstunde ist die
symptomatische Interpretation die Form des Romans, d.h. der Stil des Autors, mit dem er seine
Intention noch mehr als im Inhalt aufklären möchte (cf. Kapitel 3.2), während die symbolische
Interpretation der Inhalt des Textes ist.

Schleiermacher (1977:75), Begründer der modernen Hermeneutik, hat Hermeneutik als „die
Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen“ definiert und er hat auch zwischen zwei
Interpretationen unterschieden: einer „grammatischen“ und einer „psychologischen“ oder
„technischen“ (Ricoeur, 1986/1991:25). Die erste sei „das Denken aller Einzelnen“ (ebd.: 79),
d.h. die Sprache einer Kultur. Die zweite sei die reine Sprache, „wodurch der einzelne Mensch
seine Gedanken mitteilt“ (Schleiermacher, 1977:79), wobei der Interpret nach Vogt (2008) „die
Genese des Textes nachkonstruieren” muss. Ricoeur (1986/1991:26) meint, bei dieser
Interpretation komme die Hermeneutik zustande.

Unserer Meinung nach kann die grammatische Interpretation Schleiermachers der
symbolischen Interpretation Schneiders gleichgesetzt werden, während die psychologische
14

Interpretation eher mit der symptomatischen Interpretation übereinstimmt. Der Übersetzer
literarischer Texte soll, wenn er eine angemessene Übersetzung anfertigen möchte, also nicht
nur die grammatische Interpretation eines Werkes erkennen, sondern auch die psychologische,
d.h. wie der Autor den Text geschrieben hat und was er damit meinte. Die Hermeneutik kann
dem Übersetzer helfen, den Text auf beide Weisen zu interpretieren, denn mit diesen
Interpretationen baut er eine übergreifende Interpretation des gesamten Werkes auf, so dass er
das Werk genau in der Zielsprache wiedergeben kann und die Übersetzung dieselbe Wirkung
auf das Zielpublikum hat, als das Original auf das Publikum. Das Werk kann auf beide Weisen
interpretiert werden anhand des hermeneutischen Zirkels. Bevor wir aber darauf eingehen,
geben wir zuerst einen historischen Überblick der hermeneutischen Lehre, um ihre Wichtigkeit
nachzuweisen und sie besser zu verstehen.

4.2   Ein historischer Überblick

Van Stralen (2012:35) zufolge ist die Hermeneutik schon im klassischen Altertum entstanden,
obwohl in dieser Zeit noch nicht von einer Interpretation oder hermeneutischen Theorie die
Rede war. Sie wurde aber erst in den Fünfzigerjahren in den Literaturwissenschaften verwendet.
Obwohl sich die Hermeneutik im Laufe der Jahre immer verändert hat, gibt es laut van Stralen
(ebd.:87) sechs dominante Annäherungsweisen zur Interpretation: die allegorische, die
buchstäbliche,   die     romantische,   die   historische,   die   philosophische   und    die
dekonstruktivistische.

Die zwei ersten Annäherungen gehen auf das Christentum – Peter Struck (2004) zufolge sogar
auf die Antike (in van Stralen, 2012:37) – zurück und das Christentum sei für die moderne
Hermeneutik sehr wichtig gewesen. Allegorie wird im Duden als „[personifizierendes] rational
fassbares Bild als Darstellung eines abstrakten Begriffs“ umschrieben. In Bezug auf die Antike
denke man dann an die Götter, die sich nie klar und deutlich ausgedrückt haben und deshalb sei
den übertragenden Sinn ihrer Worte immer naheliegend gewesen (van Stralen, 2012:38). Auch
bezüglich des Christentums sei eine allegorische Interpretation selbstverständlich: „Kunst
diende de ontvanger ethisch te bewegen door middel van de confrontatie met een transcendente
werkelijkheid die vreemd is aan de hem vertrouwde omgeving.“ (ebd.:41) Die Bibelstudie sollte
deshalb auch auf die allegorische Interpretation gründen. Doch, die historischen Darstellungen
oder die Gebote, sollte man, der Alexandrinischen Schule zufolge, buchstäblich interpretieren.
(ebd.:40) So habe es, was die Bibel anbelangt, verschiedene Methoden des Interpretierens
gegeben, die immer mit der allegorischen und buchstäblichen Hermeneutik verknüpft wurden.
15

Später, in der Zeit der Reformation, habe man aber geglaubt, allegorische Interpretationen seien
überflüssig und man solle nur die buchstäbliche und einzige Bedeutung der Bibel suchen
(ebd.:48-49). Luther war laut van Stralen der Meinung, dass alles, das sich in einer
buchstäblichen Interpretation als unklar herausstellte, dem Mangel an hebräischer oder
griechischer Grammatik- und Wortschatzkenntnisse zuzuschreiben war. Ab der Aufklärung gab
es van Stralen (ebd.:50) gemäß eine Veränderung:
       Vanaf de Verlichting kon de interpretatietheorie zich door de verwijdering tussen
       wetenschap en Kerk in een grotere vrijheid ontwikkelen. In deze fase van de
       voorgeschiedenis van de hermeneutiek stelden denkers als Spinoza en Chladenius dat
       de Bijbel niets kan onthullen dat niet ook door de rede gevonden zou kunnen worden.
Das christliche Interpretationsmodell hat laut van Stralen (ebd.) fünf wichtige Effekte erzielt.
Zuerst suchen wir dank des Christentums den Hintersinn der Wirklichkeit und des Textes.
Zweitens sei seit dem Christentum ein größeres Interesse für den Autor entstanden. Auch sei
die Sorge um die richtige Fassung des Textes in dieser Periode entstanden und in
Zusammenhang damit stehe der Ursprung eines literarischen Kanons. Zum Schluss habe auch
die Bibelübersetzung Nachfolge gefunden. (van Stralen, 2012:51-54) Stolze zufolge wurde seit
dem Christentum auch die „Autorität von Texten“ besser anerkannt (Stolze, 2003:14).

Van Stralen (2012:88) schreibt, in der Romantik sei die romantische Interpretationsansicht
entstanden, in der das Hauptgewicht auf den Ursprung des Textes gelegen worden sei. Jetzt sei
von der modernen Hermeneutik die Rede, denn das Interpretieren werde als kunstverständiger
Prozess anerkannt. Ziel dieses Prozesses sei der Ursprung zurückzufinden, d.h. die
ursprünglichen Gedanken des Autors und des Textentstehens. In Bezug auf die romantische
Auffassung, haben wir schon im dritten Kapitel Schleiermacher erwähnt. Er ist der Begründer
der modernen Hermeneutik und meinte, der Interpret müsse „die Rede zuerst ebensogut und
dann besser […] verstehen als ihr Urheber.“ (Schleiermacher, 1977:94) Deshalb war er der
Meinung, dass ein Übersetzer „die Leser zum Autor [hinbewegen]“ sollte, denn „nur so sei die
‚treue Wiedergabe‘ des Originals in der Zielsprache gewährleistet.“ (Stolze, 2008:27) Dass
Schleiermacher Schlüsselfigur der modernen Hermeneutik ist, glaubt auch Vogt (2008):
       Schleiermachers Bedeutung für die neuere Hermeneutik liegt nicht allein in der
       Überwindung der Spezialhermeneutiken und der Konzeption einer allgemeinen
       Verstehenstheorie, sondern darin, daß er sie in einer allgemeinen Theorie der Sprache
       als System und als individuelle Hervorbringung fundiert. Mit dieser Wendung zu den
       sprachlichen Bedingungen von Textproduktion und Textverstehen, die auch ein neues
       Verständnis der spezifischen Leistung des poetischen Sprechens einschließt, kann
       Schleiermacher sogar als Vorläufer heutiger Sprach- und Literaturtheorien angesehen
       werden.
16

Schleiermacher habe zum Beispiel behauptet, es gebe nicht nur Interpretationsschwierigkeiten
in biblischen Texten, sondern auch in weltlichen Texten. (van Stralen, 2012:89) Wegen seiner
großen Wichtigkeit für die Hermeneutik, kommen wir später noch auf ihn zurück.

Dilthey, ein Schüler Schleiermachers, habe die historische Hermeneutik eingeführt, und die
These poniert, dass der Autor seinen Zeitgeist zum Ausdruck bringt, während des Schreibens
(van Stralen, 2012:91, 95). Der Interpret solle seiner Meinung nach mit einer „Akt der
‚Einfühlung‘“ den Zeitabstand zwischen Leser und Text überspringen und so die Erfahrung des
Autors erleben und verstehen können. (van Stralen, 2012:96-97 und Vogt, 2008) „Verstehen
bedeutet für Dilthey vor allem ein Schließen von einem Äußeren, Sinnlichen auf ein Inneres,
den Sinnen Entzogenes, von einer ‚Lebensäußerung‘ auf ein ‚Geistiges‘.“ Und das sei nur
möglich mit dem „‘Ausdruck‘ des Inneren in einem Äußeren“. (Deutschmann, 2006:3) Er hat
also den Kontext des Autors betont.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts trat laut van Stralen (2012:98-101) mit Heidegger eine
ontologische Wende ein. Die Beziehung zwischen dem Text und seiner ‘Lebenswelt’ habe –
zum Nachteil des Autors – die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Der Auffassung
Schleiermachers, der historische Kontext des Interpreten solle ignoriert werden, widersetzt sich
Hans-Georg Gadamer, ein Schüler Heideggers, in seiner philosophischen Hermeneutik. Er sei
der Meinung, die Verflochtenheit mit der Geschichte sei vom Autor oder Interpreten nicht
wegzudenken, es sei nämlich die Bedingung für jede Interpretation. Der historische
Hintergrund sei für das Verstehen notwendig, denn verstehen könne nie ohne die
‚Vorstrukturen des Verstehens‘, wie auch Heidegger immer behauptet habe. ‚Verstehen‘
funktioniere kreishaft: Alles was verstanden werde, wurde schon vorher mal verstanden. Neben
dem historischen Kontext ist Vogt (2008) zufolge für Gadamer auch die „hermeneutische
Differenz“, d.h. „der Zeitabstand […] zwischen (gegenwärtigem) Leser und (überliefertem)
Text“ für das verstehen unverzichtbar gewesen, denn laut Gadamer ist „die hermeneutische
Tätigkeit […] eine mehr oder weniger bewußte Konfrontation mit der Tradition, die im Vollzug
des Verstehens eine ‚Verschmelzung‘ des gegenwärtigen mit dem vergangenen Horizont
vollbringt.“ (Vogt, 2008)

Zum Schluss gibt es noch die dekonstruktivistische Auffassung der Hermeneutik, die auch
neben    der   Hermeneutik      als   selbstständige   Disziplin    existiert.   Vertreter   der
dekonstruktivistischen Auffassung sind unter anderem Jacques Derrida und Paul de Man. Die
Dekonstruktion kann als einzelne Disziplin betrachtet werden, weil sie teilweise der
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Hermeneutik folgt, sie aber auch teilweise kritisiert. Beide Richtungen haben miteinander
gemeinsam, dass der Kontext im Interpretationsprozess wichtig sei, denn Texte basieren sich
immer auf andere Texte. Der Sinn eines Textes sei also immer anders, weil der textuelle Kontext
immer anders sei (Huwiler et al., 2006). Genau beinhaltet die Dekonstruktion laut Schrover
(1992), dass es die Aufgabe des Lesers ist, den Text zu zersetzen und Verbände zwischen den
Worten zu finden, die alle etwas anders bedeuten, und wieder anhand von anderen Texten und
Worten zu erklären sind. So entsteht eine dekonstruierte Sicht des Textes. Van Bork (2012) ist
der Meinung, dass die Dekonstruktion keine Methode ist, sondern ein Prozess, eine kritische
Weise, um Texte zu lesen und es gehe dann vor allem um philosophische und literarische Texte.
Obwohl hier eine Annäherung zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion sichtbar ist, gehen
beide Modelle zwei grundverschiedene Wege in Bezug auf die Übersetzung. Obwohl die
Hermeneutik es für möglich hält, eine Übersetzung anzufertigen, glauben die Vertreter der
Dekonstruktion, eine Übersetzung sei unmöglich. Der Grund dafür ist laut Stolze (2012:32),
dass Wortbedeutungen in Texten immer mehrdeutig sind. Hier gibt es einen Unterschied
zwischen mündlichen und geschriebenen Worten. In der mündlichen Rede ist „der Sinn des
Gemeinten direkt präsent und eindeutig“, während er in schriftlichen Texten „vieldeutig und
unbeständig“ ist. Während die Hermeneutiker glauben, dass die vielen verschiedenen Sinne
eines Textes eingedämmt werden können, vertrete die Dekonstruktion gemäß van Stralen
(2012:157) die These, dass die unterschiedlichen Sinne nicht eingeschränkt werden müssen.
Die vielen Bedeutungen eines Textes nenne Derrida dissémination oder Zerstreuung.

4.3   Die hermeneutische Methode

Wie schon erwähnt, gründen wir für die Übersetzungsanalyse auf die Studie von Berezo (2003)
und deshalb auch auf die Hermeneutik, und mehr spezifisch auf den hermeneutischen Zirkel.
Konkret wird mit dem hermeneutischen Zirkel gemeint, dass „das Ganze aus dem Einzelnen
und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden muss“ (Vogt, 2008). In Bezug auf das
allgemeine Textverstehen ist laut van Stralen (2012:117-118) das Ganze der gesamte Text und
das Einzelne der Satz: Nachdem er den ersten Satz des Textes gelesen habe, wisse der Interpret
noch nicht was nachher kommen werde. Er solle deshalb selbst ein Ganzes kreieren, während
dies eigentlich noch nicht da sei, denn er habe es noch nicht gelesen. Je mehr er lese, desto mehr
werde Information hinzugefügt und am Ende des Textes könne er dann das Ganze vollständig
verstehen und mit diesem Ganzen könne er auch den ersten ‚einzelnen‘ Satz im Ganzen stellen
und aufs Neue interpretieren.
18

Berezo (2003:9-10) ist aber der Meinung, dass das Ganze den Inhalt des Textes ist und das
Einzelne die Struktur. Beide beeinflussen einander und sind für die Interpretation von Literatur
unentbehrlich. Der Übersetzer soll deshalb laut Berezo (ebd.) „die Beziehung zwischen den
verschiedenen Ebenen und Elementen eines Textes […] erkennen, [denn] diese Beziehungen
formen die Struktur des Textes, die Teile, die das Ganze zusammenhalten.“ Die Absicht sei,
dass er diese Struktur, genauso wie das Ganze, „ohne Beschädigung“ in der Ausgangssprache
wiedergeben könne. Das sei nur möglich, wenn der Übersetzer die kleinen Teile (die Struktur),
das Ganze (der Inhalt) des Textes und die Beziehung zwischen beiden richtig verstanden habe.
Außerdem solle der Übersetzer nichts Persönliches im Text hinterlassen, denn obwohl die
Interpretation immer subjektiv sei, weil sie auf den Vorverständnis des Interpreten gründe, muss
der Übersetzer Berezo (ebd.) zufolge „eine Kommunikation ermöglichen, die ohne ihn nicht
möglich wäre und gleichzeitig seine Anwesenheit verbergen, um diese Kommunikation nicht
zu stören.“

Wir sind es mit Berezo einverstanden, dass der Übersetzer den hermeneutischen Zirkel
benutzen soll, um den Text vollständig interpretieren zu können – sowohl grammatisch als auch
psychologisch – weil Form und Inhalt sich in literarischen Werken beeinflussen. Das gilt aber
nicht für alle Literaturwissenschaftler. Laut Paul Ricoeur (1986/1991:11) sollte der Übersetzer
für eine gute Interpretation auch den Kontext des Lesers betrachten. Ihm zufolge, hatte der
Autor zu viel im Brennpunkt des Interesses gestanden. Deshalb hat er die Funktion des Lesers
stark betont, denn man solle sich vom Ursprung, d.h. von der Textgenese und also auch vom
Autor, trennen. Es gehe hier um die „Textauslegung (und damit […] die Lesesituation)“ (Vogt,
2008). Die Intention des Autors hat laut Ricoeur (1986/1991:10-11) keinen Zweck, denn es
geht um die Werkintention, um den Text in der Gegenwart, in der Situation des Lesers. Es
entstehe eine Distanz zwischen Leser und Autor. Ricoeur (ebd.:56-57) behauptet, der Text
bekomme immer einen neuen Kontext und dieser Kontext sei wichtiger als die Intention des
Autors. Vogt (2008) meint, er habe auf Schleiermacher angespielt, als er geschrieben habe:
„Einen Autor besser verstehen als er sich verstanden hat, heißt, die in seinem Diskurs
eingeschlossenen Bewußtseinsvorgänge über den Horizont seiner eigenen existenziellen
Erfahrung hinaus zu entfalten." Schleiermacher hatte aber etwas anderes gemeint mit seiner
Aussage, der Interpret müsse „die Rede zuerst ebensogut und dann besser verstehen als ihr
Urheber“ (Schleiermacher, 1977:94). Wie schon erwähnt, sollte der Übersetzer laut
Schleiermacher exotisierend übersetzen, d.h. eine möglichst treue Übersetzung – dem Original
getreu – anfertigen, um so das Gefühl, das der Autor mit seinem Text erreichen wollte, so genau
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wie möglich anzunähern. Um dieses Gefühl zu erreichen, soll der Übersetzer laut
Schleiermacher (ebd.) auch die Intention des Autors gründlich untersuchen, so dass er diese
Intention in der Zielsprache genau wiedergeben kann, denn mit der Intention des Autors ist das
Gefühl, von Schleiermacher die ‚Rede‘ genannt (cf. Kapitel 3.2), verflochten.

Obwohl Ricoeur den Kontext des Lesers nachdrücklich hervorhebt und Schleiermacher vor
allem die Intention des Autors, sind wir der Meinung, dass beide wichtig sind. Doch, in Bezug
auf den Roman Deutschstunde und der Meinung Berezos folgend, wird in nachfolgender
Analyse die Intention des Autors betont. Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Form und
Inhalt ist für die Übersetzung von Literatur wichtiger als der Kontext des Lesers. Um die
Intention des Autors genau zu erfahren, ist aber auch der Kontext, in dem der Text entstanden
ist, ein interessanter Forschungsgegenstand. Um während der Analyse der einzelnen Elemente
dem Ganzen nicht aus den Augen zu verlieren, ist der hermeneutische Zirkel eine geeignete
Methode. Es geht laut Schleiermacher (in Vogt, 2008) um den ‚Dialog‘ zwischen „dem Text
als Ausdruck bzw. Teil des Seelenlebens des Autors und dem Ganzen seines Seelenlebens“.

Zusammenfassend soll der Übersetzer, bevor er mit der Übersetzung anfängt, den Text genau
interpretieren. Das ermöglicht den hermeneutischen Zirkel, d.h. „das Ganze aus dem Einzelnen
und das Einzelne aus dem Ganzen“ verstehen (Vogt, 2008). Mit dem Ganzen wird der Inhalt
des Textes und Kontext des Autors gemeint, das Einzelne ist die Struktur und diese formen
zusammen die Intention des Autors. In vorliegender Analyse des Romans Deutschstunde und
ihrer niederländischen Übersetzung werden wir deswegen immer eine Kreisbewegung machen
zwischen der Form des Textes und dem Inhalt, denn nur wenn die Beziehung zwischen beiden
klar ist, wird es möglich sein, die Intention des Autors herauszubekommen und den Text zu
interpretieren. Diese Intention wird mit dem Kontext des Autors verdeutlicht. In der Analyse
werden wir deshalb nicht nur Inhalt und Stil untersuchen, sondern diese auch immer mit dem
Kontext verbinden.
20

5.    ALLGEMEINE ANALYSE DES ROMANS

In diesem Kapitel wird der Roman Deutschstunde im Allgemeinen analysiert. Wie vorher
erwähnt, ist eine genaue Interpretation des Textes wichtig für die Übersetzung eines
literarischen Textes. Um zu einer Interpretation zu kommen, soll der Übersetzer vor allem die
Intention des Autors korrekt verstehen. Diese Intention ist aber in verschiedenen Elementen
verteilt: im Inhalt des Textes, im Stil des Autors und in seinem Kontext, d.h. in der historischen
Lage, in der er den Text geschrieben hat. Im Folgenden werden diese drei Elemente anhand des
hermeneutischen Zirkels, d.h. sowohl dem Ganzen als auch den kleinen Teilen des Textes
Rechnung tragend, analysiert, so dass eine allgemeine Interpretation des Romans gestaltet wird.
Aufgrund dieser allgemeinen Interpretation können wir im sechsten Kapitel die Übersetzung
analysieren.

5.1   Das Ganze des Textes

5.1.1 Inhalt des Textes
Deutschstunde handelt von Siggi Jepsen, der 1954 in einer Hamburger Anstalt für
schwererziehbare Jugendliche aufgenommen ist. Dort soll er einen Aufsatz über die ‚Freuden
der Pflicht‘ schreiben. Weil er aber nur leere Blätter abliefert, soll er diesen Aufsatz als
Strafarbeit in einem isolierten Zimmer schreiben. Da schreibt Siggi über seine Vergangenheit
mit seinem Vater Jens Ole Jepsen und dem Maler Max Ludwig Nansen. Seine Gedanken
reichen bis ins Jahr 1943 zurück, als sein Vater, der Polizist in Rugbüll ist, Max Ludwig Nansen
von den Nationalsozialisten mit einem Malverbot belegen muss. Ab diesem Moment steht Siggi
vor einem Dilemma: Gehorcht er seinem Vater, der Siggi als Zwischenträger benutzen will,
oder verbündet er sich mit dem Maler, der Siggi als Vertrauter sieht? Wegen seiner Liebe zur
Kunst versucht Siggi die Gemälde vor seinem Vater und den nationalsozialistischen
Kulturfunktionären zu schützen. Weil sein Vater aber auch nach dem Krieg immer noch das
Malverbot überwacht, glaubt Siggi, dass er die Bilder immer noch beschützen muss. Deshalb
entwendet er ein Gemälde aus einer Ausstellung und wird er in die Jugendstrafanstalt
aufgenommen. Als er seine Schreibaufgabe erledigt hat, wird er wegen guter Führung vorzeitig
entlassen. Was er in der Zukunft tun soll, bleibt am Ende offen.
21

5.1.2 Historischer Kontext des Autors
Siegfried Lenz wurde nach Große (2011:9-10) und Brandenburg (2006:10-11) 1926 in Lyck
geboren und trat 1943 in die Kriegsmarine ein. Während der letzten Kriegsmonate desertiert er
in Dänemark und später kam er in englische Kriegsgefangenschaft. Der Zweite Weltkrieg hatte
also großen Einfluss auf seine Kindheit und Jugend und später auch auf sein Werk. Große
(2011:11) ist davon überzeugt, dass Lenz zu den wichtigsten Schriftstellern der Nachkriegszeit
gehört. Auch Deutschstunde, der 1968 veröffentlicht wurde, wird von Ereignissen aus dem
Dritten Reich geprägt. Mit seiner Desertion hat Lenz deutlich gemacht, dass er es nicht mit
seinen Kampfgenossen, den Offizieren und sogar Hitler einverstanden war. Nach dem Krieg
hat er diese widersprüchlichen Ideen in seinen literarischen Werken eingearbeitet. In seinem
ersten Roman Es waren Habichte in der Luft (1951) wurde Große (ebd.) der „Konflikt des
Individuums mit totalitären Herrschaftsstrukturen“ schon klar. In diesem Roman werden die
Figuren, genauso wie in Deutschstunde, „in Extremsituationen versetzt, in denen ihnen nur die
Alternative zwischen dem eigenen Untergang und dem Verrat an den anderen bleibt.“ (ebd.:12)

In Deutschstunde ist es Siggi, der wählen muss zwischen seinem Vater, der die Befehle vom
Staat befolgt und der Überwachung des Malverbots folgt, und Max Ludwig Nansen, der nicht
aufhört zu malen und dessen Gemälde gesichert werden sollen. Aber auch Siggis Vater Jens
Ole Jepsen und der Maler sollen wählen zwischen ihrem eigenen Untergang oder dem Verrat,
d.h. den Befehlen nicht nachkommen und ins Gefängnis kommen oder die Befehlen schon
befolgen und so den anderen verraten. Dieser Zwiespalt bildet die Grundlage für die Lenz‘
Gesellschaftskritik. Außerdem hat Lenz laut Berezo (2003:43) und Große (2011:18) als Modell
für Max Ludwig Nansen den Maler Emil Nolde benutzt, „dem 1941 von den Nationalsozialisten
Malverbot erteilt wurde.“

Diese Verbindung zwischen literarischer Erzählung und wahrhaften Ereignissen findet man
auch in der „Suche nach sicheren Verstecken“ zurück, denn diese Suche ist „symptomatisch für
die Situation der Verfolgten des Dritten Reichs.“ (Elm, 1974:90) Und es ist nicht nur Siggi, der
ein Versteck sucht. Auch sein Bruder Klaas, der sich selbst verstümmelt hat, um nicht im Krieg
kämpfen zu müssen, und deshalb von seiner Familie verstoßen wurde, und der Maler sind auf
der Suche nach einem Versteck.

Weil wir jetzt der Kontext des Autors kennen, können wir schließen, dass Lenz mit seinem
Roman versucht „das Nazi-Regime, sowie die Gesellschaft in der Zeit des Zweiten Weltkriegs
in Deutschland darzustellen und zu denunzieren“. (Berezo, 2003:17)
22

5.2   Die Teile des Textes

Aus der vorhergehenden Darstellung können wir schließen, dass der Inhalt des Romans und der
Kontext des Textentstehens ausreichend sind, um die Intention des Autors herauszufinden: Er
will Kritik an der Gesellschaft üben. Doch soll laut Berezo (2003:15) auch die Struktur des
Textes untersucht werden, weil sie auch ein Teil der Intention des Autors ist. Vor allem für die
Übersetzung des Textes ist die Struktur wichtig, denn sie soll mit der Struktur in der Zielsprache
übereinstimmen, so dass die Intention des Autors vollständig übertragen wird. Übrigens folgen
wir der Methode des hermeneutischen Zirkels. Wir machen also eine kreishafte Bewegung
zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen des Textes, also zwischen dem Inhalt und der
Struktur. Deshalb wurde zuerst das Ganze des Textes erklärt und folgt jetzt das Einzelne.
„Dieser Prozeß ermöglicht es uns, den Roman durch den ständigen Vergleich zwischen dem
Ganzen und seinen einzelnen Teilen auszulegen.“ (ebd.) Der Vergleich ist notwendig, weil der
Inhalt erklärt, warum der Autor für die Struktur des Textes gewählt hat, während die Struktur
den Inhalt weiter erläutert. „Nach dieser systematischen Analyse der verschiedenen
Charakteristika des Werkes hat der Übersetzer die Möglichkeit, die Problematik des Romans
zu erkennen und so die angemessenen Entscheidungen bei der Fertigung des Zieltextes zu
treffen.“ (Berezo, 2003:15)

5.2.1 Der Allgemeineindruck
Der Roman gliedert sich in zwanzig Kapitel, die je einen eigenen Titel haben und immer ein
anderes Thema behandeln. So kann jedes Kapitel „als geschlossene [Einheit] betrachtet
werden“ (Berezo, 2003:22). Dass jedes Kapitel als Einzelerzählung betrachtet werden kann, ist
auch die Folge der verbalen Zeitebene. Siggi schreibt nämlich in der Gegenwart über seine
Vergangenheit und deswegen handelt jedes Kapitel sowohl von der Gegenwart als auch der
Vergangenheit ohne deutlichen Übergang oder klare chronologische Reihenfolge. Die Kapitel
sind deshalb     je Einzelerzählungen,      die unabhängig      voneinander     zusammen eine
Gesamterzählung bilden. Doch lässt sich „eine allgemeine Zeitstruktur Anfang – Entwicklung
– Schluß […] erkennen“ (Berezo, 2003:22). In dieser allgemeinen Zeitstruktur wird dann die
von der verbalen Zeitebene kreierte Struktur eingeschlossen. Es gebe nämlich, so sagt Große
(2011:18-19), eine Rahmenerzählung in der Gegenwart, in der Siggi Insasse einer
Jugendstrafanstalt sei, und es gebe eine Haupthandlung in der Vergangenheit, in der Siggi in
Rugbüll lebt und der Konflikt zwischen seinem Vater und dem Maler sein Leben drastisch
23

ändere. Die verbale Zeitebene gehört aber zu den einzelnen Elementen und wird deshalb im
Folgenden näher erörtert.

5.2.2 Die einzelnen Elemente
In Bezug auf die einzelnen Elemente der Textstruktur sind drei Sachen zu beobachten: die
verbale Zeitebene, der Syntax und die Lexik. Berezo (2003:22) bemerkt, das Ziel der verbalen
Zeitebene sei nicht nur die Kapitel auf sich funktionieren zu lassen, sie werde auch bewusst
vom Schriftsteller benutzt, um seine Intention zu verdeutlichen. Die Mischung zwischen
Vergangenheit und Gegenwart ist schon am Anfang des Romans klar. Zunächst redet Siggi
noch im Perfekt, als er erzählt, dass er eine Strafarbeit bekommen hat:
       Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben. (Lenz,2011:7)
Danach wechselt er vornämlich zwischen Präteritum und Präsens:
       Aber sie dürfen mir nicht abhanden kommen hinterm Deich, ich muß sie im Auge
       behalten, und ich folge ihnen, wie ich ihnen damals folgte: […] wo ich mich, falls sie
       sich umsahen, nur zu bücken brauchte, um nicht entdeckt zu werden. (Lenz, 2011:53)
Diese Abwechslung zwischen Präsens und Präteritum und „der von Siggi erstellte Parallelismus
zwischen beiden Zeitperioden“ werden laut Berezo (2003:22-23) von Lenz benutzt, um „seine
soziologische Kritik nicht nur auf die Nazizeit zu beschränken. Er versucht ein Gefühl der
Zeitlosigkeit zu vermitteln und die ganze deutsche Gesellschaft in diese Kritik einzuschließen.“
Für Lenz sei der Inhalt wichtiger als die Chronologie. Er wolle nicht nur eine Geschichte
erzählen, sondern seine Gesellschaftskritik hervorheben. Dies zeigt uns, dass nicht nur das
Ganze des Textes reicht, um den Roman vollständig interpretieren zu können. Auch die
kleineren Teile sind wichtig und weil dieses Zusammenspiel zwischen Gegenwart und
Vergangenheit die Intention des Autors verdeutlicht, soll der Übersetzer die verbale Zeitebene
im Zieltext genau übernehmen. Ob Walvis das in der niederländischen Übersetzung auch so
macht, wird im sechsten Kapitel untersucht. Im Folgenden kommen zuerst die kleinsten
Elemente, d.h. auf Satz- und Wortebene, zur Sprache, denn auch sie sind für ein gutes
Verständnis unverzichtbar.

In Bezug auf die Syntax, benutzt Lenz laut Berezo (2003:31) in Deutschstunde vor allem
Parataxe, d.h. „Nebenordnung von Sätzen oder Satzgliedern“ (Duden) und diese werden „nicht
durch eine Konjunktion verbunden“ (Duden), sie sind also asyndetisch. Berezo (2003:32)
meint, dass Siegfried Lenz „durch diesen bewußten Satzbau […] die Absicht [verfolgt], die
Gefühle des Erzählers deutlicher zum Vorschein kommen zu lassen. […] Die Realität soll
dargestellt werden, wie der Erzähler sie empfindet, ohne Reflexion.“ Das wäre nicht möglich,
24

als Lenz Subordination benutzt hätte, denn „da, wo eine Subordination der Sätze vorkommt,
sind auch Reflexion und Kausalität zu finden.“ Wahrscheinlich habe der Autor diese
Erzählweise benutzt, weil er gemeint habe, dass die Kunstverbote und anderen Nazipraktiken
„auf einer so unverständlichen und unmenschlichen Ebene der Geschichte der Psychologie und
der Soziologie stattgefunden haben, daß es unmöglich war, alle Geschehnisse jener Zeit
objektiv und mit einer gewissen Logik darzustellen.“ (Berezo, ebd.) Mit dieser Erzählweise
bekommt der Leser einen klaren Eindruck der Realität durch Siggis Augen und sieht er ein,
dass Siggi nicht alles, was passiert, verstehen kann. Anhand von Ellipsen werde der Leser
angeregt, über den Geschehensablauf zu reflektieren und zu Schlussfolgerungen zu kommen,
wo Siggi sie nicht finden kann (Berezo, 2003:33). Wie schon im dritten Kapitel erwähnt, soll
der Übersetzer auch diese Struktur so gut wie möglich in der Zielsprache aufnehmen, so dass
im Fall von Walvis der niederländische Leser denselben Eindruck wie der deutsche Leser
bekommt.

Neben dem Satzbau ist auch die Lexik für die Übersetzung wichtig. Berezo (2003:36) meint,
diese Lexik sei abwechslungsreich und von hohem sprachlichen Niveau, sie könne als
‚poetisch‘ betrachtet werden. Er behauptet auch, das Adjektiv habe ein großes semantisches
Gewicht, denn es gebe oft Häufungen von Adjektiven bei einem einzigen Substantiv oder
Oxymora, d.h. eine „Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe in einem
Kompositum oder in einer rhetorischen Figur“ (Duden), z.B. „ein dekorativer Zusammenbruch“
(Lenz, 2011:352) oder „die Freuden der Pflicht“ (Ebd.:10). Das zweite Oxymoron enthält
Berezo (2003:38) zufolge Ironie, denn das Substantiv Freude hat „eine bestimmte denotative
semantische Bedeutung, die sich mit Pflicht nicht vereinbaren läßt, denn dieses letzte Substantiv
hat eher die Konnotation von Notwendigkeit“. Wegen des Zwangs einer Pflicht sei es oft nicht
möglich sie mit Freude in Verbindung zu setzen. Außerdem verstärke die Mehrzahl des
Substantivs Freude die Ironie: Es ist schon schwierig eine Freude mit der Pflicht zu verbinden,
geschweige denn, dass es mehrere Freuden gäbe, die die Pflicht erweckt. Überdies enthält der
ganze Roman solche ironischen Wortspiele und gemäß Elm (1974) wurde diese Ironie von Lenz
sowohl in den Wörtern als auch in den Sätzen versteckt. Ironie auf Satzebene sei zum Beispiel
die Kombination zwischen „Jepsens Fähigkeit, vorauszusehen“ und seine „Unfähigkeit, die
Kriegsniederlage zu erkennen“ (ebd.:94). Diese Art Ironie wird vom Inhalt geprägt. Als der
Übersetzer den Inhalt angemessen übersetzt, wird er auch diese Ironie bekommen. Schwieriger
zu übersetzen ist die Ironie auf Wortebene, denn sie hängt von der Wortwahl des Übersetzers
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ab. Elm (ebd.:93) erwähnt das Beispiel ‚vorstellen‘ für Ironie in einem Wort. Siggi benutzt
dieses Verb als er über die Polizisten, die ihn im Museum ergreifen, erzählt:
       Ein Ellenbogen und eine weiche Faust stellten sich meinen Rippen vor, immer noch so,
       daß es ohne Schmerzen abging. (Lenz, 2011:524)
Die Ironie werde dank der Mehrdeutigkeit möglich, denn mit dem Verb ‚vorstellen‘ werde die
„unvermutete und ziemlich energische Verhaftung als einen Akt der Höflichkeit verschleiert.“
(Elm, 1974:93) Auch auf lexikalischer Ebene soll der Übersetzer die Intention des
Schriftstellers in der Übersetzung übertragen.
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6.   ANALYSE DER NIEDERLÄNDISCHEN ÜBERSETZUNG

In diesem Kapitel werden wir die niederländische Übersetzung Duitse les des deutschen
Romans Deutschstunde analysieren. Der Leitfaden dafür ist die Studie von Vicente Berezo
(2003). Wir folgen etwa seinem Aufbau und führen die Analyse auch anhand der Hermeneutik
aus. Grundlage der Hermeneutik ist die Textinterpretation und diese kann mit dem
hermeneutischen Zirkel erreicht werden: Der Leser macht Kreisbewegungen zwischen dem
Ganzen und den Teilen des Textes. Beide bilden die Intention des Autors und wenn der Leser
die Intention des Autors kennt, wird er auch den Text interpretieren können. Doch scheint es,
als ob es nur eine korrekte Interpretation gibt. Das ist aber nicht der Fall. Ein geschriebener
Text kann immer auf verschiedene Arten und Weisen interpretiert werden und es wird nie sicher
sein, was genau die Intention des Autors war.

Sowohl Berezo (2003) als auch Elm (1974) betonen in ihrer Analyse des Romans
Deutschstunde die Gesellschaftskritik und den Link zwischen der Kunst, der Landschaft und
den Figuren. Auch wir gehen davon aus, dass diese Elemente am Wichtigsten sind für die
Intention des Autors und, dass der Übersetzer sie so genau wie möglich in die Zielsprache
überbringen soll. Wenn die Intention, wie sie von Berezo interpretiert wurde, in der
Übersetzung nicht (korrekt) wiedergegeben wurde, hat er daran Kritik geübt, weil er meint, dass
der Übersetzer immer die Intention des Autors berücksichtigen muss. (Berezo, 2003:96)
Deshalb werden auch wir an den Stellen, wo der niederländische Übersetzer von der Intention
des Autors abgewichen hat, Kritik üben. Da es keine gute oder schlechte Übersetzung gibt,
meinen wir mit der Kritik nicht, dass es um eine schlechte Übersetzung geht, sondern, dass der
Übersetzer die Intention besser oder deutlicher in die Übersetzung einführen könnte. Die
Möglichkeit mehrerer Übersetzungsweisen verwehrt uns, im Gegensatz zu Berezo, eine eigene
Übersetzung vorzuschlagen, genau weil die Übersetzung von Walvis schon ‚korrekt‘ ist.
Mehrere Übersetzungsweisen können die Intention des Autors wiedergeben, ohne dass die eine
besser ist als die andere. Unsere ‚Kritik‘ ist also nur ein Vorschlag, keine Verpflichtung. Wir
möchten also auch nicht diesen Eindruck erwecken.

Zuerst werden wir anhand der vorhergehenden allgemeinen Analyse untersuchen, ob der
niederländische Übersetzer Jaap Walvis versucht hat die Intention des Autors, wie sie von
Berezo unterstellt wird, so genau wie möglich in den Zieltext einzuarbeiten. Danach gehen wir
wie Berezo auf die zwei wichtigsten Themen des Romans ein: Kunst und Landschaft. Wegen
ihrer großen Bedeutung für das Verständnis des Romans, werden wir diese Themen genau
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