Analyse zur Ecopop-Initiative - Zürich, 01.11.2014
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Analyse zur Ecopop-Initiative Zürich, 01.11.2014 Autoren: Akash Arasu, MA in Volkswirtschaft, Vizepräsident von reatch, akash.arasu(at)reatch.ch Servan Grüninger, BSc in Biologie, Präsident von reatch, servan.grueninger(at)reatch.ch Carlos Mora, MSc in Biologie, Vizepräsident von reatch und Leiter der Arbeitsgruppe Migration & Wis- senschaft, carlos.mora(at)reatch.ch Joel Lüthi, Student der Biologie und Vorstandsmitglied von reatch, joel.luethi(at)reatch.ch Martin Roszkowski, BSc in Biologie, martin.roszkowski(at)reatch.ch Jonas Schmid, BSc in Biologie und Economics, jonas.schmid(at)imcr.uzh.ch Jan Serwart, Wirtschaftsstudent, jan.serwart(at)bluewin.ch Die vorliegende Analyse der Arbeitsgruppe Wissenschaft & Migration gibt die Ansichten der Autoren wieder und entspricht nicht zwingend denjenigen von reatch oder seiner Mitglieder. reatch – research and technology in switzerland | www.reatch.ch | 8000 Zürich
Analyse zur Ecopop-Initiative Abstract Die reatch Arbeitsgruppe ‚Wissenschaft und Auswirkungen der Ecopop-Initiative auf den Wissenschaftsstand- Migration‘ hat die am 30. November 2014 zur ort Schweiz Abstimmung gelangende Ecopop-Initiative einem wissenschaftlichen Faktencheck unter- Auch in Bezug auf die zweite Kernforderung der Initia- tive, der Reduktion der Nettomigration auf 0.2% jähr- worfen und die Auswirkungen einer Annahme lich, offenbaren unsere Untersuchungen verschiedene auf den Wissenschafts- und Forschungsstand- Probleme: ort Schweiz untersucht. 1. Der von den Initianten behauptete Zusammenhang Ecopop und die Herausforderungen des globalen Bevölkerungs- zwischen Einwanderung und Zersiedelung ist nicht wachstums haltbar (Kapitel 2.1). Die Initianten sprechen mit der Frage nach den ökologi- 2. Die Einwanderung in die Schweiz wurde bis anhin schen Folgen eines weltweiten Bevölkerungsanstiegs ein stark vom Arbeitsmarkt getrieben, wobei sich ein wichtiges Thema an, doch die Initiative ist ungeeignet, mangelndes Angebot von qualifizierten Fachkräften um eben diese Folgen anzugehen. Die Forderung, min- in der Schweiz offenbarte. Eine Reduktion des destens 10% der DEZA-Hilfsgelder zur Förderung der Einwanderungssaldos auf 0.2% würde aber an den freiwilligen Familienplanung einzusetzen, ist nämlich aus Ursachen der Migration nichts ändern und damit dreierlei Hinsicht verfehlt: ein wirtschaftlich verheerenden Arbeitskräfteman- gel zur Folge haben (Kapitel 2.2 und 2.3). 1. Die Initianten schliessen voreilig auf einen direkten Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum 3. Die Annahme der Initiative würde in weiten Teilen in Entwicklungsländern und einer ökologischen der Wirtschaft, aber insbesondere im Wissen- Mehrbelastung für die Umwelt (Kapitel 1.1. und schafts- und Technologiebereich zu massiven Rek- 1.2.). rutierungsproblemen führen. Eine verstärkte För- derung einheimischer Fachkräfte ist wünschens- 2. Die Herausforderungen des globalen Bevölke- wert, ist jedoch nicht innerhalb weniger Jahre zu re- rungswachstums können über eine Verbesserung alisieren. Die von den Initianten vorgegebene Um- der globalen Nahrungsmittelsicherheit und der setzungsfrist der Initiative ist deshalb viel zu kurz, Etablierung eines nachhaltigen Landwirtschaftssys- um entsprechende Massnahmen ergreifen zu kön- tems angegangen werden (Kapitel 1.3.1). nen (Kapitel 2.4). 3. Die Förderung freiwilliger Familienplanung kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie mit stabilen po- litischen Verhältnissen, einem verlässlichen Ge- sundheitssystem sowie einer Stärkung von Frauen- rechten einhergeht (Kapitel 1.3.2). Inhalt 1. Bevölkerungswachstum......................................................................................................................................................3 1.1. Einleitung......................................................................................................................................................................3 1.2. Ursachen des Bevölkerungswachstums ..............................................................................................................4 1.3. Lösungsansätze ...........................................................................................................................................................4 1.3.1. Verbesserung der Nahrungsmittelsicherheit ..................................................................................................4 1.3.2. Beschleunigung des demographischen Übergangs ........................................................................................5 2. Migrationsregulation in Bezug auf die Schweiz.........................................................................................................6 2.1. Wie viele Menschen verträgt die Schweiz tatsächlich? ..................................................................................6 2.2. Hintergrund zur Masseneinwanderungs- und Ecopop-Initative ...............................................................6 2.3. Ursachen der aktuellen Migration in die Schweiz ...........................................................................................7 2.4. Migration im Schweizer Wissenschaft- und Technologiesektor – mögliche Auswirkungen der Masseneinwanderungs- und Ecopop-Initiative...............................................................................................................7 2
Analyse zur Ecopop-Initiative 1. Bevölkerungswachstum Tragfähigkeit bereits überschritten ist. Zuerst sollten wir aber näher darauf eingehen, was die Ursprünge des Begriffs Tragfähigkeit sind, bevor wir dessen Implikati- 1.1. Einleitung onen diskutieren. Die Idee, dass die Bevölkerungsgrösse eines der drän- Den frühesten Gebrauch des Begriffs der Tragfähigkeit gendsten Umweltprobleme unserer Zeit sei, wurde von findet man in technischen Berichten über die Ladungen Paul Ehrlich im Jahre 1968 mit seinem Buch ‚The Popu- von Schiffen. Tragfähigkeit wurde beschrieben als die lation Bomb‘ aufgebracht. Neben sonstigen Umweltfra- Kapazität eines Objekts Y eine Menge von X zu tragen gen beschäftigte sich das Buch mit dem ethischen Di- oder zu transportieren. In der Diskussion um die Kapa- lemma, ob die Zahl der Menschen an sich schlecht für zität des menschlichen Lebensraumes wurde das Schiff die Umwelt sei. Ehrlich entwickelte daraus anschliessend oder Objekt Y mit dem Planeten Erde gleichgesetzt. Die das sogenannte IPAT-Modell, welches den Einfluss des Menge X steht nun für die Zahl der Menschen, welche Menschen auf die Umwelt (engl. impact) direkt mit der Y tragen kann.4 Das Problem dieser Analogie ist, dass Populationsgrösse, Wohlstand (engl. affluence) und Tech- ein verhältnismässig einfacher Zusammenhang – die nologiestand einer Gesellschaft in Verbindung setzte.1 Fähigkeit eines Schiffes, etwas zu tragen – mit einem komplexen System wie dem Planeten Erde in Verbin- Impact = Population × Wohlstand × Technologie dung gesetzt wird. Die unzähligen weiteren Faktoren, welche den menschlichen Lebensraum definieren, wie Das IPAT-Modell wurde im Laufe der Zeit immer wie- der in Frage gestellt. Newman (2011) zeigte, dass dichter etwa technologische Innovation, Kultur oder natürliche besiedelte Städte einen kleineren Einfluss auf ihre Um- Katastrophen, werden so nicht berücksichtigt. Sayre welt haben.2 Vergleichsstudien ergaben weiter, dass (2008) sagt es treffend: „Man kann die Welt mit einem Städte mit einer hohen Bevölkerungszahl pro Flächen- Schiff vergleichen, aber das heisst noch lange nicht, dass einheit zum Teil grüner sind als gering verdichtete Vo- die Welt wie ein Schiff ist“. rorte.3 Zudem könnte das ethische Dilemma, welches Ungeachtet dessen ist das Konzept der Tragfähigkeit im durch Ehrlich’s Schlussfolgerungen erzeugt wurde, auch Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum allge- zu nationalistischen und potentiell xenophobischen mein akzeptiert. Im Grunde kann die Tragfähigkeit des Schlussfolgerungen führen, wie zum Beispiel der Be- menschlichen Lebensraumes mit dem Minimumgesetz schränkung der Bevölkerungszahl mit Umweltschutz als von Sprengel und Liebig (1828) ausgedrückt werden. Begründung. Die Tragfähigkeit der Erde korreliert zum Vorhanden- Vertreter von Ehrlichs Theorie (eingeschlossen Ehrlich sein der knappsten und limitierenden Ressourcen, wel- selber) sprechen oft von der sogenannten ‚Tragfähigkeit‘ che im Falle des Menschen Nahrung und Wasser sind. oder ‚Kapazität‘ (engl. carrying capacity) des menschlichen Anders gesagt, die maximale Kapazität des menschli- Lebensraumes. Sie gehen dabei davon aus, dass diese chen Lebensraums ist das minimale Verhältnis zwischen Abbildung 1: Veränderung der Geburten- und Sterberaten in Industrie- und Entwicklungsländern. Quelle: United Nations, Department of Economic and Social Affairs (2013). World Population Prospects: The 2012 Revision. http://esa.un.org/wpp/ 3
Analyse zur Ecopop-Initiative den vorhandenen globalen Nahrungs- und Wasservorrä- tumsrate in den letzten Jahrzehnten langsam abgenom- ten und unserem individuellen Nahrungs- und Wasser- men hat, wächst die Weltbevölkerung deshalb immer verbrauch.5 noch um über 80 Millionen Menschen pro Jahr. 8 Dieses Phänomen nennt sich demographisches Momentum. Diese Definition der Tragfähigkeit ist natürlich sehr Das Wachstum wird relativ gesehen kleiner, doch in allgemein gehalten und tatsächlich müssten eine sehr absoluten Zahlen ist das Wachstum immer noch nahe grosse Anzahl von Variablen für eine genauere Bestim- an seinem Höchststand aus den 80er Jahren.9 mung der maximalen Tragfähigkeit eines so komplexen Lebensraumes wie der des Menschen berücksichtigt werden. Möchte man das Konzept der Tragfähigkeit nun auf einen einzelnen Staat anwenden, so kann man 1.3. Lösungsansätze dies nicht unabhängig von anderen Staaten getan wer- den, besonders wenn diese miteinander über den inter- 1.3.1. Verbesserung der Nahrungsmittelsicherheit nationalen Handel oder durch geographische Gegeben- Im Zusammenhang mit dem anhaltenden Bevölke- heiten verbunden sind und gemeinsame Ressourcen rungswachstum verweisen Experten und Politiker oft oder ökologische Lebensräume nutzen.5 auf die zu erwartenden Probleme in Bezug auf die Nah- rungsmittelversorgung. Zwar wuchs die landwirtschaftli- che Produktion in den vergangenen Jahren schneller als 1.2. Ursachen des Bevölkerungswachstums1 die Bevölkerung, aber einerseits verlangsamt sich diese Wachstumsrate seit einigen Jahren beständig und ande- Die Weltbevölkerung ist im vergangenen Jahrhundert rerseits ist eine sichere Nahrungsmittelversorgung nur in rasant gewachsen: Von 2.5 Milliarden Menschen im Teilen der Welt gewährleistet.10 Trotzdem war es mög- Jahre 1950 auf heute über 7 Milliarden Menschen. Zwar lich, dank Produktionssteigerungen die Nahrungsmitte- hat sich dieses Wachstum mittlerweile etwas abge- lerträge so zu erhöhen, dass heute weniger Menschen schwächt, aber laut UNO-Prognosen wird die Weltbe- Hunger leiden müssen als noch vor 20 Jahren.11 Zwar völkerung bis Ende dieses Jahrhunderts auf ungefähr 10 sind weltweit immer noch 805 Millionen Menschen Milliarden Menschen anwachsen.6 unterernährt, aber verglichen mit zwanzig Jahren zuvor Die Gründe für das enorme Bevölkerungswachstum ist das ein Rückgang um gut 200 Millionen Hunger lassen sich auf die beiden Faktoren Geburten- und Ster- leidender Menschen.12 Einzig in Afrika liess sich in berate herunterbrechen (siehe Abbildung 1). Dank In- absoluten Zahlen ein Anstieg verzeichnen. Relativ gese- dustrialisierung, technologischen Verbesserungen in der hen, d.h. wenn man das Bevölkerungswachstum in Landwirtschaft (insbesondere der Grünen Revolution) Afrika mitberücksichtigt, ist jedoch auch dort ein relati- und grossen medizinischen Fortschritten sank die Ster- ver Rückgang der Hungerleidenden zu vermerken.13 berate seit dem 19. Jahrhundert in allen Industrienatio- Eine einfache Lösung zur Verbesserung der Nahrungs- nen. Diese Abnahme führte zu einem schnelleren mittelversorgung wird es voraussichtlich nicht geben. In Wachstum, welches jedoch durch die sinkende Gebur- der Vergangenheit war die Ausweitung der landwirt- tenrate gedämpft wurde. Die Ursachen für sinkende schaftlichen Anbaufläche, die Steigerung der Anbaueffi- Geburtenraten sind vielschichtig und komplex und zienz sowie die Erhöhung der Fischfangraten ausrei- hängen insbesondere von den Sterberaten und der wirt- chend, um den Hunger der Weltbevölkerung stillen zu schaftlichen Situation eines Landes ab. Bei niedrigen können.14 Experten gehen jedoch davon aus, dass bis Sterberaten und guter Wirtschaftslage müssen Familien 2050 ein Anstieg der Nahrungsmittelproduktion um 50 weniger stark mit dem Verlust der Kinder rechnen, bis 100% von Nöten ist, um die steigende Weltbevölke- können sich mit weniger Kindern versorgen und mehr rung ernähren zu können.15 in einzelne Kinder investieren. Doch wie ausgeprägt dieser Zusammenhang ist, hängt stark von Bildung, Dazu sind primär neue Züchtungsmethoden unter Mit- Kultur, Politik, verfügbaren Verhütungsmitteln und einbezug von gentechnologischen Ansätzen notwen- vielen anderen Faktoren ab.7 dig.16 Andererseits kann aber auch die Verbesserung konventioneller Ansätze zu ertragreicheren Ackerpflan- In den Entwicklungsländern konnte seit Mitte des 20. zen führen.17 Jahrhunderts ebenfalls ein Rückgang der Sterberate beobachtet werden, doch die Geburtenrate sank lang- Um die globale Landwirtschaft nicht nur leistungsfähi- samer und stärker verzögert als in den bereits entwickel- ger, sondern auch nachhaltiger zu gestalten, sind neben ten Industrienationen. Diese Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Fortschritten aber vor allem auch Geburten- und Sterberate führte seither zu einer wahren politische und gesellschaftliche Veränderungen nötig.18 Bevölkerungsexplosion in den Entwicklungsländern. Denn die Gewährleistung von Lebensmittelsicherheit Obwohl die Geburtenrate und damit die relative Wachs- wird durch einen steigenden Fleischkonsum,19 den Kli- mawandel20 sowie ein grosses Mass an Nahrungsmittel- verschwendung21 zusätzlich erschwert. 1Die erste Version dieses Kapitels stützte sich auf bereits überholte wissenschaftliche Quellen. Die Autoren entschuldigen sich für diesen Obwohl die westlichen Industriestaaten nach wie vor Fehler und haben die entsprechenden Stellen korrigiert. Die Folgerun- gen der Gesamtanalyse waren davon jedoch nicht betroffen und am meisten Fleisch konsumieren, holen Entwicklungs- blieben unverändert. und Schwellenländer rasch auf. Das führt dazu, dass ein immer grösserer Teil der weltweiten Getreideproduktion 4
Analyse zur Ecopop-Initiative als Tiernahrung verwendet wird.22 Zudem gehen Exper- Insofern scheint die Forderung der Ecopop-Initiative, ten davon aus, dass ein Drittel der weltweit produzierten mehr Entwicklungshilfegelder in die freiwillige Famili- Nahrung anderweitig verloren geht oder verschwendet enplanung zu investieren, auf den ersten Blick durchaus wird.23 sinnvoll zu sein, zumal die betroffenen Länder zur Zeit nur schlecht darauf vorbereitet sind, mit den Herausfor- Um auch langfristig genügend Nahrungsmittel bereit- derungen eines derartigen Bevölkerungswachstums stellen zu können, braucht es deshalb eine Verbesserung umzugehen. Das Ecopop-Initiativkomitee fordert des- der Produktionsrate, die Stärkung der landwirt- halb, dass „10% der staatlichen (DEZA)-Hilfsgelder zur schaftlichen Infrastruktur in Entwicklungsländern, eine Förderung der freiwilligen Familienplanung eingesetzt verstärkte Forschung an leistungsfähigeren Ackerpflan- werden“.34 Dieser Vorschlag zur Beschränkung des zen, die Reduktion von Lebensmittelverschwendung Bevölkerungswachstums zielt auf eine Beschleunigung und eine Veränderung der Ernährungsweise in den des sogenannten demographischen Übergangs und westlichen Ländern.24 somit auf eine früher einsetzende Geburtenreduktion in den Entwicklungsländern. Der demographische Über- gang beschreibt den Übergang von hohen zu niedrigen 1.3.2. Beschleunigung des demographischen Übergangs Geburten- und Sterberaten und dem sich daraus erge- In den frühen Nuller-Jahren ging die Wissenschaft weit- benden flacheren Wachstumsverlauf.35 Die Idee, diesen gehend davon aus, dass die Bevölkerung mit grosser Übergang mittels sexueller Aufklärung und verbesserter Wahrscheinlichkeit noch vor Ende des Jahrhunderts Familienplanung zu beschleunigen, ist nicht neu: So aufhören würde zu wachsen.25 Die Vereinten Nationen zeigen die Befürworter dieser Massnahme gerne auf schätzten 2001, dass die Bevölkerung bis 2050 auf ca. 9 Länder wie Sri Lanka, Iran oder Costa Rica, deren Ferti- Milliarden Menschen anwachsen, sich dann aber auf litätsrate aufgrund von Aufklärungsmassnahmen halbiert diesem Niveau einpendeln würde.26 Eine der Haupt- wurde. Doch in vielen Ländern spielt die Religion und gründe für diese Schätzung war die Annahme, dass der Kultur immer noch eine dominante Rolle in der Famili- Rückgang der Geburtenrate in allen Ländern voran- enplanung, sodass alternative Ansätze einen schweren schreiten und so insbesondere in den Entwicklungslän- Stand haben.36 dern zu einem geringeren Bevölkerungswachstum füh- Deshalb stellt sich die Frage, ob Massnahmen zur Fami- ren würde.27 In den vergangenen Jahren stellte sich lienplanung überhaupt an erster Stelle stehen sollten, jedoch heraus, dass die Geburtenziffer in zahlreichen wenn es um eine Reduktion des Bevölkerungswachs- Ländern Afrikas unterschätzt wurde oder nicht so tums geht. Eine Antwort darauf ist stark abhängig von schnell absank, wie erwartet.28 Überdies wurde die Le- der Antwort auf die Frage, welche Faktoren überhaupt benserwartung bei der Geburt in zahlreichen Ländern einen Einfluss auf Fertilitätsraten haben. Es bestehen unterschätzt.29 Zwar ist weiterhin davon auszugehen, verschiedene Theorien dazu, die den Fokus auf unter- dass das Bevölkerungswachstum über die Zeit abklingen schiedliche Aspekte legen. Allen gemeinsam ist jedoch, wird und dass auch in Afrika die Geburtenraten fallen dass sie einen negativen Zusammenhang zwischen der werden, nur scheint die Verlangsamung weniger rasch Fertilitätsrate einerseits und der persönlichen Selbstbe- stattzufinden als bisher angenommen. stimmung von Frauen andererseits postulieren.37 Konk- Mittlerweile ist mit grosser Wahrscheinlichkeit anzu- ret: Wenn Frauen über Zugang zu Bildung und zum nehmen, dass die Bevölkerung auch nach 2050 weiter- Arbeitsmarkt verfügen sowie sexuell selbstbestimmt wachsen wird, sodass im Jahre 2100 voraussichtlich fast sind, dann sinkt die Geburtenrate.38 10.9 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden.30 Zudem ist für eine nachhaltige Familienplanung in je- Der Grossteil des Anstiegs wird dabei auf Entwick- dem Fall auch ein funktionierendes Gesundheitssystem lungsländer in Afrika entfallen.31 Die weitere globale notwendig, weil nur so dafür gesorgt werden kann, dass Bevölkerungsentwicklung der Erde hängt deshalb zu ausreichend Verhütungsmittel vorhanden sind und das einem grossen Teil davon ab, wie stark die Geburtenrate Wissen über deren Anwendung unter die Bevölkerung in diesen Ländern zurückgehen wird. gerät. Viele Entwicklungslänger mit hohen Geburtenra- ten waren in den vergangenen Jahren jedoch von politi- Der Rückgang des Bevölkerungswachstums ist dabei vor scher Instabilität, sozialen Unruhen oder gar Bürgerkrie- allem für die Länder mit den höchsten Geburtenraten gen betroffen. Unter diesen Umständen ist schon die von entscheidender Bedeutung. In zwölf Staaten (Af- Abdeckung medizinischer Grundbedürfnisse eine Her- ghanistan, Angola, Burkina Faso, Burundi, Tschad, ausforderung. Demokratische Republik Kongo, Mali, Niger, Nigeria, Somalia, Osttimor, Uganda) wiesen Frauen zwischen Sollte sich die Schweiz wirklich zum Ziel setzen wollen, 2005 und 2010 eine Fertilitätsrate von mehr als sechs bei der Reduktion des Bevölkerungswachstums in Ent- Kindern aus und es ist davon auszugehen, dass diese wicklungsländern mitzuhelfen, dann sind Massnahmen Rate in Zukunft um weniger als ein Kind pro Jahrzehnt zur freiwilligen Familienplanung wohl fehl am Platz. Im zurückgehen wird.32 Bis Ende des Jahrhunderts werden besten Fall kosten sie den Steuerzahler Geld, ohne eine die erwähnten Länder ihren Anteil an der Weltbevölke- Wirkung zu entfalten. Im schlechteren Fall sorgt die rung wohl gegenwärtig 5.1% auf 19.3% vergrössern, was Umverteilung von Entwicklungshilfegeldern dafür, dass in absoluten Zahlen einem Anstieg von 330 Millionen diese Gelder in Bereichen fehlen, wo sie einen viel grös- auf 2 Milliarden Menschen entspricht.33 seren Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung in den 5
Analyse zur Ecopop-Initiative entsprechenden Ländern entwickeln könnten. Der Bun- zudem, dass die neuzugezogenen Ausländer nicht die desrat weist in seiner Botschaft zur Initiative deshalb zu Hauptschuldigen am Landverbrauch in der Schweiz Recht daraufhin, dass die Förderung der freiwilligen sind: Je kleiner nämlich die Anzahl Ausländer in einem Familienplanung nur im Verbund mit weiteren Mass- Kanton, desto stärker fiel das Siedlungswachstum aus.43 nahmen erfolgreich sein kann.39 Dazu gehören u.a. die Somit hat die Zersiedelung in der Schweiz wohl vor Stabilisierung des Staatswesens, die Einrichtung eines allem damit zu tun, dass wir heute pro Kopf deutlich verlässlichen Gesundheitssystems und eben die Stärkung mehr Wohnfläche nutzen als noch vor 20 Jahren. Es von Frauenrechten. besteht also noch durchaus Potential um die vorhande- ne Wohnfläche in der Schweiz optimal zu nutzen – ohne die Nettomigration radikal zu senken. 2. Migrationsregulation in Bezug auf die Schweiz 2.2. Hintergrund zur Masseneinwanderungs- und Ecopop-Initative 2.1. Wie viele Menschen verträgt die Schweiz Die Schweiz hat sich innert 100 Jahren von einem typi- tatsächlich? schen Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland Eine wissenschaftlich und objektiv begründete Kapazi- gewandelt. Mit der Transformation von einer ressour- tätsgrenze für die Bevölkerungszahl der Schweiz ist aus cenintensiven Landwirtschaft- und Industrie- zur perso- Sicht der Autoren schwer abschätzbar. Wie hoch eine nalintensiven Dienstleistungsgesellschaft ist das Wirt- allfällige Kapazitätsgrenze ist, hängt immer davon ab, schaftspotenzial der Schweizer Wirtschaft nicht mehr an welche Faktoren wie beispielsweise verfügbare Bauflä- die natürlichen Rohstoff- und Landressourcen gekop- che, Infrastruktur, Lebensqualität, kulturelle Identität pelt. Durch die wachsende Wirtschaft, die steigende usw. in die Analyse miteinbezogen und gewichtet wer- Komplexität der ökonomischen Systeme und die fort- den. Setzt man den Schwerpunkt auf die erschliessbare schreitende Arbeitsteilung ist auch der Bedarf an Ar- Baufläche, wird diese Zahl wohl deutlich höher ausfal- beitskräften gestiegen und konnte mit der stagnierenden len, als wenn man den Fokus auf eine intakte Landschaft Geburtenrate44 nicht mehr abgedeckt werden.45 legt. Mit dem sozialen Wandel hat sich auch das Anforde- Es gibt aber durchaus interessante Szenarien, die in rungsprofil an die Arbeitskräfte verändert. Waren es in diesem Zusammenhang ausgearbeitet wurden. Das der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts noch haupt- Laboratoire Bâle (Laba) hat 2014 unter der Leitung des sächlich Saisonniers, welche für körperlich fordernde ETH Professors Harry Gugger das Buch „Swiss Lessons: Arbeiten ins Land geholt wurden, besteht heute eine Teaching and Research in Architecture 2013“ publiziert.40 vermehrte Nachfrage nach hoch qualifizierten Fachkräf- Darin versuchten die Autoren aufzuzeigen, wie eine ten,46 was sich in den aktuellen Einwanderungsstatisti- Schweiz mit 14 Millionen Einwohnern im Jahr 2048 ken zeigt: Der Anteil an hoch qualifizierten Fachkräften aussehen würde. Das Buch kommt zum Schluss, dass so ist seit der Annahme des Freizügigkeitsabkommens und viele Einwohner gut in der Schweiz untergebracht wer- der langsamen Erholung nach der Wirtschaftskrise von den könnten. Dies soll möglich werden, in dem sich 2008 stark angestiegen.47 Mit – aber wie vorhin gezeigt städtische Vororte wie z.B. die Zürcher Region Glattal nicht unbedingt wegen – der Bevölkerungszunahme zu eigentlichen Städten entwickeln. Ausserdem sehen stieg auch der Wohn- und Infrastrukturbedarf an und die Autoren ein grosses Potential für zusätzliche Ein- wurde zu einem tragenden Hauptargument für die wohner in sogenannten Netzwerkstätten wie Olten oder Volksinitiativen „Gegen Masseneinwanderung“ der Bern. In ruhigen Zonen wie im Napfgebiet und in alpi- SVP48 und „Stopp der Überbevölkerung“ von Eco- nen Brachen wie Boltigen BE sei hingegen kein grosser pop.49 Bevölkerungszuwachs zu erwarten. Mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative Im Gegensatz zu Gugger et al. (2014) rechnet das BFS in (MEI) zu Beginn von 2014 soll die Einwanderung zu- seiner aktuellsten Prognose mit maximal 10,7 Millionen künftig mittels Kontingentierung gesteuert werden, Einwohnern im Jahr 2048.41 Weitere interessante Zahlen wobei über deren genaue Umsetzung nach wie vor liefert die Arealstatistik 2013 des BFS. Diese zeigt auf, Unklarheit herrscht. Die Kontingentierung steht im dass die Schweizer Wohnbevölkerung zwischen 1985 Widerspruch zum Prinzip des freien Personenverkehrs und 2009 von 6.3 Mio. auf 7.4 Mio. Personen gestiegen in der Europäischen Union und bis anhin gab es noch ist.42 Das entspricht einer Zunahme von 17.5%. Im keine Anzeichen, dass die EU der Schweizer Position selben Zeitraum nahm aber auch die Siedlungsfläche pro viel Verständnis entgegenbringen würde. Im Gegenteil: Einwohner um rund 20 m2 auf 407 m2 zu. Unter dem Eine erste Reaktion auf die Annahme der MEI beinhal- Begriff Siedlungsfläche werden alle Gebäude für Woh- tete den bedingten Ausschluss der Schweiz aus dem nen, Industrie, Infrastruktur, Arbeit, Ausbildung sowie EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizon 2020“ und Verkehrs- und Erholungsflächen zusammengefasst. Die dem Studienaustauschprogramm „Erasmus+“. Inzwi- Siedlungsfläche in der Schweiz ist in dieser Zeit um schen wurden Anstrengungen unternommen um dem 23.4% gewachsen und lag damit höher als die Bevölke- Schweizer Forschungsstandort und den Schweizer Stu- rungszunahme von 17.5%. Eine erst kürzlich erschiene- dierenden wieder Zugang zum europäischen For- ne Untersuchung der Neuen Zürcher Zeitung zeigte schungs- und Studienraum zu verschaffen, sowie be- 6
Analyse zur Ecopop-Initiative troffene Projekte mittels Bundesgeldern während der ausgeprägt. Insbesondere in Management, Administrati- Übergangsphase zu unterstützen.50 Es ist jedoch davon on, Finanzen, Rechtswesen, Gesundheitsberufen, Lehr-, auszugehen, dass die Schweiz auch bei zukünftigen EU- Kultur- und technischen Berufen wurde ein erhöhter Programmen benachteiligt wird und bei einer Annahme Fachkräftemangel geortet. Die meisten weisen dabei der Volksinitiative nur noch als Drittstaat teilnehmen einen überdurchschnittlichen Bedarf nach gut qualifi- kann. In solch einem Szenario würden Projekte nicht zierten und tertiär ausgebildeten Fachkräften auf. Die mehr direkt von der EU finanziert.51 genauen Gründe für den Fachkräftemangel konnten indes nicht genauer eruiert werden.57 Die Kombination Mit der Volksinitiative der Umweltorganisation Ecopop aus hohen Löhnen, guten Arbeits- und Lebensbedin- am 30. November 2014 kommt ein weiterer Vorschlag gungen und der anhaltenden Nachfrage nach Fachkräf- zur Beschränkung der Bevölkerungszunahme zur Ab- ten, lässt darauf schliessen, dass auch in den nächsten stimmung. Ähnlich wie bei der Masseneinwanderungs- Jahren insbesondere Personen mit einer höheren Aus- initiative werden der Schutz des Kulturlandes und damit bildung zwecks Arbeit in die Schweiz einwandern wer- der Erhalt einer „unverbauten Schweiz“ für zukünftige den. Generationen propagiert. Eine erfolgreiche Umsetzung würde eine starke Einschränkung der Nettozuwande- Das Freizügigkeitsabkommen garantiert EU/EFTA- rung in die Schweiz auf 0.2% der ständigen Wohnbe- Bürgern, welche in der Schweiz sind und eine Aufent- völkerung zur Folge haben. Neben den langfristigen haltsbewilligung haben, den Nachzug der Ehegatten, Auswirkungen auf die Wirtschaft im Allgemeinen sind Nachkommen und Schwieger-/Eltern. Es überrascht auch die Folgen für die Forschungs- und Bildungsland- daher nicht, dass der Familiennachzug als zweithäufigs- schaft Schweiz nicht vorauszusehen, denn traditionell ist ter Einwanderungsgrund aufgelistet wird.58 Es ist des- gerade im Bereich der Forschung und Lehre eine hohe halb davon auszugehen, dass sich die Zahlen von Ein- Internationalität vorhanden. Bei einer Annahme der wanderern zwecks Arbeitserwerb und Familiennachzug Initiative könnten Fachbereiche wie die technischen in ähnlicher Weise entwickeln werden. (62%), Wirtschafts- (62%) sowie Naturwissenschaften (57%), welche bereits heute stark auf ausländische Pro- fessoren/innen angewiesen sind,52 langfristig Rekrutie- 2.4. Migration im Schweizer Wissenschaft- und rungsprobleme haben. Technologiesektor – mögliche Auswirkun- Wie sich die Schweiz in den nächsten Jahrzenten entwi- gen der Masseneinwanderungs- und Eco- ckeln wird, ist schwierig vorherzusagen. Wie in anderen pop-Initiative hochentwickelten Ländern zeichnet sich jedoch eine Der Schweizer Wissenschaftsbetrieb ist wie kaum ein Weiterentwicklung von einer Dienstleistungs- zu einer Wirtschaftszweig abhängig von ausländischen Fachkräf- Wissens- und Informationsgesellschaft ab,53 was auch in ten. Eine im Wissenschaftsmagazin „Nature Biotechno- dem erwarteten Zuwachs an Studienabschlüssen in den logy“ publizierte Umfrage von 2012 zeigt, dass die in nächsten Jahren reflektiert wird.54 Ein Mangel an Fach- der Schweiz arbeitenden Wissenschaftler und Wissen- kräften könnte somit in der Zukunft weitaus gravieren- schaftlerinnen in den Bereichen Biologie, Chemie, Erd- dere Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung und Umweltwissenschaften sowie Materialwissenschaf- der Schweiz und dem Wohlergehen zukünftiger Genera- ten zu 57% aus dem Ausland stammen. Damit nimmt tionen bergen als dies heute absehbar ist. das Land einen internationalen Spitzenplatz ein. Nur noch Kanada (47%) und Australien (45%) haben ver- gleichbare Ausländeranteile im Forschungsbereich.59 2.3. Ursachen der aktuellen Migration in die Schweiz Ein ähnliches Bild zeigt sich mit Blick auf den gesamten Hochschulbetrieb in der Schweiz. 2013 kamen nach Gemäss dem Bundesamt für Migration waren Arbeit Zahlen des Bundes 52% aller Professoren, Assistieren- (48%), Familiennachzug (32%) und Aus- und Weiterbil- den, wissenschaftlichen Mitarbeitern und übrigen Do- dung (11%) die Hauptgründe für Einwanderung im zierenden an Schweizer Universitäten aus dem Aus- letzten Jahr (Stand Dezember 2013).55 land.60 Und auch im ganzen Bereich „Wissenschaft und Seit der Annahme des Freizügigkeitsabkommens sind Technologie“, in dem 2013 insgesamt 41% der Erwerb- vermehrt hochqualifizierte Personen (abgeschlossene stätigen in der Schweiz arbeiteten,61 sind die Verhältnis- Ausbildung auf Tertiärstufe) eingewandert, wobei der se vergleichbar: 2012 besetzten Ausländer 39% aller einheimische Fachkräftemangel die Hauptursache dafür Vollzeitstellen in diesem Sektor, wobei kein Unterschied zu sein scheint.56 zwischen der Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand bestand.62 Das SECO hat 2014 eine Studie zum Fachkräftemangel in der Schweiz in Auftrag gegeben, welche zum Schluss Der Hauptgrund für den offensichtlichen Mangel an kam, dass ein Mangel in 26 von 39 untersuchten Berufs- sogenannten MINT-Fachkräften (Mathematik, Informa- feldern besteht. Der Begriff „Fachkraft“ ist jedoch sehr tik, Naturwissenschaft, Technik) scheint dabei im Bil- weit gefasst und setzt in vielen Fällen nicht zwingend dungsbereich zu liegen. Im Studienjahr 2013/2014 wa- eine höhere Ausbildung oder Qualifikation vor. Obwohl ren gerade einmal 29% der Studierenden an Schweizer ein Fachkräftemangel für verschiedene Berufsfelder Universitäten in einem wissenschaftlichen oder techni- besteht, ist er je nach Berufsgruppe unterschiedlich stark schen Fach eingeschrieben,63 während es bei den Fach- 7
Analyse zur Ecopop-Initiative hochschulen im selben Zeitraum sogar nur 20% der die verstärkte Förderung bestimmter Berufszweige einen Studierenden naturwissenschaftliche oder technische Fachkräftemangel in anderen Bereichen verursacht. Fächer belegten.64 In der Berufsausbildung sind eben- Hinzu kommt, dass die Schweiz das Potential an inlän- falls nur 19% aller Lehrstellen dem Bereich Wissen- dischen Fachkräften schon ausgesprochen gut aus- schaft und Technologie zuzuordnen.65 schöpft: 79% der 15-62 Jährigen gehen in der Schweiz einer Erwerbstätigkeit nach, was der höchsten Erwerbs- Die zu geringe Ausbildung an MINT-Fachkräften wird quote in ganz Europa entspricht. Und auch bei den auch auf der politischen Ebene schon seit längerem Erwerbslosenzahlen nimmt die Schweiz mit 4.1% bei diskutiert. In einem Bericht von 2010 schlug der Bun- den 15 bis 74 Jährigen sowie mit 8.2% bei den 15 bis 24 desrat deshalb verschiedenen Massnahmen vor, welche Jährigen einen internationalen Spitzenplatz ein.69 Es ist dem MINT-Mangel entgegenwirken könnten. Insbe- also zu bezweifeln, dass der notwendige Bedarf an sondere von der frühzeitigen Förderung des Technik- Fachkräften allein mit Nachwuchsförderung und einer verständnisses an Schulen, der Erhöhung des Frauenan- besseren Ausnutzung des inländischen Arbeitskräftepo- teils im MINT-Bereich, dem erleichterten Zugang zu tentials gedeckt werden kann. einem MINT-Studium und der erleichterten Zulassung von Ausländerinnen und Ausländern mit Schweizer Zusammenfassend lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt Hochschulabschluss versprach sich der Bundesrat mit- noch nicht abschätzen, wie sich die Annahme der Mas- tel- bis langfristige Erfolge.66 Nach Annahme der Mass- seneinwanderungsinitiative auf den Forschungs- und einwanderungsinitiative wird letztere Option wohl an Bildungsplatz Schweiz auswirken wird. Dazu ist vorerst Priorität verloren haben, sodass wir uns im Folgenden der Verlauf der Verhandlungen zwischen der Schweizer au die drei erstgenannten Möglichkeiten konzentrieren Regierung und den europäischen Verhandlungspartnern werden. abzuwarten. Sollten jedoch einschneidende Kontingente zur Anwendung kommen, dann werden grosse Teile der Alle drei Massnahmen sind sicherlich dazu geeignet, den Schweizer Bildungslandschaft unter erheblichem Druck MINT-Fachkräftemangel zu beheben. Jedoch ist es geraten. Aus Sicht der Autoren ist deshalb von rigiden fraglich, ob sich die Erfolge rasch genug einstellen, um Kontingenten abzuraten. Zumindest sollte die Ausfüh- allfällige negative Auswirkungen von MEI und Ecopop- rungsgesetzgebung den betroffenen Wirtschaftszweigen Initiative abfedern zu können. Da sich Jugendliche eine genügend lange Übergangszeit zur Anpassung an spätestens mit 15 Jahren für eine Lehre oder für den das neue Kontingentsregime einräumen. Gleichzeitig Erwerb einer gymnasialen Matura entscheiden, müssen müssten rechtzeitig Massnahmen getroffen werden, um allfällige Förderinstrumente bereits vor diesem Zeit- die Ausbildung inländischer Fachkräfte zu fördern und punkt ansetzen. Das bedeutet jedoch, dass danach meh- den Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung anzuheben. rere Jahre eingerechnet werden müssen, bevor der Ar- beitsmarkt von den Neu-Absolventen im MINT- Die Annahme der Ecopop-Initiative würde aufgrund Bereich profitieren könnte. Während eine Berufslehre der kurzen Übergangsfristen sowie der starken Einwan- im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich zwischen derungsbeschränken voraussichtlich sehr rasch zu einem drei und vier Jahren dauert,67 müssen für eine Master- Fachkräftemangel führen. Der Initiativtext schreibt eine ausbildung inklusive vorangegangener Maturität durch- maximale Zuwanderungsrate von 0.2% im dreijährigen schnittlich neun Jahre nach der obligatorischen Schulzeit Durchschnitt vor.70 Überdies sind die Übergangsbe- veranschlagt werden (vier Jahre Gymnasium, drei Jahre stimmungen so formuliert, dass die Zuwanderung im Bachelor, zwei Jahre Master).68 Da viele naturwissen- ersten Kalenderjahr nach Annahme der Initiative noch schaftliche Berufe zudem oft eine Doktoratsausbildung um 0.6%, im zweiten Kalenderjahr um 0.4% und bereits verlangen, müssen noch einmal mindestens drei Jahre ab dem dritten Jahr um maximal 0.2% wachsen darf.71 hinzugezählt werden. Zusammengefasst würden also Bei einer ständigen Wohnbevölkerung von gut 8.1 Milli- allerfrühestens in vier bis zwölf Jahren mehr inländische onen Personen, dürfte die Nettozuwanderung (Einwan- MINT-Fachkräfte auf den Arbeitsmarkt gelangen. derung abzüglich Auswanderung) 2015 noch knapp 49‘000 Personen betragen, 2016 würde diese Zahl auf Überdies müssen wir uns die Frage stellen, wie sich eine ungefähr 32‘000 Personen sinken, um ab 2017 bei verstärkte Förderung einheimischer Arbeitskräfte im 16‘000 Personen pro Jahr zu verweilen.72 Es ist ausge- Wissenschafts- und Technikbereich auf andere Berufe sprochen unwahrscheinlich, dass der Wissenschafts- und auswirken würde. Das Reservoir inländischer Fachkräfte Technologiesektor unter diesen Voraussetzungen genü- ist nicht unbeschränkt, sodass die Gefahr besteht, dass gend Arbeitskräfte rekrutieren könnte. on Modelling and Simulation, Perth, Australia, 12–16 Referenzen: December 2011, 25-37. 3 E. 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